Alles sauber, alles neu - Arnd Brummer - E-Book

Alles sauber, alles neu E-Book

Arnd Brummer

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Beschreibung

Wirkliche Fortschritte im Leben der Menschen sind selten: Die Erfindung der Wasserspülung gehört dazu oder der Siegeszug der Baumwollunterwäsche. Vieles, was neu wirkt, ist altbekannt und lediglich neu verpackt. Alles sauber, alles neu" heißt der zweite Band mit Kolumnen von Arnd Brummer. Brummers monatliche Notizen im evangelischen Magazin chrismon haben nach mehr als sieben Jahren für eine immer größer werdende Fangemeinde Kultstatus. Dem Autor gelingen anhand von zunächst harmlos anmutenden, alltäglichen Begebenheiten tiefe Einsichten. Mit treffgenauen Bildern und heiterem Ton entlarvt er scheinbar absolute Zwangsläufigkeiten des Lebens als selbst gemacht. Andererseits spürt er in scheinbar beliebigen Vorgängen die Konstanten des Zusammenlebens auf.

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Seitenzahl: 171

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ARND BRUMMER – NOTIZEN AUS DEM LEBEN II

Alles sauber, alles neu

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlaggestaltung und Satz:

Kristin Kamprad, Hansisches Druck- und Verlagshaus GmbH

Umschlagfoto:

Helena Karlsson/​Taxi/​getty

1. digitale Auflage:

Zeilenwert GmbH 2014

© Hansisches Druck- und Verlagshaus GmbH, Frankfurt am Main 2008 Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung außerhalb der Grenzen des Urheberrechts ist ohne schriftliche Einwilligung des Verlags unzulässig.

ISBN 9783869212203

Index

Cover

Titel

Impressum

VORWORT

1. DAS ERBE DER NOMADEN

Im Passagier steckt das Erbe der Nomaden

Kontrollverlust mit Gewinn

Alles neu, alles sauber – wir leben noch

Indianer, Otto Krause oder der General? Okay!

Und schönen Abend noch, Herr Brummer!

Rund wäre noch ein wenig schöner gewesen!

Nicht jammern! Wenn das so einfach wäre

Maßlos ist meistens unaufrichtig

Der Zwang zum Reim sucht mich oft heim

Die Paradoxien des Alltags

Väter müssen verlieren lernen

2. DIE GUTE ALTE TRUPPE

Wer Tassen liebt, kann Träume erfüllen

Zynismus ist die mentale Droge der Profis

Vorwärts, los! Und bald ist Weihnachten

Wenn Opa zum Hobel griff und leise sang

Organisieren kann der neue Vize nicht

Die gute, alte Truppe – für immer jung

Alles nur eine Frage der Perspektive

Du machst keinen Fußballer aus dem Jungen!

Alter Arnd, warst doch ein netter Kerl!

Was wäre Achilles ohne Homer?

3. DER PERFEKTE SCHWUNG

Tedesco! Deutscher! Eine lombardische Nacht

Nein, Klatsch lehnen wir ab!

Der perfekte Schwung des einarmigen Golfers

Geben Sie anderen die Chance, großmütig zu sein

Im Namen des Volkes – die Hitparade lebt

Bitte nicht stören! Das Glück des privaten Genusses

Nein, kein Trinkgeld! Wäre ja noch schöner!

Undankbare Gegner und weise Experten

„Ich bin Kriegsteilnehmer, und ihr wart nicht dabei!“

Dürfen Königinnen Schuhe putzen?

4. DAS ÜBLICHE CHAOS – ALLES IN ORDNUNG

Wer ist hier eigentlich echt gesund?

Das Jahr ist doch noch ganz jung!

Ordentlich werden und ein besserer Mensch

Die brodelnde Ursuppe meiner Kreativität

Das übliche Chaos – alles in bester Ordnung!

Lassen Sie sich nach Herzenslust verwöhnen!

Batista und der Undertaker ersetzen Che und Fidel

5. GEMÄLDE SIND WIE FREUNDE

Dreimal Heimat verloren in einem Jahr

Gemälde sind wie Freunde – Prost, Josef!

