Allan Schore: Schaltstellen der Entwicklung - Eva Rass - E-Book

Allan Schore: Schaltstellen der Entwicklung E-Book

Eva Rass

4,9
34,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Allan Schore gilt als einer der kreativsten Wissenschaftler unserer Zeit und hat mit seiner Forschung zentrale neue Erkenntnisse auf dem Feld der frühen Entwicklung geliefert und mit seinem integrativen Ansatz die Grundlagen für die psychodynamische Psychotherapie des 21. Jahrhunderts gelegt. Da seine Affektregulations theorie die modernen Erkenntnisse der Hirnforschung, Entwicklungspsychologie, Psychoanalyse, Biologie und Neurochemie integriert, ist sein Werk komplex und anspruchsvoll und nicht leicht zu verstehen. Aus diesem Grunde nähert sich Eva Rass den zentralen Gedanken Schores zunächst mit Hilfe persönlicher Gespräche und Interviews, um im weiteren Verlauf eine Auswahl seiner wichtigsten Texte zu präsentieren.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 374

Bewertungen
4,9 (16 Bewertungen)
14
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Eva Rass (Hrsg.)

Allan N. Schore:

    Schaltstellen    

der Entwicklung

Eine Einführung in die Theorieder Affektregulation mit seinen zentralen Texten

Herausgegeben, kommentiert und übersetzt von Eva Rass

Mit einem Geleitwort von Sir Richard Bowlby

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Besuchen Sie uns im Internet: www.klett–cotta.de

Klett–Cotta

© 2012 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Roland Sazinger unter Verwendung eines Fotos von sitox/Björn Meyer

Herausgegeben, kommentiert und übersetzt von Eva Rass

Datenkonvertierung: Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital – die digitale Verlagsauslieferung Stuttgart

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94779-3

E-Book: ISBN 978-3-608-10343-4;

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2012 der Printausgabe.

Inhalt

Geleitwort

Einleitung

1 Allan Schore im Spiegel wissenschaftlicher Rezensionen

2 Allan Schore im Gespräch

2.1 Der wissenschaftliche Werdegang auf dem Hintergrund des Lebensweges: Einblicke in das mit G. Halasz 2009 geführte Gespräch

2.2 Bowlbys Integrationsleistung: Gespräch mit R. Carroll (2001) zur Bedeutung der Bindungstheorie mit Blick auf Trends in der Kleinkindfürsorge

2.3 Wie stark erweisen sich frühe Kindheitserfahrungen als prägend? Diskussion dieser Frage sowie Überlegungen zu notwendigen Konsequenzen für die Therapeutenausbildung (Interview mit A. E. Ustorf)

2.4 »Reifungsschritte« des Wissenschaftlers: Eine gereifte Selbstwahrnehmung und weitergehende Informationen zu Forschungsvorhaben sowie sorgenvolle Gedanken zur Kinderfürsorge (Gespräch mit O. Peter, 2010)

3 Die frühe Überich-Entwicklung: Das Auftauchen von Scham und die narzisstische Affektregulierung in der Übungsphase (Schore 1991)

4 Bindung und die rechtshemisphärische Regulation (Schore 2000)

5 Die Dysregulation des rechten Gehirns: Grundlegende Mechanismen einer traumatischen Bindung und die Psychopathogenese der posttraumatischen Belastungsstörungen (Schore 2002)

6 Gesundheit und Krankheit: Entwicklungspsychologische Entstehungsbedingungen – die Neurobiologie des Bindungstraumas in der Kindheit (Schore auf der 107. Jahrestagung der DGfKiJuMedizin, Bielefeld, 23./24.09.2011; Tagungsbericht)

7 Die Affektregulationstheorie und ihre Anwendungsfelder

7.1 Im Feld der Sozialen Arbeit: Auswirkungen auf den Kern ihrer Theorie

7.2 In der Pädagogik: Bindung vor Bildung

7.3 Vorm Familiengericht: Bindung und Umgang

7.4 In der Ethologie: »The Elephant Breakdown«

Abschließende Gedanken

Literatur

Personenregister

Angaben zur Herausgeberin

Geleitwort

Am 16. Juli 1998 begegnete ich Allan Schore zum ersten Male. An der Tavistock-Klinik fand eine Tagung statt, und am Wochenende, das der Konferenz vorausging, sollte ich den Vortragenden und seine Frau am Flughafen Heathrow abholen, um sie in unserem Haus, das nahe Hampstead liegt, zu beherbergen. Allan und Judith sind seither wertgeschätzte Freunde. Ich kann mich nur noch an einen Teil des Gesprächs während der Fahrt vom Flughafen erinnern; ich fragte Allan: »Was für ein Typ Mensch sind Sie?« Seine Antwort war aufschlussreich: »Es ist seltsam; ich kann mich an alles erinnern, was ich je gelesen habe!«

Bald nahm ich Allans tiefes Interesse an der Bindungstheorie meines Vaters wahr. Ich fragte ihn, ob er sich im Arbeitszimmer meines Vaters umsehen wollte (wir leben im Nachbarhaus). Mein Vater war acht Jahre zuvor gestorben, und sein Arbeitszimmer wurde von unserer Tochter Sophie als Kunststudio benutzt. In diesem Raum standen aber immer noch der ursprüngliche Schreibtisch, die vielen Ordner und ein Großteil seiner Bibliothek. An Allans körperlicher Reaktion, sich im »Allerheiligsten« – in John Bowlbys Arbeitszimmer – zu befinden, war deutlich zu erkennen, wie tief bewegt er war.

18 Monate zuvor hatte ich mit Alan Sroufe ein Interview über dessen Minnesota-Studie auf Video aufgenommen, wo ich ihn zu seinen Gedanken über die Bindungstheorie befragte. Und so beschloss ich, nun auch Allan Schore um ein Interview über seine Sicht der Verbindung von Neurowissenschaft und Bindungstheorie zu bitten, um es aufnehmen zu können. Er stimmte sofort zu.

Wenn mein Wissen über die Bindungstheorie zu jener Zeit noch recht lückenhaft war, dann war mein Wissen in Bezug auf die Neurowissenschaft gleich null. Daraus resultierte, dass meine Fragen sehr naiv und wenig zusammenhängend waren. Dies stellte sich im Nachhinein jedoch als eine »perfekte« Kombination heraus: zunächst Allans Leidenschaft, sein neues Verständnis der Neurobiologie mit Blick auf die Bindungstheorie mir – John Bowlbys Sohn – zu erklären; dazu mein ganz offensichtlich eingeschränktes Erfassen des Sachverhaltes, was ihn zwang, die einfachsten Begriffe zu wählen, um die Komplexität des Konzepts zu erklären, sodass ich in der Lage war, es zu verstehen. Das Resultat dieses Interviews war vorzeigbar. Nachdem ich 1999 in den beruflichen Ruhestand gegangen war, gab ich das Aufgezeichnete in Form eines Lehrvideos zur Bindungstheorie heraus; Auszüge gab es aber schon zuvor bei YouTube.

Ich realisierte, dass Allan schon in den frühen 1980er Jahren ein erwiesener Kenner der Bindungstheorie war, der zehn Jahre damit verbrachte, in Studien zu den neuesten neurobiologischen Forschungen einzutauchen, um die Verbindung zwischen Bindungstheorie und Neurowissenschaft (diese Zeit war ohnehin die »Dekade des Gehirns«) herauszustellen. Allan war in dieser Zeit ein »Vollzeitstudent«, was nur durch die »Judith-Schore-Stiftung« möglich war. Judiths Einkommen als Psychotherapeutin sicherte den Lebensunterhalt. Sie spielte in Allans Arbeit eine ähnlich wichtige und unterstützende Rolle wie meine Mutter bei meinem Vater. Das Ergebnis dieser intensiven und kreativen Zeit in Allans Leben war 1994 die Veröffentlichung seines bahnbrechenden Buches Affect Regulation and the Origin of the Self.

