Alles nur aus Liebe - Ruth Gogoll - E-Book

Alles nur aus Liebe E-Book

Ruth Gogoll

0,0

Beschreibung

Die neue Stelle bei einem Fernsehsender ist für Landei Lisa ein ziemliche Herausforderung, vor allem, weil die Chefin Veronica Hart rücksichtslos langjährige Erfahrung voraussetzt. Doch Lisa behauptet sich und jongliert neben ihrer Hauptarbeit souverän mit den Terminen von Veronicas unzähligen Affären. Bis sie eines Tages selbst zum Temin wird – auf der einen Seite angezogen von Veronicas Charme, auf der anderen Seite will sie kein weiterer Eintrag im Kalender werden. So bleibt sie auf Distanz, bis Veronica nach einem Unfall ihre Hilfe braucht ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 349

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ruth Gogoll

ALLES NUR AUS LIEBE

Roman

© 2017édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-229-9

Coverillustrationen: © jvphoto, puruan – Fotolia.com

1

Das ist es also.

Ehrfürchtig stand Lisa vor dem großen Gebäude und starrte daran hoch. Hohe Gebäude flößten ihr Angst ein, denn da, wo sie herkam, war kein Gebäude höher als eine Scheune. In der Tat waren die höchsten ›Gebäude‹ tatsächlich Scheunen, denn auf dem Land waren sie wichtiger als die Wohngebäude für die Menschen.

Dies hier war allerdings auch kein Wohngebäude, es war ein Wolkenkratzer in der großen Stadt. Ein Wolkenkratzer, der die Büros des Fernsehkonzerns beherbergte, für den sie ab heute arbeiten sollte.

Sie versuchte ihre Schultern zu straffen und sich Mut zuzusprechen. So beeindruckend das hier auch alles war, wie wenig es ihr auch gefiel, sie musste da hinein – in die Höhle des Löwen.

Endlich überwand sie sich und trat einen Schritt vor . . . dann noch einen . . . bis sich die riesige Glasschiebetür zuerst vor ihr öffnete und dann wieder hinter ihr schloss, nachdem sie sich hineingetraut hatte. Das Zischen der Hydraulik in ihrem Rücken erschien ihr wie der Feuerstoß aus dem schrecklichen Maul eines Drachen . . . in dessen Reich sie nun gelandet war.

Rechts vor sich sah sie eine Empfangstheke. Eifrig huschten Menschen dahinter vorbei, als ob sie alle etwas ungeheuer Wichtiges zu tun hätten.

Lisa schaute sich um. Sie sah keine Informationstafel oder etwas Ähnliches, auf der sie sich hätte orientieren können, wo die Abteilung war, in die sie sich begeben musste. Dann musste sie wohl an dieser geschäftigen Theke fragen. Sie atmete tief durch. Das lag ihr gar nicht, denn leider war sie sehr schüchtern. In der überschaubaren Umgebung ihres Dorfes war das kein Problem gewesen, sie hatte alle Menschen dort seit ihrer Geburt gekannt, aber hier . . . hier waren alle fremd.

Noch einmal straffte sie ihre Schultern – sie hatte das Gefühl, bald würde sie Muskelkater bekommen von all den gewaltsamen Straffungen – und ging mit zögernden Schritten auf den hohen Empfangstresen zu.

Als sie endlich davorstand, schien sie jedoch niemand zu bemerken. Das geschäftige Treiben hinter der Abtrennung ging weiter, als wäre sie gar nicht da.

Lisa öffnete den Mund, aber sie schloss ihn gleich wieder. Was sollte sie sagen?

»Picasso im Haus?« Ein Mann, der offenbar hinter ihr stand, schoss eine Frage über Lisas Kopf hinweg ins Leere ab.

»Distribution Meeting«, kam die Antwort zurück, und im nächsten Moment erschien eine Frau vor Lisa, schaute über sie hinweg und nickte der Person hinter ihr zu.

Lisa drehte sich um. Der Mann hinter ihr war so groß, dass sie mit ihrem Blick direkt auf seiner Brust landete. Seine Länge schien der Höhe des Wolkenkratzers angepasst. Sie hob den Kopf. Schwarzer Bart, schwarze Haare, Brille. Das zumindest hatten sie gemeinsam.

Es schien, als wollte er sich umdrehen, aber dann schaute er mit leicht schiefgelegtem Kopf auf Lisa hinunter. »Kennen wir uns irgendwoher?«

Lisa wurde sich bewusst, dass sie ihn unverwandt angestarrt hatte. »Ich . . . äh . . .«

Er verzog etwas spöttisch die Mundwinkel. »Sind Sie sicher, dass Sie hier richtig sind?«

»Ich . . . äh . . . doch.« Lisa stammelte herum, und sie fühlte, wie Röte in ihr Gesicht schoss. Wie peinlich das alles war. »Ich . . .« Sie räusperte sich heftig. »Ich soll hier arbeiten.«

»Arbeiten?« Er wirkte überrascht. Sein Blick glitt über ihre Gestalt.

Am liebsten wäre Lisa weggelaufen. Es war klar, dass dieser Mann dachte, sie passte überhaupt nicht in diese Umgebung. Kein Glamour. Schnell griff sie in ihre Tasche. »Ja, das Jobcenter hat mich hergeschickt. Anscheinend suchen sie –«

Er riss ihr das Blatt aus der Hand. »Ah, im Vestalinnentempel . . . na dann . . .« Wieder glitt sein Blick über ihre Gestalt, noch spöttischer als zuvor. »Dann passt es vielleicht doch.« Er ging los und ließ Lisa einfach stehen. Nach ein paar Schritten drehte er sich um. »Willst du da Wurzeln schlagen? Nun komm schon.«

»J-ja . . . s-sofort.« Lisa stolperte fast, als sie losrannte. Mein Gott, was für ein Tag! Und er hatte noch nicht einmal richtig angefangen . . .

Im Aufzug drückte der Mann auf zwei Knöpfe und begrüßte ein paar Leute, plauderte mit ihnen, bis die Kabine zum wiederholten Mal hielt.

Lisas Kopf schwirrte wie ein Bienenschwarm, sie hatte das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden, und schloss kurz die Augen. Auf einmal fühlte sie einen harten Stoß an ihrer Schulter.

»He, träumst du? Du bist da.«

Sie riss die Augen auf.

Der Mann lachte herablassend. »Dein Stockwerk.« Er wedelte mit der Hand einem der anderen im Fahrstuhl zu. »Halt die Tür auf. Die Kleine hier muss erst mal wachwerden. Sonst fährt sie den ganzen Tag mit dem Fahrstuhl rauf und runter.«

Der andere Mann, an den das gerichtet gewesen war, lachte und hielt seine Hand vor den Lichtsensor, als die Lifttür sich wieder schließen wollte. Die beiden Seiten öffneten sich erneut.

