All das zu verlieren - Leïla Slimani - E-Book

All das zu verlieren E-Book

Leïla Slimani

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Die neue Stimme der französischen Literatur.« ZEITmagazin

Kann man sich zu seinem Glück zwingen? Prix Goncourt-Preisträgerin Leïla Slimani erzählt von der Zerrissenheit einer Frau und schafft eine »moderne Madame Bovary« ( Libération).

Nach außen hin führt Adèle ein Leben, dem es an nichts fehlt. Sie arbeitet für eine Pariser Tageszeitung, ist unabhängig. Mit ihrem Ehemann, einem Chirurgen, und ihrem kleinen Sohn lebt sie in einem schicken Viertel, ganz in der Nähe von Montmartre. Sie reisen, sie fahren übers Wochenende ans Meer. Dennoch macht Adèle dieses Leben nicht glücklich. Gelangweilt eilt sie durch die grauen Straßen, trifft sich mit Männern, hat Sex mit Fremden. Sie weiß, dass ihr die Kontrolle entgleitet. Sie weiß, dass sie ihre Familie verlieren könnte. Trotzdem setzt sie alles aufs Spiel.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 236

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Kann man sich zu seinem Glück zwingen?

Nach außen hin führt Adèle ein Leben, dem es an nichts fehlt. Sie arbeitet für eine Pariser Tageszeitung, ist unabhängig. Mit ihrem Ehemann, einem Chirurgen, und ihrem kleinen Sohn lebt sie in einem schicken Viertel, ganz in der Nähe von Montmartre. Sie reisen, sie fahren übers Wochenende ans Meer. Dennoch macht Adèle dieses Leben nicht glücklich. Gelangweilt eilt sie durch die grauen Straßen, trifft sich mit Männern, hat Sex mit Fremden. Sie weiß, dass ihr die Kontrolle entgleitet. Sie weiß, dass sie ihre Familie verlieren könnte. Trotzdem setzt sie alles aufs Spiel.

Prix Goncourt-Preisträgerin Leïla Slimani erzählt von der Zerrissenheit einer Frau und schafft eine »moderne Madame Bovary« (Libération).

»Faszinierend.«

The New York Times Book Review

»Leïla Slimani ist die neue Stimme der französischen Literatur.«

ZEITmagazin

»Furchtlos zieht Slimani den Vorhang auf und zeigt, was in Frauen im Stillen vor sich geht.«

Evening Standard

Zur Autorin

Die französisch-marokkanische Autorin Leïla Slimani gilt als eine der wichtigsten literarischen Stimmen Frankreichs.

Slimani, 1981 in Rabat geboren, wuchs in Marokko auf und studierte an der Pariser Eliteuniversität Sciences Po. Ihre Bücher sind internationale Bestseller. Für den Roman »Dann schlaf auch du« wurde ihr der renommierte Prix Goncourt zuerkannt. »All das zu verlieren«, ebenfalls preisgekrönt, erscheint in 25 Ländern. In den Essaybänden »Sex und Lügen« und »Warum so viel Hass?« widmet Leïla Slimani sich dem Islam und dem Feminismus sowie dem zunehmenden Fanatismus. Seit 2017 ist Leïla Slimani offiziell Botschafterin für Frankophonie. Sie lebt mit ihrer Familie in Paris.

Leïla Slimani

All das zu verlieren

Roman

Aus dem Französischen von Amelie Thoma

Luchterhand

Die französische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Dans le jardin de l’ogre« bei Éditions Gallimard, Paris.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Textstellen von Milan Kundera aus »Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins«. Aus dem Tschechischen von Susanna Roth. © Carl Hanser Verlag, München Wien, 1984. Zit. nach Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M., 1987.

Copyright © 2015 Éditions Gallimard, Paris

Copyright © der deutschen Ausgabe 2019 Luchterhand Literaturverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: buxdesign | München

unter Verwendung eines Motivs von © GIS/Stocksy

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-641-21289-6V003www.luchterhand-literaturverlag.de

www.facebook.com/luchterhandverlag

www.twitter.com/luchterhandlit

Für meine Eltern

»Nein, das bin ich nicht, das leidet jemand anderes.Ich könnte das so nicht.«

ANNA ACHMATOWA, Requiem

»Schwindel ist etwas anderes als Angst vor dem Fall. ­Schwindel bedeutet, daß uns die Tiefe anzieht und lockt, sie weckt in uns die Sehnsucht nach dem Fall, eine Sehnsucht, gegen die wir uns dann erschrocken wehren. […] Man könnte auch sagen, Schwindel sei Trunkenheit durch Schwäche. Man ist sich seiner ­Schwäche bewußt und will sich nicht gegen sie wehren, sondern sich ihr hingeben. Man ist trunken von der eigenen Schwäche, man möchte noch schwächer sein, man möchte mitten auf einem Platz vor allen Augen hinfallen, man möchte unten, noch tiefer als unten sein.«