In meiner heutigen Rolle als ehrenamtlicher »Botschafter der Bindungstheorie« mache ich die Erfahrung, dass es Menschen wie Allan gibt, die in der Lage sind, die unterschiedlichen Disziplinen der Neurowissenschaften, der Bindungstheorie und Psychotherapie zu umspannen und deren Komplexität zu erfassen. Ich glaube, dass die Fähigkeit zur Integration den Schlüssel für die Synthese neuer konzeptueller Rahmenwerke bereitstellt. Es bedarf kreativer Menschen, die in der Lage sind, die fast unüberschaubare Fülle an Informationen zu erfassen und auszuhalten, was notwendig ist, um anschließend das Wesentliche herauszuarbeiten.

Ich bin mir sicher, dass mein Vater – bei all den Erkenntnisfortschritten innerhalb der Bindungstheorie – die Annäherung und Verknüpfung von Bindungstheorie und Neurowissenschaft als die bedeutsamste Entwicklung erachten würde. Ich denke, dass Allans Beitrag zum besseren Verständnis der Bindungstheorie – der Wissenschaft der familiären Liebe – weitreichend ist. Es besteht wissenschaftliche Übereinkunft und ein vertieftes und gesellschaftliches Verständnis im Hinblick darauf, dass frühe Kindheitserfahrungen einen physischen Einfluss auf das sich entwickelnde Gehirn haben. Diese allgemeine Akzeptanz verändert die Haltung in Bezug auf die vitale Wichtigkeit der frühen Jahre – eine Akzeptanz, die die Bindungstheorie alleine nicht hätte erreichen können. Die »harte Wissenschaft« der Neurobiologie hat die »sanfte Wissenschaft« der Psychologie bestärkt und ihr Gewicht verliehen und dadurch die Bindungstheorie auf eine neue Ebene gehoben.

Alle menschlichen Fortschritte waren möglich auf den Schultern von Ausnahmemenschen; so wie John Bowlby und Allan Schore auf Schultern von Ausnahmemenschen standen, so stehen zukünftige Generationen von Wissenschaftlern ihrerseits auf deren Schultern.

Ich wünsche diesem Buch, das die Annäherung an und die Einführung in das komplexe Theoriengebäude von Allan Schore erleichtern soll, dass es von möglichst vielen Mitarbeitern im Bereich von Mental Health gelesen und verinnerlicht wird und so zu einem vielschichtigen Verstehen komplexer Lebensphänomene beitragen kann.

Sir Richard Bowlby

London, Mai 2012

Einleitung

Seit dem Erscheinen seines ersten Buches Affect Regulation and the Origin oft the Self 1994 ist Allan Schore einer der weltweit führenden Wissenschaftler im Bereich der frühen menschlichen Entwicklung. Dieses Buch ermöglicht tiefe Einblicke in einen neuen Forschungsbereich, da es Schore und der von ihm entwickelten Affektregulationstheorie gelang, Befunde aus verschiedenen Disziplinen – z. B. Neurobiologie, Bindungsforschung, affektive Neurowissenschaft, Entwicklungspsychologie, psychodynamische Psychotherapie – in einem neuen Konzept zu integrieren. Seit über 30 Jahren geht er unermüdlich der Frage nach, warum frühe Beziehungsereignisse das weitere Leben so fundamental beeinflussen. Er lässt bei dieser Recherche keine Veröffentlichung aus den biologischen, psychologischen, sozialen und medizinischen Disziplinen aus, die sich mit diesem Thema oder angrenzenden Gebieten beschäftigen.

Die Überlappung und Integration verschiedener Disziplinen macht es nicht einfach, seine Schriften zu lesen. Die 2007 erschienene Übersetzung Affektregulation und die Reorganisation des Selbst (Originalausgabe: Affect Regulation and the Repair of the Self, 2003) stieß auf positive Resonanz, da es nun auch dem deutschsprachigen Leser leichter gemacht wurde, sich in das Werk von Schore hineinzuarbeiten. Er beschreibt einen Paradigmenwechsel: weg vom Primat der Kognition und des Inhalts und hin zum Primat der Emotion, des Affektes und des Kontextes. Parallel zu diesen Veränderungen im Bereich der Psychologie gibt es auch bei der Neurowissenschaft eine Akzentverschiebung bezüglich ihrer Forschungen: Statt jenen zur später reifenden linken Gehirnhälfte, die vor allem für die bewussten, verbalen und kognitiven Prozesse zuständig ist, rücken die zur früher reifenden rechten Hemisphäre in den Vordergrund, die in die präverbalen, unbewussten und gefühlverarbeitenden Prozesse involviert ist. Da Entwicklung u. a. ein biologisches, psychobiologisches und mentales Phänomen ist und sowohl das Körperliche als auch das Psychische mit einbezieht, erstellt Schore ein Konzept, das diese komplexen wissenschaftlichen Felder integriert. Die Natur- und die Humanwissenschaften gehen aufeinander zu, um mit ihren spezifischen Erkenntnissen zu einer Konzeptualisierung der Persönlichkeitsentwicklung des Menschen zu gelangen. Schon in der Einleitung der 2007 herausgegebenen Übersetzung wurde der Mut von Allan Schore beschrieben, eine Integration des Biologischen und des Mentalen im Rahmen des breit gefächerten Wissenszuwachses der letzten zwei Jahrzehnte herauszuarbeiten, und schon damals wurde von der Zu-Mutung an den Leser gesprochen, da das Nachvollziehen von Schores Ansatz eine große Anforderung darstellt. In die positive Resonanz auf diese Übersetzung mischten sich immer wieder auch Anmerkungen, dass das Lesen des Textes einer »Erarbeitung« gleiche. Es gab aber auch die Anmerkung, »dass man hängen bleibt« und somit der Mut zu schwinden drohe, der aber erforderlich sei, um weiter den Text zu durchdringen.

Dieses Gewahrwerden weckte die Motivation für den jetzt vorliegenden »Schore-Reader«, da das Werk von Allan Schore von herausragender Wichtigkeit ist und Mitarbeiter im breiten Feld von »Education and Mental Health« unbedingt Einblick in diese so weitreichenden Erkenntnisfortschritte haben sollten.

Um den Zugang zu erleichtern, wurde als Methode eine schrittweise Annäherung an drei Originalschriften gewählt: Zunächst werden aus der Fülle von Buchbesprechungen einige ausgewählt, um spezifische Themenfelder herauszuheben. Der jeweilige Rezensent hat sich zuvor in die Arbeit von Schore vertieft, diese aus der jeweiligen Perspektive betrachtet und durchdacht und liefert somit dem Leser eine »Vor-Verarbeitung«. Im zweiten Kapitel kommt Schore nach ähnlicher Vorarbeit durch vier verschiedene Interviewer selbst »zu Wort«; auch diese haben sich mit dem Werk schon zuvor intensiv beschäftigt, um daraus Fragestellungen zu entwickeln. Mit diesen beiden Kapiteln sind wichtige Themenbereiche im Theoriegebäude von Schore und spezifische Zugänge zu ihm umrissen, worauf dann in Kapitel 3 die erste Veröffentlichung von 1991 vorgestellt wird. Dieser zukunftsweisende Aufsatz beschreibt eine interdisziplinär ausgearbeitete Konzeptualisierung der frühen Regulation, die Erklärungen liefert, wie psychologische Ereignisse die reifenden Strukturen des Gehirns beeinflussen und wie diese komplexer werdenden Strukturen wiederum komplexere psychologische Funktionen unterstützen. Dieser Aufsatz, der noch vor der »Dekade des Gehirns« verfasst wurde, thematisiert das Primat der Emotionen – zu einer Zeit, als die psychodynamische Therapie noch keine Affekttheorie hatte. Zudem beschäftigt er sich mit Entwicklungslinien in der »nonverbalen« Zeit des Menschen (0 – 18 Monate), d. h. mit Entwicklungsphasen, in denen das Kernthema der Psychoanalyse – die Zentralität des Ödipus-Komplexes – noch keine Rolle spielt. Untersucht werden die basalen funktionellen Wirkungsweisen der Scham, die einen früheren entwicklungspsychologischen Ursprung als das Schuldgefühl hat. Regulatorische Verletzungen und Mangelzustände können in dieser vulnerablen kritischen Phase in der rechten Hemisphäre, die in dieser frühen Zeit ihren wichtigen Wachstumsschub hat, zu pathologischen Verarbeitungsmustern führen. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Aufsatz die Miteinbeziehung von Margaret Mahlers Konzeptualisierung der Übungsphase und der Wiederannäherungskrise.

