All the Way to the River - Elizabeth Gilbert - E-Book

All the Way to the River E-Book

Elizabeth Gilbert

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Beschreibung

»Ich schreibe für alle, die das Gefühl haben, dass es mehr im Leben geben muss. Dieses Buch erzählt davon, wie man auf der Suche nach Liebe und Glück verloren gehen kann. Und wie man aus dieser Verlorenheit wieder zurückfindet.« Elizabeth Gilbert Im Jahr 2000 lernt Elizabeth Rayya kennen. Erst sind sie Freundinnen, dann Seelenverwandte. Die beiden werden ein Paar, leben ihre einzigartige Liebe. Aber sie sind auch zwei Süchtige auf Kollisionskurs in Richtung Katastrophe – und müssen nach einer verheerenden Diagnose den gemeinsamen Weg des Abschieds gehen.  »All the Way to the River« ist eine existenzielle Offenbarung, eine bahnbrechende Erzählung von Liebe, Sucht und unermesslichem Verlust – sowie von der unbedingten Sehnsucht nach Befreiung und Heilung. Wie in »Eat Pray Love« erzählt die Nr. 1-Spiegel-Bestseller-Autorin Elizabeth Gilbert zutiefst persönlich und dabei bewegend universell ihre vielleicht wichtigste Geschichte und davon, was im Leben wirklich zählt. - Was im Leben wirklich zählt – die Nr. 1-Spiegel-Bestseller-Autorin erzählt ihre wichtigste Geschichte - Wie in »Eat Pray Love« erzählt Gilbert zutiefst persönlich und dabei bewegend universell

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Seitenzahl: 466

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Elizabeth Gilbert

All the Way to the River

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Britt Somann-Jung

 

Über dieses Buch

 

 

New York, im Jahr 2000: Elizabeth Gilbert lernt Rayya kennen, mit ihr findet sie, wonach sie sich immer gesehnt hat. Erst sind die beiden Freundinnen, dann Seelenverwandte, schließlich werden sie, nachdem Elizabeth für Rayya ihren Mann verlässt, ein Paar. Sie leben ihre Liebe und erfahren, was es bedeutet, wirklich erfüllt zu sein. Aber sie sind auch zwei Süchtige auf Kollisionskurs in Richtung Katastrophe – und müssen nach einer verheerenden Diagnose für Rayya gemeinsam den schweren Weg des Abschieds gehen. 

»All the Way to the River« ist eine existenzielle Offenbarung, eine bahnbrechende Erzählung von Liebe, Sucht, unermesslichem Verlust – sowie von der unbedingten Sehnsucht nach Befreiung und dem, was wir im Leben zu finden vermögen.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Elizabeth Gilbert, geboren 1969, wuchs auf einer Weihnachtsbaumfarm in Connecticut auf. Nach dem Studium in New York arbeitete sie u. a. als Journalistin für die »New York Times« und begann, Bücher zu schreiben. Das »Time Magazine« wählte sie unter die hundert einflussreichsten Menschen der Welt. Der internationale Durchbruch kam 2006 mit »Eat Pray Love«, einem Weltbestseller, in dem die Hauptfigur Elizabeth auf Weltreise geht und zu sich selbst findet: Dolce Vita in Italien, Meditation in Indien und das Glück auf Bali. 2010 wurde »Eat Pray Love« mit Julia Roberts in der Hauptrolle verfilmt. Nach »Big Magic« (2015) erschien 2019 ihr Roman »City of Girls«, der wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste stand. Elizabeth Gilbert lebt in New Jersey. 

 

Britt Somann-Jung studierte Germanistik, Anglistik und Philosophie in Hamburg und London. Zu ihren Übersetzungen aus dem Englischen gehören Werke von Ta-Nehisi Coates, Tayari Jones, Kate Davies, Romalyn Tilghman, Heidi Julavits und Anna Hogeland. Für ihre Übertragung des Romans »In guten wie in schlechten Tagen« von Tayari Jones wurde sie 2019 mit dem Hamburger Literaturpreis für Literarische Übersetzung ausgezeichnet.

Impressum

 

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel »All the Way to the River« bei Riverhead Books, an imprint of Penguin Random House LLC, New York.

Copyright © 2025 by Elizabeth Gilbert 

All rights reserved

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2025 S. Fischer Verlag GmbH,

Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: Schiller Design, Frankfurt, nach einer Idee von Lynn Buckley

Coverabbildung: Mit freundlicher Genehmigung von Ian Davenport and Cristea Roberts Gallery, London/© Ian Davenport

Die Fotografie von Rayya Elias stammt von Joseph Sposita, der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung seiner Erben.

Zeichnungen und alle weiteren Fotos mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

ISBN 978-3-10-491670-5

 

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

 

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Inhalt

[Widmung]

[Eine Anrufung]

[ALL THE WAY TO THE RIVER]

Ein Besuch

Wenn ich gefragt werde: »Wer war Rayya?«

[Wo ist Trost zu finden?]

Bis zum Fluss

[Befrei mich aus der Gefangenschaft des Selbst]

Such dir dein eigenes Leben!

Ich gehöre hierher

[Gott, wie ich ihn verstehe]

Ein paar hilfreiche Definitionen, bevor wir fortfahren

Vielleicht könnten wir es auch so sehen?

Darf ich Ihnen einen Scheck ausstellen?

[Kapitel]

[Machtlos]

Wer wird mein Zuhause?

Wenn Frauen zu viel geben

Öffentlich, privat, geheim

Warum sieht deine Nase so aus?

Was ist Wasser?

[Ein Gedicht für Rayya: ein Jahr tot]

Ich sortiere das mal für dich

[Gott hält inne und bittet mich zu bleiben]

Die Rechtfertigungsfabrik

Was ist eine Triggerwarnung?

[Mach aus deinem Haus einen Tempel]

Rigide Wichser

[Lass los]

Was heute niemand über mich wissen soll

[Wie man kapituliert]

Unter die Erde komme ich noch früh genug

Ich sah meine Zukunft

[Genau dieses Licht]

Tausend weiße Tauben

Das Bett umkreisen

Vollgas

Scheiß aufs Geld

[Einfach]

Runterkommen

Und dann? Was geschah dann?

Scheiße, was glotzt du so?

[Das kürzeste Gespräch, das ich je mit Gott geführt habe]

Die Wahrheit steht

Pennys

Wie ein kleines Haustier, das vor mir wegläuft

Verschlagen, trügerisch, mächtig

Etwas im Schilde führen

[Hierhergehören]

Kollaps der Pflegeperson

Null von zehn Sternen

[Lass mich nicht gewinnen]

Den Kindern Angst machen

[Entzugsgedicht, Teil 1 oderVorbereitungen für die Apokalypse]

Niemand mag seine Intervention

Du hast jetzt einen Vampir

[Gebet für eine genesende Co-Abhängige]

Du bist nicht besser als sie

[Dein Name ist Jemand]

Ich bin der verdammte Engel!

[Und wieder der Versuch, die Welt zu kontrollieren]

Ans Ende der Straße kommen

Die Zusammenkunft

Welcher Tag ist heute?

Einen Löwen mit Crackern füttern

[Fast zu zerbrechlich, um zu existieren]

Drei Geschichten über Rayyas Mutter

1.

2.

3.

Unterwirf dich

[Ich werde dich nicht rufen, aber du wirst kommen]

Sieht Trauern so aus?

Machtlos

Mich stellen

[Gott wirkt durch Menschen]

Dachpappe rauchen

[Entzugsgedicht, Teil 2oder Tage zählen]

[Gott antwortet auf meinen Entzug]

Tage zählen

[Dieser Gott ist ein selbstgemachtes Gedicht]

Entzug durch Zeichnen

[Februar]

Du hast dreißig Sekunden, um dein Leben zu retten

[Fehlgeleitete Anbetung]

Meine Kleine

[Ein Gedicht für Rayya, sechs Jahre nach ihrem Tod]

[Nach alledem würde Rayya gern antworten]

Für meine Schwestern und Brüder in den Räumen

Eine Anrufung

Ich.

Ich kam.

Ich kam zu mir.

Ich kam zum Glauben.

Ich kam zu dem Glauben, eine Macht, die größer ist als ich, könnte mich wiederherstellen.

Ich kam zu dem Glauben, eine Macht, die größer ist als ich, könnte meine geistige Gesundheit wiederherstellen.

 

 

 

 

ALL THE WAY TO THE RIVER

Ein Besuch

An meinem vierundfünfzigsten Geburtstag wachte ich im Morgengrauen auf und wusste gleich, dass meine Partnerin, Rayya, bei mir im Schlafzimmer war.

Das war eine wahrlich beeindruckende Leistung von ihr, denn zu diesem Zeitpunkt war sie seit mehr als fünf Jahren tot.