MILAN KUNDERA, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Seit einer Woche hält sie durch. Eine Woche schon ist Adèle standhaft geblieben. Vernünftig. In vier Tagen ist sie zweiunddreißig Kilometer gerannt. Von Pigalle bis zu den Champs-Élysées, vom Musée d’Orsay bis nach Bercy. Morgens an den verlassenen Seineufern. Abends auf dem Boulevard Rochechouart und der Place de Clichy. Sie hat ­keinen Alkohol getrunken und ist früh ins Bett gegangen.

Aber heute Nacht hat sie davon geträumt und konnte nicht mehr einschlafen. Ein lustvoller, endlos langer Traum, der wie ein heißer Lufthauch in sie eingedrungen ist. Seitdem kann Adèle an nichts anderes mehr denken. Sie steht auf und trinkt einen starken Kaffee. In der Wohnung ist es still. Allein in der Küche tritt sie von einem Fuß auf den anderen und raucht eine Zigarette. Unter der ­Dusche würde sie sich am liebsten die Fingernägel in die Haut bohren, sich entzweireißen. Sie schlägt die Stirn gegen die Wand. Sie will, dass man sie packt, dass ihr Kopf gegen die Scheibe prallt. Sobald sie die Augen schließt, hört sie die Geräusche: das Stöhnen, die Schreie, das Klatschen der Körper. Ein nackter, keuchender Mann, eine Frau, die kommt. Sie will nur ein Objekt inmitten einer Meute sein. Gefressen, ausgesaugt, mit Haut und Haar verschlungen werden. Sie will in die Brust gekniffen, in den Bauch gebissen werden. Sie will eine Puppe im Garten eines Ungeheuers sein.

Sie weckt niemanden auf. Im Dunkeln zieht sie sich an und sagt nicht Auf Wiedersehen. Sie ist zu nervös, um wem auch immer zuzulächeln und ein morgendliches Gespräch zu beginnen. Adèle verlässt die Wohnung und läuft durch die leeren Straßen. Mit gesenktem Kopf geht sie die Stufen zur Métrostation Jules Joffrin hinunter. Ihr ist übel. Auf dem Bahnsteig rennt eine Maus über ihre Stiefelspitze und lässt sie zusammenfahren. Im Waggon der Métro sieht Adèle sich um. Ein Mann in einem billigen Anzug beobachtet sie. Seine Schuhe sind ungeputzt, seine Hände behaart. Er ist hässlich. Er könnte der Richtige sein. Genauso wie der Student, der seine Freundin umschlungen hält und ihr Küsse auf den Hals drückt. Genauso wie der Fünfzigjährige, der an die Scheibe gelehnt dasteht und liest, ohne zu ihr aufzusehen.

Auf dem Platz ihr gegenüber liegt eine Zeitung vom Vortag. Sie nimmt sie und blättert darin. Die Überschriften verschwimmen vor ihren Augen, sie kann sich nicht konzentrieren. Entnervt legt sie die Zeitung weg. Sie muss hier raus. Ihr Herz rast, sie bekommt keine Luft mehr. Adèle bindet ihren Schal auf, lässt ihn über ihren schweißnassen Hals gleiten und legt ihn auf den leeren Sitz neben sich. Sie steht auf, öffnet ihren Mantel. Mit zitternden Beinen verharrt sie an der Tür, die Hand am Griff, bereit zu springen.

Sie hat das Telefon vergessen. Sie setzt sich wieder, wühlt in ihrer Handtasche, lässt eine Puderdose fallen, fischt einen BH-Träger heraus, in dem sich ihre Kopfhörer verheddert haben. Wie unvorsichtig, denkt sie. Sie kann das Handy auf gar keinen Fall vergessen haben. Wenn, dann muss sie wieder nach Hause fahren, eine Ausrede erfinden, sich irgendwas überlegen. Aber nein, da ist es. Es war die ganze Zeit da, sie hat es nur nicht gesehen. Sie räumt die Sachen wieder ein. Sie hat das Gefühl, dass alle sie anschauen. Dass der ganze Wagen sich über ihre Panik lustig macht, ihre glühend roten Wangen. Sie öffnet das kleine Klapphandy und lacht, als sie den ersten Namen sieht.

Adam.