»Nun geh schon.« Der große Mann mit dem schwarzen Bart stieß Lisa vorwärts. »Sonst stehen wir deinetwegen hier noch ewig rum.«

Lisa stolperte höchst ungraziös zur Tür hinaus, die sich nun endgültig schloss, aber sie hörte die Männer noch hinter sich lachen. »Das ist ja die richtige Abteilung für die!«

Verwirrt stand Lisa auf dem Flur. Sie hörte Telefone klingeln, Stimmengewirr, kurz ein lautes Lachen. Auch hier schienen alle hektisch hin und her zu huschen, und keiner beachtete sie.

Langsam ging sie los. Dieser Flur schien endlos, links und rechts öffnete sich alle paar Meter eine Tür, die meisten davon standen offen. Irgendwie erinnerte es sie an einen Bienenkorb, alles ziemlich gleichförmig und summend vor Geschäftigkeit.

»Entschuldigung?« Lisa versuchte eine der herumschwirrenden Bienen aufzuhalten, aber es gelang ihr nicht. Sie wurde einfach ignoriert. Zögernd ging sie weiter und steckte vorsichtig ihren Kopf durch die nächste Tür. Das Büro war leer. Gleichzeitig erleichtert und enttäuscht seufzte sie auf.

Sie schaute auf das Blatt in ihrer Hand. Da stand eine Nummer, die ihr irgendwie bekannt vorkam. Sie warf einen Blick auf das Schild an der Tür des Büros, vor der sie stand. Ja, das war ähnlich. 202. Und auf dem Blatt stand 213-1. Wenn die Türen hier wie Hausnummern nummeriert waren, lag die 213 vielleicht ein Stück den Gang hinunter auf der anderen Seite.

Sie begab sich zur nächsten Tür. 201. Das war die falsche Richtung. Entschlossen drehte sie um und ließ eine Tür nach der anderen hinter sich, immer die Augen auf die Schilder geheftet. Endlich öffnete sich am Ende des Ganges eine Art Glaskasten vor ihr. Kein Schild an der Tür, aber sie stand offen. Dahinter war allerdings wieder einmal niemand zu sehen.

Konnte sie den Raum einfach so betreten? Lisa fühlte, dass ihr bisheriges Leben keine gute Vorbereitung auf so etwas wie das hier gewesen war, und trotzdem verspürte sie ein leichtes Kribbeln, wie sie es auch verspürt hatte, als sie das erste Mal in die große Stadt kam. Eine Art Aufregung und Neugier. Sie hatte Angst, und doch – doch reizte sie das Unbekannte, die Herausforderung. Schließlich hatte sie deshalb ihr Dorf verlassen.

Sie trat ein, und im selben Augenblick öffnete sich links neben ihr die Tür zu einem Raum, der von diesem abzweigte, aber er war nicht verglast. Eine junge Frau trat heraus. Lisa stand direkt zwischen der Tür und dem Schreibtisch, zu dem die junge Frau offensichtlich wollte, deshalb konnte sie sie nicht übersehen.

Sie schaute Lisa etwas irritiert an. »Suchen Sie jemand?«

»Ähm . . . ja . . . ich . . . das Jobcenter –« Lisa räusperte sich und streckte ihr den Zettel hin.

Die Frau nahm ihn nicht, sondern warf nur einen Blick darauf. »Ach, Sie sind das. Wir haben schon auf Sie gewartet.«

»Ja, äh . . . ich . . . ich kenne mich hier noch nicht so aus . . .« Lisa fragte sich, warum sie nicht einfach im Boden versank oder vollständig vom Erdboden verschwand. Sie war eine einzige Katastrophe.

Die junge Frau, sehr schick gekleidet in ein luftiges Outfit, das Lisa auf dem Dorf als eher unpassend erschienen wäre, hier aber nichts Besonderes zu sein schien, ignorierte Lisas Verlegenheit. »Na, mal sehen, was sie sagt«, fuhr sie fort und stieß die Tür, aus der sie gerade herausgekommen war, wieder auf. »Gehen Sie rein.« Damit schlenderte sie an Lisa vorbei zu ihrem Schreibtisch.

Lisa starrte auf die offene Tür. Das heißt, ganz offen war sie nicht, sie stand nur einen Spalt auf, und Lisa konnte nicht in das Büro dahinter hineinsehen. Sie zögerte einen Moment, aber da sie dazu aufgefordert worden war, machte sie einen Schritt darauf zu und schob die Tür vorsichtig weiter auf, bis sie ihren Kopf hindurchstecken konnte.

Eine Frau saß an einem Schreibtisch, den Kopf gesenkt und offensichtlich damit beschäftigt, etwas zu lesen. Lisa wartete einen Moment, ob die Frau sie bemerken würde, dann räusperte sie sich. Die Frau blickte auf. Eine fragende Augenbraue hob sich.

Lisa machte einen weiteren Schritt und betrat das Zimmer. »Entschuldigen Sie, wenn ich störe, aber sie sagte«, sie deutete mit dem Daumen hinter sich, »ich sollte reingehen.«

»Ja?« Die zweite Augenbraue leistete der ersten Gesellschaft.

»Ich . . . äh . . . komme vom Jobcenter –« Lisa wollte der Frau den Zettel geben und trat zum Schreibtisch vor.

Die Augenbrauen senkten sich zuerst wieder, dann zogen sie sich zusammen. »Ich hoffe, Sie sind nicht so ein Reinfall wie die Letzte, die uns das Jobcenter geschickt hat.«

Lisa fragte sich, ob die Fenster in diesem Büro sich öffnen ließen, damit sie hinausspringen konnte. Das Ende des Falls würde eine große Gnade sein und sie aus diesem Vorhof der Hölle befreien. »Ich . . . ich weiß nicht«, sagte sie leise und blickte zu Boden. »Ich denke nicht.«

Die Frau stand auf. »Haben Sie überhaupt eine Ahnung von dem, was wir hier tun?«

Lisa blickte halb wieder auf. Es reichte nicht. Diese Frau hier war auch ziemlich groß, anscheinend war das eine Voraussetzung, um in diesem Gebäude zu arbeiten. Lisa fühlte sich schon allein deshalb fehl am Platz. Sie war eher klein.

Sie musste den Kopf weiter heben, bis sie die Frau anschauen konnte. »Ich habe . . .«, sie räusperte sich, »ich habe eine Ausbildung für Mediengestaltung gemacht, das Jobcenter –«

»Ja, ja, schon gut.« Die große Frau winkte ab. »Sind sowieso alle nichts wert, diese Ausbildungen, aber vielleicht haben Sie ja ein oder zwei Gehirnzellen im Kopf, aus denen wir etwas machen können.«

Lisa schluckte. Sie hatte sich ja schon das eine oder andere Horrorszenario ausgemalt, aber das hier war schlimmer als alles, was sie sich je hätte vorstellen können. Diese Frau schien kalt wie Eis, und wenn Lisa das richtig sah, war genau sie ihre neue Chefin.