Die Ordnung des Primaten Roland

In schweren Stunden muss man da sein

Bei Günter kann man sich auf gar nichts verlassen

Schweigen – und nach der Pause ein Gespräch

ber die Eier hatten wir noch gar nicht geredet

Die Angst ist die Mutter der Lüge

Wie es Gerti geht, erzählt er mir nächstes Mal

6. ÜBER DEN ZAUN INS PARADIES

Hunger treibt Bratwürste rein

Warum, lieber Gott, darf ich nicht sauer sein?

Wie der Papst einem alten Evangelen half

Gerecht und Sünder – eine paradoxe Existenz

Ein Goldenes Kalb für die Gesundheit

Hotline zur Hölle – sie macht doch nur ihren Job!

Erschaffe dich neu im Jammertal

Rasen mähen – nur wegen eines blöden Apfels!

Hundstage in bella Italia – über den Zaun ins Paradies

DER AUTOR

QUELLENVERZEICHNIS

Vorwort

Was soll das?

Kolumnen muss man nicht lesen wie die aktuellen Nachrichten, die Börsenkurse oder Sportresultate. Informationen, die in ihnen auftauchen, tragen nichts dazu bei, das Rad der Weltgeschichte am Laufen zu halten. Kolumnisten bemühen sich nicht um Objektivität und sie haben in der Regel nicht die Absicht, Missstände aufzuspüren, Skandale beim Namen zu nennen oder gar konstruktive Verbesserungsvorschläge zu machen. Sie erzählen mehr oder minder merkwürdige Begebenheiten, schürfen im Alltag nach kleinen Auffälligkeiten und – ja, tatsächlich – wollen unterhalten.

Meister der Kolumne wie Daniel Spitzer, Kurt Tucholsky oder Carl von Ossietzky haben mit ihren kurzen Stücken der Textgattung literarische Ehre gemacht. Andere sind zu Recht in Vergessenheit geraten, wie so vieles, was in Zeitungen und Zeitschriften erschienen ist. Dieses Schicksal darf Kolumnisten nicht schrecken, denn sie sind wie die Produzenten von Nachrichten im eigentlichen Sinne Journalisten: sie produzieren für den Tag.

Als ich gefragt wurde, ob man aus meinen Texten für das Magazin chrismon nicht doch ein Buch machen sollte, habe ich mich gefreut. Als mir Leserinnen und Leser des ersten Bandes („Der Fluch des Taxifahrers“) brieflich Dank und Zuspruch zuteil werden ließen, war ich schwer begeistert – reichlich Futter für meine Eitelkeit. Deshalb gibt es nun diesen zweiten Band mit kleinen Beobachtungen und Histörchen. Und wenn diesem Büchlein dasselbe gelingt wie seinem Vorgänger, soll mir das natürlich sehr recht sein: ein wenig Unterhaltung für zwischendurch, kleine Happen, nichts Anstrengendes. Keine großen, strapaziösen Touren durch das Gebirge der Gegenwart – kleine Spaziergänge in den Kaffeepausen des Hier und Jetzt.

Kolumnisten verraten manches über sich und ihr Leben. Aber das tut eigentlich jeder, der Geschichten schreibt. „Ist denn alles wahr, was Sie da aufgeschrieben haben?“, wurde ich neulich bei einer Lesung gefragt. Wahr ist alles. Ob es sich aber wirklich so ereignet hat, ist eine ganz andere Sache.

Ich wünsche Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, was mir selbst an der Lektüre von Feuilletons, Kalendergeschichten, Glossen und Kolumnen wichtig ist: viel Vergnügen. Und wenn Sie das eine oder andere zum Nachdenken veranlasst, so nehme ich das nicht nur billigend hin, sondern es freut mich außerordentlich.

In diesem Sinne

Arnd Brummer

Frankfurt am Main, 1.April 2008

Kolumnen entstehen in einem historischen Zusammenhang, der mal politischer oder gesellschaftlicher, mal persönlicher Natur ist. Im Quellenverzeichnis am Ende dieses Bandes finden Sie das Datum der jeweiligen Erstveröffentlichung, damit können Sie den Entstehungszusammenhang jeder Kolumne leicht zeitlich einordnen.

