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Leïla Slimani

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Beschreibung

»Leïla Slimani gibt Frauen aus der islamischen Welt eine Stimme.« Le Monde

Zerrissenheit, Hoffnung, Aufbegehren. Frauen aus Marokko sprechen über Liebe, Gefühle, Sexualität. Über Heuchelei und den Wunsch nach Anerkennung. Eine berührende Sammlung sehr persönlicher Geschichten. Von der Autorin des SPIEGEL-Bestsellers »Dann schlaf auch du«.

»Ergreifend und schmerzlich.« Ben Jelloun

Sich zu seinen Gefühlen bekennen? Den Partner frei wählen? Alleine auf die Straße gehen? Von klein auf werden Mädchen in islamischen Ländern dazu erzogen, keine Schande über ihre Familien zu bringen. Ehebruch, Prostitution, Homosexualität werden in Marokko bis heute mit Gefängnis bestraft. Viele Frauen führen in Leïla Slimanis Geburtsland daher ein Doppelleben – zerrissen zwischen Tradition und Religion auf der einen Seite und dem Wunsch nach Selbstbestimmung auf der anderen. Sechzehn sehr persönliche Geschichten versammelt die preisgekrönte Autorin und Journalistin in diesem Band. Ebenso mutige wie berührende Bekenntnisse, die Einblick geben in den Alltag von Frauen und in eine Welt im Umbruch.

»Für mich war es wichtig, das, was mir diese Frauen erzählt haben, ungefiltert niederzuschreiben. Ihre mitreißenden und eindringlichen Worte festzuhalten, die mich erschüttert und bewegt, mich wütend gemacht und empört haben.« Leïla Slimani

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Zum Buch

»Leïla Slimani gibt Frauen aus der islamischen Welt eine Stimme.«

Le Monde

Sich zu seinen Gefühlen bekennen? Den Partner frei wählen? Alleine auf die Straße gehen? Von klein auf werden Mädchen in islamischen Ländern dazu erzogen, keine Schande über ihre Familien zu bringen. Ehebruch, Prostitution, Homosexualität werden in Marokko bis heute mit Gefängnis bestraft. Viele Frauen führen in Leïla Slimanis Geburtsland daher ein Doppelleben – zerrissen zwischen Tradition und Religion auf der einen Seite und dem Wunsch nach Selbstbestimmung auf der anderen. Sechzehn sehr persönliche Geschichten versammelt die preisgekrönte Autorin und Journalistin in diesem Band. Ebenso mutige wie berührende Bekenntnisse, die Einblick geben in den Alltag von Frauen und in eine Welt im Umbruch.

»Ergreifend und schmerzlich.«

Ben Jelloun

Zur Autorin

Leïla Slimani gilt als eine der wichtigen literarischen Stimmen und Intellektuellen Frankreichs. Als erste Frau aus Marokko überhaupt wurde sie 2016 für ihren Roman »Dann schlaf auch du« mit dem renommierten Prix Goncourt ausgezeichnet. Slimani wurde 1981 in Rabat geboren und wuchs in Marokko auf. Nach dem Studium an der Pariser Eliteuniversität Sciences Po arbeitete sie zunächst als Journalistin für die Zeitschrift »Jeune Afrique«. Ende 2017 wurde sie zur persönlichen Beauftragten von Staatspräsident Emmanuel Macron zur Pflege des französischen Sprachraums ernannt. Sie lebt mit ihrer Familie in Paris.

LEÏLA SLIMANI

SEX

UND

LÜGEN

Gespräche mit Frauen aus der islamischen Welt

Aus dem Französischen von Amelie Thoma

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die französische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Sexe et Mensonges« bei Éditions des Arènes, Paris.
btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Copyright © der Originalausgabe 2017 by Éditions des Arènes, Paris Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by btb Verlag, München Covergestaltung: semper smile, München Covermotiv: © Shutterstock/LuckyBall Satz: Uhl + Massopust, Aalen Klü · Herstellung: sc ISBN 978-3-641-21675-7 V002
www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag

Die Predigt der Keuschheit ist eine öffentliche Aufreizung zur Widernatur. Jede Verachtung des geschlechtlichen Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff »unrein« ist die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des Lebens.