Lisas Blick schweifte verstohlen über die Frau, die sich leicht abgewandt hatte und nun den Bildschirm ihres PCs betrachtete, der seitlich auf dem Schreibtisch stand. Sie erinnerte Lisa ein wenig an alte Bilder, die sie einmal bei einem Schulausflug in einem Museum gesehen hatte. Nordische Göttinnen sahen so aus. Groß und blond und irgendwie beängstigend. Sie hätte eher als Statue auf ein Podest gepasst als hinter einen Schreibtisch.

»Wie ich sehe, hat die Personalabteilung das alles schon geregelt.« Ein kurzer Blick schwenkte vom Bildschirm zu Lisa herüber. »Sie sind als Vertretung engagiert, für die Zeit des Mutterschaftsurlaubs.« Der Blick wurde schärfer. »Sie sind nicht schwanger, oder?«

Lisa fühlte die Röte erneut in ihr Gesicht steigen. »N-nein«, antwortete sie stammelnd.

Die nordische Göttin seufzte. »Bei der Beantwortung dieser Frage dürfen Sie ohnehin lügen, was nützt es also, sie zu stellen?«

»Aber ich bin wirklich nicht –« Lisas Blick suchte erneut den Boden. Mein Gott, hörten diese Peinlichkeiten heute denn nie auf?

»Freut mich zu hören.« Ein leichtes, kaum merkliches Lächeln hob die Mundwinkel in dem wie gemeißelt erscheinenden Gesicht. »Sie wären nämlich dann die dritte, die mich wegen eines solchen . . . Vorfalls verlässt, und langsam wird das lästig.«

»Nein. Nein, bestimmt nicht.« Lisa riss weit die Augen auf.

Ein kühler blonder Blick aus blauen Augen streifte sie. »Sie sind unscheinbar. Vielleicht nützt das etwas, damit Sie wenigstens so lange bleiben können, wie ich Sie brauche«, bemerkten uninteressierte Lippen.

Lisas Mund presste sich unwillkürlich zusammen. Es war einfach zu viel für sie.

»War nicht so gemeint.« Die uninteressierten Lippen zuckten. »Aber ich habe hier im Haus schon lange keine Frau mehr gesehen, die so hochgeschlossen herumläuft.« Nüchterne Augen streiften Lisas bis obenhin zugeknöpfte Bluse. »Alles nur Gewohnheit.«

Lisa schluckte. »Ich dachte . . . bei einem Vorstellungsgespräch . . .«

»Schon in Ordnung.« Wieder dieses unmerkliche Lächeln. »Lassen Sie sich von Nadine erklären, was Sie zu tun haben. Sie weiß Bescheid.« Lisas fragender Blick veranlasste sie dazu hinzuzufügen: »Nadine sitzt draußen, meine Assistentin.«

»Ah . . . ja. Ja, natürlich.« Schnell zog sich Lisa zur Tür zurück. Langsam bekam sie Frostbeulen von dieser kalten Atmosphäre hier. »D-danke.«

Die blonde Göttin richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. »Ach, übrigens. Ich lege Wert darauf, dass meine Mitarbeiterinnen sich auf ihre Arbeit konzentrieren. Zumindest wenn sie hier sind. Alles andere können sie in ihrer Freizeit tun.«

Was sonst? fragte Lisa sich, aber sie war zu verwirrt, um es laut zu fragen. Erleichtert nickte sie, ging hinaus und zog die Tür hinter sich zu.

»Na, du bist ja noch in einem Stück.« Nadines amüsierte Stimme empfing sie.

Lisa zuckte herum, weil sie eigentlich noch im Erholungsmodus war. Ein paar Sekunden hätte sie sich zumindest gewünscht.

»Was hat sie gesagt?«, fragte Nadine. »Bleibst du?«

»Ich . . . Ja . . . glaube ich«, stotterte Lisa.

Nadines Blick musterte sie von oben bis unten. »Siehst du immer so aus?«

Mittlerweile hatte Lisa ernsthafte Zweifel daran, dass dies die richtige Stelle für sie war. »Ich . . .« Sie räusperte sich.

Aber bevor sie weitersprechen konnte, winkte Nadine ab. »Wahrscheinlich bleibst du sowieso nicht lange. Ronny wird dir bald die Hölle heißmachen, und du machst mir nicht den Eindruck, als könntest du das aushalten. Bist wohl eher eine Pflanze vom Land, hm?«

Lisa griff sich verlegen an die Brille, die auf ihrem schweißnassen Nasenrücken immer tiefer rutschte. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was man hier von ihr erwartete, nur war ganz klar, dass alles, was sie bisher für richtig gehalten hatte, hier nicht galt. Es war, als wäre sie plötzlich auf einem fremden Planeten gelandet.

»Na komm«, fuhr Nadine auf einmal gutmütig fort. Sie betrachtete Lisa offensichtlich nicht als Konkurrenz, da konnte sie großzügig sein. »Ich zeige dir deinen Arbeitsplatz und – noch viel wichtiger – die Kaffeeküche.« Ihre Mundwinkel verzogen sich spöttisch. »Wenn du dich dort viel aufhältst, wirst du bald wissen, was hier los ist. Wer mit wem und wem nicht . . . du verstehst schon.«

Lisa verstand nur Bahnhof, aber sie folgte Nadine zu einem anderen Glaskasten, in dem mehrere Kunststofftische standen, überladen mit Papier.

»Das papierlose Büro!«, lachte Nadine. »Deine erste Aufgabe wird sein, das zu sortieren, Kopien anzufertigen und zu den entsprechenden Abteilungen zu bringen.«

Überrascht schaute Lisa sich in dem Raum um. »Ich dachte . . . beim Jobcenter sagte man mir . . . Mediengestaltung . . .«

»Ja, klar.« Nadine schmunzelte. »Du kannst hier ganz viel gestalten. Kannst auch einen Blumentopf hinstellen, wenn du willst.«

Wie versprochen führte sie Lisa dann auch noch in die Kaffeeküche, an die ein kleiner Aufenthaltsraum angeschlossen war. Es gab nicht nur Kaffee, sondern auch eine Mikrowelle, einen Kühlschrank, ein paar hohe Stehtische und niedrige Schränke.

»Das ist nur so für zwischendurch«, erklärte Nadine. »Mittags gibt es dann auch noch die Kantine.«

»Nadine, hast du –« Eine Frau kam in den Raum und blieb abrupt stehen, um – wie bisher jeder – ihre Blicke über Lisa streifen zu lassen. Sie runzelte fragend die Stirn.

»Das ist . . .« Nadine schaute Lisa gleichgültig an. »Wie heißt du noch mal?«

»Lisa . . . Lisa Körner.« Schon allein ihren Namen auszusprechen fiel Lisa schwer im Angesicht dieser immer wieder auf sie niederprasselnden Blicke.