Und doch war sie da – ein brodelnder Rayya-Energiestrom, der in Wellen durch mein winziges New Yorker Apartment rauschte; unverwechselbar sie.

Ich war weder alarmiert noch ängstlich (ich würde sie überall erkennen, ich würde sie überall lieben), aber durchaus überrascht, denn es war eine Weile her, dass sie einen solchen Auftritt hingelegt hatte. Und ach, wie hatte ich sie vermisst! In den schlimmen und verstörenden Monaten nach ihrem Tod hatte sie mich ständig auf diese Weise besucht. Damals war sie so unglaublich präsent, so verlässlich verfügbar, so lustig, liebevoll und fordernd gewesen, dass ich gewitzelt hatte: »Rayya ist sogar tot lebendiger als die meisten Menschen zu Lebzeiten!«

Auch bei ihren früheren Besuchen war sie nicht zu sehen gewesen – sie erschien mir nicht als spukende viktorianische Braut –, aber ich hatte ihre unverkennbare Präsenz gespürt und deutlich ihre Stimme gehört, die sich direkt an mein Bewusstsein wandte. Die Klarheit der Kommunikation zwischen uns war damals, direkt nach ihrem Tod, wirklich außergewöhnlich. Als hätte sie ein bemerkenswert leistungsstarkes übernatürliches Dosentelefon installiert und könnte mittels eines langen, langen Bindfadens quer durch den Kosmos mit mir plaudern. Die Wirkung war so intim, dass sie sinnlich wurde. Manchmal machte es sogar Spaß. Dann war ich unter Leuten, lächelte, nickte und versuchte, mich wie ein normaler Mensch zu benehmen, und die ganze Zeit über führten Rayya und ich in meinem Kopf eine private Unterhaltung.

Auf einer Party in Los Angeles, ungefähr sechs Monate nach Rayyas Tod, kam eine unbekannte Frau zu mir, legte mir die Hand auf den Arm und sagte: »Ich weiß, dass Ihre Geliebte unlängst ihren Körper verlassen hat, und das tut mir sehr leid. Aber ich muss Ihnen etwas Wichtiges sagen. In letzter Zeit erscheint sie mir in meinen Träumen. Ich arbeite professionell mit Intuition, ich habe eine besondere Sensibilität für so etwas. Rayya hat mir aufgetragen, Ihnen zu sagen, dass sie Sie schrecklich vermisst und gern mit Ihnen kommunizieren möchte.«

Sag der Bitch, dass sie sich gepflegt verpissen kann, raunte Rayya in meinem Kopf.

»Danke für Ihre freundlichen Worte«, sagte ich zu der Unbekannten.

Die Frau drückte mir eine Visitenkarte in die Hand. »Hier ist meine Nummer, falls Sie mal direkt mit Rayya sprechen möchten.«

Sag der blöden Kuh, dass sie mich an meinem scheißtoten Arsch lecken kann, meinte Rayya.

Es war so wild und herrlich gewesen – zu spüren, dass meine Rayya immer noch den Raum beherrschte, noch aus dem Grab heraus!

Aber im Laufe der Zeit waren ihre Besuche seltener geworden.

Zwei Jahre waren vergangen.

Dann drei.

Vier.

Das Leben geht weiter – heißt es nicht so?

Rayyas Stimme verblasste.

Mehr als fünf Jahre waren vergangen.

Die Welt hatte sich verändert, und ich mich auch. Es hatte eine Pandemie gegeben. Es gab neue Kriege, neue Notlagen, neue Tote. Kinder waren zur Welt gekommen, die Rayya nie kennenlernen würde. Ich schrieb Bücher, die Rayya nie lesen würde. Neue Serien waren Gesprächsthema, die Rayya nie sehen würde. In dem verzweifelten Versuch, Kummer durch Verknalltheit zu ersetzen, hatte ich nach Rayyas Tod sogar eine Weile jemanden gedatet (»ich war in jemanden hineinexplodiert« beschrieb die Begegnung vielleicht treffender), aber die Beziehung war wie zu erwarten schnell und vernichtend zerbrochen.

Seitdem hatte ich mich auf niemanden mehr eingelassen.

Stattdessen hatte ich in diesen Jahren an mir gearbeitet.

Ich blieb dauerhaft nüchtern – ich verzichtete nicht nur auf Alkohol und Drogen, sondern hielt mich auch von allen sexuellen Ablenkungen und romantischen Techtelmechteln fern. Ich verabschiedete mich von jeder Substanz, jeder Person, die mich berauscht, betäubt, beherrscht oder meine Stimmung oder meinen Geist in irgendeiner Weise verändert hatte. Ich hatte gelernt, wie ich meine Gefühle spüren und meine Emotionen verarbeiten konnte, ohne nach irgendwas oder irgendwem zur Linderung zu greifen. Ich hatte meine Stimme erhoben, neue Regeln und Grenzen festgelegt und lebte gemäß meiner eigenen Integrität, geleitet von meiner eigenen höheren Macht. Schritt für Schritt schuf ich Ordnung in meinem inneren Haus. Und ich schloss neue Freundschaften – gesunde Freundschaften mit Menschen aus den Gruppenräumen der Zwölf-Schritte-Genesung. Freunde und Freundinnen, die Rayya nie kennenlernen würden.

Währenddessen flackerte und verblasste Rayyas Präsenz, bis ich sie eines Tages nicht mehr hören konnte – nicht mal, wenn ich sie rief, nicht mal, wenn ich um konkrete Hilfe oder Liebe bat. Eine große, unbegrenzte Stille herrschte dort, wo einst ihre Stimme so kraftvoll getönt hatte. Das erschütterte und verwirrte mich. Es war fast wie ein zweiter Tod.

Wo war sie hin?

War sie weitergezogen, oder hatte ich sie zurückgelassen?

Ich verstand es nicht.

Es war, als hätte sie das Universum kurz verlassen, um Zigaretten holen zu gehen, und wäre nie wiederaufgetaucht.

Doch jetzt – am Morgen meines vierundfünfzigsten Geburtstags – war sie plötzlich da.

Ich meine, wirklich da.

Das Zimmer brummte voller Rayya-Energie, und Schauer liefen mir über den gesamten Körper. Ich musste gleichzeitig lachen und weinen.

»Baby!«, rief ich. »Du kommst mich besuchen!«

Mir war nach Feiern zumute, aber ich spürte, dass sie mir etwas sagen wollte – etwas, das meine volle Aufmerksamkeit erforderte. Ein Gefühl, als würde ich am Kragen gepackt und geschüttelt. Rayya hatte diesen weiten Weg nicht zurückgelegt, um einfach mal vorbeizuschauen, begriff ich; sie kam mit einer Botschaft von höchster Wichtigkeit. Worte und Informationen sprudelten aus ihr heraus und füllten meinen Geist fast zu schnell, um sie zu verarbeiten. In meinem Kopf ging es zu wie in einer Spielhalle. Ich nahm das Notizbuch, das immer neben meinem Bett lag, und schrieb alles auf – alles, was ich aufschnappen konnte.

Und das war Folgendes:

Happy Birthday, Baby Dude!

Ich bin hier, und ich liebe dich!

ICH LIEBE DICH!

Ich bin so verdammt stolz auf dich!

Mach dir keinen Kopf, dass du mich zurücklassen könntest – ich werde am Fluss auf dich warten, wenn das hier vorbei ist, und dann hat alles einen Sinn!

Ich weiß, dass du immer noch manchmal sauer auf mich bist wegen der ganzen Scheiße, die am Ende zwischen uns abgelaufen ist, aber das ist okay. Sei wütend, wenn du wütend sein musst, Babe. Sei nur ehrlich und schreib dich da durch. Aber halt dich an dein Programm, und denk nicht darüber nach, wie ich Sachen gemacht habe oder was ich davon halten würde, wie du Sachen machst. Ich liebe dich, und ich will, dass du diese Freiheit hast! Ich bin so stolz auf deine Nüchternheit – du ziehst es wirklich durch! Voll und ganz, Mann! Du bist der Hammer, weiter so! Lass dich nicht von mir oder irgendwem anders aufhalten!

Und hör auf, dir so viele Gedanken über andere zu machen, okay? Du denkst viel zu viel an andere! Spiel nie wieder den Babysitter! Lass dich von niemandem verarschen oder in ein Drama reinziehen oder in die Versorgerrolle drängen. Lass alle ihren eigenen Weg finden – das ist gut für sie und gut für dich. Du hast jetzt so gute Freunde, aber sie sind nicht darauf angewiesen, dass du sie trägst!