1.DAS ERBE DER NOMADEN

Im Passagier steckt das Erbe der Nomaden

Das kennen Sie auch: Man sitzt im Zug von Leipzig nach Berlin. Alles fahrplanmäßig, alles bestens, wie der erfahrene Reisende beim Blick auf die Uhr feststellt. Die Termine in der Hauptstadt wird er problemlos erreichen, selbst wenn er die nächste U-Bahn vom Bahnhof Zoo nach Schöneberg nicht erwischen sollte. Der Reisende blickt aus dem Fenster. Alles dreht sich, alles bewegt sich, die besonnte Landschaft fliegt vorbei. Griff zum Krimi, in den Sitz geräkelt.

Dann bremst der Zug. Und steht, nicht weit von Wittenberge im schönen Sachsen-Anhalt. Nach einigen Minuten meldet sich der Zugchef über Lautsprecher: Personen auf der Strecke, die Weiterfahrt verzögert sich um circa 40Minuten. „Da hat sich einer vor den Zug geworfen“, murmelt der Vertreter gegenüber hinter seinem Notebook hervor. „Oder es waren spielende Kinder“, vermutet die ältere Dame im Flanellkostüm. „Hmm, könnte auch ein Betrunkener gewesen sein“, meint der Reisende und greift zum Mobiltelefon, um seine Termine neu zu ordnen.

„Das nächste Mal fahre ich mit dem Auto!“, posaunt der nervöse Vertreter in die Runde. Die ältere Dame: „Und dann stehen Sie eben im Stau.“

Beim Reisen, geht es unserem Mann durch den Kopf, ist die Störung der Normalfall. Als er letzte Woche von Frankfurt/​Main nach Bremen fliegen wollte, teilte eine freundliche Stimme mit, dass die aus Venedig kommende Maschine vermutlich eine Stunde später eintreffen werde – just als er verschwitzt und mit hängender Zunge am Gate angelangt war. Immer kommt etwas dazwischen. Unvorhersehbar, außer Plan, überraschend.

Dass das so ist, wissen alle in der mobilen Gesellschaft. Zu komplex sind die Systeme in der Welt der massenhaften Transporte. Zu viele Faktoren sind im Spiel: Menschen, Maschinen, das Wetter und höhere Gewalten. Wenn ein Rädchen nicht greift, stehen alle anderen still. Und dennoch planen die meisten in der Hoffnung, dass alles klappt. Immer und immer wieder.

Warum tun sie das? Die wohlfeilen, abschätzigen Erklärungen liegen auf der Hand: Niemand hat eine Sekunde zu verschenken in dieser schnelllebigen Zeit. Keiner hat mehr die Muße, zu verweilen. Knappe Termine, Hektik– Stress, der Stress und Stress und Stress gebiert.

Ich halte dagegen. Kühn geplant haben Menschen immer. Hannibal, als er mit seinen Elefanten über die Alpen zog, tat es wie die Kapitäne der Hanse auf ihren Koggen, die Schwarzwälder Holzflößer auf dem Rhein und alle vor ihnen, die mit Kind und Kegel, Sack und Pack, Rindern und Schafen von Weidegrund zu Weidegrund zogen: Wenn wir uns anstrengen, wenn alles gut geht, wenn das Wetter mitspielt, dann können wir es schaffen. Nomaden. Ihr Erbe steckt tief in den Genen. Ihr Überleben hing oft davon ab, etwas zu riskieren und auf das Gelingen zu hoffen, wider alle Erfahrung.

Heutigen Nomaden in unserer Gegend ist das Heil-Ankommen nahezu selbstverständlich. Noch nie war Reisen so sicher. Die Unfallstatistiken zeigen es. Verspätungen sind ärgerlich – mehr nicht.