»Ronnys neues Mädchen für alles«, ergänzte Nadine. Sie wies auf die Frau und fügte an Lisa gewandt hinzu: »Jacqueline.«

Schüchtern hoben sich Lisas Mundwinkel. »Freut mich sehr.«

Jacqueline unterzog sich keiner solchen Anstrengung. Es schien, als hätte sie bereits jegliches Interesse an Lisa verloren. »Hast du das von Sascha gehört?«, setzte sie den Satz fort, den sie bei ihrem Eintritt unterbrochen hatte. Es war, als ob Lisa gar nicht da wäre.

»Allerdings.« Nadines Mundwinkel verzogen sich in spöttischem Vergnügen.

Lisa betrachtete die beiden Frauen stumm. Auch Jacqueline war von Kopf bis Fuß sorgfältig gestylt. Noch mehr kam Lisa sich wie das graue Mäuschen vor, das hier nicht hingehörte.

Aber da musste sie jetzt durch. Schließlich hatte sie es so gewollt. Wozu hatte sie einen so glänzenden Schulabschluss hingelegt? Damals hatten alle ihr versichert, die Welt stände ihr offen.

Leider zeigte schon das erste Bewerbungsgespräch, dass das nicht so war. Niemand wollte eine junge Frau ohne Berufserfahrung, gerade von der Schule, die nichts anderes vorweisen konnte als gute Noten. Sie lernte schnell, dass Schule und Leben zwei verschiedene Dinge waren.

Zu einer Ausbildung riet man ihr, irgendetwas Kaufmännisches, das würde immer gebraucht. Buchhaltung vielleicht. Oder Verkäuferin? Rechtsanwaltsgehilfin? Kreditassistentin in einer Bank?

Lisa stellte sich jedoch etwas anderes vor. Etwas Aufregenderes als den ganzen Tag vor Papierbergen in einem Büro zu hocken oder in einem Laden herumzustehen.

Während der Beratung beim Jobcenter hatte man ihr die Ausbildung zur Mediengestalterin Bild und Ton in einem Institut vorgeschlagen, da würde gerade ein Kurs beginnen. Kreativität am Arbeitsplatz, spannende Perspektiven in Film und Fernsehen, das hatte interessant geklungen.

Wenn sie sich nicht gerade so verkrampft gefühlt hätte, hätte Lisa jetzt fast über diese Versprechungen lachen können. Vor Papierbergen hatte sie sich drücken wollen, und Papierberge erwarteten sie in diesem vollgestapelten Glaskasten, der ihr neuer Arbeitsplatz war.

»Komm, ich erkläre dir noch, was du machen musst«, unterbrach Nadine, die anscheinend allen Klatsch und Tratsch mit Jacqueline ausgetauscht hatte, in diesem Moment ihre Gedanken. Sie drehte sich auf dem Absatz um und verließ die Kaffeeküche.

Lisa stolperte beinah, als sie ihr schnell folgte. Sie kehrten zum Ausgangspunkt ihrer Führung zurück, und Nadine zeigte ihr, was sie zu tun hatte. Es dauerte nicht lange, denn die Aufgabe konnte man nicht gerade als anspruchsvoll bezeichnen.

Nebenbei warf Nadine einen geradezu irritierten Blick auf Lisas Tasche, die ihr wohl nicht chic genug erschien. Lisa hatte sie als Sonderangebot im Kaufhaus erstanden.

»Alles klar?« Nadine drehte sich bereits um und ging zu der Öffnung im Glas, die eine Tür ersetzte. Offenbar hielt sie ihre Aufgabe für erledigt.

»Und danach?«, fragte Lisa schnell.

»Denkst du nicht, dass du damit eine ganze Weile beschäftigt bist?«, warf Nadine lässig über die Schulter zurück, ohne sie noch einmal anzuschauen.

Und dann sah Lisa nur noch Nadines attraktiv verpackten Po in den Gang schwenken, als würde er ihr höhnisch zuwinken.

2

Der erste Tag war ganz schön anstrengend gewesen, das spürte Lisa, als sie am darauf folgenden Morgen aus dem schmalen Bett aufstand, in das sie abends erschöpft gesunken war.

Sie hatte das Gefühl, als hätte sie gestern etliche Trainingseinheiten in einem Fitness-Studio absolviert. Sie hatte Papier in Massen herumgeschleppt – wofür gab es eigentlich Computer? –, sich Kommentare angehört, die hart an der Grenze zur Beleidigung lagen, und war in das eine oder andere Gespräch hineingestolpert, das ihr Dinge offenbarte, von denen sie eigentlich gar nichts wissen wollte.

Anscheinend hatte hier jeder etwas mit jedem, Männlein wie Weiblein, und wer es nicht gerade tat, sprach darüber.

Normale Arbeitszeiten gab es auch nicht, und sie war erst spät in der Nacht nach Hause gekommen.

»Lisa! Kommst du? Frühstück!«, schallte es durch den Flur.

Das war die Stimme ihrer Tante, bei der Lisa zusammen mit ihrem jüngeren Cousin, der noch zur Schule ging, wohnte.

»Na, wie war dein erster Tag?«, begrüßte Heike Hoffmann sie strahlend, als Lisa noch immer etwas benommen durch die Tür zur Küche taumelte.

»Gut«, murmelte sie und ließ sich auf einen Stuhl am Tisch fallen.

»Du bist erst sehr spät nach Hause gekommen«, fuhr ihre Tante fort. »Warst du mit deinen neuen Kollegen noch weg?«

Lisa goss sich Kaffee aus der Thermoskanne ein, die auf dem Tisch stand. »Nein.« Sie nahm einen großen Schluck. »Du ahnst nicht, wie viel Papier es in einem Fernsehsender gibt.«

»Papier?« Ihre Tante Heike wirkte erstaunt. »Du arbeitest auf Papier, nicht am Computer?«

»Ich arbeite nicht auf Papier, ich schleppe es nur herum.« Lisa setzte ihre Tasse ab. »Treppauf, treppab. Den ganzen Tag.« Sie seufzte. »Ich musste ein Taxi vom Bahnhof nehmen, weil kein Bus mehr fuhr. Wenn das so weitergeht, kann ich nicht hier wohnen bleiben. Da ist ein Zimmer in der Stadt billiger.«

»Wenn du genug verdienst . . .«

Lisa nippte an ihrer zweiten Tasse Kaffee. »Es ist nur eine Vertretung. Mutterschaftsurlaub. Sie konnten mir noch nicht einmal sagen, wie lange. Sie kann in ein paar Wochen wiederkommen oder in drei Jahren. Für ein paar Wochen lohnt sich ein Zimmer nicht.«

»Das stimmt.« Tante Heike schaute auf sie hinunter. »Ich muss zur Arbeit. Kommst du heute Abend früher? Dann können wir reden.«

Lisa zuckte die Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Auch wenn ich gestern den ganzen Tag Papier verteilt habe, habe ich das Gefühl, die Berge sind nicht viel kleiner geworden.«

»So kommst du wenigstens herum und lernst alle kennen«, meinte ihre Tante, schon auf dem Weg zur Tür. »Das kann nie schaden.« Sie hob die Hand. »Tschüss. Bis heute Abend.«

»Tschüss.« Lisa schaute ihr nach und starrte dann nur noch in die Luft, als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte.