Der nächste Aufsatz von 2000 (Kap. 4), der die enorme Ausweitung der Bindungsforschung seit 1969 beschreibt, ist eine Würdigung der Arbeit von John Bowlby. Angeführt werden Forschungsvorhaben, die belegen, dass die Vielgestaltigkeit der mütterlichen Fürsorge für eine nicht genetische, sondern behaviorale und transgenerationale Weitergabe individueller Unterschiede bei der Stressbewältigung sorgt. Die transgenerationale Weitergabe von sowohl gelungener Anpassung als auch von Stressbewältigungsdefiziten findet im Kontext der Beziehungsumgebung statt, die sich wachstumsfördernd oder wachstumshemmend auf die Entwicklung der rechtshemisphärischen regulatorischen Schaltkreise, die durch die frühen Erfahrungen geformt werden, auswirkt. In diesem in der Zeitschrift Attachment and Human Development erschienenen Aufsatz betont Schore die Notwendigkeit zukünftiger Studien, um die Beziehung zwischen adaptiven und maladaptiven Anpassungsstilen sowohl beim Kleinkind als auch beim Erwachsenen zu erforschen. Er zitiert am Ende dieser Arbeit Bowlby selbst: »Hier lässt sich noch ein Kontinent erobern« (1969, S. 358; dt. 2006, S. 340). Dieser Aufsatz, der auch in Teil 1 zur entwicklungsorientierten affektiven Neurowissenschaft des Buches Affect Dysregulation and Disorders oft the Self abgedruckt ist, wurde für den vorliegenden Band ausgewählt, weil sich bei Schores Durchdringung von Bowlbys Werk dessen Überzeugung herauskristallisiert, dass das, wonach Freud suchte, die Erstellung eines Konzeptes war, das die Biologie der unbewussten Prozesse erklären konnte. Schore geht diesen Weg konsequent weiter und ist im Wesentlichen auf dieser wissenschaftlichen Forschungslinie zu verstehen.

Die nächste übersetzte Originalarbeit (Kap. 5) erschien 2002 im Australian and New Zealand Journal of Psychiatry und wurde im Erscheinungsjahr als der beste wissenschaftliche Aufsatz ausgezeichnet. In dieser nicht »nebenbei« zu lesenden Ausarbeitung beschreibt Schore interdisziplinär die Auswirkungen traumatisierender Interaktionen im Bindungsgeschehen mit den daraus resultierenden schweren pathogenetischen Erscheinungsbildern. Ausführlich werden die Auswirkungen auf die kortikalen und subkortikalen Vernetzungen beschrieben – auch die unterschiedlichen Auswirkungen auf das männliche und weibliche Gehirn. Mikroanalytisch wird das Wesen der Protokonversation, die der Bindungstransaktion inneliegt, beleuchtet. Bei Missabstimmungen kommt es zu intensiver Erregungsdysregulation, was Defizite in der Stressanpassung über die gesamte Lebensspanne hervorruft und körperliche, mentale und kognitive Systeme schädigt. Diese Arbeit Schores appelliert an die Verantwortlichen im Bereich der mentalen Gesundheit – insbesondere in Bezug auf das Kleinkindalter –, um rechtzeitig Interventionen einzuleiten, da dadurch die Qualität vieler Leben in verschiedenen Phasen der menschlichen Entwicklung verbessert werden kann.

In seinem Workshop (Kap. 6) bei der 107. Jahrestagung der DGfKiJuMedizin in Bielefeld bezieht sich Schore im Wesentlichen auf diese Arbeit – erweitert um die Erkenntnisfortschritte seit deren Erstellung im Jahr 2002. Ähnlich wie die Arbeit aus dem Jahr 1991 beschreibt auch dieser elf Jahre später erstellte Text ein klar definiertes, aufbereitetes und strukturiertes Feld, in das sich hinzukommende Forschungsergebnisse widerspruchslos integrieren lassen.

Kapitel 6 »integriert« gewissermaßen die Inhalte des Vortrags und die des Workshops von Schore bei der 107. Jahrestagung der DGfKiJuMedizin in Bielefeld. Deutlich arbeitet er dabei heraus, welche Bedeutung dem Kinderarzt zukommt, der schon sehr früh die Interaktionen der Fürsorgepersonen mit den Kindern in seiner Praxis zu sehen bekommt und somit die Funktion haben könnte, Fürsorger-Kind-Dyaden zu erkennen, die sich ungünstig entwickeln, um diese Dyaden daraufhin entsprechenden Interventionsprogrammen zuzuführen. Die Forschung lässt keinen Zweifel mehr daran, dass die Ursprünge von Krankheiten im Erwachsenenalter oft in entwicklungsbedingten und biologischen Schädigungen zu finden sind, die sich in den ersten Lebensjahren ereignen. Das Wissen um Bindungstransaktionen und affektregulierende Verhaltensweisen der Fürsorgeperson könnte dem Pädiater ein vertieftes Verständnis der Mutter-Kleinkind-Beziehung ermöglichen. Insbesondere bei Dyaden, die ein hohes Risiko für psychosomatische und psychopathologische Störungen in sich tragen, könnten therapeutische Interventionen in der Phase hoher Entwicklungsvulnerabilität größte Effekte haben. Ein am Ende des Workshops geschildertes Fallbeispiel verdeutlicht ein Therapiekonzept, in dem die Regulationstheorie als Leitfaden für eine Behandlung in der frühen Kindheit dient.

Im abschließenden Kapitel werden weitere Anwendungsfelder der Regulationstheorie paraphrasierend aufgezeigt: Neben der beschriebenen Bedeutung der Affektregulationstheorie für die wissenschaftliche Forschung zur frühen menschlichen Entwicklung und die darauf aufbauende klinische Praxis ermöglichen die Erkenntnisse aber auch therapeutische Zugänge im breiten Sektor von »Mental Health«, wie z. B. im Bereich der Kinderheilkunde. Auch im Handlungsfeld der Sozialpädagogik/Sozialarbeit bietet diese Theorie Verständnis- und Interventionsmöglichkeiten an, was detailliert im Aufsatz von Judith Schore/Allan Schore (2008) »Modern Attachment Theorie: The Central Role of Affect Regulation in Development and Treatment« im Clinical Social Work Journal nachvollziehbar wird.

Wie wichtig dieses Wissen für Entscheidungen des Familiengerichts ist, zeigt sich an der Veröffentlichung »Family Law and The Neuroscience of Attachment« (2011) im Family Court Review (gemeinsam mit J. McIntosh), da bindungs- und affektregulationstheoretisches Wissen auch Einfluss auf die Entscheidungen zum elterlichen Umgang hat. Bedeutsam ist dieses Wissen gleichermaßen für den Bereich von Erziehung und Bildung, da es im Augenblick vor allem die kognitive Flexibilität, die Sprache und generell der Bildungsaspekt sind, die hier im Vordergrund stehen, während der Appell der Affektregulationsforschung dahin geht, den Kindern und insbesondere den noch sehr jungen Kindern Hilfestellungen bei der Stressbewältigung durch geschulte und reife Erwachsene anzubieten. Die Bereitstellung von Bildungsrahmenbedingungen mit entsprechendem Sachmaterial ist ganz offensichtlich leichter zu bewerkstelligen als die Entwicklung bindungs- und affektregulatorischer Kompetenz der in diesem Feld arbeitenden Pädagogen (vgl. Shonkoff 2011).