Der Vertreter im Zug hat sich beruhigt und erzählt seinen Leidensgenossen: „Neulich flieg ich nach Hamburg. Wir sind so gut wie da, kurz vor der Landung, zwanzig Höhenmeter über der Rollbahn. Da startet der Pilot mit aller Kraft durch und zieht den Flieger steil nach oben. Sorry, krächzt der Bordfunk, wir waren zu hoch, hätten zu spät aufgesetzt, die Rollbahn hätte vielleicht nicht ausgereicht. Die halbe Stunde für den erneuten Anflug bin ich gern zu spät gekommen. Gut, dass der Mann im Cockpit nicht zu ehrgeizig war.“ Da setzt sich der Zug gerade ruckelnd in Bewegung. Nach nur zwanzig Minuten.

Kontrollverlust mit Gewinn

Ich komme vom Bodensee. Da wächst Wein und man braut ein gutes Bier. Es gibt einige Evangelische und viele Katholische dort. In unserer Stadt wurden die Feste gefeiert, wie sie fielen: Taufen, Hochzeiten, Erstkommunion und Konfirmation, runde Geburtstage und Beerdigungen. Ja, auch Beerdigungen wurden gefeiert. Nicht nur, dass man die Trauer feierte – darum heißt es ja schließlich Trauerfeier. Beim Leichenschmaus trafen sich alle, erzählten von den Verstorbenen, berichteten, was sich in ihren Leben seit der letzten Feier ereignet hatte, freuten sich am Wiedersehen oder lernten einander überhaupt erst kennen. Mindestens zwei Ehen, das weiß ich, ergaben sich aus Bekanntschaften am Grabe.

Aber gleichgültig, aus welchem Grund man zusammengekommen war, immer gab es Wein (Kaffee, Tee, Säfte, Wasser und Bier natürlich auch). Die Alten saßen bei den Alten und schlürften einen Riesling oder einen Spätburgunder und sprachen über gestern und vorgestern. Die Jungen tauschten sich aus über Freud und Leid mit Nachwuchs und Beruf, bestellten noch ein Viertele oder – später dann – ein Achtele. Tante Margret, sonst ein Muster an Disziplin, flirtete mit einem Großneffen und war nach dem einen Gläschen mehr als sonst einfach bezaubernd. Onkel Kurt, der größte Witzeerzähler weit und breit, wurde von Tante Milli leise eingebremst, wenn seine Hervorbringungen in untere Gefilde abzugleiten drohten.

Die Halbwüchsigen forderten einander heraus und erprobten ihren Mut im Umgang mit Weißweinschorle, in der der Wassergehalt von Glas zu Glas schwerer festzustellen war. Soziologisch betrachtet trainierten sie den Umgang mit der Ritualdroge Alkohol. Und wie bei jeder Annäherung an etwas Neues gab es dabei auch mal ein Zuviel, das die Definition des Missbrauchs der Droge erfüllte. Nach Mitternacht ging es zunächst hoch her. Dann lichteten sich die Reihen. Und gegen drei war meist noch ein Tisch übrig, an dem sich generationenübergreifend jene sammelten, die in allerlei Unterhaltungen verstrickt waren, darunter ebenso geistreiche und tiefe wie fröhliche oder gar banale. Der Wein hatte ihre Zungen gelöst. Ihre Augen glitzerten, bis die Müdigkeit sie schmal werden ließ. Irgendwann gingen auch die Letzten zu Bett. Wie das geschah – das war der Stoff für Legenden, die dann beim nächsten Fest für Gesprächsstoff sorgten.

Natürlich geht das alles auch ohne Alkohol. Vielleicht sogar besser. Man ist dann bei sich und bleibt es. Man hat sich einfach unter Kontrolle. Es unterbleiben Peinlichkeiten, wie etwa die der Vierundachtzigjährigen, die einem 50Jahre jüngeren Mann zur Mitternacht zuraunte: „Wenn ich nur vierzig Jahre jünger wäre, mit dir würde ich durchbrennen.“ Wiewohl den jüngeren Mann dieses Bekenntnis sehr schmeichelte, was er beim Auskleiden auch seiner Frau, dem Patenkind der Verursacherin, erzählte. Und die, schrecklich genug, teilte seine Freude auch noch.