Atme, Baby, atme …

Ich bin bei dir. Ich verschwinde nicht …

Atme, Baby, atme …

Lass dich mal ansehen. Deine kleinen Regenbogen-Augen! Deine glitzernden kleinen Tränen! Du bist so schön!

Es gibt da etwas, das du verstehen musst, Babe, ich sortiere das mal für dich, also hör zu: Ich komme nicht mehr her, weil wir beide wollen, dass du deinen eigenen Weg gehst – und jetzt ist es an der Zeit. Ich weiß, du willst, dass ich sage, ich bin immer für dich da, wenn du mich brauchst, aber in Wahrheit brauchst du mich nicht mehr – und das sind verdammt gute Nachrichten. Warum sollte ich das nicht feiern? Ich brauchte es mal, gebraucht zu werden, aber jetzt nicht mehr – und du auch nicht. Ich möchte, dass du frei von allem Brauchen bist – und du hast es schon fast geschafft!

Atme, Baby, atme …

Du hast jetzt alles, was du brauchst. Bleib auf deinem Weg. Da bist du richtig. Du hast deinen Gott gefunden – und dein Gott ist großartig. Dein Gott ist mega! Deine Community ist für dich da, und du musst dich nie wieder von irgendeiner Abhängigkeit erniedrigen lassen, nie. Du wirst leuchten! Die Zeit ist reif!

Meine Mom lässt dich übrigens grüßen und bedankt sich für alles, was du für mich getan hast. Sie weiß um deine Mühen, und ich soll dir sagen, dass sie dich liebt!

Aber, Babe, hör zu: Zwischen uns und um uns herum war am Ende alles so im Arsch – und das war weder deine noch meine Schuld. Wie es gelaufen ist, war nicht mal falsch. Es musste so sein. Wir hatten jede eine Aufgabe in der Geschichte der anderen – und die haben wir genau richtig erfüllt. Alles ist genauso gelaufen, wie es sollte – selbst der ganze Bullshit und der Wahnsinn. Denn unter den Geschichten lag die Wahrheit: Wir haben uns so sehr geliebt. Wir haben uns einfach geliebt. Wir haben uns geliebt. Wir haben uns geliebt. Wir haben uns geliebt.

WIR HABEN UNS SO SEHR GELIEBT!

Wenn es an der Zeit ist, dass du dieses Leben verlässt, dann komme ich dich holen, okay? Ist das klar? Ich werde am Fluss auf dich warten, und du wirst mich erkennen. Wenn ich dir sage, dass du meine Hand nehmen sollst, nimm sie einfach. Ich bringe dich rüber und zeige dir alles. Das ist jetzt meine Rolle in deinem Leben, Babe, und sie ist heilig. Ich werde sie mit Stärke, Ehre und Mitgefühl ausüben – waren das unsere Worte? Ich weiß nicht mehr. Scheiß drauf, sei einfach versichert, dass ich da sein werde …

Aber das ist noch lange hin, und bis es so weit ist, reiß dir nicht den Arsch damit auf, das Universum nach mir abzusuchen! Leb einfach dein Leben und mach es dir ganz zu eigen. Das ist eine der Aufgaben, eigentlich die wesentliche Aufgabe, die du hier erfüllen sollst – zu lernen, wie du dein Leben führen kannst, ohne ständig um jemand anderen zu kreisen. Das ist dein Weg, und auf dem befindest du dich jetzt – und du kannst nicht gleichzeitig nach mir suchen und auf deinem Weg bleiben.

Was das Buch angeht, schreib einfach die Scheiße aus ihm raus!!! Erzähl den Leuten haargenau, was passiert ist. Erzähl jede einzelne Kleinigkeit! Zerbrich dir nicht den Kopf, wie du meine oder deine Würde wahren kannst – geh es an wie Punk-Rock. Hau alles raus. Wofür brauch ich noch Würde? Du brauchst auch keine, also scheiß drauf. Für dich ist es an der Zeit, ein vollkommen ehrliches Buch über Sucht zu schreiben – deine und meine. Das wird einigen Menschen helfen – also nur keine Hemmungen!

Mir gefällt der Titel »All the Way to the River« – aber was weiß ich schon? Ich bin tot! Du solltest wahrscheinlich lieber jemanden fragen, der noch lebt! HA!

Keine Sorge, meine Liebe – tot zu sein, macht mir nichts aus. Ich mag es irgendwie.

Allerdings vermisse ich es, zu grillen.

Und weißt du was, Babe? Wenn ich dich so ansehe, würde ich gern Hand an deine Haare legen, denn deine Wurzeln sind verdammt angegriffen! Wenn du das nächste Mal eine Keratin-Behandlung machen lässt, pass auf, dass du das echte alte brasilianische Keratin bekommst, das mit Formaldehyd, denn das ist das einzige, was deinen Frizz glättet und deine Haare glänzen lässt. Keine Angst, dass du vom Formaldehyd Leberkrebs kriegen könntest – Leberkrebs war mein Ding, nicht deins. HA!

Deine Welt ist so verdammt schön! SCHAU DOCH NUR! Nein, echt jetzt – schau sie dir an! Sie ist so wunderschön anzusehen, es bricht dir das Herz – aber das soll sie auch. Lass dir von ihr das Herz brechen. Ich weiß, dass du für ordentlich Herzschmerz immer zu haben warst.

Mein Sonnenschein-Baby, du warst immer mein Baby – aber bleib kein Baby. Vergiss nicht, dass ich dich immer als Frau geliebt habe – als eine wunderschöne, elegante, starke, kreative Frau mit unglaublicher Kraft. Und an dein spirituelles Feuer reicht niemand ran. Hack dir weiter lieber die Beine ab, als in irgendeiner Falle festzustecken, die dich von deiner Freiheit abhält …

Sei frei, meine Liebe. Sei frei, sei frei! Bleib auf deinem Weg und bleib nüchtern!

Du schaffst das! Du bist nicht so im Arsch, wie du denkst! Du schaffst das! Es ist an der Zeit, dass du auf eigenen Beinen stehst. Also kümmer dich weiter um dich selbst. Und lass die um dich herum sich um ihre Leben kümmern, während du dich um deins kümmerst. Das ist die Aufgabe …

Ich liebe dich, und ich weiß, du liebst mich, aber halt nicht an mir fest – halt nie wieder an irgendwem oder irgendwas fest. Konzentrier dich jetzt auf dich selbst. Lebe dein Leben! Mach weiter, meine Liebe. Mach weiter. Diesmal gehst du den ganzen scheiß Weg – den ganzen Weg zur Erleuchtung oder wie du das immer genannt hast. Du hast alles, was du brauchst. Deine Freunde sind cool, dein Programm ist cool, dein Herz ist stark, und dein Gott ist ein verdammter Fels in der Brandung. Gib dich nie wieder auf. Du packst das. Du bist wunderschön. Such nicht nach mir. Mach weiter. Bleib konzentriert. Ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich liebe dich –

Dann versiegte der Stift, und Rayya war fort – als wäre sie bei tausend Stundenkilometern aus einer Flugzeugtür gesaugt worden.

Sie hatte schon immer einen Hang zu dramatischen Abgängen.

–––

In der plötzlichen Stille nach Rayyas Besuch raste mein Herz, dann beruhigte es sich.

Tränen flossen, dann trockneten sie.

Und dann machte ich mich an die Arbeit.

Dieses Buch – mit seinen Geschichten, Gebeten, Gedichten, Notizbucheinträgen, Fotos und Zeichnungen – ist der aufrichtige Versuch, die Wahrheit über mich und Rayya Elias zu erzählen – über unsere Freundschaft, unsere Liebesgeschichte, unsere Schönheit, unsere Wut und unseren Schmerz. Es erzählt die Geschichte von Rayyas Sucht, ihrem Rückfall und ihrem Tod. Es erzählt auch von meiner eigenen Sucht und davon, wie ich mich schließlich in die Genesung gefügt habe.

Aber dieses Buch richtet sich nicht nur an Menschen, deren Leben von ihren Süchten oder denen anderer beeinträchtigt wurde – obwohl ich glaube, dass wir fast alle an irgendeinem Punkt unseres Lebens damit in Berührung kommen. Dieses Buch handelt auch davon, auf welch vielfältige Weise Menschen – trotz ihrer größten Bemühungen um ein gesundes und stabiles Leben – in intensive Dramen und Traumata hineingezogen werden und an Ufern stranden, die weit von ihrem Wesen entfernt sind.