Friedrich Nietzsche, Der Antichrist

Als Allah die Welt erschuf, sagte mein Vater, trennte er mit gutem Grund die Männer von den Frauen. Ordnung und Harmonie existieren nur, wenn jede der beiden Gruppen die hudud (Grenzen) respektiert. Jede Überschreitung bringt zwangsläufig Anarchie und Unglück mit sich. Aber zu allen Zeiten haben die Frauen davon geträumt, die Grenzen zu übertreten; unablässig kreiste ihr Denken um die Welt jenseits des Tores, in ihrer Vorstellung zogen sie tagtäglich durch unbekannte Straßen.

Fatima Mernissi, Der Harem in uns

Zum Gedenken an Fatima Mernissi.Für meine Tante Atika.Für alle Frauen, die sich mir anvertraut haben.Ihnen sei Dank.

Als im Sommer 2014 mein erster Roman Dans le jardin de l’ogre erschien, waren einige französische Journalisten erstaunt, dass eine Marokkanerin so ein Buch schreiben konnte. Damit meinten sie ein Buch, in dem offen über Sexualität gesprochen wird, ein schonungsloses Buch über eine Frau, die süchtig nach Sex ist. Als ob ich aufgrund meiner Kultur schamhafter, zurückhaltender sein müsste. Als ob ich in würdiger Nachfolge Scheherazades höchstens einen orientalisch angehauchten erotischen Roman schreiben dürfte.

Dabei scheint mir eher, dass gerade die Marokkaner und ihre Nachbarn sich in Sachen sexuellem Leid, Frustration oder Entfremdung auskennen sollten. Für jeden, der in einer Gesellschaft lebt oder aufgewachsen ist, in der es keinerlei Freiheit gibt, seine Gefühle auszuleben, wird Sex unweigerlich zur Obsession, zur permanenten Zwangsvorstellung. Das Thema findet sich übrigens häufig in der zeitgenössischen Literatur wieder. Mohamed Choukri, Tahar Ben Jelloun, Mohamed Leftah, Abdellah Taïa sind dafür nur einige Beispiele. Die durchaus gepfefferte erotische Literatur erfindet sich immer wieder neu, gerade durch Autorinnen wie die Libanesin Joumana Haddad, die geheimnisvolle Nedjma oder die Syrerin Salwa Al Neimi, deren Buch Honigkuss ein Verkaufsschlager war.

Mein erster Roman ist also keine Ausnahmeerscheinung. Ich würde sogar behaupten, es ist kein Zufall, dass gerade ich eine Figur wie Adèle erschaffen habe: eine frustrierte Frau, die lügt und ein Doppelleben führt. Eine Frau, die von Gewissensbissen und ihrer eigenen Unaufrichtigkeit zerfressen wird, die Verbote umgeht und keine echte Lust empfindet. Adèle ist in gewisser Weise eine etwas überspannte Metapher für die Sexualität junger Marokkanerinnen.

Als mein Roman damals erschien, machte ich eine Lesereise durch Marokko. Ich war in Buchläden, an Universitäten, in Mediatheken. Ich wurde von Vereinen und Gesprächsgruppen eingeladen. Diese zweiwöchige Tour war eine Offenbarung. Niemals hätte ich erwartet, auf einen solchen Diskussionshunger zu treffen. Bei jeder Veranstaltung fiel mir auf, wie sehr sich das Publikum, und vor allem die Jüngeren, für das Thema Sexualität interessierte. Nach den Lesungen kamen viele Frauen zu mir und wollten mit mir sprechen, mir ihre Geschichten erzählen. Das ist die Magie von Romanen: Sie stellen eine sehr persönliche Beziehung zwischen Autor und Leser her und reißen Schranken wie Scham oder Misstrauen einfach nieder. Der Austausch mit diesen Frauen war für mich etwas ganz Besonderes. Ihre Worte sind es, die ich in diesem Buch weitergeben möchte als eindringliches Zeugnis unserer Zeit, aber auch ihres geteilten Leids.