Ihre Tante Heike war ein grundsätzlich optimistischer Mensch. Sie sah alles immer von der sonnigen Seite. Selbst als Lisas Eltern damals gestorben waren, hatte Tante Heike sie aufgenommen, ihr ein Zuhause gegeben und keinen Tag darüber gejammert, dass sie mit ihrem kleinen Gehalt nun zwei Kinder ernähren musste.

Lisas Mutter, Heikes Schwester, war etliche Jahre älter gewesen, und als Heike schwanger wurde, war sie noch sehr jung. Sie hatte geheiratet, aber die Ehe hatte nicht lange gehalten, und ab dann hatte sie allein für sich und ihren kleinen Sohn sorgen müssen.

Sie hatte durch die frühe Schwangerschaft keinen Schulabschluss und keine Ausbildung gemacht, und Jobs, die man mit diesen Voraussetzungen bekommen konnte, waren nicht sehr gut bezahlt.

Deshalb hatte sie Lisa immer ans Herz gelegt, dass sie nicht dieselben Fehler machen sollte wie sie selbst.

Lisa nahm sich noch einen Kaffee und lehnte sich auf den Tisch. Sie war jetzt schon viel älter, als ihre Tante Heike damals gewesen war, als sie schwanger wurde. Und sie hatte nie genügend Interesse für Jungs oder Männer aufgebracht, dass ihr so etwas überhaupt hätte passieren können.

Sie hatte sich sehr für die Schule interessiert, war immer gut gewesen. Ihre Tante hatte es ihr ermöglicht, Abitur zu machen, aber ein Studium dauerte einfach zu lange. Deshalb schaute Lisa sich nach einer Ausbildung um, bei der sie etwas früher arbeiten und Geld verdienen konnte.

Sie hatte sich schon seit Kindertagen für kreative Gestaltung interessiert, aber sie hatte nie darüber nachgedacht, dass das auch ein Beruf sein könnte. Es hatte ihr nur immer Spaß gemacht.

Nun lag der zweite Tag vor ihr, und sie fragte sich, was daran kreativ sein sollte.

Überhaupt waren alle so . . . anders, als sie sich das vorgestellt hatte. Angefangen bei ihrer Chefin.

Von ihr hatte Lisa nicht mehr viel gesehen nach dem ersten Gespräch. Sie lief manchmal auf dem Flur vorbei, aber sie warf keinen Blick in Lisas Glaskasten mit dem vielen Papier. Sie schien immer äußerst beschäftigt.

Und grimmig. Sie lächelte nie. Ihr hätte nur noch ein Schwert gefehlt, dann hätte sie ausgesehen wie eine blonde Amazone auf dem Weg in die Schlacht.

Lisa fragte sich, worin die Aufgabe der Abteilung bestand. Bei ihrer Odyssee durch die Büros gestern hatte sie viel Privates gehört, aber wenig, das mit der Arbeit zu tun hatte.

Von den privaten Bemerkungen hatten nicht nur einige sie schwer verunsichert. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Erneut war der Begriff Vestalinnen gefallen, und mehr als einmal hatte sie »Ach, du bist Ronnys Neue?« gehört, begleitet von einem anzüglichen, manchmal auch erstaunten Lächeln.

Offenbar nannten alle ihre Chefin Veronica Hart Ronny, was Lisa sehr merkwürdig fand. Noch merkwürdiger fand sie jedoch, dass Veronica Hart für viele ein rotes Tuch zu sein schien.

Andererseits – ihr Verhalten war nun wirklich nicht gerade einnehmend. Eher einschüchternd. Zumindest wenn jemand schon von Natur aus schüchtern war wie Lisa.

Das galt für die anderen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen allerdings nicht, eher im Gegenteil. Das Fernsehen zog augenscheinlich eher Leute an, die es liebten, sich zu produzieren. Lag ja auch irgendwie nahe. Es ging darum, nach außen hin eine bunte Welt zu erschaffen, die sich verkaufen ließ, die dem Sender Geld einbrachte. Zurückhaltung war da völlig fehl am Platze und Bescheidenheit auch.

Lisa war zur Bescheidenheit erzogen und fand viele der Verhaltensweisen peinlich bis unmöglich, aber ihr war klar, dass das in diesem Umfeld keine Bedeutung haben konnte. Sie hätte sich nur lächerlich gemacht, hätte sie es erwähnt.

Was sie ohnehin nicht vorhatte. Nichts lag ihr ferner, als sich in den Vordergrund zu spielen. Sie war sehr glücklich, wenn sie irgendwo in Ruhe arbeiten konnte, ohne zu stören oder gestört zu werden. Wenn . . . ja, wenn die Arbeit nur ein wenig anspruchsvoller gewesen wäre, ein wenig mehr das, was sie gelernt hatte. Wozu hatte sie gebüffelt und geübt, wenn sie nun nichts weiter als Papier sortieren sollte?

Aber es war ja erst ein Tag. Ein anstrengender, langer Tag, den ihre Tante Heike wahrscheinlich besser eingeordnet hatte als sie selbst. Sie hatte schon viele Büros und Leute kennengelernt – oder zumindest gesehen, und es war das Wichtigste, sich erst einmal zu akklimatisieren. Zu wissen, wer wofür zuständig war, wer mehr und wer weniger zu sagen hatte. Wer die Entscheidungen traf.

Veronica Hart traf auf jeden Fall Entscheidungen. Eine Menge. Jeden Tag. Lisa bewunderte sie dafür. Sie konnte sich nicht vorstellen, einen solchen Job zu haben, immer in der Verantwortung zu sein – auch wenn sie sich momentan mehr Verantwortung wünschte.

Aber das würde sicher noch kommen, wie Tante Heike gesagt hatte. Genauso wenig, wie man ein Buch nach dem Umschlag beurteilen sollte, konnte man einen Job nach dem ersten Tag beurteilen.

Sie seufzte und stand auf. Langsam musste sie sich für die Arbeit fertigmachen.

Als sie nach einer langen Bus- und Bahnfahrt endlich wieder vor den Papierbergen stand, die sie gestern Abend verlassen hatte, kam es ihr so vor, als wäre es noch mehr geworden. Die reinste Sisyphusarbeit. Ob das je ein Ende nehmen würde?

Aber es half nichts. Sie musste die Ärmel hochkrempeln und zupacken, sonst würde es garantiert nicht weniger werden.