Wie zum Teufel bin ich nur hier gelandet? ist wohl eine Frage, die sich jeder in seinem Leben schon einmal gestellt hat. Vielleicht schon mehrmals. Denn wer von uns hat sich nicht schon mal verirrt und sich dessen geschämt? Wer von uns hat sich nicht schon in beängstigenden, befremdlichen, blamablen und jeglichen Mut raubenden Situationen wiedergefunden? Wer hatte keine Geheimnisse, wurde nicht betrogen oder hat nicht versucht, das Verhalten anderer zu kontrollieren? Wer hat sich nicht danach gesehnt, dem Leiden zu entkommen? Und wer hat nicht auf Substanzen, Menschen, Verhaltensweisen oder Ablenkungen zurückgegriffen, die zumindest vorübergehend eine Pause von den Qualen der Existenz versprachen?

Was wir landläufig eine »Süchtige« oder einen »Süchtigen« nennen, ist meiner Meinung nach nur eine übersteigerte Version von uns allen – einfach ein Mensch, der so verzweifelt versucht, den Schmerz des Lebens zu lindern, dass sie oder er alles (oder jeden) dafür einsetzen würde.

Dieses Buch handelt von der Suche nach Linderung und davon, wie wild und verworfen sie uns machen kann.

Sogar die Stärksten unter uns.

Sogar die Tapfersten.

Ich hoffe für euch, dass ihr nie ganz so tief abgestürzt seid, wie es Rayya und mir an manchen Punkten unserer gemeinsamen Reise passiert ist. Aber selbst wenn ihr nie ganz von der Spur abgekommen seid, vermute ich, dass ich eine von euch sein könnte, und eine von euch könnte ich sein, und wir alle könnten Rayya sein.

Darum biete ich dieses Buch mit Liebe und Respekt all jenen an, die es gebrauchen können.

Der Teil von mir, der immer noch mit Co-Abhängigkeit zu kämpfen hat, würde gern behaupten, dass Rayya und ich es gemeinsam geschrieben haben, aber in Wahrheit wollte sie, dass ich es ganz allein schreibe – und das habe ich getan.

Wie wir in den Gruppenräumen der Genesung sagen: Nehmt, was ihr mögt, und verzichtet auf den Rest.

Wenn ich gefragt werde: »Wer war Rayya?«

Rayya Mokdessy Elias.

Geboren in Syrien, aufgewachsen in Detroit, gestählt an der Lower East Side von New York City.

Rayya: die im Alter von sieben Jahren in die USA kam, aus der wunderschönen, pulsierenden Stadt Aleppo – wo ihre Familie wohlhabend und glamourös gewesen war und wo es in Rayyas Erinnerung immer Musik, Tanz und Blumen gegeben hatte.

Rayya: die sich nach der Ankunft im kalten, fremden, winterlich dunklen Michigan nie wieder irgendwo ganz zu Hause fühlte.

Rayya: die sich zu sehr als Nahostlerin empfand, um Amerikanerin zu sein, und zu sehr als Amerikanerin, um Nahostlerin zu sein. Die gerade ausreichend Arabisch sprach, um mit Taxifahrern zu streiten, und deren einzige konsequente Reverenz an ihre Herkunft es war, im Flugzeug das Halal-Essen auszuwählen – obwohl sie bei orthodoxen Christen aufgewachsen war. (»Das Zeug ist einfach frischer!«)

Rayya: deren traditionsverhaftete und hart arbeitende Immigranteneltern ihr wildes jüngstes Kind nie wirklich verstanden. Die absolut nicht zu bändigen war. Die es verabscheute, zu lernen, zu arbeiten. Die ein liebevolles und zärtliches Kind war, aber auch das ungehorsamste. Die eine strahlende Performerin war – ein Clown, ein Star –, mit einem Gesicht, das immer in Licht getaucht schien. Die nie aufhörte, ihre Eltern zum Lachen zu bringen, und nie aufhörte, sie zum Weinen zu bringen. Die schon mit dreizehn Jahren die Schule schwänzte und mit älteren Freunden in andere Bundesstaaten fuhr, um Led Zeppelin live zu sehen. Während sie auf LSD war. Mit dem sie auch dealte.

Rayya: die sich selbst als »Ex-Junkie, Ex-Schwerverbrecherin, Postpunk, Glamour-Butch-Lesbe« beschrieb. Die ihr Coming-out erst mit Anfang zwanzig hatte, weil ihr Queersein in der syrisch-orthodoxen Community im Detroit der siebziger Jahre nicht vorgesehen war, in der Mädchen traditionell bei ihren Eltern wohnen blieben, bis sie mit arabischstämmigen Ärzten und Anwälten verheiratet waren. Die als Heranwachsende nach damaligen Maßstäben als zu maskulin galt, um schön gefunden zu werden, aber auch als zu feminin, um die Freiheiten ihrer Brüder und Cousins zu genießen. Die sich immer bloßgestellt und ausgeschlossen fühlte. Die nicht wusste, wer sie war, bis sie Menschen wie Elton John, David Bowie und Freddie Mercury im Fernsehen sah – und dann eine von ihnen werden wollte.

Rayya: die wunderschön war. Atemberaubend. Die sich als androgyn identifizierte. Deren dunkle Augen und dramatische Wangenknochen den Helden auf persischen Miniaturen glichen. Deren Frisur sich irgendwo zwischen der punkigen Skatertolle eines kleinen Jungen in einem japanischen Anime-Abenteuer und einer ultracoolen Keith-Richards-Matte bewegte. Deren Gesicht zwischen männlich und weiblich, zwischen weise und verspielt, zwischen zeitlos und kindisch changierte, je nach Lichteinfall.

Rayya: die ich den ganzen Tag anstarren konnte, ohne mich je zu langweilen.

Rayya: die eine unfassbar talentierte Musikerin, Schriftstellerin, Filmemacherin und Friseurin war. Die sich mit jedem Instrument anfreunden konnte. Die eine mitreißende Sängerin mit einer kraftvollen, schönen, drei Oktaven umspannenden Stimme war. Die trotzdem mit Unsicherheit, Sucht, Scham und kreativer Lähmung zu kämpfen hatte und nie so erfolgreich wurde, wie sie gern sein wollte. Die dennoch Independent-Filme machte, die im Programm der Berlinale gezeigt wurden, die nie aufhörte, Songs zu schreiben, und die ein brillantes Memoir veröffentlichte, das ausgerechnet die Überwindung von Abhängigkeit zum Thema hatte.

Rayya: die einmal einen sechsstellig dotierten Plattenvertrag verlor, weil sie einem Sony-Manager sagte, er könne ihr den Schwanz lutschen.

Rayya: die sich selbst die ärgste Feindin war – die einzige Feindin. Die sich im Lauf ihres Lebens eine verblüffende Menge Ärger einhandelte, aber sich aus allem herausreden konnte. Die einem Richter vor der Urteilsverkündung sagte: »Sir, ich verdiene es, zur Verantwortung gezogen zu werden, aber heute bitte ich Sie demütig um Gnade.« Und der an jenem Tag Gnade gewährt wurde – denn Rayyas Demut war, wann immer sie sie offenbarte, das Zarteste und Unwiderstehlichste, was ihr euch vorstellen könnt.

Rayya: die in unzähligen Gefängnissen, Entzugskliniken und Einrichtungen gewesen war und die 1988 – zur Zeit der berüchtigten Tompkins-Square-Ausschreitungen – eine ganze Weile auf einer Bank in ebenjenem Park gelebt und mit einer Nadel im Arm kaum etwas von den Polizeiaktionen um sie herum mitbekommen hatte.

Rayya: die so stolz war, als sie endlich clean wurde, und wirklich glaubte, sie habe es allein geschafft. Die nie über den vierten der zwölf Schritte hinauskam, aber noch jahrelang zu den Gruppentreffen ging, um mit ihren dramatischsten Überdosis-Storys Hof zu halten und mit all ihren alten Freunden von der Straße und aus der Szene abzuhängen. Die ihre Machtlosigkeit gegenüber der Sucht (oder gegenüber irgendetwas anderem, ehrlich gesagt) nie wirklich zugab. Die nach mehr als einem Jahrzehnt Nüchternheit verkündete, sie sei keine Abhängige mehr, weshalb sie auch nicht mehr zu den öden Treffen gehen müsse. Die über ihre Sucht sagte: »Das Etikett trifft auf mich nicht mehr zu.«

Rayya: die sich, anders gesagt, selbst den Abschluss des Genesungsprozesses bescheinigte – mit letzten Endes entsetzlichen Folgen.

Rayya: die schwor, nie etwas anderes gewollt zu haben, als gut zu sein.

Rayya: die wirklich gut war. Die die entscheidende Stütze im Leben fast all ihrer Freundinnen und Angehörigen war. Die allen eine Vertraute war. Die mit sämtlichen Verflossenen befreundet blieb. Die unser Fundament war. Der alle ihre Zweitschlüssel und Passwörter anvertrauten. Die uns begleitete, wenn es Deals für Autos, Häuser, Scheidungen auszuhandeln galt. Die unsere Mediatorin und unsere Seelsorgerin war. Die uns durch die schwierigsten Gespräche lotste. Die jeden von uns außergewöhnlich, bedingungslos, glühend liebte. Die uns immer vergab, wenn wir versagten. Die uns lehrte, einander zu vergeben. Die uns zu besseren Menschen machte.