Ich habe nicht vor, eine soziologische Studie oder einen Essay über die Sexualität in Marokko zu verfassen. Diese wahrhaft schwierige Aufgabe übernehmen herausragende Gesellschaftswissenschaftler oder exzellente Journalisten. Vielmehr ist mir daran gelegen, die Aussagen dieser Frauen ungefiltert niederzuschreiben. Ihre mitreißenden und eindringlichen Worte festzuhalten, die mich erschüttert und bewegt, mich wütend gemacht und manchmal empört haben. In einer Gesellschaft, in der sich viele Männer und Frauen lieber blind und taub stellen, wollte ich diesen oft schmerzhaften Momentaufnahmen Gehör verschaffen. Indem sie mir von sich erzählten und dabei bewusst Tabus brachen, haben all jene Frauen mir nämlich eines deutlich gemacht: Auch ihr Leben zählt etwas. Sie selbst sind etwas wert und müssen ernst genommen werden. Indem sie sich mir anvertrauten, wollten sie einmal, wenigstens für ein paar Stunden, aus ihrer Isolation heraustreten und den anderen Frauen zeigen, dass sie nicht allein sind. Insofern ist das, was sie hier erzählen, politisch, engagiert, emanzipiert. Während dieser Begegnungen musste ich oft an das denken, was die marokkanische Soziologin Fatima Mernissi in Der Harem in uns über die wunderbare, aber für muslimische Frauen manchmal belastende Figur der Scheherazade schreibt: »Sie würde die leidende Seele des Königs heilen, indem sie ihm vom Unglück anderer Menschen erzählte. (…) Sie würde ihm helfen, zu erkennen, dass sein blinder Hass auf die Frauen ein Gefängnis war.«Für Fatima Mernissi ist Scheherazade nicht deshalb so bemerkenswert, weil sie als Inbegriff der sinnlich-verführerischen Orientalin gilt, sondern, im Gegenteil, weil sie ihr Recht an der Geschichte beansprucht, weil sie nicht mehr nur Gegenstand der Erzählung ist, sondern selbst das Wort ergreift. Frauen müssen einen Weg finden, um wieder Einfluss auf eine Kultur zu nehmen, die die Geistlichen und das Patriarchat an sich gerissen haben. Indem sie von sich erzählen, nutzen sie eine der mächtigsten Waffen gegen Hass und Heuchelei: das Wort.

Man muss sich einmal klarmachen, welchen Mut diese Frauen beweisen, die hier Zeugnis ablegen, wie schwer es ist, in einem Land wie Marokko aus der Reihe zu tanzen und sich nicht konform zu verhalten. Die marokkanische Gesellschaft basiert auf dem Konzept der Gruppenzugehörigkeit. Dabei wird die Gruppe vom Einzelnen zugleich als Fluch wahrgenommen wie als Segen; man kommt nicht so einfach davon los, kann sich aber immer auf eine Art Herdensolidarität verlassen. Die Beziehung zur Gruppe ist also zutiefst ambivalent. Der Begriff h’ chouma, in etwa übersetzbar mit »Schande« oder »Scham«, der jedem von frühester Kindheit an eingetrichtert wird, bildet eine weitere Säule der marokkanischen Gesellschaft. Ein wohlerzogenes, gehorsames Kind und ein guter Bürger zu sein heißt auch, Scham zu empfinden sowie Anstand und Zurückhaltung zu zeigen. »Ordnung und Harmonie existieren nur, wenn jede der beiden Gruppen die hudud (Grenzen) respektiert«, ist bei Fatima Mernissi weiter zu lesen. Der Preis für den Verstoß ist hoch, und derjenige, der sich einer Übertretung der heiligen Grenzen schuldig macht, wird entsprechend bestraft und ausgeschlossen. Den Frauen, die mit mir gesprochen haben, geht es wie den meisten Marokkanern: Sie sind innerlich zerrissen zwischen dem Wunsch, sich von der Tyrannei der Gruppe zu befreien, und der Furcht, dass diese Befreiung sämtliche traditionellen Strukturen zum Einsturz bringen könnte, auf denen ihre Welt fußt. Sie alle sind, wie Sie sehen werden, oft zwiegespalten und verhalten sich widersprüchlich, begehren auf und fügen sich dann wieder. Sie versuchen zu überleben.