Jetzt ist ohnehin nichts mehr zu retten.

Ihr Verlangen lässt sie rückfällig werden. Der Damm ist gebrochen. Was nützt es da noch, sich weiter zusammenzureißen. Davon wird das Leben nicht besser. Ihre Logik ist jetzt die einer Opiumsüchtigen, einer Spielerin. Sie ist so zufrieden, der Versuchung ein paar Tage widerstanden zu haben, dass sie deren Gefahren längst vergessen hat. Sie erhebt sich, zieht an dem klebrigen Hebel, die Tür geht auf.

Métrostation Madeleine.

Sie kämpft sich durch die Menge am Bahnsteig, die wie eine Woge auf sie zurollt, um sich in die Waggons zu ergießen. Adèle sucht den Ausgang. Boulevard des ­Capucines. Sie beginnt zu rennen. Mach, dass er da ist, mach, dass er da ist. Vor den Schaufenstern der Kaufhäuser überlegt sie, es sein zu lassen. Sie könnte hier wieder in die ­Métro steigen, die Linie 9 würde sie direkt ins Büro bringen, pünktlich zur Redaktionssitzung. Sie umkreist den Eingang zur Métro, zündet sich eine Zigarette an. Sie hält die Hand­tasche fest an sich gedrückt. Eine rumänische Diebesbande hat sie erspäht. Die Frauen kommen auf sie zu, jede ein großes Tuch um den Kopf geschlungen, einen Bettelzettel in der Hand. Adèle beschleunigt ihren Schritt. Wie in Trance biegt sie in die Rue La Fayette ein, geht in die falsche Richtung, kehrt wieder um. Rue Bleue. Sie gibt den Türcode ein und betritt das Gebäude, stürmt die Treppe in den zweiten Stock hoch und klopft an die schwere Tür.

»Adèle …« Adam lächelt, die Augen vom Schlaf verquollen. Er ist nackt.

»Sag nichts.« Adèle zieht ihren Mantel aus und stürzt sich auf ihn. »Bitte.«

»Du hättest anrufen können … Es ist noch nicht mal acht …«

Adèle ist bereits nackt. Sie zerkratzt seinen Hals, zieht ihn an den Haaren. Er schert sich nicht darum und wird geil. Er stößt sie von sich weg, ohrfeigt sie. Sie ergreift seinen Penis. An die Wand gestützt, spürt sie, wie er in sie eindringt. Die Beklemmung verfliegt. Sie empfindet wieder etwas. Ihr Herz wird leichter, ihr Geist leer. Sie umklammert Adams Pobacken, drängt den Körper des Mannes zu heftigen, brutalen, immer schnelleren Bewegungen. Sie versucht, irgendwohin zu kommen, ein wütendes Verlangen packt sie. »Fester, fester«, schreit sie.

Sie kennt diesen Körper, und das stört sie. Es ist zu einfach, zu mechanisch. Ihr überraschendes Auftauchen genügt nicht, um dem Sex mit Adam noch einen Kick zu geben. Ihre Bewegungen sind weder sonderlich obszön noch sonderlich zärtlich. Sie legt Adams Hände auf ihre Brüste, versucht zu vergessen, dass er es ist. Sie schließt die Augen und stellt sich vor, dass er sie zwingt.

Er ist schon ganz woanders. Sein Kiefer verkrampft sich. Er dreht sie um. Wie jedes Mal legt er seine rechte Hand auf Adèles Kopf, drückt ihn nach unten, packt mit der linken Hand ihre Hüfte. Er stößt heftig zu, stöhnt, kommt.

Adam lässt sich gerne von seiner Lust übermannen.

Adèle zieht sich wieder an und dreht ihm dabei den Rücken zu. Sie schämt sich, wenn er sie nackt sieht.

»Ich komme zu spät zur Arbeit. Ich ruf dich an.«

»Wie du willst«, antwortet Adam.

Er lehnt an der Küchentür und raucht eine Zigarette. Mit einer Hand berührt er das Präservativ, das von der Spitze seines Penis baumelt. Adèle vermeidet es, ihn anzusehen.

»Ich kann meinen Schal nicht finden. Hast du ihn irgendwo gesehen? Ein grauer Kaschmirschal, ich hänge sehr daran.«

»Ich suche ihn. Ich gebe ihn dir nächstes Mal.«

Adèle setzt eine unbeteiligte Miene auf. Jetzt bloß nicht den Eindruck erwecken, man würde sich schuldig fühlen. Sie durchquert das Großraumbüro, als käme sie von einer Zigarettenpause, lächelt den Kollegen zu und setzt sich an ihren Schreibtisch. Cyril streckt den Kopf aus seinem Glaskäfig. Seine Stimme wird übertönt vom Klackern der Tasta­turen, von Telefongesprächen, Druckern, die Artikel ausspucken, Unterhaltungen an der Kaffeemaschine. Er brüllt zu ihr herüber.