Krach gab es auch, frei nach der Devise „Was ich dir schon lange mal sagen wollte“. Einmal endete das fröhliche Beisammensein deshalb mit dem dramatischen Auszug eines beleidigten Paares („Franz, wir reisen sofort ab. Mit diesen Leuten bleibe ich keine Minute mehr zusammen!“). Zwei, drei ähnlich gelagerte Abreisen kamen auf dem Parkplatz vor dem Gasthaus zum Halten, weil begabte Friedensstifter die Kombattanten vom Einsteigen ins Auto abhielten, beruhigten oder gar versöhnten („Ihr habt zu viel getrunken. Ich lasse euch jetzt nicht in euer Unglück fahren!“).

In einem Fall führte eine solche Versöhnung zur fröhlichen Verlängerung des Festes um mehrere Stunden, weil Tante Vroni und ihre Schwester Bärbel tränenüberströmt unter Anfeuerung durch die Restgesellschaft unausgesetzt beteuerten, wie sehr sie einander doch liebten. Und jetzt, da der lange gehegte Zwist endlich herausgekommen und beendet sei, beginne ein wunderbares neues Leben.

Übrigens: Jene, die einander überhaupt nicht mochten, schafften es auch bei kleinen Feiern und mit Wein, sich aus dem Weg zu gehen und voneinander höchst sparsam Notiz zu nehmen. Aber an die erinnere ich mich kaum. Im Gegensatz zu Onkel Gerd und seine Hans-Moser-Einlage „Es wird a Wein sein und mir wern nimmer sein“. Die werde ich nie vergessen.

Alles neu, alles sauber – wir leben noch

„Lurch, 10.30–15.30“, stand auf der Kreidetafel vor dem Bistro in der Innenstadt. Ich ging rein und bestellte Molch mit Sumpfdottersalat, medium gegart. An Laubfrosch habe ich mich in den letzten Jahren irgendwie übergessen. Der freundliche Kellner bedauerte, mir das Gewünschte nicht servieren zu können. Es gebe überhaupt keine Lurchgerichte. Das Wort auf der Tafel heiße „Lunch“, sei lediglich schlampig gekrakelt. Schade.

Ich ging zum Bahnhof und stieg in den nächstbesten ICE. Ich freute mich, als der Schaffner, der neuerdings Zugchef heißt, mich und meinesgleichen besonders herzlich begrüßte. „Fette Fahrgäste, wir heißen Sie hier an Bord herzlich willkommen.“ An Bord eines Zuges müsste der Zugchef eigentlich Deckoffizier heißen und das Abteil Kabine. Aber das ist der Bahn wahrscheinlich nicht originell und vor allem nicht „denglisch“, sprich: weltläufig genug.

Fortschritt durch Umbenennung ist keine Erfindung unserer Zeit. Die Ideologen und Wichtigtuer aller bekannten Kulturepochen haben versucht, Wandel zu dokumentieren, indem sie Vertrautes fremd und damit neu wirken ließen. Die Jakobiner erfanden eine neue Zeitrechnung und neue Monatsnamen. Die Nazis machten aus Zeitungsredakteuren Schriftleiter. Die Sowjetmenschen warteten im Winter auf Väterchen Frost. Die SED-Sprachgenies verwandelten Weihnachtsengel in „geflügelte Jahresendfiguren“ und Weihnachtspyramiden aus dem Erzgebirge in „Kerzendrehtürme“.

Warum sollen also die CEOs der Deutschen Bahn das gute alte Bahnhofsklo nicht in ein „McClean“-Center verwandeln? CEO heißt übrigens „Chief Executive Officer“, was aber nicht mit Chef-Exekutionsoffizier– Leiter eines Erschießungskommandos – zu übersetzen wäre, sondern schlicht mit Chef oder Geschäftsführer.