Die Affektregulationstheorie liefert aber auch über die Spezies Mensch hinaus Erklärungen für soziokulturelles Verhalten. Nicht nur beim Menschen, sondern auch bei Tieren kann die Zerstörung von Bindungsbeziehungen die Physiologie, das Verhalten und die Sozialkultur über Generationen hinweg nachhaltig schädigen. Sowohl in Nature (2005) als auch in Ethology (2007) erfolgt durch die Erforschung des »Elephant Breakdown« eine integrierende Annäherung an die behaviorale Biologie, um über die Disziplinen hinweg eine Verbindung der Theorien zu Verhaltensweisen zu beschreiben und um dabei die transspezifischen Konzepte von Gehirn und Verhalten zu erkennen.

Das vorliegende Buch versucht einen Einblick in das seit 20 Jahren von Allan Schore Erforschte und Vermittelte zu ermöglichen. Das Eindringen in dessen Komplexität ist nicht einfach, doch eröffnet deren Durcharbeitung neue Horizonte – ich würde sogar sagen: neue Dimensionen. Ich danke Allan Schore, dass er dem von mir erdachten Konzept zur Einführung in sein bisheriges Werk zustimmte und mit Interesse und Unterstützung dem Bearbeitungsprozess folgte.

1 Allan Schore im Spiegel wissenschaftlicher Rezensionen

Seit Allan Schore 1991 mit seinem Aufsatz »Early Superego Development: The Emergence of Shame and Narcissistic Affect Regulation in the Practicing Period« mit einem »Paukenschlag« in die wissenschaftliche Community eingetreten ist, scheint diese Quelle an Kreativität und Schaffenskraft – sowie sein Forscherdrang mit ungewöhnlicher Offenheit für interdisziplinäres Denken – nicht zu versiegen. Dieser frühe Aufsatz enthält – ähnlich der Ouvertüre einer Oper – schon wesentliche Elemente des später Auszuarbeitenden. Dieser »Quellfluss« wurde spätestens drei Jahre später zu einem breiten Fluss, der sich inzwischen zu einem gewaltigen Strom entwickelt hat. Mit dem Erscheinen des ersten Buches Affect Regulation and the Origin of the Self: The Neurobiology of Emotional Development im Jahre 1994 begann eine Abfolge von fast nicht mehr zu überschauenden alljährlichen Veröffentlichungen und Vortragsaktivitäten, die ihresgleichen sucht.1 2003 erfolgte daher die Veröffentlichung eines Doppelbandes mit dem Versuch einer Bündelung – Affect Dysregulation and Disorders of the Self und Affect Regulation and the Repair of the Self –, um der Fachöffentlichkeit einen Zugang zu diesem immensen Wissensfundus zu gewähren. Der Band Affect Regulation and the Repair oft the Self ist inzwischen in mehrere Sprachen übersetzt (Deutsch, Französisch, Italienisch, Spanisch in Arbeit), was auf die Bedeutung des darin enthaltenen Wissens verweist. 2012 ist in ähnlicher Konzeption ein weiterer Band erschienen The Science of the Art of Psychotherapy, der wesentliche neue Aufsätze seit dem Erscheinen der vorherigen Bücher integriert. Neben der schriftlichen Vermittlung der Erkenntnisfortschritte ist Schore weltweit zu Vorträgen angefragt, die stark frequentiert sind. Auf der Vortragsreise durch Australien im Jahr 2009 fanden sich ca. 25 000 Zuhörer ein. Die Akzeptanz und Anerkennung dieses Schaffens führte u. a. 2008 zur Verleihung des Scientific Award der American Psychological Association Division of Psychoanalysis an Schore.2

Allan Schore ist klinischer Psychologe und klinischer Neuropsychologe und praktiziert seit 1971 in eigener Praxis als psychoanalytischer Psychotherapeut. Er ist Mitglied psychologischer, neurowissenschaftlicher und psychoanalytischer Gesellschaften. Er ist Herausgeber, Mitherausgeber und redaktionelles Mitglied von 35 anerkannten Fachzeitschriften im angloamerikanischen Sprachraum; er hat in diesem breiten Wissenschaftsfeld Beratungs- und Lehrfunktionen an vielen klinischen, forschenden und lehrenden Einrichtungen.3 Zudem ist er Mitglied vieler klinischer und akademischer Study Groups.

Die Buchveröffentlichungen führten zu einer großen Zahl von Besprechungen, u. a. durch viele namhafte Wissenschaftler (z. B. M. Solms im Journal of the American Psychoanalytic Association, 45/1997; J. Issroff in Contemporary Psychoanalysis, 42/2006; V. Kraft in Psyche, 7/2008, Naumann-Lenzen in AKJP, 2/2008). In weiteren Stellungnahmen – seien sie von D. N. Stern, P. Fonagy, J. Panksepp oder J. Lichtenberg – wird unisono betont, dass in den Büchern Schores die menschliche Entwicklung vom Lebensbeginn an in einer bis dahin ungewöhnlichen Tiefe und Breite durch die Miteinbeziehung eines weiten multidisziplinären Spektrums dargestellt wird. Befunde u. a. aus der Neurobiologie, der Neurochemie, der Neuropsychiatrie, der Evolutionsbiologie, der Entwicklungspsychologie, der Bindungstheorie, der entwicklungsorientierten Psychoanalyse und Kinderpsychiatrie lässt er in eine brillante Synthese münden, die belegen kann, wie stark die Ereignisse in der frühen Mutter-Kind-Dyade die Gehirnentwicklung unausweichlich prägen, dass aber durch daran anschließende sozioemotionale Erfahrungen dennoch neue neuronale Verarbeitungsmöglichkeiten entwickelt werden können. Als »outstanding« wird die Fülle des bearbeiteten Materials herausgehoben: In Affect Regulation and the Origin of the Self sind es über 2300 Literaturangaben (Spero im Psychoanalytic Quarterly, 65/1996, S. 395; V. Kraft verweist in Psyche, 7/2008, S. 718 – 722, auf die »Kapitelstärke« des Literaturverzeichnisses, das im Buch Affect Regulation and the Repair of the Self 74 Seiten umfasst). Schore verfolgt seine Gedankengänge frei von dogmatischen Einengungen (vgl. Kraft) und ist daher in der Lage, vielfältige Forschungsergebnisse und Theorien aus den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen zu integrieren. Dies macht auch das Lesen seiner Texte nicht unbedingt einfach, da es fortwährend gilt, Befunde aus den unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen und in den verschiedensten Wissenschaftssprachen zu erfassen. Fast alle Buchbesprechungen betonen diesen Sachverhalt und verweisen darauf, dass das Lesen dieser Bücher nicht »nebenbei« geschehen könne. Da in ihnen verschiedene Arbeiten zusammengefasst sind, die in unterschiedlichen Kontexten vorgestellt wurden, ergeben sich notwendige Wiederholungen, die – wie ebenfalls festgestellt wird – vielleicht als irritierend oder ermüdend erlebt werden, wobei Wiederholungen jedoch – ebenfalls mehrmals erwähnt – auch hilfreich sein können, da sie dazu beitragen, sich mit dem nur schwer zu bewältigenden Material durch erneutes Lesen anzufreunden. Sowohl M. Solms als auch M. H. Spero merken an, dass Schore in seiner Theorie das Freudsche Triebkonzept zu wenig berücksichtigt habe, eine Kritik, die vermutlich eine Motivation dafür war, dass Schore (1997) den Aufsatz »A Century After Freud‘s Project: Is a Rapprochement Between Psychoanalysis and Neurobiology At Hand?« verfasste, wo er, mit Freud beginnend, die Affektforschung bis in die »Dekade des Gehirns« nachzeichnete und u. a. betonte, dass neuere psychoanalytische Modelle trotz ihres Paradigmenwechsels und der notwendigen neuen Konzeptualisierungen (z. B. die analytische Selbstpsychologie) die Triebaspekte nicht gänzlich vernachlässigen dürften.