»Adèle, es ist fast zehn Uhr.«

»Ich hatte noch einen Termin.«

»Na und! Du hast noch zwei Artikel abzugeben, ich scheiß auf deine Termine. Ich will alles in zwei Stunden sehen.«

»Du bekommst deine Texte. Ich bin fast fertig. Nach dem Mittagessen, okay?«

»Jetzt reicht’s aber, Adèle! Wir können nicht ständig auf dich warten. Schon mal was von einem Redaktionsschluss gehört, verdammt noch mal?«

Fuchtelnd lässt Cyril sich wieder in seinen Sessel fallen.

Adèle schaltet ihren Computer an und stützt den Kopf in die Hände. Sie hat keine Ahnung, was sie schreiben soll. Sie hätte sich niemals darauf einlassen sollen, diesen Artikel über die gesellschaftlichen Spannungen in Tunesien zu verfassen. Sie fragt sich, was sie dazu getrieben hat, sich in der Redaktionssitzung dafür zu melden.

Sie müsste jetzt zum Telefonhörer greifen. Ihre Kontakte vor Ort anrufen. Fragen stellen, Informationen abgleichen, ihre Quellen zum Reden bringen. Sie müsste Lust zum Schreiben haben, ordentliche Arbeit abliefern wollen, an die journalistische Sorgfalt glauben, mit der Cyril ihnen ständig in den Ohren liegt, ausgerechnet er, der für eine höhere Auflage jederzeit seine Seele verkaufen würde. Sie müsste an ihrem Schreibtisch zu Mittag essen, das Headset auf den Ohren, die Finger auf der verkrümelten Tastatur. An einem Sandwich nagen, während sie darauf wartet, dass irgendein vor Selbstgefälligkeit platzender Pressereferent sich zurückmeldet und von ihr verlangt, den Text vorab zu lesen.

Adèle mag ihren Beruf nicht. Sie hasst die Vorstellung, dass sie arbeiten muss, um davon zu leben. Sie wollte immer nur eins: beachtet werden. Sie hat versucht, Schauspielerin zu werden. Als sie nach Paris kam, hat sie sich zu Kursen angemeldet, in denen sie sich als mittelmäßige Schülerin entpuppte. Man sagte ihr, sie habe zwar schöne Augen und etwas Geheimnisvolles. »Aber um Schauspielerin zu werden, muss man loslassen können, Mademoiselle.« Lange hat sie zu Hause gesessen und darauf gewartet, dass ihre Träume sich erfüllen. Nichts ist so gekommen, wie sie es sich vorgestellt hatte.

Sie wäre so gerne die Ehefrau eines reichen Mannes, der nie da ist. Zum großen Missfallen all der aufgebrachten Horden berufstätiger Frauen um sie herum hätte sie ihre Tage gern in einem großen Haus vertrödelt und sich mit nichts anderem beschäftigt, als schön zu sein, wenn ihr Gatte heimkam. Sie fand es herrlich, für ihr Talent, Männer zu unterhalten, bezahlt zu werden.

Ihr Mann verdient gut. Seit er als Gastroenterologe im Hôpital Georges-Pompidou arbeitet, hat er ständig Bereitschaftsdienst oder muss Kollegen vertreten. Sie machen oft Urlaub und haben eine große Wohnung im »schönen 18. Arrondissement«. Adèle ist eine verwöhnte Frau, und ihr Mann ist stolz darauf, wie unabhängig sie ist. Sie findet, dass das nicht genügt. Dass dieses Leben klein und erbärmlich ist, ohne jeden Glanz. Ihr Geld riecht nach Arbeit, nach Schweiß und den langen Nächten im Krankenhaus. Es schmeckt nach Vorwürfen und schlechter Laune. Es erlaubt ihr weder Müßiggang noch Dekadenz.