Sie war mitten in einem Sortiermarathon, als plötzlich ein Duft zur ihr herüberwehte, herb, aber nicht unangenehm. Nein, gar nicht unangenehm.

Da dieser Glaskasten keine Tür hatte, kamen öfter einmal Leute einfach so herein, Lisa blickte gar nicht mehr auf. Meistens suchten diejenigen irgendetwas und gingen dann wieder.

Dieser Duft jedoch veranlasste sie aufzublicken. Ihr blieb fast das Herz stehen. Veronica Hart stand kurz hinter der Eingangsöffnung im Raum und beobachtete sie.

Lisa fielen beinah die Blätter aus der Hand, die sie eben hatte auf Kante bringen wollen. Sie konnte sie gerade noch so daran hindern, zu Boden zu flattern. Natürlich brachte sie kein Wort heraus. Wahrscheinlich starrte sie Veronica Hart mit offenem Mund an, auch wenn ihr das nicht bewusst war.

»Ich sehe, Sie sind sehr beschäftigt«, sagte Veronica Hart, ohne das Gesicht zu verziehen.

Lisa konnte sich kaum auf die Worte konzentrieren, aber ihr fiel trotzdem auf, dass Veronica Hart sie siezte. Ungewöhnlich in diesen Hallen der Duzerei. Egal, wo sie hinkam, ein Sie hatte sie selten gehört.

Sie suchte in ihrem leeren Gehirn verzweifelt nach einer Antwort, aber alles, was ihr in den Sinn kam, war der Geruch, der von Veronica Hart zu ihr schwebte. Und sie konnte ihrer Chefin ja schließlich schlecht sagen: ›Ihr Parfum gefällt mir.‹ Was würde sie dann von ihr denken?

»Nadine hat sich krankgemeldet«, fuhr Veronica Hart immer noch mit diesem ungerührten Gesichtsausdruck fort. »Trauen Sie sich zu, das Sekretariat für ein, zwei Tage zu übernehmen?«

Nein! schrie es in Lisa. Ich bin keine Sekretärin! Ich habe nicht die geringste Ahnung, was man da machen muss!, aber sie nickte. Zum Sprechen war sie immer noch nicht fähig.

»Kommen Sie mit.« Veronica Hart drehte sich um und verließ den Glaskasten.

Lisa hatte extreme Koordinationsprobleme, weil sie gleichzeitig ihrer Chefin hinterher und den Papierstapel, den sie gerade in Händen hielt, ablegen wollte. Sie stolperte, und die Arbeit der letzten beiden Stunden war dahin. Sie hätte alles aufheben und wieder auf den Tisch legen müssen, aber ihre Chefin war schon verschwunden, und sie hatte keine Wahl. Sie musste die heruntergefallenen Blätter liegenlassen.

Hastig rannte sie den Gang hinunter in Richtung des Büros der Abteilungsleiterin. Kurz davor holte sie Veronica Hart ein, die sich nicht einmal umdrehte.

Ich darf nicht vergessen, die Blätter gleich aufzuräumen, wenn sie mir gesagt hat, was ich hier tun soll, dachte Lisa. Wenn sie in den Glaskasten schaut und das Chaos sieht, wenn sie das nächste Mal daran vorbeikommt –

»Die Telefonanlage kennen Sie?«, fragte Veronica Hart mit einer knappen Handbewegung zu Nadines Schreibtisch, vor dem sie stehengeblieben war.

Ich komme manchmal noch nicht mal mit meinem Handy klar. Aber Lisa nickte wieder. Sie konnte einfach nicht anders. Was für eine Frage Veronica Hart ihr auch immer gestellt hätte, sie hätte ja gesagt.

»Nehmen Sie einfach die Gespräche an und tragen Sie sie in meinen Online-Terminkalender ein beziehungsweise in das Infotool, dann kann ich das auf meinem Smartphone abrufen«, verkündete ihre Chefin anscheinend uninteressiert. »Ich muss immer auf dem aktuellen Stand sein, auch wenn ich unterwegs oder telefonisch nicht zu erreichen bin. In Konferenzen schalte ich das Handy manchmal stumm.«

Lisa schluckte. Sie wusste weder, wo der Online-Terminkalender noch das Infotool – was auch immer das sein mochte – zu finden war. Aber sie traute sich nicht zu fragen. Sie versuchte sich gewaltsam zu räuspern. Es klang eher wie ein Krächzen.

»Sie sind doch nicht etwa auch krank?« Veronica Hart musterte sie scharf.

»Nein, nein.« Lisa schüttelte heftig den Kopf. Irgendwie gerieten ihr heute alle Bewegungen außer Kontrolle. »Alles in Ordnung.«

»Na, hoffentlich.« Ein wenig blieb der misstrauische Ausdruck noch, dann fuhr Veronica Hart fort: »Ich muss jetzt los. Wenn etwas wirklich Dringendes ist, können Sie mich anrufen. Aber nur in wirklich dringenden Fällen!« Das klang beinah drohend. »Sonst reicht der Kalender, das Tool oder eine SMS.«

»Ist gut«, brachte Lisa unter großer Anstrengung hervor. Ihre Stimme klang piepsig. »Nur in Notfällen anrufen.«

Veronica Hart nickte. »Ach so . . .«, fügte sie noch hinzu, als sie sich schon wegdrehte, »falls Frau Riehlau anruft, sagen Sie ihr, ich bin tagsüber beschäftigt. Wir sehen uns heute Abend.« Damit verschwand sie mit großen Schritten über den Gang.

Ihr Duft hatte sich in der Luft vor dem Schreibtisch gesammelt, und Lisa wurde fast schwindlig, als sie nun vor lauter Erleichterung tief durchatmete und er ihre Nasenflügel füllte. Sie fiel in Nadines Stuhl und hielt sich erst einmal an den Lehnen fest.

Oh mein Gott! Bin ich denn wahnsinnig? Ich habe keine Ahnung von gar nichts und verspreche ihr, ich mache das hier?

Sie konnte jedoch nicht lange darüber nachdenken, denn das Telefon klingelte. Einen Moment starrte sie den Hörer auf der Anlage mit aufgerissenen Augen an, aber dann überwand sie sich und nahm ab.

»Lisa . . . ähm . . . Veronica Harts Büro?«

»Na, das müssen Sie doch wissen, ob das ihr Büro ist«, schnauzte sie eine Männerstimme an. »Warum fragen Sie mich das?«

Lisas Hand krampfte sich um den Hörer, aber der Anrufer erwartete gar nicht, dass sie etwas sagte.

»Geben Sie mir Ronny. Schnell!«, blaffte er.

»Ich . . .« Lisa schloss die Augen. »Sie ist nicht da«, brachte sie dann mühsam hervor.