Rayya: die mein Bodyguard war. Die uns allen ein Bodyguard war. Die einmal um den halben Erdball flog, um an eine Tür zu hämmern und eine geliebte Freundin mit körperlichem Einsatz aus einer Beziehung zu holen, die gewalttätig geworden war. Die allen Irrsinn entschärfen konnte – nur ihren eigenen nicht, wie sich herausstellen sollte.

Rayya: die ich nicht kommen sah, nicht eingeplant hatte und nicht kontrollieren konnte. Die erst meine Friseurin war, dann eine Bekannte wurde, dann eine Freundin, dann eine Nachbarin, dann meine beste Freundin und dann mein »Mensch«. Die sich langsam in etwas verwandelte, für das ich keine Worte mehr hatte – denn was sollte ich als glücklich verheiratete Frau mit ihr?

Rayya: die mir das Herz nicht stahl, sondern es behutsam öffnete, bis ich nichts sehnlicher wollte, als für immer an ihrer Seite zu bleiben.

Rayya: die schließlich meine Geliebte wurde, meine Partnerin – aber erst als wir herausfanden, dass sie Bauchspeicheldrüsen- und Leberkrebs hatte und nur noch sechs Monate zu leben.

Rayya: die nach ihrer Diagnose noch zwanzig Monate lebte – weil sie sich nie an die Regeln hielt, nicht mal an die von Krebs.

Rayya: die mich die Sanftheit sehen ließ, die sie vor allen anderen verbarg. Deren Haut sich anfühlte wie sandgewaschene Seide. Die liebend gern am Rücken gekitzelt wurde. Die sich in meinen Armen zusammenrollte wie ein Baby. Die Angst vor Insekten, Donner und Tablettenschlucken hatte. Die panisch auf Krankenhäuser reagierte. Die immer fürchtete, ihr Leben verschwendet zu haben.

Rayya: die von Krebsschmerzen und Todesangst schließlich in die Fänge von Alkohol, Zigaretten, Zucker, Gras, Xanax, Vicodin, Ambien, Kodein, Morphium, Trazodon, Fentanyl und Kokain getrieben wurde.

Rayya: deren Rückkehr zur aktiven Drogensucht ihre letzten Lebensmonate für alle Beteiligten zur Hölle auf Erden machte. Deren Rückfall mich so tief in den Wahnsinn trieb, dass ich einmal ernsthaft überlegte, sie umzubringen, weil ich glaubte, sie würde mich umbringen.

Rayya: die mir das Herz brach.

Rayya: die mich am meisten liebte. Die ich am meisten liebte.

Rayya: die in meinen Armen starb.

Rayya: deren Name auf Arabisch »duftende Brise« bedeutet, die aber eher ein zerstörerischer Komet war.

Rayya: die für alle, die sie kannten, eine Legende war. Mit der alle abhängen, feiern, spielen, schlafen, reisen wollten, deren Kleidungsstil alle imitierten, der sich alle anvertrauten, der alle nacheifern wollten.

Rayya: die am Ende einer Party immer alle rauswarf, selbst wenn es nicht ihre Party war.

Rayya: der alle nach Hause folgten, der alle verfielen. Der ich verfiel – wie jemand, der beim Wildwasser-Rafting aus dem Boot stürzt, in einen Strudel gesaugt und nie wieder gesehen wird.

Rayya: deren Gesicht gemacht war, um darin zu ertrinken.

Rayya.

Manchmal fällt es mir immer noch schwer, ihren Namen zu sagen und weiterzuatmen.

Wo ist Trost zu finden?

Nicht im Singen.

Nicht in den Songs.

Manchmal in den Lauten, die die trauernden Tauben machen

in den Bäumen neben dem Haus,

in dem du nur einen Sommer mit ihr lebtest –

nur diesen einen Sommer, als alle Tage lang waren.

Mein tapferes, müdes Kind –

die einfachen Antworten waren dir nie genug,

weil du weißt, sie sind nicht wahr.

Das Einzige, was dich jetzt in sich bergen kann,

muss auch alles andere bergen.

Jetzt ist es an dir zu erkennen,

dass die ganze Trauer

und der ganze Schmerz

und die ganze Scham

nur Kinder auf der Suche nach einem Zuhause sind –

genau wie du es bist,

genau wie sie es war.

Jetzt ist es an dir zu verstehen,

dass nichts nicht Gott gehört,

und nichts nicht zu Gott heimkehrt,

und nichts nicht ewig lebt

in dem gewaltigen namenlosen Raum, den du schon immer Gott genannt hast –

auch deine erstickten Rufe nicht,

ihr letztes Lebewohl nicht

und ganz bestimmt nicht die trauernden Tauben.

Alles gehört hierher, meine Liebe –

oder nichts.

Bis zum Fluss

Rayya gebrauchte gern den Stadtplan von Downtown New York City als Metapher für ihre Freundschaften und Beziehungen.

Sie erklärte das wie folgt.

Als Erstes wären da, sagte sie, deine Fifth-Avenue-Freunde, genau in der Mitte des Plans. Das sind Menschen, denen du vollkommen aufgesetzt begegnest. Du zeigst ihnen nur deine Fassade, und sie zeigen dir nur ihre Fassade. Dabei handelt es sich um Bekannte und professionelle Kontakte. Alle versuchen, einander zu beeindrucken; niemand sagt die Wahrheit. Niemand aus deinem Fifth-Avenue-Freundeskreis kennt die anderen wirklich oder will sich wirklich zu erkennen geben.

Bewegst du dich weiter nach Osten, stößt du auf deine Fourth- und Third-Avenue-Freunde. Mit denen wahrst du immer noch einen höflichen Umgang, aber du lässt sie ein bisschen mehr von deinem wahren Wesen sehen. Du kannst herumwitzeln, etwas lockerer sein, auch mal Persönliches erzählen. Du hast vermutlich schon ihre Familien kennengelernt. Vielleicht warst du auf der einen oder anderen Hochzeit. Du empfindest echte Herzlichkeit für diese Menschen, aber sie befinden sich immer noch am Rand deines Herzens.

Geh weiter, dann triffst du auf deine Second- und First-Avenue-Freunde. Jetzt wird’s interessant. Diese Menschen kennen dich wirklich, und du kennst sie. Eure Geschichte ist deep. Vielleicht seid ihr schon seit Ewigkeiten Nachbarn. Vielleicht seid ihr zusammen gereist. Vielleicht habt ihr zusammen Firmen gegründet. Ihr habt einander Erfolg haben und scheitern sehen, und ihr zeigt euch ehrlich und verletzlich. Diesen Menschen kannst du vertrauen, sie sind für dich da, sie werden immer da sein.

Aber erst wenn du zu deinen Alphabet-City-Freunden kommst, meinte Rayya immer, erlebst du echte Intimität. Deine Freunde von Avenue A, B, C und D haben echt was durchgemacht mit dir, und trotzdem lieben sie dich noch. Diese Menschen haben deine Kaution bezahlt. Diese Menschen haben dich in der Entzugsklinik besucht, sie wissen von der Affäre, sie hielten dir beim Kotzen den Kopf, sie ließen dich während deiner Scheidung auf ihren Sofas schlafen. Sie nahmen dir die Autoschlüssel ab, wenn es nötig war. Du hast in ihren Armen geweint, als du deinen Job, deine Mutter, dein Baby, deinen Verstand verloren hast. Ihr habt euch in Krankenhauszimmern, Beerdigungsinstituten, Abtreibungskliniken gesehen. Sie haben dich angerufen, wenn sie am Flughafen eine Panikattacke hatten. Im Lauf der Jahre gab es möglicherweise auch ein paar bittere Auseinandersetzungen oder Missverständnisse, und möglicherweise musstest du eine Weile auf Abstand gehen. Grenzen wurden überschritten und wieder überschritten. Ihr musstet einander verzeihen. Das sind die wahrsten Freunde, die du je haben wirst.

Aber der Stadtplan von New York City endet hier noch nicht.

Geh weiter.