Während ich den Frauen zuhörte, drängte es mich, die Realität dieses Landes zu zeigen, die so viel komplexer und schmerzlicher ist, als man uns glauben machen will. Denn den bestehenden Gesetzen und der überlieferten Moral zufolge müsste jede und jeder, die oder der nicht verheiratet ist, unberührt sein. Demnach hätten all die jungen Männer und Frauen, die mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, noch nie Geschlechtsverkehr gehabt. Demnach gäbe es weder unverheiratete Paare noch Homosexuelle oder gar Prostituierte. Glaubt man den Konservativsten, die sich bemühen, eine eher märchenhafte als reale marokkanische Identität zu bewahren, so ist Marokko ein tugendhaftes und anständiges Land, das sich vor der westlichen Dekadenz und der Freizügigkeit seiner Eliten schützen muss. Das Verbot der »Unzucht« oder zinā ist in Marokko nicht nur ein moralisches. Der Artikel 490 des Strafgesetzbuches erlaubt »Haftstrafen von einem Monat bis zu einem Jahr für alle Personen unterschiedlichen Geschlechts, die, obwohl sie nicht miteinander verheiratet sind, Sexualverkehr haben«. Laut Artikel 489 wird »jede tendenziöse oder widernatürliche Handlung zwischen zwei Personen gleichen Geschlechts mit sechs Monaten bis drei Jahren Gefängnis«geahndet. In einem Land, in dem Abtreibung, außer in Fällen von Vergewaltigung, Inzest oder schwerer Missbildung des Fötus, verboten ist, und in dem zugleich »jede verheiratete Person, die des Ehebruchs überführt wird«, zwei Jahre Gefängnis riskiert (Artikel 491), spielen sich täglich dramatische Szenen ab. Man sieht und hört sie nicht, doch hinter verschlossenen Türen suchen persönliche Tragödien die Menschen heim, die oftmals das Gefühl haben, in einer scheinheiligen Gesellschaft zu leben, die sie verurteilt und verstößt.

Natürlich weiß in Wahrheit jeder, dass die Vorschriften, die uns leiten sollen, täglich, stündlich und in allen Milieus missachtet werden. Jedem ist es bekannt, doch niemand möchte es sehen und damit konfrontiert werden. Das Gesetz, das außerehelichen Beischlaf verbietet, wird nicht eingehalten, doch die Behörden weigern sich, dies öffentlich anzuerkennen. Obwohl täglich Hunderte heimliche Abtreibungen vorgenommen werden, haben sie die Paragraphen gegen Schwangerschaftsabbrüche nur minimal geändert. Sie tun so, als wüssten sie nicht, dass Homosexuelle in ständiger Angst und Scham leben. Alle Autoritäten – Politiker, Eltern, Lehrer – sagen dasselbe: »Macht, was ihr wollt, solange niemand davon erfährt.«

In einer Gesellschaft wie der unseren steht die Ehre über allem. Man urteilt nicht über das tatsächliche Sexualleben der Leute, sondern über das, was sie davon preisgeben oder preiszugeben wagen. Aber dieses Schweigegebot genügt nicht mehr, um den sozialen Frieden zu erhalten und dem Einzelnen Raum zur persönlichen Entfaltung zu geben. Unsere Gesellschaft ist zerfressen vom Gift der Heuchelei und von einer institutionalisierten Kultur der Lüge. All das gebiert Gewalt und Konfusion, Willkür und Intoleranz. Überzeugte Liberale und Konservative beschwören den Status quo gleichermaßen. Sie alle scheinen sich auf die irrige Ansicht geeinigt zu haben, dass die marokkanische Gesellschaft noch nicht bereit ist, sich in dieser Beziehung weiterzuentwickeln.