Adèle ist über Beziehungen zur Zeitung gekommen. Richard ist mit dem Sohn des Herausgebers befreundet und hat ihm von ihr erzählt. Sie hat das nicht gestört. Alle machen es so. Am Anfang wollte sie gut sein. Die Vorstellung, ihrem Chef zu gefallen, ihn mit ihrer Effektivität und ihrer Cleverness zu überraschen, spornte sie an. Sie war unverfroren, voller Elan, bekam Interviews, von denen keiner in der Redaktion zu träumen wagte. Dann ging ihr auf, dass Cyril ein Aufschneider war, dass er noch nie ein Buch gelesen hatte und ihr Talent überhaupt nicht beurteilen konnte. Sie begann ihre Kollegen zu verachten, die jeglichen Ehrgeiz verloren hatten und ihren Frust im Alko­hol ertränkten. Und am Ende verachtete sie ihre Arbeit, das Büro, diesen Bildschirm, dieses ganze idiotische Getue. Sie hasst es, zehnmal irgendwelche Minister anzurufen, die sie abwimmeln, um ihr schließlich ein paar Sätze hinzuwerfen, so hohl wie langweilig. Es ist ihr peinlich, sich mit honig­süßer Stimme bei einer Pressesprecherin einzuschmeicheln. Ihr geht es bei dem Job nur um die Freiheit, die sie als Journalistin genießt. Sie verdient schlecht, aber sie kommt in der Welt herum. Sie kann verschwinden, geheime Treffen vortäuschen, muss sich nicht rechtfertigen.

Adèle ruft niemanden an. Sie öffnet eine neue Datei, bereit zu schreiben. Sie erfindet Aussagen von anonymen Informanten, den besten, die sie kennt. »Eine der Regierung nahestehende Quelle«, »ein enger Vertrauter«. Sie findet einen guten Einstieg, streut hier und da etwas Witziges ein, um den Leser abzulenken, der noch immer glaubt, er würde hier Fakten bekommen. Sie liest ein paar Artikel zum Thema, fasst sie zusammen, macht Copy-and-paste. Es kostet sie keine Stunde.

»Dein Text, Cyril!«, ruft sie und zieht ihren Mantel an. »Ich gehe mittagessen. Wir sprechen darüber, wenn ich wieder da bin.«

Die Straße ist grau, wie erstarrt vor Kälte. Die Mienen der Passanten sind angespannt, ihre Gesichter aschfahl. Adèle würde am liebsten nach Hause gehen und sich ins Bett legen. Der Clochard vor dem Monoprix hat mehr getrunken als sonst. Er schläft ausgestreckt auf einem Lüftungsschacht. Seine Hose ist heruntergerutscht, man sieht seinen Rücken und seinen verkrusteten Hintern. Adèle und ihre Kollegen betreten eine Brasserie mit schmuddeligem Fußboden, und wie jedes Mal sagt Bertrand etwas zu laut: »Wir wollten doch nicht mehr herkommen, der Besitzer ist beim Front National.«

Aber sie kommen trotzdem wieder, wegen des Kamins, und weil Preis und Leistung stimmen. Damit ihr nicht langweilig wird, bemüht Adèle sich, das Gespräch in Gang zu halten. Sie erzählt, wärmt alten Tratsch auf, fragt die Kollegen nach ihren Weihnachtsplänen. Der Kellner kommt und nimmt die Bestellung auf. Als er fragt, was sie trinken wollen, schlägt Adèle Wein vor. Die anderen wiegen ­zögernd die Köpfe, zieren sich, meinen, das sei nicht nötig, sie hätten kein Geld. »Ich lade euch ein«, verkündet Adèle, deren Konto überzogen ist und der noch nie ein Kollege auch nur ein Glas spendiert hat. Das ist ihr egal. Heute sagt sie mal, wo’s langgeht. Heute gibt sie einen aus, und nach einem Glas Saint-Estèphe, eingehüllt in den Duft des Holzfeuers, hat sie das Gefühl, dass die anderen sie mögen und ihr dankbar sind.

Es ist fünfzehn Uhr dreißig, als sie das Lokal verlassen. Sie sind ein bisschen schläfrig vom Wein, dem zu üppigen Essen und dem Kaminfeuer, nach dem ihre Mäntel und Haare riechen. Adèle hakt Laurent unter, dessen Schreibtisch direkt an ihren grenzt. Er ist groß, dünn, und mit seinen billigen falschen Zähnen sieht er, wenn er lächelt, aus wie ein Pferd.

In dem Großraumbüro arbeitet keiner. Die Journalisten dämmern an ihren Bildschirmen vor sich hin. Ein paar diskutieren im hinteren Teil des Raumes. Bertrand neckt eine Praktikantin, die sich leichtsinnigerweise wie ein ­Starlet aus den Fünfzigerjahren kleidet. Auf den Fenstersimsen stehen Champagnerflaschen kalt. Alle warten darauf, dass sie sich endlich, weit weg von ihrer Familie und ihren richtigen Freunden, betrinken dürfen. Der Weihnachtsumtrunk ist eine Institution in der Redaktion. Eine programmierte Ausschweifung, bei der es darum geht, es so weit wie möglich zu treiben, und den Kollegen, mit denen man am nächsten Tag wieder einen ganz professionellen Umgang pflegen wird, sein wahres Wesen zu offenbaren.