Wenn du richtig Glück hast, behauptete Rayya, dann findest du im Lauf deines Lebens vielleicht eine Freundin – nur eine Freundin –, die bis zum East River mit dir geht. Das ist die Freundin, die alles weiß. Die Person, der du nie etwas vormachen könntest, selbst wenn du wolltest. Die Person, die dir schon aus drei Blocks Entfernung ansieht, dass etwas nicht in Ordnung ist. Und das letzte schreckliche Geheimnis, das du schon seit Ewigkeiten vor allen verheimlichst? Das eine Geheimnis, von dem du immer geglaubt hast, dass es dich zerstören würde, wenn irgendwer davon wüsste? Diese Person kennt es. Zum Teufel, vielleicht steckt sie sogar mit drin. Und doch gibt es nichts, wodurch du sie verlieren könntest. Dieser Person gilt dein letzter Anruf aus der Leere der Nacht, wenn du dich an niemand anderen mehr wenden kannst.

Rayya hat immer zu mir gesagt: »Du bist meine Bis-zum-Fluss-Freundin.«

Die war ich. Und stolz darauf.

Und sie war meine.

Ich wusste es, sie wusste es, alle wussten es – und ich trug den Titel wie ein Ehrenabzeichen.

Insofern ist es nur schlüssig, dass wir, als wir erfuhren, dass Rayya sterben würde, von ihrem Tod als dem »Fluss« sprachen.

»Ich will, dass du mich bis zum Fluss begleitest«, erklärte sie an dem Tag, als der unheilbare Krebs diagnostiziert wurde, und ich versprach es ihr.

»Ich kann dich nicht in den Fluss begleiten«, sagte ich, »aber ich gehe mit dir bis ans Ufer. Ich gehe jeden einzelnen Schritt mit dir.«

Und diese Worte hörten sich in unseren ängstlichen Ohren schön und beruhigend an.

Aber Rayyas Stadtplan-Metapher hatte einen Haken.

Wer mit der Geographie von Downtown New York City vertraut ist, weiß, dass der Fußweg von der Fifth Avenue zum East River kein sehr schöner Weg ist.

Er fängt ganz hübsch an, klar, man spaziert durch prächtige Viertel, die reich an Charme und Geschichte sind. Dann wird er etwas abgefahrener, aber auf coole Art. Eine Zeitlang, um die First Avenue herum, ist der Weg ein großer Spaß – bunt, pulsierend und divers. Dann wird er rau. Und dann traurig, wenn man die misslungenen Sozialsiedlungen einer Stadt durchquert, die ihre verletzlichsten Bewohner aufgegeben zu haben scheint. Und schließlich wird er gefährlich; man fängt an, sich umzusehen, und tritt über Spritzen und bewusstlose Drogenabhängige hinweg. Das letzte Stück ist noch einmal besonders schwierig, weil sich ein riesiger, mehrspuriger Highway quer stellt, voll mit rasenden Autos, deren Fahrern die Unversehrtheit fragiler kleiner Menschenkörper völlig egal ist. Man muss den Fußgängerüberweg finden, der nicht leicht auszumachen und mit Hundekot und Graffiti überzogen ist und der nicht gerade eine malerische Aussicht bietet.

Und wenn man es schließlich bis zum Fluss geschafft hat? Tja – es ist der East River, Leute. Eine Brühe aus Abwässern, Plastik und medizinischen Abfällen, überzogen von einem Ölfilm und angefüllt mit versunkenen Autos und den Gebeinen lange verblichener Gangster.

Soll heißen: Eine »Bis-zum-Fluss-Beziehung« ist eine riskante Reise. Sie entbehrt nicht der Romantik, aber sie birgt auch Gefahren. Intimität auf diesem Niveau ist tough. Man sieht Dinge in sich und der anderen Person, die Angst machen und weh tun und einen für immer verändern. Ich würde meine Reise mit Rayya um nichts in der Welt missen wollen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich sie empfehlen würde. Und ich möchte so etwas definitiv nicht noch einmal erleben. Denn auch wenn manches an diesem Weg magisch war, war doch vieles ausgesprochen unschön und schmerzlich, und ich bin mir ziemlich sicher, dass er mich ein paar Lebensjahre gekostet hat.

Vielleicht kann man deshalb nur wenige Menschen im Leben so gut kennen, wie ich Rayya kannte.

Vielleicht – denke ich manchmal – sollte man auch gar nicht mit jemandem bis zum Fluss gehen.

Vielleicht gibt es einen Punkt, ab dem jede von uns ihren Weg zum Fluss allein finden muss.

Noch etwas habe ich übrigens gerade erst herausgefunden: Was wir New Yorker East River nennen, ist nicht mal ein Fluss! Es handelt sich um eine Meerenge mit Gezeiten. Was bedeutet, dass das Wasser mal in die eine, mal in die andere Richtung fließt und dass die chemische Zusammensetzung variiert. Zugleich salzig und süß, ist es fruchtbar, aber veränderlich. Verschmutztes Wasser und frisches Flutwasser strömen ständig über unsichtbare Grenzen hin und her. Die Navigation kann schwierig werden. Sinkstoffe können unter Wasser zu niedriger Sichtweite führen. Strömungen sind unberechenbar. Schwimmer und Bootsfahrer müssen aufpassen, dass sie nicht aufs Meer hinausgetrieben werden.

Ehrlich gesagt vermag ich nicht mal zu sagen, ob dieses Gewässer am Anfang endet oder am Ende anfängt.

Aber gut, zurück zu unserer Geschichte.

Ich versprach meiner geliebten Freundin Rayya Elias, dass ich mit ihr bis zum Fluss gehen würde.

Und du lieber Himmel, das habe ich getan.

Befrei mich aus der Gefangenschaft des Selbst

Lieber Gott –

Meine Trauer bringt mich um.

Und meine Ansichten bringen mich um.

Und mein Groll bringt mich eindeutig um –

mehrmals am Tag, nur so zum Spaß.

Meine Begierden sorgen immer wieder dafür, dass ich im Graben lande,

mit den Brüsten nach oben

und rätselhaften Beulen am Hinterkopf.

Meine Forderung, dass alle Dilemmata der Welt innerhalb eines Werktags gelöst seien, führt alle vierundzwanzig Stunden zu einem neuen Auswuchs des Wahnsinns, und ich trage die Schlüssel zur Hölle an einer Kette namens Rechtschaffenheit um den Hals wie Hundemarken.

Währenddessen lässt du anscheinend alle machen, was sie wollen, verdammt.

Und mähst die guten Menschen nieder und lässt die Arschlöcher übrig.

Oder erlaubst den guten Menschen, sich in Arschlöcher zu verwandeln – noch schlimmer.

Und du hast jedes deiner Erdenkinder

mit einer Art Störsender ausgestattet,

der verhindert, dass Menschen meinen Dekreten folgen –

obwohl ich immer recht habe und genau weiß, was das Beste ist für

alle.

Oh Herr, bitte hilf mir.

Oh, mein geliebter Gott –

siehst du nicht, wie es mich auslaugt?

Meinen Willen wie einen Panzer aus Horn und Messing herumzuschleppen?

Meine Standpunkte wie ein Nadelkissen über meinem Gesicht zu tragen?

Gott, ich bin es leid, ich selbst zu sein,

und anscheinend wirst du mir nicht erlauben, du zu sein,

egal, wie sehr ich es versuche.

Also, was machen wir nun?

Du, der mysteriöse Schöpfer aller Dinge.

Ich, die Damen und Herren Geschworene.

Ich sitze am Ufer deines Flusses und ziehe die Schuhe aus.

Mutter von allem, lehr mich die Regeln.

Plastik, Moos und Schlamm überall.

Wolkendecke, Telefone, ein Klumpen aus Laub.

Ein vorüberziehendes Flugzeug.

Ein hinkender Hund.

Zeig mir,

zeig mir,

zeig mir, wie man lebt.

Jetzt höre ich deinen Sperling.

Jetzt höre ich deine Krähe.

Jetzt höre ich deinen Verkehr auf der hohen Brücke über mir.

Du lässt all das geschehen, nicht wahr?

Lässt es sich entfalten wie eine sich öffnende Hand.

Trotz meines Widerstands, ohne mein Kommando.

Such dir dein eigenes Leben!

Ich bin Rayya Elias zum ersten Mal im Frühjahr 2000 begegnet – was so viele Leben her zu sein scheint, dass es auch einer völlig anderen Person auf einem völlig anderen Planeten hätte passiert sein können.

Ich war damals einunddreißig Jahre alt und verheiratet – mit meinem ersten Ehemann, wohlgemerkt.

Ich hatte einen bestimmten Weg eingeschlagen. Den Weg, der mir aufgezeigt worden war, den Weg, den ich angestrebt hatte. Ehemann, schönes Haus, guter Job, bereit, eine Familie zu gründen. Aber mein Leben würde mir bald um die Ohren fliegen, denn ich stand – wie die Leserinnen und Leser von Eat Pray Love bereits wissen – kurz davor, in ein großes Drama zu geraten: Ich verliebte mich in einen anderen Mann. Er präsentierte sich mir als schneidiger und heroischer Retter, aber seine eigentliche Rolle in meinem Schicksal sollte es sein, mir so gründlich das Herz zu brechen, dass ich mein altes Ich nie wieder ganz zusammensetzen konnte und mehrere Jahre rund um den Erdball nach Heilung suchte.