Aber wenn Frauen in Miniröcken wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verurteilt werden, wenn Homosexuelle vor aller Augen gelyncht werden, dann scheint es mir dringend notwendig, über einen Gesellschaftsentwurf nachzudenken, der uns alle vereint und derartige Entgleisungen verhindert. Marokko kann auf eine solche Überlegung ebenso wenig verzichten wie die anderen muslimischen Staaten der Region. In einer Zeit, in der der islamistische Terror immer heftiger wütet und in der viele muslimische Gesellschaften in moralischen Fragen zutiefst gespalten sind, können wir genau diese nicht ausklammern. Wir dürfen die Realität nicht weiter ignorieren, nur weil sie mit der Religion, dem Gesetz oder einfach dem Bild, das wir von uns selbst vermitteln wollen, nicht übereinstimmt. Wir müssen aufhören, es uns im Rückzug bequem zu machen und unsere Kultur und Identität als feststehend und ahistorisch zu begreifen. Wir sind nicht unsere Kultur, sondern unsere Kultur ist das, was wir daraus machen. Hören wir auf, den Islam und die universellen Werte der Aufklärung, den Islam und die Gleichberechtigung, den Islam und körperliche Lust als Gegensätze zu betrachten. Denn die muslimische Religion kann vor allem als eine Ethik der Befreiung, der Hinwendung zum anderen, als persönliches Wertesystem verstanden werden, und nicht nur als starr manichäische Sittenlehre.

Ich bin mehr denn je davon überzeugt, dass es einer grundlegenden Umgestaltung der individuellen und sexuellen Rechte bedarf, wenn wir der Jugend Raum zur Selbstentfaltung geben und die Frauen angemessen an der Gesellschaft teilhaben lassen wollen. Wir müssen zumindest gemeinsame Überlegungen anstrengen, ohne Hass und ohne Polemik. Welchen Platz wollen wir dem Individuum in unseren Gesellschaften einräumen? Wie kann man Frauen und Minderheiten schützen? Wie schafft man Toleranz für Randgruppen in einer Gesellschaft, die das Einhalten religiöser Normen und die soziale Kontrolle über alles stellt? Was ist mit dem Recht auf Privat- und Intimsphäre, die weder vom Staat noch von Geistlichen reglementiert wird?

Ich weiß, dass viele Menschen sexuelle Rechte und Freiheiten als nebensächlich erachten. Vielleicht könnte man meinen, in einem Land wie Marokko gäbe es dringendere Probleme und Bildung, ärztliche Versorgung sowie der Kampf gegen Armut hätten Vorrang vor individueller Freiheit. Aber sexuelle Rechte sind Teil der Menschenrechte, sie sind keine nachrangigen Rechte, keine kleinen Extras, auf die man ebenso gut verzichten könnte. Über den eigenen Körper frei verfügen zu können, seine Sexualität auszuleben ohne Gefahr und Zwang, als Quelle der Lust – all das sind Grundbedürfnisse und -rechte, die unveräußerlich und für jeden Menschen garantiert sein sollten.

Die sexuellen Rechte sind nicht nur Teil der Menschenrechte, in vielen Gesellschaften hat sich über sie auch die Dominanz der Männer etabliert. Wer also das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung sichert, tritt damit unmittelbar für die Rechte der Frauen ein. Es ist eine politische Frage, ob der Einzelne frei von familiären Zwängen eine selbstbestimmte, erfüllende Intimität leben darf. Wer in diesem Bereich Gesetze erlässt, gibt den Frauen die Möglichkeit, sich gegen männliche Gewalt und kollektiven Druck zur Wehr zu setzen. Die aktuelle Situation ist unhaltbar: ein allgemeiner Missstand, von dem ganz besonders Frauen betroffen sind, deren sexuelle Bedürfnisse, solange sie nicht die Fortpflanzung betreffen, schlicht ignoriert werden. Frauen, die vor der Hochzeit zur Keuschheit verdammt sind und danach zur Passivität. Eine Frau, deren Körper einer solchen sozialen Kontrolle unterliegt, kann ihre Bürgerrechte nicht voll wahrnehmen. Indem man sie derart »sexualisiert« und ihr nur die Wahl zwischen Schweigen oder Verdammnis lässt, respektiert man sie als Individuum nicht.