Niemand weiß, dass die Feier im Vorjahr für Adèle ein paar Höhepunkte bereitgehalten hat. In nur einer Nacht hat sie eine sexuelle Fantasie ausgelebt und jegliche beruflichen Ambitionen verloren. Im Besprechungszimmer der Chefredaktion, auf dem langen, schwarz lackierten Holztisch, hat sie mit Cyril geschlafen. Sie haben viel getrunken. Sie hat den ganzen Abend in seiner Nähe verbracht, hat über seine Witze gelacht und ihm, wann immer sie einen Moment allein waren, schüchterne, butterweiche Blicke zugeworfen. Sie hat so getan, als würde er sie zugleich furchtbar beeindrucken und unwiderstehlich anziehen. Er hat ihr erzählt, was er über sie dachte, als er sie das erste Mal gesehen hat.

»Ich fand dich so zerbrechlich, so scheu und wohlerzogen …«

»Ein bisschen verklemmt, meinst du?«

»Ja, vielleicht.«

Sie ist mit der Zunge über ihre Lippen gefahren, blitzschnell, wie eine kleine Eidechse. Das hat ihn völlig verwirrt. Das Büro hat sich geleert, und während die anderen die verstreuten Becher und Kippen wegräumten, sind sie hoch in den Konferenzraum gegangen. Sie haben sich aufeinandergestürzt. Adèle hat Cyrils Hemd aufgeknöpft. ­Cyril, den sie so schön fand, solange er nur ihr Chef und für sie in gewisser Weise tabu war. Aber hier, auf dem schwarz lackierten Tisch, erwies er sich als schmerbäuchig und ungeschickt. »Ich hab zu viel getrunken«, brachte er als Entschuldigung für seinen mäßigen Ständer vor. Er hat sich an den Tisch gelehnt, ist mit der Hand durch Adèles Haar gefahren und hat ihren Kopf zwischen seine Schenkel gedrückt. Seinen Penis im Rachen, kämpfte sie gegen den Brechreiz an und gegen den Drang zuzubeißen.

Dabei hatte sie ihn begehrt. Jeden Morgen war sie zeitig aufgestanden, um sich hübsch zu machen, ein neues Kleid auszuwählen, in der Hoffnung, er werde es bemerken und ihr, wenn er einen guten Tag hatte, vielleicht sogar ein kleines Kompliment machen. Sie gab ihre Artikel überpünktlich ab, schlug Reportagen am Ende der Welt vor, kam immer nur mit Lösungen in sein Büro, nie mit Problemen, all das in dem einzigen Bestreben, ihm zu gefallen.

Wozu sollte sie sich jetzt noch bemühen? Jetzt, da sie ihn gehabt hatte?

Heute Abend hält Adèle sich auf Distanz zu Cyril. Bestimmt denkt er daran, aber ihr Verhältnis ist extrem abgekühlt. Sie fand die idiotischen SMS unerträglich, die er ihr an den folgenden Tagen geschickt hatte. Als er ihr schüchtern vorschlug, mal zusammen Abend essen zu gehen, hat sie nur mit den Schultern gezuckt. »Wozu, ich bin verheiratet und du auch. Wir würden einander nur wehtun, meinst du nicht?«

Heute Abend hat Adèle nicht vor, das falsche Ziel zu wählen. Sie scherzt mit Bertrand, der sie zum x-ten Mal mit einer detaillierten Beschreibung seiner japanischen Manga-Sammlung anödet. Seine Augen sind gerötet, sicher hat er gerade einen Joint geraucht, und sein Atem ist noch saurer als sonst. Adèle schlägt sich wacker. Sie tut so, als würde sie die fette Dokumentarin ertragen, die sich ausnahmsweise mal ein Lachen erlaubt, obwohl sonst nur Röcheln und Seufzer aus ihrem Mund kommen. Adèle läuft sich langsam warm. Der Champagner fließt in Strömen, dank eines Politikers, dem Cyril ein lobendes Porträt auf der Titelseite der Zeitung verschafft hat. Sie hält es nicht mehr aus. Sie fühlt sich schön und hasst die Vorstellung, dass ihre Schönheit umsonst, ihre Fröhlichkeit zu nichts nütze sein soll.