McClean soll nicht nach Alturin und Latrine klingen, sondern frisch und sauber. Welch lyrischer Raubfischschmerz, um nicht zu sagen: welches Haileid den Bahntextern da gelungen ist, wird erst nach der Übersetzung ins Deutsche sichtbar. Man stelle sich vor, über der Toilette am Hauptbahnhof stünde in leuchtenden Buchstaben geschrieben „Sohn der Sauberkeit“ – Mc ist das Kürzel für „Mac“, das gälische Wort für „Sohn“. So viel sprachliche Feinheit würde man höchstens im Chinarestaurant erwarten.

Die fremdsprachige Version spricht für die Bescheidenheit und Demut der Erfinder. Wären sie großmannssüchtig, hätten sie den Abtritt am Gleis „Klo-bal Player“ nennen können oder „Klo-Betrotter“. Ich neige dankbar mein Haupt vor so viel Rücksicht.

Das Englischklingen ist die aktuelle Sprachmode. Moden müssen wechseln, sonst wären sie keine. Aber warum muss es Moden geben? Warum muss sich Unabänderliches und Bewährtes stets neu maskieren, neu verpacken lassen? Philosophisch könnte man vermuten: Stetige Veränderung ist Leben; in seinen endgültigen Zustand eintreten, ankommen ist der Tod. Wir brauchen Impulse, den Eindruck von Bewegung, sonst werden wir krank, sonst kaufen wir nichts mehr. Wohl gemerkt: den Eindruck von Bewegung! Wirklich bewegen muss sich nichts. Ob wir fahren oder ob eine endlose Landschaftstapete am Fenster vorbeizieht, das ist eigentlich wurscht. So wie ein Abort ein Abort bleibt, wie immer man ihn auch gerade nennt.

Die wirklichen Fortschritte sind so selten wie die Erfindung der Wasserspülung oder der Siegeszug der Baumwollunterwäsche. Sie verändern das menschliche Sein von Grund auf. Sie lassen Seuchen verschwinden und dienen dem Wohl der Menschheit. Die Verpackungskunst wirkt höchstens aufs Gemüt: anregend oder ärgernd. Das Design bestimmt das Bewusstsein.

Indianer, Otto Krause oder der General? Okay!

Sie haben heute wirklich nicht die geringste Lust, diese Notizen zu lesen? Okay! Es ist völlig okay. Ich nehme Ihnen das nicht übel. Okay?

Pech für Sie. Sie verpassen etwas. Aber das ist Ihre Sache.

Wenn Sie jetzt weiterlesen, obwohl Sie eigentlich gar nicht wollen – okay, das wäre inkonsequent, aber völlig okay–, dann würden Sie zum Beispiel etwas über Friedrich Wilhelm von Steuben erfahren, den preußischen General, der George Washington im Unabhängigkeitskrieg gegen die Briten zum Sieg führte. Also doch weiterlesen? Okay.

1777 lernte Steuben in Paris den amerikanischen Botschafter Benjamin Franklin kennen. (Der war von Beruf Drucker und soll den Blitzableiter erfunden haben. Das tut hier aber nichts zur Sache.) Franklin überzeugte den ehrgeizigen Offizier, mit nach Amerika zu gehen und in Washingtons Armee einzutreten, die bereits mehr als ein Jahr gegen die Truppen des englischen Königs kämpfte.

Als Steuben ankam, befanden sich die gerade 5 000Mann Washingtons in einem miserablen Zustand. Die Truppe war eigentlich gar keine. Es fehlten jegliche Ordnung und die geringste Disziplin. Der Preuße ging an die Arbeit und verfasste „Regeln für die Ordnung und Disziplin der Truppen der Vereinigten Staaten“. Auf dieser Grundlage drillte er den zerstrittenen und unerfahrenen Haufen, bis daraus die schlagkräftige Armee wurde, mit der die junge Nation von England loskam. Damit war der erste Schritt auf dem Weg zur Supermacht getan. Okay!

Steubens militärische Leistung ist jedoch geradezu geringfügig, misst man sie an seiner sprachschöpferischen Pioniertat. Der General soll der Erfinder jenes Wortes sein, das heute als das meistbenutzte weltweit gilt: Okay oder o.k.