Michel Foucault schreibt in Sexualität und Wahrheit, die Sexualität erscheine »als ein besonders dichter Durchgangspunkt für die Machtbeziehungen: zwischen Männern und Frauen, zwischen Jungen und Alten, zwischen Eltern und Nachkommenschaft, zwischen Erziehern und Zöglingen, zwischen Priestern und Laien, zwischen Verwaltungen und Bevölkerungen«. In Marokko wie in anderen muslimischen Ländern kann man die bestehende sexuelle Misere als Hemmschuh für die Entwicklung des Individuums wie des Staatsbürgers betrachten. Unter einer bleiernen Glocke reproduziert der Mann im Familienkreis und im engen persönlichen Umfeld das ewig gleiche autoritäre Modell. So entstehen für ein Zwangsregime brauchbare Individuen. Sexuelle und politische Unterdrückung gehen Hand in Hand, oder wie es der Politologe Omar Saghi formuliert: »Wenn du mit sechzehn einen Polizisten anflehen musstest, dich nicht zu verhaften, nur weil du Händchen gehalten hast und weil du weißt, dass deine Familie ebenso repressiv und brutal reagieren würde wie der Polizeistaat, passt du dich dem verstümmelten Leben unter einer Diktatur an.«

SORAYA1

»Denk daran!«

Sie war es, die mich ansprach. Ich saß an der Bar eines schicken Hotels in Rabat. Sie kam zu mir, legte ihre Hand auf den Stuhl neben meinem und fragte, ob sie sich setzen dürfe. Ich antwortete: »Ja, natürlich.« Ich war zwar überrascht, doch ihre Selbstsicherheit gefiel mir. Sie setzte sich lächelnd und begann sofort, über alles und nichts zu reden, wohl, um keine Verlegenheit zwischen uns aufkommen zu lassen.

Sie sagte ein paar Dinge über meinen Roman, schließlich hatte er uns zusammengeführt. Sie hatte ihn gelesen und wollte ihn sich nach der Veranstaltung, die gerade in einem Saal des Hotels stattgefunden hatte, von mir noch signieren lassen. Doch sie war viel zu spät gekommen. Die Diskussion war bereits beendet, der Signiertisch abgebaut, und ich war nirgends mehr zu sehen gewesen. Einer der Verantwortlichen sagte ihr freundlicherweise, dass ich mich allein in die Bar zurückgezogen hatte. Und so saß sie nun neben mir.

Sie musste um die vierzig sein. Sie war im Grunde hübsch, aber nicht besonders gepflegt. Ihre Nägel teilweise abgebrochen, und sie rauchte viel. Doch ihr breites, unglaublich offenes und großzügiges Lächeln verwandelte sie. Manchmal schlug sie die Augen nieder und lachte ein kindliches und schelmisches Lachen. Es klang wie Blätterrascheln. Sie nahm sich überhaupt nicht wichtig, jegliches Pathos schien ihr fremd zu sein. In diesen Momenten fand ich sie unweigerlich schön.

Sie fing von ganz allein an, über sich zu erzählen. Ich wagte kaum, mich zu bewegen oder einen Schluck aus meinem Glas zu nehmen, aus Angst, die kleinste Geste könnte ihren Redefluss unterbrechen. Sie fragte mich, ob ich ein Kind hätte, was ich bejahte. »Ich habe keine bekommen. Ich konnte nicht. Das wird mir immer leidtun.« Daraufhin erzählte sie mir, dass sie sehr jung einen herrischen und eifersüchtigen Mann geheiratet hatte. Jahrelang hatten sie versucht, Kinder zu bekommen. Sie hatte immer wieder Fehlgeburten, ließ sich behandeln, schließlich gab sie es auf. Darüber zerbrach auch ihre Ehe. »Aber er war sowieso nicht besonders nett«, sagt sie lachend.

Vor ihrer Hochzeit hatte sie nie etwas mit einem Mann. »Als junge Frau war ich sehr verklemmt. Ich weiß noch genau, wie ungeniert meine Freundinnen an der Uni waren. Sie sprachen von ihren Liebhabern, erzählten sogar intime Details. Das war mir immer furchtbar unangenehm. Ich war Jungfrau und ziemlich verkrampft.« Nach ihrer Scheidung lernte sie ein paar Frauen kennen, mit denen sie offen und ohne Tabus über alles reden konnte. Deren Freizügigkeit, ja sogar Schlüpfrigkeit, wenn sie unter sich waren, überraschten sie und machten ihr Mut. Diese Freundinnen erklärten ihr auch, wie man Männer verführte und in den Wahnsinn trieb, notfalls mithilfe seltsamer Tränke.