»Und wo ist sie?«

Woher soll ich das wissen? Lisa geriet in Panik. Ihre Chefin hatte ihr nichts gesagt, den Online-Kalender hatte sie noch nicht gefunden beziehungsweise gar keine Zeit gehabt, ihn zu suchen, sie hatte keinerlei Informationen, vermutlich sogar weniger als der Anrufer, der im Hörer laut atmete. »Sie . . . sie ist tagsüber beschäftigt«, stammelte sie, während sich ihr Herz in ihrer Brust immer mehr zusammenzog.

»Wer sind Sie überhaupt?«, fragte der Anrufer nun irritiert. »Sie sind doch nicht Nadine.«

»Nein, ich . . . ich bin Lisa.« Sie wäre am liebsten im Boden versunken.

»Hat Nadine gekündigt?« Er lachte hämisch. »Wäre ja kein Wunder!«

»Nein, sie . . . sie ist krank.« Lisa schluckte. Sie musste sich zusammenreißen und in ganzen Sätzen antworten. Dieses Gestammel machte keinen guten Eindruck.

»So . . . Krank nennt man das jetzt.« Seine gedehnte Sprechweise deutete nicht nur an, dass er nicht an Nadines Krankheit glaubte. Es schien, als ob er mehr wüsste.

»Kann ich Frau Hart etwas bestellen?«, fragte Lisa, die sich langsam fasste. Sie hatte schließlich keine andere Wahl.

»Frau Hart?« Er lachte laut los. »Na, du bist ja wohl irgendwo aus den Wolken gefallen, Kindchen!«

»Ich bin erst seit gestern hier«, sagte Lisa.

Das schien ihn zu besänftigen. »Also dann richte ihr aus, ich schaffe es nicht bis drei. Unser Termin verschiebt sich auf fünf.«

Wer sind Sie denn? wollte Lisa fragen, aber da hatte er schon aufgelegt.

»Ich muss diesen Terminkalender finden«, murmelte Lisa vor sich hin. »Da steht sicher sein Name drin.«

»Nadine . . .« Jacqueline rauschte plötzlich vor den Schreibtisch und stutzte. »Was machst du denn hier? Wo ist Nadine?« Sie klang weder besonders höflich noch besonders freundlich.

»Krank«, gab Lisa Auskunft. »Und ich muss einen Termin verschieben.« Sie starrte auf den Bildschirm des PCs.

»Kennst du dich denn damit aus?«

Auch wenn Lisa sie gar nicht ansah, konnte sie den bösartigen Tonfall gut heraushören. »Nein«, gab sie ehrlich zu. »Ich bin gerade ins kalte Wasser geworfen worden und komme mir vor, als könnte ich nicht schwimmen.«

Jacqueline lachte. Es war kein nettes Lachen, aber immerhin schien ihre Laune sie zu Lisas Gunsten einzunehmen. »Soll ich es dir zeigen?«, fragte sie.

»Oh ja, bitte!« Lisa blickte sie dankbar an. »Den Kalender und das Infotool. Das würde mir sehr helfen.«

»Klick da links unten auf das Symbol«, wies Jacqueline sie mit einem langen, rot lackierten Fingernagel an. »Da findest du beides.«

Lisa klickte darauf und sah sofort, dass es nicht schwierig sein würde, die App zu bedienen. »Danke.« Sie lächelte Jacqueline an. »Das war sehr nett von dir.«

»Ich bin nie nett«, erklärte Jacqueline. »Du schuldest mir einen Kaffee. Mindestens. Und Auskünfte über Nadine. Was macht sie wirklich?« Ihr Gesichtsausdruck wurde äußerst neugierig, und sie beugte sich vor.

Lisa zuckte die Schultern. »Meines Wissens nach ist sie krank. Mehr kann ich dir auch nicht sagen.«

»Gestern Abend war sie noch ziemlich fit«, bemerkte Jacqueline mit einem bösartigen Zucken ihrer Mundwinkel. »Hat einen neuen Kerl aufgerissen, der ganz ihre Kragenweite war. Vielleicht ist sie bei dem.«

»Vielleicht«, murmelte Lisa, die das Thema nicht interessierte. Sie suchte im Terminkalender nach dem Drei-Uhr-Termin. Und sah sofort, dass es ein Problem geben würde, ihn auf fünf Uhr zu verschieben, denn dort war ein anderer Termin eingetragen.

Ob das ein Notfall war, in dem sie anrufen durfte? Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass nicht. Nadine hätte gewusst, was da zu tun war, denn Nadine hätte gewusst, was die Abkürzung bei dem Termin bedeutete. Aber Lisa wusste es nicht. Und wenn sie ihre Chefin deshalb anrief, würde die sie zur Schnecke machen und wieder zu den Papierbergen schicken. Die immer noch auf dem Boden lagen . . .

»Probleme?«, fragte Jacqueline harmlos.

Doch Lisa war auf der Hut. Auch wenn Jacqueline ihr geholfen hatte, es ging etwas von ihr aus, das Lisa ein kaltes Schauern über den Rücken jagte, wenn sie auch nicht wusste, warum. »Nein«, sagte sie. »Noch mal vielen Dank für deine Hilfe.« Sie strahlte Jacqueline an. »Könntest du Nadine nicht vielleicht zu Hause anrufen? Ich würde gern wissen, wann sie wiederkommt.«

Jacquelines Lippen verzogen sich gehässig. »Das würde ich auch gern wissen.« Ohne sich zu verabschieden drehte sie sich einfach um und ging.

Lisa hatte sie sofort vergessen, denn das Terminproblem machte ihr zu schaffen. Was sollte sie tun?

Sie konnte den Anrufer zurückrufen, aber selbst wenn sie ihn erreichte, er würde sie nur wieder anschnauzen, wenn sie ihm sagte, dass der Termin sich nicht verschieben ließ. Und ließ er sich wirklich nicht verschieben? War UR so wichtig? Oder war es ein Termin, der keine große Bedeutung hatte, den man einfach absagen konnte?

Wenn sie das alles nur gewusst hätte. Sie holte tief Luft. Mit der Suchfunktion des Kalenders fand sie einige Termine, die mit UR bezeichnet waren. Aber keinen Hinweis darauf, wer oder was UR war. Dann hätte sie vielleicht dort anrufen und fragen können, ob sich der Termin verschieben ließ.

Das Telefon klingelte wieder. Lisa straffte ihre Schultern. »Veronica Harts Büro«, meldete sie sich, diesmal ohne Fragezeichen. »Lisa Körner am Apparat.«

Kurz war es still im Hörer. »Wer sind Sie?«, kam dann eine Frage heraus, von einer irgendwie singenden Frauenstimme ausgesprochen.