Aber das alles war damals noch nicht passiert, und für den Moment sah mein Leben ziemlich gut aus.

Es gab nur ein Problem: Mein Haar war ein zerzaustes Desaster. (Was vielleicht verriet, dass ich nicht ganz so gut beieinander war, wie ich vermitteln wollte.) Eines Tages betrachtete eine Freundin das wirre Vogelnest auf meinem Kopf, bescheinigte mir eine gewisse Ähnlichkeit mit dem jungen Art Garfunkel und befand, dass ich etwas unternehmen müsse. Sie schlug mir vor, eine gewisse Rayya Elias aufzusuchen, die in einem einfachen Apartment an der Avenue C Haare schnitt. Rayya war – wie mir versprochen wurde – »echt verdammt cool« und schnitt nur Leuten die Haare, die sie mochte.

Also machte ich einen Termin bei Rayya, um herauszufinden, ob sie mich mochte.

An dem Tag war ich wie eine Verkäuferin von Banana Republic gekleidet, so wie immer damals. Khakihosen und Cardigan. Unter dem Arm eine Ausgabe von The Atlantic Monthly. Ich erinnere mich noch so genau an mein Outfit, weil ich mich so von Rayya unterschied, die eine schwarze Lederhose, ein weißes Tanktop und Motorradstiefel trug. Sie war auffällig tätowiert (und das war, bevor alle Tattoos hatten – erinnert ihr euch noch an diese lange vergangene Zeit?), und an den Wänden ihres Apartments hing von Graffiti inspirierte Kunst. Gitarren und Keyboards stapelten sich in einer Ecke. Zwei Pitbulls mit Gangster-Visagen rollten zufrieden zu ihren Füßen herum.

Rayya setzte mich auf einen Stuhl, schob die Hände in mein Haar und lachte.

Diese Lache! Diese gewaltige, wundervolle, raue Lache!

Sie sagte: »Keine Sorge, Babe – ich weiß genau, was ich mit deinem kleinen Entenflaum mache! Ich date gerade eine Frau, die auch solche Haare hat. Ich weiß, was zu tun ist.«

Ich entspannte mich sofort und zweifelte nicht eine Sekunde an ihrer Kompetenz. Ich glaube, ich gab ihr nicht mal Anweisungen; ich ließ mich einfach rücklings in das Feld ihres unerschütterlichen Selbstbewusstseins hineinfallen und vertraute darauf, dass sie sich um mich kümmern würde. (Dieses unmittelbare Vertrauen verrät übrigens genauso viel über mich wie über sie: Ich habe mich schon immer gern völlig Fremden hingegeben.) Und Rayya kümmerte sich wirklich gut um mich. Ohne erkennbare Anstrengung, während sie die ganze Zeit redete und lachte, verpasste sie mir einen phantastischen Haarschnitt. Den ersten von vielen in fast zwanzig Jahren.

Ich habe mich in viele Menschen auf den ersten Blick verliebt, aber in Rayya Elias verliebte ich mich nicht an diesem Tag. Tatsächlich verliebte ich mich weitere acht oder neun Jahre nicht in sie – sondern erst lange nachdem wir enge Freundinnen geworden waren. Aber ich mochte sie. Sie war lustig und interessant und außergewöhnlich. Und ich teilte definitiv die Einschätzung meiner Freundin: Rayya war echt verdammt cool.

Ich weiß noch, wie ich Rayya auf die seltsamen Münzen ansprach, die sich auf ihrem Fensterbrett stapelten. Sie sagte, das seien Nüchternheitschips. Ich hatte noch nie welche gesehen und durfte sie in die Hand nehmen. Für jeden Meilenstein ihrer Genesung besaß sie eine Münze – einen Tag clean, neunzig Tage clean, sechs Monate, ein Jahr, zwei Jahre, drei Jahre …

»Wenn du wüsstest, wie viele Neunzig-Tage-Chips ich in meinem Leben gesammelt habe!«, sagte sie und lachte wieder schallend.

Sie erzählte mir, dass sie die meiste Zeit ihres Erwachsenenlebens von Kokain und Heroin abhängig gewesen war, aber nun seit drei Jahren clean sei. Sie zeigte mir die Narben auf ihren Armen, wo sie sich Speedballs gespritzt hatte. Links hatte sie mehr Narben als rechts, weil sie als Rechtshänderin mit der rechten Hand besser zielen konnte. Ich weiß noch, wie unbefangen Rayya von ihrem früheren Drogenmissbrauch erzählte und wie sie das Wort Junkie mit einer stolzen Lässigkeit gebrauchte, die mir noch nie begegnet war. Wie zu Hause sie sich in ihrem geschundenen Survivor-Körper fühlte!

»Es ist ein scheiß Wunder, dass ich noch am Leben bin«, sagte sie.

Sie strahlte mit jeder Pore die überschwängliche Dankbarkeit aus, die ich jetzt als typisch für die Frühphase des Genesungsprozesses erkenne. Diese Phase nennen manche auch »die rosa Wolke« – wenn die neuerdings nüchterne Süchtige noch ganz high ist von der Freude darüber, den Dreck und die Knechtschaft der Abhängigkeit endlich los zu sein. Sie braucht nicht mehr, als der gegenwärtige Moment bereithält, weil sie nicht glauben kann, dass sie einen gegenwärtigen Moment überhaupt noch erleben darf. Das Leben fühlt sich einfach an, heiter, ohne Einschränkungen.

Ich weiß auch noch, dass wir an diesem Tag viel über Kreativität sprachen. Ich erzählte Rayya, dass ich Journalistin und Romanautorin sei. Sie erzählte mir, dass sie gerade wieder anfange, Musik zu machen, und noch damit zu kämpfen habe, nüchtern auf einer Bühne zu stehen. Sie sagte, es falle ihr schwer, die Verletzlichkeit einer kreativen Existenz zuzulassen, ohne sich hinter einem Drogenschild zu verstecken.

Aber am deutlichsten ist mir Folgendes in Erinnerung.

Rayya erzählte mir, dass sie unlängst ein kleines Haus in Asbury Park an der Küste von New Jersey gekauft habe. Sie bekam es damals hin, vier Tage die Woche Haare zu schneiden und drei Tage die Woche am Strand zu verbringen. Sie fuhr mit ihrem Motorrad raus und hing Zeit allein am Strand ab – schrieb Songs, grillte, sah die Sonne aufgehen. Klingt himmlisch, sagte ich, und sie gab mir recht. Aber eine ganze Reihe Menschen in ihrem Leben seien wütend, weil sie nur vier Tage die Woche arbeite. Sie seien persönlich beleidigt – als würde sie irgendeine heilige kapitalistische Regel brechen. Es ärgerte diese Leute, dass Rayya so viel Zeit am Strand verbrachte – als dürften Menschen nur im Urlaub an den Strand gehen, und das auch nur ein paar Tage im Jahr.

»Ich hab denen erklärt, sie können sich mal gehackt legen!«, sagte sie. »Ich halte dich nicht davon ab, an den verdammten Strand zu gehen, Dude – warum bist du sauer auf mich? Das ist mein Leben, Mann! Such dir dein eigenes Leben!«

Die lässige Aggressivität ihrer Worte beeindruckte mich – ihr vollkommenes Selbstvertrauen.

Ich hatte noch nie jemandem gesagt, er könne sich mal gehackt legen.

Ich hatte noch nie zu jemandem gesagt: »Das ist mein Leben, Mann!«

Ich glaube, ich hatte noch gar nicht recht verstanden, dass es tatsächlich mein Leben war. Ich versuchte so sehr, es immer allen recht zu machen. In meiner Ehe brachte ich das Geld nach Hause und kümmerte mich um den Haushalt, und außerdem versuchte ich noch, Künstlerin zu sein. Und jetzt wurde von mir erwartet, dass ich bald Mutter würde. Es war zu viel, und ich zerbrach allmählich daran. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, welche Freiheit ein eigenes kleines Haus, ein Motorrad und drei Tage die Woche allein am Strand bedeuteten.