Die Buchbesprechungen arbeiten heraus, dass der rote Faden, der sich durch das gesamte Werk Schores zieht, in seiner zentralen These besteht, dass es die frühe sozioemotionale Interaktion zwischen dem Säugling und seinen wichtigsten Fürsorgepersonen ist, innerhalb derer sich sein ontogenetischer Entfaltungsprozess vollzieht. Sein erstes Buch – eine Neurobiologie der emotionalen Entwicklung – beschäftigt sich multidisziplinär mit Studien zu den Grundlagen der Gehirnentwicklung und der emotionalen Entwicklung. Es geht um die frühesten Erfahrungen des Säuglings mit seiner sozioemotionalen Umgebung und um eine detaillierte Beschreibung der sozioemotionalen Einflüsse und Prägungsmechanismen in wichtigen Bereichen des neuronalen Netzes – insbesondere in der rechten Hemisphäre. Weiter geht es um das Auftauchen sozialer Phänomene in der späteren Säuglingszeit bei gleichzeitiger hirnorganischer Reifung und um die diversen vom Kind durchlaufenen Entwicklungsphasen in seiner Darstellung. Phasenspezifisch werden im Kontext der Interaktion mit der Umwelt im Gehirn bestimmte Areale entwickelt. Mit dieser Konzeptualisierung wird der alte Gegensatz von »Nature versus Nurture« überwunden.

Mit seinem ersten »voluminösen opus magnum« (vgl. Naumann-Lenzen 2008, S. 299 ff.) schuf Schore ein weitgefächertes und breites Fundament für seine weitere Forschung. Dieses Buch brachte ihm im angloamerikanischen Raum den Ruf eines »American Bowlby« und Vergleiche mit Einstein (Issroff, S. 685) ein. In den beiden folgenden Bänden konnte er sich in weiteren Ausarbeitungen Themen der entwicklungsorientierten Psychotherapie und Neuropsychoanalyse widmen. U. a. untersuchte er bis dahin wichtige psychodynamische Konzepte aus ebendieser Perspektive; er begann mit Freud, um sich weitergehend mit M. Klein, H. Kohut, J. Bowlby und deren Gedanken zu Entwicklung, Trauma und Reorganisation zu beschäftigen. Verstärkt rückte das Bindungstrauma in den Blick der Forschung – nicht nur die deutlichen Traumata durch Vernachlässigung, Missbrauch und Gewalt, sondern auch die Akkumulation von alltäglichen, potenziell traumatisierenden Erfahrungen im Leben des heranwachsenden Kindes. Zusätzlich zu den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritten findet auch der Kliniker Schore – parallel zur Untersuchung der Mutter-Kind-Dyade – Konzepte zur reorganisierenden Therapeut-Patient-Beziehung, bei welcher der Patient in der Behandlung seine Traumata sowie die Entwicklungsstagnation in die Übertragungsbeziehung einbringt. Mit dem psychobiologischen Wissen zur frühen Mutter-Kind-Interaktion bekommen die sozioemotionale Kommunikation sowie die Protokonversation zwischen Behandler und Patient ein wesentliches Gewicht, und die Therapie verlagert sich von Freuds »Rede-Kur« hin zur »Kommunikations-Kur« der entfaltungsorientierten psychodynamischen Psychotherapie. Schore betont dabei ausdrücklich, dass sowohl die Bindungstheorie J. Bowlbys als auch die analytische Selbstpsychologie H. Kohuts einen Paradigmenwechsel in der Psychoanalyse einläuteten.

Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass bisherige Buchbesprechungen Schore als einen ungewöhnlich kreativen Wissenschaftler herausstellen, der mit seinem integrativen Ansatz Grundlagen für eine psychodynamische Psychotherapie des 21. Jahrhunderts gelegt habe. Überzeugt führt Schore aus, dass die Selbstentwicklung ein herausragendes Gebiet der Neurowissenschaften ist und dass die Entwicklung der Selbststruktur in der Affektregulation durch andere im ersten Lebensjahr begründet ist: Der Säugling ist in dieser Zeit vom mütterlichen Selbstobjekt abhängig, das unbewusst rechtshemisphärisch die Bedürfnisse des Säuglings »liest«, um ihn zu regulieren; die Aufgabe der Fürsorgeperson besteht im zeitlich abgestimmten Beruhigen und Vitalisieren. Die rechte Hemisphäre, die sich in dieser frühen Zeit in einem enormen Wachstumsprozess befindet, benötigt für ihren Ausdifferenzierungs- und Reifungsprozess ein adaptives und hinreichend gutes (»good enough«) Funktionieren der kontinuierlichen Beziehungsperson. Die Selbstorganisation – so auch die des Gehirns – kann sich nur in der Beziehung mit einem anderen Selbst und somit auch mit einem anderen Hirn ereignen. In dieser Konzeptualisierung finden sich auch Freuds Unbewusstes und Vorbewusstes wieder – verortet in der rechten Hemisphäre, während das sprachliche lexikalische Geschehen, das erst später an Bedeutung gewinnt, linkshemisphärisch gelagert ist. Schore stützt sein Konzept – dass das aus der Mutter-Säuglings-Dyade bestehende System die psychobiologischen Zustände des Säuglings reguliert (oder auch nicht) – durch Belege aus dem entwicklungsbiologischen Feld der Mutter-Kind-Beobachtungen bis hin zur Molekularbiologie, die diese These untermauern. Das daraus entstandene Modell erklärt mit erstaunlicher Genauigkeit die Wirkweisen, durch die das kindliche Gehirn die affektregulierenden Funktionen der Mutter in umschriebenen Bereichen des Nervensystems und zu bestimmten Zeiten seiner epigenetischen Entwicklung internalisiert und ihre (der Mutter) Strukturen verinnerlicht (Kaplan-Solms & Solms 2007, S. 219).

Um den Zugang zum komplexen Werk Allan Schores zu erleichtern, wurden einleitend Wissenschaftler angeführt, die sich mit der Komplexität seiner Gedankenwelt beschäftigt haben. Sie haben seine Beiträge – d. h. die Integration von psychologischen und biologischen Konzepten der emotionalen und sozialen Entwicklung im Lebensverlauf sowie seine Befunde, wonach die sich früh entwickelnde rechte Hemisphäre das psychobiologische Substrat von Freuds Unbewusstem darstellt – quasi »vorverdaut« und erleichtern dadurch dem Leser im Folgenden die Annäherung.

2 Allan Schore im Gespräch

Die Akzeptanz von Schores affektegulatorischem Konzept und seine Verbreitung durch ein umfassendes Schrifttum sowie zahlreiche Vorträge erwecken das Bedürfnis, diesem Ausnahmewissenschaftler auch im Gespräch nahezukommen. Daher finden nun schon seit vielen Jahren immer wieder Interviews mit fachkundigen Wissenschaftlern oder Wissenschaftsjournalisten statt, die im Anschluss der interessierten Öffentlichkeit via Bild und/oder Ton oder als schriftliche Veröffentlichung zugänglich gemacht werden. Da die Affektregulationstheorie in viele Lebensbereiche hineinragt, kommen auch die Interviewpartner aus unterschiedlichen Disziplinen; die in diesem Kapitel angeführten vier Interviews stellen daher nur einen sehr kleinen Ausschnitt dar – doch sind es Gespräche, die in ihrem Ablauf von Allan Schore selbst als recht gelungen erachtet werden. Die dort behandelten Fragen beschäftigen sich mit Lebensbereichen, auf die die Affektregulationstheorie derzeit gültige Antworten hat.

2.1 Der wissenschaftliche Werdegang auf dem Hintergrund des Lebensweges: Einblicke in das mit G. Halasz 2009 geführte Gespräch

G. Halasz interviewte Schore am 24. Dezember in dessen Arbeitszimmer in Los Angeles. Er sowie Allan und Judith Schore waren sich zuvor beruflich schon des Öfteren begegnet. Allan Schore beschreibt sich in diesem Interview selbst als einen »klinischen Wissenschaftler« und nicht als einen »wissenschaftlichen Kliniker«. Die wesentlichen Fragen, denen er nachgeht, begegnen ihm im Leben – als Sohn seiner Eltern, als Ehemann, als Vater seiner beiden Kinder oder im Interaktionsgeschehen als psychoanalytischer Therapeut mit seinen Patienten. Diese Erfahrungen münden in die Frage, warum im menschlichen Leben frühe Erfahrungen so große Bedeutung für den weiteren Lebensverlauf haben.