»Ihr wollt doch nicht schon nach Hause? Lasst uns noch irgendwo hingehen! Los …«, fleht sie Laurent an, mit glänzenden Augen und so voller Begeisterung, dass es grausam wäre, ihr was auch immer abzuschlagen.

»Jungs, habt ihr Lust?«, fragt Laurent die drei Kollegen, mit denen er sich gerade unterhält.

Im Dämmerlicht, blasslila Wolken vor dem Fenster, betrachtet Adèle den nackten Mann. Er hat das Gesicht im Kopfkissen vergraben und schläft befriedigt. Er könnte genauso gut tot sein, wie diese Insekten, die beim Koitus sterben.

Adèle steht auf, die Arme vor den bloßen Brüsten überkreuzt. Sie zieht das Laken über den schlafenden Körper, der sich zusammenrollt, um sich zu wärmen. Sie hat ihn nicht nach seinem Alter gefragt. Seine glatte und weiche Haut lässt vermuten, dass er jünger ist, als er behauptet hat. Er hat kurze Beine und einen Frauenhintern.

Kaltes Morgenlicht fällt in das unaufgeräumte Zimmer. Adèle zieht sich an. Sie hätte nicht mit ihm mitgehen sollen. In dem Moment, als er seine schlaffen Lippen auf ihre gedrückt und sie geküsst hat, war ihr sofort klar, dass sie sich getäuscht hatte. Er würde ihr keine Erfüllung bringen. Sie hätte abhauen sollen. Irgendeine Entschuldigung vorbringen, um nicht in diese Mansarde hochzusteigen. Sie hätte sagen müssen: »Wir haben uns doch schon bestens amüsiert, oder?« Sie hätte die Bar ohne ein Wort verlassen sollen, hätte diesen Armen, die sie umschlangen, diesem glasigen Blick, diesem schweren Atem widerstehen sollen.

Sie hat es nicht über sich gebracht.

Sie sind die Treppe hochgetorkelt. Mit jeder Stufe schwand der Zauber, wich ihr freudiger Rausch der Übelkeit. Er begann sich auszuziehen. Ihr Herz krampfte sich zusammen angesichts der Banalität eines Reißverschlusses, der Trostlosigkeit eines Paars Socken, der plumpen Gesten eines betrunkenen Jungen. Sie hätte am liebsten gesagt: »Hör auf, sei still, ich hab keine Lust mehr.« Aber sie konnte nicht mehr zurück.

Seine haarlose Brust über sich, blieb ihr nichts anderes übrig, als schnell zu machen, zu simulieren, extra laut zu schreien, damit er zufrieden war und es zu Ende brachte. Hat er überhaupt bemerkt, dass sie die Augen geschlossen hatte? Sie zugekniffen hat, als ekelte sein Anblick sie, als dächte sie schon an die nächsten Männer, die echten, die guten, die sie endlich richtig anpacken würden.

Leise zieht sie die Wohnungstür zu. Im Treppenhaus zündet sie sich eine Zigarette an. Noch drei Züge, dann wird sie ihren Mann anrufen.

»Habe ich dich geweckt?«

Sie sagt, sie hätte bei ihrer Freundin Lauren geschlafen, die nur ein paar Schritte von der Zeitung entfernt wohnt. Sie fragt, wie es ihrem Sohn geht. »Ja, es war ein netter Abend«, schließt sie. Vor dem angelaufenen Spiegel in der Eingangshalle fährt sie sich übers Gesicht und sieht sich beim Lügen zu.

In der leeren Straße hört sie ihre eigenen Schritte. Ihr entfährt ein Schrei, als ein Mann sie anrempelt, der an ihr vorbeirennt, um seinen Bus noch zu erwischen. Sie geht zu Fuß nach Hause, um Zeit zu gewinnen; damit sie sicher sein kann, dass sie eine leere Wohnung vorfindet, in der niemand ihr Fragen stellt. Die Kopfhörer auf den Ohren, taucht sie in der eisigen Stadt unter.

Richard hat das Frühstück abgedeckt. Die schmutzigen Tassen stehen in der Spüle, ein Marmeladenbrot klebt noch auf dem Teller. Adèle setzt sich auf das Ledersofa. Sie zieht ihren Mantel nicht aus, hält die Handtasche vor dem Bauch umklammert. Sie rührt sich nicht. Der Tag beginnt erst, wenn sie geduscht haben wird. Wenn sie ihre Bluse, die nach kaltem Zigarettenrauch stinkt, gewaschen haben wird. Wenn sie die Augenringe unter dem Make-up versteckt hat. Jetzt ruht sie sich erst mal in ihrem Dreck aus, in der Schwebe zwischen zwei Welten, Herrin des gegenwärtigen Moments. Die Gefahr ist vorbei. Es gibt nichts mehr zu befürchten.