Statt seine Befehle mit a. c. (all correct) zu unterzeichnen, unterschrieb er dank mangelhafter Englischkenntnisse grundsätzlich o.k. nach der Lautschrift (orl korrekt – alles in Ordnung).

Die These, dass wir Steuben das „Okay“ verdanken, ist umstritten. Das gebe ich gerne zu. Es kursieren unter Etymologen (den sprachlichen Herkunftsforschern) mindestens zwanzig andere Herleitungen. Die einen meinen, okay komme vom griechischen Wort „oikeion“ (das Passende). Der amerikanische Linguist Cecil Adams stöberte das Wort „okeh“ in der Sprache der Choctaw-Indianer auf, was „in der Tat“ bedeute. Wieder andere glauben, o.k. gehe auf Otto Krause zurück, der bei der Autofirma Ford zuständig für die Endkontrolle der Neufahrzeuge war und jedem unbeanstandeten Auto sein O.K. gab. Wenn Sie diese Theorien einleuchtender finden – okay.

Neuerdings hat sich okay fast vollständig von seinen Wurzeln emanzipiert. Jüngere Deutsche verwenden es als universalen Gesprächsfüller. Beispiel: Sagt eine Kollegin zur anderen: Ich geh morgen zum Friseur. Antwortet diese: Okay. Eine Frau zu ihrem Freund: Du bist heute wieder unausstehlich! Er: Okay. „Alles in Ordnung“ heißt das sicher nicht. Im einen Fall würden Ältere „ja“ oder „hmm“ oder „ach, wirklich“ sagen, im anderen vielleicht „Wenn du meinst“ oder „deine Sache“. Immer wäre die Antwort jedoch eine Stellungnahme. Okay aber ist neutral. Es bedeutet bestenfalls wohl „Ich habe gehört, was du mir sagen willst“, schlimmstenfalls mit dem Zusatz versehen, „aber eigentlich interessiert es mich nicht“. Deshalb finde ich das Okay eigentlich nicht okay. Es ist quallig, indifferent, spiegelt Kommunikation vor, wo eigentlich gar keine stattfindet. Okay ist nur ein verbaler Blitzableiter (Steuben ist der Franklin der Sprache!).

Und schönen Abend noch, Herr Brummer!

Eine Redaktion bekommt viel Post. Leserbriefe, Einladungen, Textangebote, Presseerklärungen, Informationen über neue Produkte, neue Methoden, neueste Erkenntnisse, brandaktuelle Studien. Man ist auf vielen Verteilern. Warum, das weiß man meistens oder kann es wenigstens erahnen. Aber es gibt einen Typus menschheitsbeglückender Mitteilungen, bei denen man sich mit bestem Willen und kreativster Intelligenz nicht zu erklären vermag, weshalb man in den Genuss der Aufmerksamkeit des Absenders kommt.

Neulich lag auf halber Höhe meines täglichen Poststapels zum Beispiel die Einladung einer Unternehmensberatung zu einem Seminar „Besser verkaufen“. Von einer ultimativen Methode, Produkte an Mann und Frau zu bringen, war die Rede. „Eine Technik, die alles revolutioniert, was Sie bisher über den erfolgreichen Absatz Ihrer Waren und Dienstleistungen dachten.“ So weit, so bescheiden. Wie die neue Methode aussah, erfuhr man aus dem farbigen Prospekt natürlich nicht. Denn sonst fährt ja niemand auf das Seminar. Erst zahlen bitte! Eine Verkaufsstrategie – allerdings keine neue, sondern eine, mit der seit Jahrtausenden alle Schlepper und Bauernfänger arbeiten.

Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Der Mensch als Kunde, der Kunde als Mensch. Das ist ein Thema, das mich auf Schritt und Tritt verfolgt. Irgendwann hat man den sprichwörtlichen Gebrauchtwagenverkäufern, den Kredithaien und Immobilien-Hökern erklärt, es sei am besten, den Kunden stets beim Namen zu nennen. „Und, Herr Brummer, ganz wichtig: Unser Angebot gilt nur für qualitätsbewusste Menschen wie Sie!“