Ausgebildet als klinischer Psychologe, war Schore vom psychoanalytischpsychodynamischen Zugang angezogen, da er den Umgang mit dem Menschen aus diesem Verständnis heraus als effektiv erachtete. Eigene psychoanalytische Erfahrungen vertieften diese Erkenntnis. Nach Abschluss der Ausbildung zum klinischen Neuropsychologen in einem Lehrkrankenhaus, das interdisziplinär arbeitete, ließ er sich in Los Angeles mit einer Privatpraxis nieder. Zudem lehrte er an neuropsychologischen und pädiatrischen Fakultäten. Um sich den Erkenntnisfortschritten der neurobiologischen Forschung intensiv widmen zu können, pausierte er ab 1981 für zehn Jahre mit der Behandlertätigkeit und durchforstete in dieser Zeit das an der Universitätsbibliothek zugängige Schrifttum, wobei er sich mit einem denkbar breiten wissenschaftlichen Spektrum auseinandersetzte. Als »Hausmann« versorgte er zudem die nach der Schule heimkehrenden Kinder, während seine Frau Judith als Psychotherapeutin die finanziellen Ressourcen sicherte. In diesem unabhängigen Studium häufte Schore ein ungewöhnlich umfassendes Wissen an. Dann kam der Zeitpunkt, zu dem er sich sicher war, eine Ausarbeitung zur menschlichen Entwicklung aus der psychoneurobiologischen Perspektive verfassen zu können. Er verließ mit diesem Aufsatz den damals vorherrschenden psychoanalytischen Ansatz, der in seinem Konzept die Entwicklung des »verbalen«, sprachfähigen Kindes ab dem 3. Lebensjahr in den Fokus stellte und sich weniger intensiv mit Ereignissen der Säuglingszeit und frühen Kindheit beschäftigte. Die neuen Forschungsbewegungen führten verstärkt vom Verbalen zum Nonverbalen, vom Bewussten zum Unbewussten und vom Kognitiven zum Emotionalen.

In den 1960er Jahren war die Verhaltenspsychotherapie auf ihrem Höhepunkt, die in den 1970er und 1980er Jahren von der kognitiven Psychologie und in den späten 1980er und 1990er Jahren von der psychobiologischen Psychologie der Emotionen abgelöst wurde. 1983 schrieb Allan Schores Frau Judith ihre Doktorarbeit zu dem Thema: A Study of the Superego: The Relative Proneness to Shame of Guilt as Related to Psychological Masculinity and Femininity in Woman. Dies führte bei Schore zur vertieften Beschäftigung mit dem Thema der sich früh entwickelnden Scham, wozu es damals nur wenige Ausarbeitungen gab. Das Interesse an frühen präverbalen Emotionen war geweckt. Ende der 80er Jahre war für das Forscherpaar klar, dass der nonverbale Schamaffekt und sein Schicksal die narzisstische Persönlichkeitsstörung kennzeichnen. Bedeutsam erschien die interpersonale Dynamik, die in der Säuglingszeit beginnt und nonverbal abläuft und dennoch in allen weiteren Beziehungen und auf allen Entwicklungsstufen eine maßgebliche Rolle spielt. Diese Erkenntnis führte zu der Beendigung des langen selbstbestimmten und unabhängigen Studiums, weil es nun an der Zeit war, das bis dahin erworbene Wissen zu bündeln und in ein Konzept zu fassen, um mit anderen Forschern in eine Diskussion zu treten.

Halasz fragt u. a. nach den damaligen Vorgänge im Zusammenhang mit dieser Arbeit: Schore antwortet, er und seine Frau Judith hätten einen gemeinsamen Aufsatz verfasst, der sich mit Scham und Geschlechterentwicklung beschäftigte. Sie reichten ihn beim Journal of American Psychoanalytic Association ein – doch wurde er nicht zur Veröffentlichung angenommen. Thematisiert wurde darin das Primat der Emotionen – zu einer Zeit, als die Psychoanalyse noch keine Affekttheorie hatte. Zudem wurde das Kernthema der Psychoanalyse in Frage gestellt: die Zentralität des Ödipuskomplexes in der Entwicklung und in der Therapie. Die Ablehnung war eine bedeutsame Erfahrung. Schore war sehr enttäuscht, doch wurde ihm bewusst, dass er in der Lage war, diese Enttäuschung und Verzweiflung auszuhalten. Er machte die Erfahrung, dass es nicht nur vitalisierte Zustände, sondern auch die der narzisstischen Entleerung gibt. Wichtig war dabei die Erkenntnis, dass es nicht nur positive Affekte, sondern auch negative Emotionen zu regulieren gilt – als grundlegender Aspekt des emotionalen Wachstums und der Entwicklung.

Der Forschungsweg ging weiter; die immer vertiefter ausgearbeitete Konzeptualisierung der Regulation lieferte Erklärungen, wie psychologische Ereignisse die reifenden Strukturen des Gehirns beeinflussen und wie diese komplexeren Strukturen wiederum komplexere psychologische Funktionen unterstützen. Der nächste Aufsatz: »Early Superego Development: Emergence of Shame and Narcissistic Affect Regulation in the Practicing Period« wurde einer anderen psychoanalytischen Zeitschrift, Psychoanalysis and Contemporary Thought (die es nicht mehr gibt), angeboten – und diese erste Veröffentlichung zur entwicklungsorientierten Neuropsychoanalyse wurde angenommen (s. Kap. 3 im vorliegenden Band).

Daraus ergibt sich die nächste Frage: War diese Veröffentlichung eine Voraussetzung für das erste Buch Affect Regulation and the Origin of the Self: Neurobiology of Emotional Development? Schore bestätigt diese Annahme; in der langen Phase seines unabhängigen wissenschaftlichen Lesens und Forschens hatte er über die Verbindung von »Nature and Nurture« nachgedacht, um aus dieser interdisziplinären Perspektive Biologie und Psychologie zu integrieren. Er wusste, dass nur ein weit gefasstes Entwicklungsmodell in der Lage sein würde, die Affektregulation ins Zentrum der chemischen, physikalischen, psychiatrischen und biologischen Vorgänge zu setzen. Er sandte das inzwischen ausgearbeitete Buch an den Verlag Analytic Press, der es sofort akzeptierte. Die Herausgeber hatten jedoch ernsthafte Bedenken, ob sich dieses Buch gut verkaufen würde, weil Menschen, die sich für Biologie interessieren, nichts Psychologisches lesen und Menschen, die sich im Feld der Psychiatrie bewegen, sich nicht mit Neurowissenschaft beschäftigen.

Im weiteren Verlauf des Gespräches hebt Halasz deutlich hervor, dass es schon ein ungewöhnliches Ereignis war, dass nach nur einem veröffentlichten wissenschaftlichen Aufsatz ein derart monumentales Werk erscheinen konnte.

Schore erinnert sich an die große Erleichterung, die er zu jener Zeit verspürt habe. Dieses Buch führte zu zahlreichen Einladungen zu nationalen und internationalen Vorträgen; das Konzept wurde weltweit aufgenommen. Es ermöglichte den unmittelbaren Dialog mit vielen Wissenschaftlern, die er zitiert hatte. Kurz darauf trat die UCLA (University of California, Los Angeles) mit dem Angebot auf ihn zu, Mitglied einer kleinen Gruppe zu werden, die im Bereich der Neurowissenschaften forscht, um psychiatrische, psychologische und linguistische Befunde zu integrieren.