»Doch bei uns zu Hause war es ganz anders«, gesteht sie mir. Dann beschreibt sie ihre Mutter. »Sie hat etwas von einer Königin. Eine starke, schöne und sehr strenge Frau«, die mit ihrem Vater eine geradezu symbiotische Beziehung führte. »Meine beiden Schwestern und ich durften praktisch nicht mit ihm reden. Sobald wir mal einen Moment mit ihm allein waren, rief sie uns in die Küche oder sonst wohin, damit wir ihr bei irgendetwas halfen. Sie ertrug es nicht, dass er außer ihr noch andere liebte.«

Diese verehrte und gefürchtete Mutter legte großen Wert darauf, dass ihre Töchter gut in der Schule und sozial integriert waren. Sie verbot ihnen weder zu Geburtstagsfeiern noch abends auszugehen, ließ sie sogar bei Freundinnen übernachten. »Sie vertraute uns, glaube ich. Aber wenn sie sich verabschiedete, ehe sie mich irgendwo absetzte, lehnte sie sich immer zu mir herüber und flüsterte mir ins Ohr: ›Denk daran.‹« Sie lacht, es klingt zugleich zärtlich und traurig.

»Woran sollten Sie denken?«, wage ich zu fragen.

»Denk daran, unberührt zu bleiben. Das war’s, was sie mir sagte.« Und dieses schreckliche, heilige, unablässig wiederholte Gebot hatte sie immerzu im Ohr. Wie eine mahnende innere Stimme, die sie nicht mehr loswurde. »Ich wollte endlich aufhören, so verkrampft zu sein. Nach meiner Scheidung – die für meine Mutter eine furchtbare Enttäuschung war – fühlte ich mich stark. Ich wollte mein Leben selbst in die Hand nehmen und hatte so eine Ahnung, dass mein Körper mir einiges zu bieten hatte. Ich wollte Lust empfinden, mich einfach nur hingeben. Gelungen ist mir das nie.«

Dabei lernt sie einen älteren Mann kennen, den sie als sinnlich und geduldig beschreibt. Sie lieben sich oft und lange. Er ermutigt sie, »sich gehen zu lassen«. »Ich versuchte es«, versichert sie mir. »Ich versuchte es mit ganzem Herzen, aber es gelang mir nicht.«

Ich merke, dass sie um den heißen Brei herumredet, dass all die Geschichten, die sie mir erzählt, so schön und eindringlich sie auch sein mögen, nicht das sind, was sie eigentlich sagen will. Diese Frau hat ein Geheimnis. Ich nehme eine Zigarette und biete ihr auch eine an. Mein Feuerzeug funktioniert nicht, egal wie oft ich schnipse. Sie dreht sich zu unserem Nachbarn hin und bittet ihn um Feuer. »Genau so hat es angefangen«, sagt sie. »Ich habe mich zu ihm umgedreht und ihn gefragt, ob er Feuer hat. Er hat mir die Zigarette angezündet, und da wir beide allein waren, hat er mir vorgeschlagen, mich zu ihm zu setzen. Er fing an zu reden, ganz normal. Er hat mir von sich erzählt, als wäre ich eine alte Freundin und als vertraue er mir. Ich war wie gebannt. Ich fühlte mich so sehr zu ihm hingezogen, dass ich es mit der Angst bekam. Ich wäre am liebsten für immer dort sitzen geblieben, um ihm zuzuhören, und zugleich sagte ich mir, ich sollte besser schauen, dass ich wegkomme. Er machte nämlich nicht viel Umschweife.«