Adèle kommt mit abgespanntem Gesicht und trockenem Mund in die Redaktion. Sie hat seit dem Vorabend nichts gegessen. Sie braucht irgendwas im Magen, um die Traurigkeit und Übelkeit zu vertreiben. In der schlechtesten Bäckerei des Viertels hat sie ein staubtrockenes Pain au chocolat gekauft. Sie nimmt einen Bissen, aber es fällt ihr schwer zu kauen. Sie würde sich am liebsten auf der Toilette zusammenrollen und schlafen. Sie ist müde, und sie schämt sich.

»Und, Adèle? Schon wieder fit?«

Bertrand beugt sich über ihren Schreibtisch und wirft ihr einen verschwörerischen Blick zu, den sie ignoriert. Sie schmeißt das Pain au chocolat in den Papierkorb. Sie hat Durst.

»Du warst richtig in Fahrt gestern Abend. Hast du keine Kopfschmerzen?«

»Es geht, danke. Ich brauch bloß einen Kaffee.«

»Wenn du einen über den Durst getrunken hast, bist du kaum wiederzuerkennen. Du kommst immer daher wie die Prinzessin auf der Erbse, mit ihrem kleinen wohlbehüteten Leben. Aber in Wahrheit bist du eine echt wilde Partymaus.«

»Hör auf.«

»Du hast uns richtig zum Lachen gebracht. Und was für eine Tänzerin!«

»Ist gut, Bertrand, ich muss jetzt mal was arbeiten.«

»Klar, ich hab auch einen riesigen Berg zu tun. Ich hab so gut wie nicht geschlafen. Bin völlig alle.«

»Na dann, viel Erfolg.«

»Ich hab gestern gar nicht mitbekommen, wann du gegangen bist. Und, hast du den Bubi abgeschleppt? Hast du dir seinen Namen notiert, oder war das nur so nebenbei?«

»Und du, notierst du dir die Namen der Nutten, die du mit aufs Zimmer nimmst, wenn du in Kinshasa auf Dienstreise bist?«

»Ist ja schon gut! War doch nur ein Spaß. Sagt dein Mann nichts, wenn du um vier Uhr morgens sturzbetrunken nach Hause kommst? Stellt er keine Fragen? Meine Frau würde das schon …«

»Halt den Mund!«, unterbricht Adèle ihn. Mit flachem Atem und knallroten Wangen nähert sie ihr Gesicht dem von Bertrand. »Sprich nie wieder über meinen Mann, hast du verstanden?«

Bertrand hebt abwehrend die Hände und weicht zurück.

Adèle ärgert sich, dass sie so leichtsinnig war. Sie hätte niemals tanzen und sich so zugänglich zeigen sollen. Sie hätte sich niemals auf Laurents Schoß setzen und mit meckernder Stimme, völlig blau, einen düsteren Schwank aus ihrer Kindheit zum Besten geben sollen. Sie haben sie an der Bar mit dem Jungen rummachen sehen. Sie haben es gesehen, und sie verurteilen sie nicht. Viel schlimmer: Sie werden jetzt einen auf vertraulich machen, werden sich mit ihr verbrüdern wollen. Sie werden mit ihr darüber lachen wollen. Die Männer werden denken, dass sie ein kleines Luder ist, allzeit bereit und leicht zu haben. Die Frauen werden sie als Vamp betrachten, die nachsichtigeren werden sagen, sie sei schwach. Sie alle liegen falsch.

Richard hat vorgeschlagen, am Samstag ans Meer zu fahren. »Lass uns früh los, Lucien kann im Auto schlafen.« Adèle ist im Morgengrauen aufgestanden, um ihren Mann nicht zu verärgern, der Staus vermeiden möchte. Sie packt die Taschen, zieht ihren Sohn an. Das Wetter ist kalt, aber schön, ein Tag, der die Lebensgeister weckt, der jede ­Lethargie vertreibt. Adèle ist fröhlich. Im Auto plaudert sie sogar, ermuntert von der strahlenden Wintersonne.

Sie kommen pünktlich zum Mittagessen an. Halb Paris besetzt die beheizten Terrassen, aber Richard war so klug zu reservieren. Der Herr Doktor Robinson überlässt nichts dem Zufall. Er braucht die Karte nicht zu lesen, um zu wissen, was er möchte. Er bestellt Weißwein, Austern, Wellhornschnecken und drei Seezungen nach Müllerinart.