Schores Buch wurde 1994 geschrieben – noch bevor dieses Jahrzehnt als die »Dekade des Gehirns« benannt wurde. Erst Ende der 1990er Jahre kam es zu einem enormen Zuwachs an Erkenntnisfortschritten im Bereich der Neurowissenschaft. In jener Zeit erweiterte Schore seine Regulationstheorie in diverse wissenschaftliche Felder hinein. Eine Auswahl der Aufsätze erschien in jenen beiden Bänden, die 2003 veröffentlicht wurden. Der eine Band fokussierte mehr auf die Wissenschaft, der andere verstärkt auf die Behandlungstechnik. Im Wesentlichen sind diese ersten drei Bücher eine Einheit, sofern im ersten die Ausrichtung für die weiteren Projekte entworfen wurde. Die Regulationstheorie führte zu neuen Hypothesen, die klinisch oder experimentell überprüft werden konnten. Vor allem die mit den bildgebenden Verfahren verbundenen Möglichkeit trieben die Forschung weiter voran. Der Austausch mit Theoretikern, Klinikern und Forschern bestärkte und erweiterte Schores Konzept, und so organisierte er Ende der 1990er Jahre die UCLA-Konferenzen zum Forschungsthema »Bindung«. Der Kontakt mit Bessel van der Kolk vom Traumazentrum der Harvard University, Boston, brachte unmittelbare Berührung mit dem Thema »Trauma«, und Schore begann das Phänomen des relationalen Traumas, d. h. des Bindungstraumas, neu zu überdenken. Damals gab es noch wenig Arbeiten zum desorganisiertdesorientierten Bindungstyp. Verstärkt musste daher über diese verstörenden Bindungen und deren Einfluss auf das sich entwickelnde Gehirn nachgedacht werden. Die daraus folgenden Forschungsergebnisse erlaubten, das Traumakonzept zu erweitern. Schore fühlte sich sehr geehrt, dass es gerade der aus diesen Forschungen entstandene Aufsatz »Dysregulation of the right brain: A fundamental mechanism of traumatic attachment and the psychopathogenesis of posttraumatic stress disorder« war, der im Australian and New Zealand Journal of Psychiatry als die herausragendste Arbeit im Jahr 2002 beurteilt wurde (s. Kap. 5 im vorliegenden Band).

Halasz lenkt dann das Gespräch auf den 2003 erschienenen Doppelband, in dem das Trauma-Konzept vertieft wurde. Schore betont, dass ihm schon Ende der 1990er Jahre klar wurde, dass es notwendig war, verstärkt über die Dysregulation durch ein Trauma und insbesondere über das frühe Bindungstrauma, das das Gehirn, die Seele und den Körper negativ beeinflusst, nachzudenken. Zu jener Zeit arbeitete er mit traumatisierten Patienten; er realisierte, wie wichtig es war, intersubjektiv auf einer tiefen Körperebene Resonanz zu geben, wenn diese Patienten in einem dysregulierten Zustand waren.

Halasz beschreibt seine Erschütterung, als er auf den Begriff des »relationalen Traumas« stieß, und er fragt nach dessen Entstehungsgeschichte und danach, wie die Begriffe »Bindung« und »Trauma« zusammengeführt wurden.

Schore weist darauf hin, dass der Begriff »relationales Trauma« von ihm stamme. 2001 schrieb er einen Aufsatz zu diesem Thema: »Effects of a Secure Attachment Relationship on Right Brain Development, Affect Regulation, and Infant Mental Health«, der im Infant Mental Health Journal erschien. Das Konzept des relationalen Traumas überbrückt Psychologie und Biologie, und so musste er zum Kern der Bindungstheorie zurückkommen, die ebenfalls Psychologie und Biologie umfasste. Die zentrale Frage ging dahin, was es bedeutet, wenn das Trauma von der primären Bindungsperson, die eigentlich ein »sicherer Hafen« sein sollte, ausgeht. Schore begann zu beschreiben, wie die rechte Hemisphäre einer Mutter in einem extrem dysregulierten traumatischen Zustand negativ auf die sich früh entwickelnde rechte Hemisphäre ihres Kindes einwirkt. 2002 erweitere er die Regulationstheorie dahingehend, dass er das relationale Trauma mit der Prädisposition für eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) zusammenbrachte.

Halasz schreitet weiter zum Jahre 2009, wo es mit dem Vortrag »The Paradigm Shift: The Right Brain and the Relational Unconscious« zu einem Paradigmenwechsel kam, und bittet um Erläuterungen.

Schore hebt in seiner Antwort heraus, dass in den 1960er und 1970er Jahren im Wesentlichen das äußere Verhalten beobachtet wurde, da diese Periode unter der Vorherrschaft der behavioralen Psychologie stand. Das Gehirn, der Körper und das Unbewusste wurden quasi in eine schwarze Box verpackt, die nicht geöffnet wurde. In der Psychoanalyse ging es vor allem um die Triebe, und Emotionen waren noch nicht Gegenstand der Forschung. In den 1970er und 1980er Jahren begann die Wissenschaft jedoch, nicht nur das äußere Verhalten, sondern auch kognitive Prozesse wie z. B. Gedächtnis, Aufmerksamkeit usw. zu beobachten. Und so beeinflusste die dominierende kognitive Psychologie die Konzepte der Psychopathologie und Psychotherapie. Dem folgte die Phase, in der die körperlich basierten Emotionen und psychobiologischen Zustände in den Vordergrund rückten. Da die emotionale Verarbeitung des Gehirns extrem schnell läuft und unterhalb der bewussten Wahrnehmung liegt, mussten sich die Beobachtungen von expliziten hin zu impliziten Phänomenen verlagern. Der Wechsel vom Verhalten hin zur Kognition und weiter zur Emotion erlaubt eine Integration von Psychologie und Biologie und schafft enge Verbindungen zwischen den Disziplinen der Psychologie, der Psychiatrie und der Neurowissenschaft. Die Neurowissenschaft bewegte sich weg von der ausschließlichen Beobachtung der linken Hemisphäre – d. h. weg von den sprachlich-kognitiven Prozessen und den willentlich motorischen Funktionen und hin zu Forschungsvorhaben zum rechtslateralisierten und emotionsverarbeitenden limbischen System und der Stressregulation.

Als er 2009 zum Vortrag bei der APA eingeladen wurde, wurde Schore gebeten, das Wort »Paradigmenwechsel« zu vermeiden und eher den »verwässerten« Begriff »Emotion Revolution« zu wählen. Er lehnte ab. Im Vortrag argumentierte er, dass die Wissenschaft das Primat des Affektes unterstütze und den unbewussten Affekt miteinschließe. Indem er Psychologie, Psychoanalyse und Neurowissenschaft integrierte, beschrieb er die zentrale Rolle des Affektes und der Affektregulation in Konzepten der Entwicklung, der Psychopathogenese und im Veränderungsprozess der Psychotherapie. Es werde inzwischen deutlich, dass psychotherapeutische Veränderungen in den Kognitionen ohne Veränderung der Emotionsverarbeitung begrenzt seien. In jenem Vortrag wies er auch darauf hin, dass der Paradigmenwechsel von der Kognition hin zur Emotion parallel mit dem Wechsel von der linken zur rechten Hemisphäre verlaufe. Es könne nicht mehr länger von dem Gehirn als einer Einheit gesprochen werden. Vielmehr verarbeiteten die beiden Systeme die Informationen unterschiedlich. Sie unterschieden sich in ihrer Makrostruktur, in ihrer Ultrastruktur, in ihrer Physiologie, in ihrer Chemie und in ihrer Verhaltenssteuerung. Die rechte Hemisphäre ist, so Schore, der primäre Sitz der emotionalen Erregung. Es bestehe Übereinkunft darüber, dass verbale, bewusste, rationale und seriale Informationsverarbeitungen in der linken Hemisphäre stattfinden, während unbewusste, nicht verbale und emotionale Informationen rechtshemisphärisch verarbeitet würden. Schore arbeitete dazu deutlich heraus, dass das rechte Gehirn das biologische Substrat des menschlichen Unbewussten sei.

Gegen Ende des Gespräches stellt Halasz die Frage, wie sich der Paradigmenwechsel im weitesten Sinne auf die im Gesundheitssystem Arbeitenden auswirke und wie – und ob – dieses Wissen in das Gesundheitswesen, in die Erziehung, in die Curricula, in die Gerichtswelt und allgemein in die Kultur hineingetragen werden sollte.