Mit geröteten Wangen gesteht sie mir, dass ihr Mann sie dann anrief und dass sie seine Anrufe zum ersten Mal, seit sie sich kannten, wegdrückte und schließlich sogar ihr Handy ausstellte. Der Fremde und sie unterhielten sich lange. Sie war schon ein bisschen betrunken, als er ihr gegen elf Uhr vorschlug, mit zu ihm zu kommen auf ein letztes Glas und einen Kuss. Und das, was danach kommt. Sie traute sich nicht. Sie bekam Angst und floh, als wäre sie nicht ganz bei Trost, ohne eine Erklärung. Auf dem Weg nach Hause hat sie eine Freundin angerufen und gebeten, ihr ein Alibi zu geben. Sie sollte sagen, sie seien zusammen im Kino gewesen. Dann hat sie die Zusammenfassung des Films, der an jenem Abend lief, auswendig gelernt und anschließend ihrem Mann davon erzählt. »Ich habe mir Vorwürfe gemacht. Aber wert war es das trotzdem.«

Ich habe Marokko vor mehr als fünfzehn Jahren verlassen. Mit der Zeit und der Distanz habe ich sicher vergessen, wie schwierig es war, ohne die Freiheiten zu leben, die für mich so selbstverständlich geworden sind. In Frankreich kann man sich vermutlich kaum vorstellen, wie schizophren es sich anfühlt, seine Sexualität in einem Land zu entdecken, in dem der Islam Staatsreligion ist und alle Gesetze extrem konservativ sind.

Ich bin Marokkanerin, und in Marokko gilt für mich das muslimische Recht, egal wie mein persönliches Verhältnis zur Religion ist. Als ich ein Teenager war, mussten meine Eltern mir daher erklären, dass ich keine intimen Beziehungen außerhalb der Ehe haben oder mich auch nur mit einem Mann, der nicht zu meiner Familie gehört, an einem öffentlichen Ort zeigen durfte, obwohl dies nicht ihrer persönlichen Überzeugung entsprach. Ich verstand, dass ich nicht homosexuell sein, abtreiben oder ohne Trauschein mit einem Mann zusammenleben durfte. Sollte ich, da ich ja nicht abtreiben konnte, ein uneheliches Kind bekommen, machte ich mich ebenfalls strafbar, und das Baby hätte keinerlei zivilen Status. Es wäre ein Bastard. Das neue Familiengesetz, das seit 2004 in Kraft ist, erlaubt zwar, ein uneheliches Kind standesamtlich anzumelden, aber wenn der Vater es nicht anerkennt, muss die Mutter aus einer vorgegebenen Liste einen Namen auswählen, der den Zusatz Abd enthält. Ohne einen bekannten Vater ist das Kind gesellschaftlich geächtet und ökonomisch benachteiligt. Darum, und weil sie nicht wegen außerehelichen Beischlafs verhaftet werden wollen, setzen Hunderte von Frauen illegal gezeugte Kinder aus. Laut der unabhängigen Frauenhilfsorganisation INSAF(Institution Nationale de Solidarité Avec les Femmes en détresse) wurden 2010 in Marokko pro Tag durchschnittlich 24 Babys ausgesetzt. Das bedeutet jährlich 8000 bis 9000 Babys ohne Identität und Familie, ganz abgesehen von den toten Neugeborenen, die in Mülltonnen gefunden werden.

Kurz gesagt, es gibt kein Heil außerhalb der Ehe. Denn während sich die Gesellschaft dem Körper des Mannes gegenüber, der sich vergnügen will, nachsichtig zeigt, ist den Frauen außerhalb des ehelichen Schlafzimmers nichts erlaubt. Das ist hart, aber so ist nun einmal das Gesetz. Die Realität sieht natürlich anders aus, und viele Menschen umgehen diese Regeln. Selbst die Polizei, die doch die Einhaltung der Vorschriften durchsetzen müsste, lässt für ein paar Scheine gern mal fünfe gerade sein. Man muss nur in die Diskos von Marrakesch, Casablanca oder Rabat gehen, um das mit eigenen Augen zu sehen. Auf diese Weise wird jedoch ein Klima der Verwirrung und Angst geschaffen. Da alles vollkommen willkürlich ist. Da es genügt, einmal zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein oder an die falsche Person zu geraten. Für jeden gelten andere Gesetze, je nachdem, ob er reich oder arm ist, in einer großen Stadt oder einem konservativen Dorf wohnt.