»Lisa Körner«, wiederholte Lisa. »Nadine ist krank. Ich bin ihre Vertretung.«

»Aha.« Noch einmal Stille. »Ursula Riehlau«, stellte sich die Frau dann vor. »Ist Ronny da?«

»Nein, sie ist unterwegs.« Lisa warf einen Blick auf den Kalender. »Abteilungsleiter-Meeting. Kann ich ihr irgendetwas ausrichten?«

Ursula Riehlau schien erneut zu überlegen, und währenddessen fiel Lisa ein, dass ihre Chefin ihr ja etwas für sie hinterlassen hatte. »Ach, Frau Riehlau . . .«, fuhr sie fort. »Frau Hart hat mir aufgetragen, Ihnen zu sagen, dass sie tagsüber beschäftigt ist, Sie sich aber heute Abend sehen.«

Ein perlendes Lachen kam aus dem Hörer, oder eher eine Melodie eines perlenden Lachens. »Das weiß ich«, erwiderte Ursula Riehlau. »Wir sind für fünf Uhr verabredet.«

Fünf Uhr! Verabredet! Ursula Riehlau! UR! Lisa fiel ein Stein vom Herzen. »Das ist ja wunderbar, dass Sie anrufen!«, platzte es aus ihr heraus. »Wäre es möglich, den Termin zu verschieben? Der Drei-Uhr-Termin kommt später, erst um fünf, und falls Sie sich zu einem anderen Zeitpunkt treffen könnten . . .«

»Zu einem anderen Zeitpunkt?« Ursula Riehlaus Stimme klang verdutzt.

»Morgen oder übermorgen vielleicht«, schlug Lisa vor. »Da sind noch Termine frei.«

»Ach, da sind noch Termine frei?« Ursula Riehlaus Stimme sang nun gar nicht mehr melodisch. »Hat Ronny Ihnen das gesagt?«

»Ich . . . nein . . . ich meine . . . sie hat mir nur gesagt«, Lisa kam sich auf einmal sehr komisch vor, »was ich Ihnen gesagt habe.« Sie schluckte. »Aber da der Drei-Uhr-Termin vorhin angerufen hat –«

»Ist der Drei-Uhr-Termin eine Frau?«, unterbrach Ursula Riehlau sie scharf.

»N-nein«, stotterte Lisa etwas überfordert. »Ein . . . Mann.«

»Sie lügen schon gut. Dabei sind Sie doch noch gar nicht so lange bei ihr. Oder war das auch eine Lüge? Sind Sie es?«

Lisa hörte nur noch ein paar heftige Atemzüge, dann knallte es im Hörer, und das Gespräch war beendet.

»Was haben Sie ihr gesagt?« Veronica Hart starrte sie an. »Dass ich heute Abend nicht kann?«

»Nicht . . . direkt.« Lisa wand sich. »Es war nur . . . weil doch Herr Preis angerufen hatte wegen des Termins . . . und er wollte um fünf kommen . . .«

»Ach du liebe Güte!« Veronica Hart tat es zwar nicht, aber sie sah so aus, als würde sie die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. »Ausgerechnet heute! Sie hat Premiere. Da ist sie sowieso vor lauter Nervosität äußerst reizbar.«

Lisa blickte sie verständnislos an.

»Sie ist Sängerin. Opernsängerin«, erklärte Veronica Hart, die sich anscheinend mühsam beherrschte.

Ach, deshalb diese singende Stimme, dachte Lisa.

»Ich weiß nicht, ob Sie schon mal mit Opernsängerinnen zu tun hatten«, setzte Veronica Hart an, dann musterte sie Lisa und fuhr fort: »Wahrscheinlich nicht. Sonst hätten Sie nicht solch eine Katastrophe angerichtet. Und ich muss es jetzt wieder geradebiegen.« Sie seufzte. »Geben Sie mir Frau Riehlau. Sofort! Und besorgen Sie Blumen für die Premiere heute Abend!« Im Laufschritt verschwand sie in ihrem Büro.

Lisa hatte mittlerweile herausgefunden, wo die Kontakte gespeichert waren – das Infotool wusste alles. Sie versuchte Ursula Riehlau anzurufen, aber erfolglos. Entweder sie sah die Nummer im Display und wollte nicht abnehmen, oder sie hatte tatsächlich keine Zeit.

Daraufhin rief Lisa bei dem Blumenladen an, der ebenfalls in den Kontakten verzeichnet war. Offenbar verschickte Veronica Hart öfter Blumen.

»Die Premiere in der Oper?«, fragte die Blumenverkäuferin. »Heute Abend? Ja, da haben wir schon etliche Bestellungen. Welche Art Strauß möchten Sie denn?«

Wenn ich das wüsste . . . Lisa sah das nächste Fettnäpfchen schon auf sich zukommen. Aber sie konnte Veronica Hart nicht gut fragen. Dann würde die vermutlich endgültig explodieren.

»Können Sie nicht etwas zusammenstellen?«, fragte sie hoffnungsvoll. »Es soll für Frau Riehlau persönlich sein. Von Veronica Hart.«

»Ach so . . .« Das schien der Blumenverkäuferin etwas zu sagen. »Dann nehmen wir wohl am besten Orchideen.«

»Orchideen? Mehrere?« Lisa hatte zwar noch nie so teure Blumen bekommen geschweige denn verschenkt, aber sie wusste, dass Orchideen meistens einzeln auftraten, nicht in großen Sträußen.

»Frau Riehlau liebt Orchideen«, ließ die Verkäuferin sie wissen. »Frau Hart hat schon öfter welche bei uns bestellt.«

»Na dann . . .« Lisa seufzte. War ja nicht ihr Geld. »Stellen Sie am besten einen Strauß zusammen, wie Frau Riehlau ihn mag.«

»Machen wir.« Die Verkäuferin schien etwas zu notieren. »Die Rechnung wie üblich?«

Lisa wusste zwar nicht, was üblich war, aber bis die Rechnung kam, würde Nadine wieder da sein. »Ja, wie üblich«, sagte sie. »Vielen Dank.«

Sie legte auf und versuchte es noch einmal bei Ursula Riehlau. Keine Antwort.

Viel länger konnte sie nicht warten. Sie musste es ihrer Chefin sagen. Sie betrachtete die Anlage vor sich. Anrufen und Anrufe entgegennehmen konnte sie, aber die weiteren Funktionen, wie beispielsweise die Verbindung in das Büro ihrer Chefin, waren ihr ein Rätsel. Da hätte sie eine Einführung gebraucht. Zumindest, wenn sie nicht irgendwelche Feuersirenen oder ähnliches per Zufall in Gang setzen wollte.

Also stand sie auf und ging auf die Tür zu, die ihr schon beim ersten Mal gestern so viel Respekt eingeflößt hatte. Sie klopfte leise.

Zu leise anscheinend, denn nichts rührte sich. Nachdem sie noch einmal geklopft hatte, wieder ohne Reaktion, drückte sie vorsichtig die Klinke herunter. Noch viel vorsichtiger schob sie die Tür einen Spalt auf. »Frau Hart?«

Diesmal bekam sie eine Reaktion. »Was ist denn noch?« Das klang nicht besonders einladend.