In seiner Antwort arbeitet Schore differenziert heraus, dass die biopsychosoziale Perspektive der Regulationstheorie mit ihrem Fokus auf einer adaptiven und nicht adaptiven emotionalen Verarbeitung als Grundlage für neue integrative Behandlungen von Geist und Körper dienen könne. Er zitiert Richard Lane (2008, S. 214): »Die Physiologie der Emotion ist das Kernstück der psychosomatischen Medizin … Aversive emotionale Zustände gehen mit unverträglichen gesundheitlichen Ereignissen einher«. Diese Kenntnisse sollten auch die Ausbildung verändern – die der Psychiater, der Psychologen und der Sozialarbeiter. Diese müssten über die interpersonelle Neurobiologie der Bindung unterrichtet werden: nicht nur über die frühe Entwicklung, sondern auch darüber, wie diese Dynamik nicht nur in der Pathologie des Patienten, sondern auch in der Beziehung zwischen Patient und dem Behandler eine Rolle spielt. Das Wissen um diese Zusammenhänge sollte aber nicht nur für die psychotherapeutische Beziehung, sondern auch generell für die des Arztes zu seinem Patienten Bedeutung haben. Diese Befunde stellten eine Herausforderung für jene psychiatrischen Modelle dar, die vor allem die Psychopharmakologie in den Vordergrund schieben und die Psychotherapie abwerten. Dieser Trend sei insbesondere in der Kinderpsychiatrie alarmierend – zeige doch die Forschung, dass psychodynamische Langzeittherapien sowohl bei der Behandlung von Persönlichkeitsstörungen als auch bei chronisch seelischen Erkrankungen wirksam seien.

Abschließend fragt Halasz, ob die Kultur im Allgemeinen der tiefergehenden Forschung zum Fundamentalen in der menschlichen Erfahrung gegenüber ambivalent eingestellt sei.

Schore bejaht diese Frage. Die Tiefenpsychologie wisse um die intrapsychische Abwehr gegen Schmerz. Abwehrmechanismen wie Verdrängung und selbst Dissoziation würden in den Kulturen kollektiv benutzt, um die Konfrontation mit ernsthaften Stressoren, denen man sich gegenübersieht, zu vermeiden. Daher arbeite er mit Kollegen an zwei Bänden zu den Themen »The Impact of Early Live Trauma on Health and Desease: The Hidden Epidemic« und »Human Nature and the Environment of Evolutionary Adaptedness«.

Zusammenfassend betont Schore, dass es ihm 1994 um das grundlegende Verstehen gegangen sei, dass die frühe Entwicklung eines der fundamentalsten Arbeitsfelder der Wissenschaft ist. Bei allen lebenden Systemen sei die frühe Zeit die »Bühne«, auf der sich alle Aspekte des internen und externen Funktionierens inszenierten. Dieser Grundsatz gilt inzwischen als gesichert und verweist nicht nur auf die Anfänge von Prädispositionen oder Resilienz in Bezug auf mentale Störungen; auf dieser »Bühne« zeigen sich auch die prä- und postnatalen Vorläufer von späteren psychischen Störungen.

2.2 Bowlbys Integrationsleistung: Gespräch mit R. Carroll (2001) zur Bedeutung der Bindungstheorie mit Blick auf Trends in der Kleinkindfürsorge

Ein wichtiger Themenbereich im Gespräch mit R. Caroll ist die große Bedeutung Bowlbys in der Geschichte der Psychologie und Psychotherapie. Schore verweist dabei auf das starke Interesse Bowlbys an der Verbindung von Mutter und Kind, da er schon früh realisiert habe, dass diese Bindung einen so großen Einfluss auf die weitere Entwicklung hat, zumal dieses Phänomen nicht nur bei den Menschen, sondern auch bei vielen Tieren zu beobachten ist. Von besonderer Bedeutung war dabei die Erkenntnis der nonverbalen Kommunikation – über Mimik, Gestik, Prosodie – zwischen Mutter und Kind. Bowlby war Mediziner, Psychoanalytiker und Psychiater. Die erstere Ausrichtung brachte ihn in Kontakt mit jenen Problemen, die Stress und Anpassung für den Körper bedeuten. Die psychoanalytische Ausbildung öffnete für ihn das Fenster in die innere Welt des Unbewussten, und als Psychiater kam bei ihm die Frage auf, wie frühe Prädispositionen die Psychopathologie beeinflussen. Mit Bowlby wurde das Thema »Bindung« eine wissenschaftliche Frage und die psychobiologische Perspektive führte zur Integration unterschiedlicher Disziplinen. Obwohl er die Bedeutung der frühen Jahre im Leben eines Menschen betonte, hatte er auch die gesamte Lebensspanne im Blick.

Caroll hebt hervor, dass sich in Schores Arbeit unterschiedliche Disziplinen begegnen. Der Schwerpunkt der Neurowissenschaften verlagere sich hin zur entwicklungsorientierten affektiven Neurowissenschaft und somit bewege sich die Forschung zu komplexeren und dynamischeren Systemen und zu holistischen Konzepten des Organismus, der sich während dieses Prozesses an die Umgebung anpasst und dabei Veränderungen durchläuft. Daraus entwickelt sich die Frage nach einem organisierenden Prinzip, das den Einsichten zugrunde liegt.

Schores Forschung lässt ihn zu der Erkenntnis kommen, dass dieses Prinzip das Konzept der Regulation und der Selbstregulation ist – das derzeit von allen Wissenschaftlern und der Entwicklungspsychologie genutzt werde: das Bindungsgeschehen als eine dyadische Regulation – als die interaktive Regulation von Emotion. Es sind soziale Erfahrungen, die die Entwicklung der regulatorischen Systeme beeinflussen – und somit auch das Gehirn, das wiederum alle Formen der Kognition, des Affektes und des Verhaltens reguliert. Die wesentliche menschliche Motivation besteht darin, per Regulation unerfreuliche Gefühle zu minimieren und erfreuliche zu maximieren.

Caroll wirft die Frage auf, welches die derzeit (2001) bedeutendsten Erkenntnisse zur ursprünglichen Theorie Bowlbys seien. Schore verweist auf die Integrationsleistung von Bowlby, der Psychoanalyse, Ethologie und Systemtheorie zusammengeführt habe. Er hatte besonders die Mutter-Kind-Beziehung zwischen dem 6. Lebensmonat und dem 3. Lebensjahr im Blick. Er – wie auch schon Freud – war überzeugt, dass die Mutter der Regulator der unerfreulichen Gefühle des Kindes sei. Er beobachtete, dass sich das Kind unter Stress an die Mutter wandte und diese den negativen Zustand regulierte. Die Neurowissenschaft kann zeigen, dass es auch freudige Erfahrungen sind, die am Ende des 2. Lebensmonats auftauchen und dass die mit einem gewaltigen Entwicklungsschub im Gehirn assoziiert sind. Die Bindung der Mutter bewirkt also nicht nur die Minimierung negativer Zustände, sondern auch die Vitalisierung und Maximierung positiver Zustände. Dies war die erste Ergänzung von Bowlby Theorie. Bowlbys Ansatz konnte zudem aufgrund von weiteren Erkenntnisfortschritte, etwa in der Molekularbiologie und in den affektiven und sozialen Neurowissenschaften, weiterentwickelt werden. Außerdem hat sich Bowlbys Beobachtungszeitraum sowohl nach vorne, d. h. bis in die pränatale Zeit, aber auch auf die gesamte Lebensspanne erweitert. Die Idee von Entwicklungsphasen wurde durch präzisere Konzepte sensibler Phasen ergänzt. In diesen Perioden gibt es ein intensives Wachstum von Synapsen und Differenzierungen. Gerade in diesen Phasen benötigt das Kind spezifische soziale und emotionale Erfahrungen.

Dies führt zur Frage, ob es Hinweise gibt, dass diese Schlussfolgerungen der Neurowissenschaften auch die Psychotherapie beeinflussen.