Rayya verliebte sich an diesem Tag auch nicht in mich. Aber sie mochte mich. (Sie hätte mir sonst nicht die Haare geschnitten!) Jahre später gestand sie allerdings, dass sie sich nicht sicher war, warum sie mich mochte. Ich war ganz anders als ihre anderen Freunde. Ich war nicht punkig, cool, tough, edgy. Nichts an mir roch nach Straße. Doch es beeindruckte sie, dass ich vom Schreiben lebte. Das fand sie interessant. Sie stellte mir viele Fragen zu meinem vergleichsweise unverkrampften Verhältnis zur Kreativität. Warum litt ich keine größeren Qualen?, wollte sie wissen. Wie hielt ich Angst und Unsicherheit auf Abstand, fragte sie, während ich mich mit meiner Arbeit angreifbar machte?

In dieser Hinsicht war mein Leben für Rayya eine Kuriosität – genau wie ihres für mich.

Doch da war noch etwas.

Jahre später erzählte mir Rayya, dass mein Kopf, als ich an dem Nachmittag in ihr Apartment kam, von einem großen, goldenen Lichtschein umgeben gewesen sei. Das habe sie fasziniert und verblüfft. Sie behauptete, sie habe ihn beim Haareschneiden die ganze Zeit sehen können. Ein Leben lang von der dunkleren Seite der Dinge angezogen, habe sie dieses Strahlen neugierig gemacht.

Wer ist denn so verdammt voll Sonnenschein?, habe sie gedacht. Was hat es damit auf sich?

Ich gehöre hierher

Es spricht Bände, dass ich in diesem Buch bisher mehr über Rayya gesprochen habe als über mich, obwohl es streng genommen mein Buch ist.

Wie überaus typisch von mir, meine Aufmerksamkeit sofort auf die andere zu richten.

Ich ticke so – habe schon immer so getickt –, dass ich vom Charisma, der Verrücktheit, Wildheit und Schönheit anderer Menschen in den Bann gezogen werde. Dass ich in ihre Geschichten eintauche und mich von ihrer Existenz hypnotisieren lasse. Dass ich mich in der Trance ihres Sie-Seins verliere und vergesse, wer ich bin, was ich bin und wo ich stehe.

Also lasst mich einen Schritt zurücktreten und euch erzählen, wer ich – in diesem Moment meines Lebens – bin, was ich bin und wo ich stehe.

Wäre dies eins der Zwölf-Schritte-Treffen der Genesungsgemeinschaft, an denen ich regelmäßig teilnehme, und ich spräche über meine eigene Abhängigkeit, dann würde ich so anfangen: »Hi, ich heiße Lizzy, und ich bin sex- und liebessüchtig.«

Wollte ich noch etwas genauer werden, würde ich vielleicht hinzufügen: »Ich bin auch romantisch obsessiv, phantasie- und adrenalinsüchtig, eine Weltklasse-Ermöglicherin und bis zum Filmriss co-abhängig.«

Und dann würde ich, während ich mich in einem Raum voller Menschen umblicke, die vielleicht nicht so aussehen wie ich, aber sich alle so verhalten wie ich, sagen: »Ich gehöre hierher.«

Ich liebe diese Worte: Ich gehöre hierher.

Diese drei Worte retten mir jeden Tag das Leben.

»Ich gehöre hierher« bedeutet, dass ich hier auf diesen Planeten gehöre, auf dem ich mich selten sicher oder normal gefühlt habe. Es bedeutet, dass ich in diesen Körper gehöre, in dem ich selten präsent war, den ich aber unzählige Male (zusammen mit meinem Herzen, meiner Zeit, meinem Verstand, meinem Zuhause und meinem Geld) an andere Menschen verschleudert habe, damit sie ihn für ihre Zwecke nutzten. Es bedeutet, dass ich der göttlichen Macht gehöre – was immer sie auch sein mag –, die sich die Mühe gemacht hat, mich zu erschaffen, und dass mein Hierhergehören nicht davon abhängt, dass ich es »richtig mache« – was immer das heißen soll.

Ich gehöre hierher, selbst wenn ich alles falsch mache.

Vielleicht dann erst recht.

»Ich gehöre hierher« bedeutet auch, dass ich in meine eigene Geschichte gehöre, selbst wenn ich manchmal ein paar Kapitel brauche, bis ich mich wieder daran erinnere.

Vor allem aber bedeutet es, dass ich in jeden Raum gehöre, in dem sich Abhängige in einem Kreis eingefunden haben und sich selbst, den anderen und den Göttern, wie sie sie verstehen, beichten, dass sie ihren Süchten gegenüber machtlos sind und ihr Leben nicht mehr meistern können.

Es gibt nicht viele Frauen da draußen, die öffentlich zugeben würden, dass sie sex- und liebessüchtig sind, weil es sich ziemlich krass anhört. Es ist krass. Ich werde hier nicht in die schlüpfrigen Details gehen, aber ich möchte sagen, dass sich meine Sucht als aufrichtiger, aber zutiefst irregeleiteter Glaube manifestiert, jemand von außen könne mich wundersamerweise innerlich heilen – und somit dafür sorgen, dass ich mich endlich sicher, wertgeschätzt und heil fühle. Im echten Leben zeigt sich das in dem verzweifelten Bedürfnis, meine Existenz permanent und wieder und wieder von einem romantischen Partner, einer romantischen Partnerin beglaubigt zu wissen, durch eine Berührung, Blickkontakt, verbale Bestätigung, Liebesakte oder bloße physische Anwesenheit.

Wie viel Bestätigung ist genug, damit ich mich sicher fühle?

Ehrlich gesagt, ist es nie genug.

Es kann nie genug sein.

Mein verzweifeltes Bedürfnis, geliebt zu werden, ist definitiv übergroß, und die Art und Weise, wie ich es ausagiert habe, war bisweilen wahrlich nicht gesund. Aber ich vermute, dass Teile meiner Geschichte vielen meiner Leserinnen und Leser bekannt vorkommen werden – vor allem meinen Leserinnen, die wie ich von Geburt an in dem Glauben sozialisiert wurden, wenig eigenen Wert zu besitzen und Wertschätzung nur zu verdienen, wenn es ihnen gelingt, sich attraktiv genug zu machen, um auserwählt zu werden. Scheiterst du an dieser extrem wichtigen Aufgabe – zu beweisen, dass du es wert bist, auserwählt zu werden –, bist du eine Versagerin, und nichts, was du sonst noch vorzuweisen hast, wird in den Augen der anderen jemals von großer Bedeutung sein.

Jedenfalls wurde das endlosen Generationen von Frauen in den unterschiedlichsten Kulturen so beigebracht – und mir auch.

Sex ist für mich immer der schnellste und direkteste Weg gewesen, mich auserwählt zu fühlen, aber was ich bei meinen romantischen Begegnungen eigentlich suche, sind die Liebe, Aufmerksamkeit, Validierung und Anerkennung (»LAVA« in der Sprache der Genesung), die andere Menschen manchmal geben können und ohne die ich oft das Gefühl hatte, wortwörtlich sterben zu müssen. Und so habe ich mein ganzes Leben mit der Suche nach der einen magischen Person verbracht, die mich erkennen und retten würde – ob nun kurz- oder langfristig. Wenn mein Rettungsplan mit einer bestimmten Person nicht aufging (und diese Pläne gingen nie auf), habe ich einfach bei jemand anderem nach LAVA gesucht.

Wenn ihr dies lest und denkt, Na, das klingt doch ganz normal! Liebe braucht schließlich jeder!, dann kann ich euch versichern, dass es in meinem Fall nicht normal ist. Ich rede hier nicht von einer sich auf gesunde Weise ausdrückenden Intimität; ich rede von einer Macht in mir, die zugleich furchterfüllt und furchterregend ist und schon immer völlig außer Kontrolle war.

In den Jahrzehnten meiner Sex- und Liebessucht habe ich mir selbst und anderen erheblichen Schaden zugefügt. Ich habe mich in Beziehungen gedrängt, und ich habe Familien zerstört; ich habe mich und andere belogen; ich habe Menschen weh getan, die zu lieben und zu ehren ich gelobt hatte; ich habe Grenzen von Freunden überschritten; ich bin vor Menschen weggelaufen, denen ich am Herzen lag, und zu Menschen hingelaufen, denen ich nicht am Herzen lag; ich habe Menschen betrogen und zugelassen, dass ich betrogen wurde; ich habe versucht, mir Liebe mit Geld zu erkaufen; ich habe trianguliert, taktiert und manipuliert; ich habe Menschen verführt und weggeworfen, genauso oft, wie ich selbst verführt und weggeworfen wurde; ich habe mich herzzerreißender Erniedrigungen schuldig gemacht und sie selbst erduldet; ich habe mich beschämender Objektifizierungen schuldig gemacht und sie selbst erduldet; ich habe die Körper anderer Menschen als Drogen missbraucht (als Sedativa und als Stimulanzien). Ich habe meinen eigenen Körper schrecklich respektlos behandelt – und ich konnte nie aufhören.