Alles, was ich weiß über die Liebe - Dolly Alderton - E-Book
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Alles, was ich weiß über die Liebe E-Book

Dolly Alderton

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Beschreibung

Ehrlich und humorvoll verwebt die britischen Journalistin und Podcasterin Dolly Alderton in ihrer Autobiografie persönliche Erlebnisse und witzige Anekdoten mit scharfsinnigen Reflexionen darüber, was es heute heißt, eine Frau zu sein. Eine großartige Liebeserklärung – an das Leben. Ein warmes und witziges Memoir über das Erwachsenwerden und alle Lektionen, die man dabei lernt: Dolly Alderton weiß wirklich alles über desaströse Dates, chaotische Nächte und falsche Entscheidungen. Sie weiß, wie es ist, wenn einem das Herz gebrochen wird – aber auch, wie man es flickt. Denn vor allem erzählt Dolly so brutal ehrlich wie unfassbar komisch vom großen Glück der Freundschaften, die fürs Leben sind und nicht nur Lückenfüller zwischen Liebhabern. Dolly Alderton kennt alle Seiten der Liebe, die guten und die dunklen. Da ist der Guru, der tief in ihr Inneres schauen kann und der sich am Morgen nach der lang ersehnten ersten Nacht doch aus dem Staub macht. Oder ein dubioser Kerl in New York, der sie zu einem Dreier überreden will. Oder der verplante Hippie, für den sie sich die Haare abrasiert. Und dann stellt Dolly plötzlich fest, dass es Liebe auch ganz anders gibt und dass die Freundschaften mit ihren Mädels ihr mehr über die Liebe beigebracht haben als alle Männer. Freundinnen, die für einen da sind, wenn man nicht weiß, wovon man die Miete zahlen soll, wenn eine Beziehung zerbrochen ist oder die Rod-Stewart-Mottoparty nach hinten losgeht.

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Seitenzahl: 414

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Dolly Alderton

Alles, was ich weiß über die Liebe

Aus dem Englischen von Friederike Achilles

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Dolly Alderton

> Über dieses Buch

> Impressum

> Klimaneutraler Verlag

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

RechtenachweisWidmungAlles, was ich als Teenager über die Liebe wussteJungsZwölf MinutenUCL-Studentenwohnheim, Silvester 2006Eine Krawallschwester auf dem Weg nach Leamington SpaKater-KäsemakkaroniEin Hotel an einer Hauptverkehrsstraße in EalingCobham, Silvester 200710. NovemberEin bisschen zu dick, ein bisschen zu dünnAlles, was ich mit einundzwanzig über die Liebe wussteDas hässliche Entlein: Mein Leben als fünftes Rad am WagenDinge, vor denen ich Angst habeBjörn AgainDie schlimmsten Dinge, die Menschen so sagenDie uncoolen Mädels aus dem uncoolen CamdenSeezunge Müllerin für Verführer3. FebruarApfelpizza mit Kein-Bock-EiscremeNichts wird sich ändernEine Essensrechnung über dreihundert PfundBei mir zu Hause in Camden, Weihnachten 2014Hausverbot-im-Club-SandwichEine komplett nüchterne Knutscherei mitten am VormittagAlles, was ich mit fünfundzwanzig über die Liebe wussteGründe für und Gründe gegen einen FreundTottenham Court Road und Schwachsinn auf Amazon bestellen12. DezemberWöchentliche EinkaufslisteFlorenceRühreiNachrichten, die ich mit dem Handy meiner Mitbewohnerin India verschicken und dabei so tun durfte, als wäre ich sie23. MärzWas meine Therapeutin sagt12. JuniHeartbreak HotelIch wurde gegurut18. OktoberGenugAchtundzwanzig Lektionen, gelernt in achtundzwanzig JahrenNach Hause kommenAlles, was ich mit achtundzwanzig über die Liebe weißDank
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Rechtenachweis

Der Abdruck des Zitats von Margaret Atwood erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Piper Verlags.

 

Margaret Atwood: Alias Grace. Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek. © Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin 1996.

 

Der Abdruck des Zitats von Fernando Pessoa erfolgt mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlags.

 

Fernando Pessoa: Der verliebte Hirte, I. In: Alberto Caeiro. Poesia – Poesie. Hg. von Fernando Cabral Martins und Richard Zenith. Aus dem Portugiesischen von Inés Koebel und Georg Rudolf Lind. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt/M. 2008.

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Für Florence Kleiner

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Alles, was ich als Teenager über die Liebe wusste

Eine Beziehung zu haben, ist das Wichtigste und Aufregendste überhaupt.

Hast du als Erwachsener keine, dann hast du versagt, wie so viele meiner Kunstlehrerinnen, die ein »Miss« statt einem »Mrs« vor dem Namen tragen und Ethnoschmuck und krauses Haar.

Es ist wichtig, viel Sex mit vielen Menschen zu haben, aber vermutlich am besten nicht mit mehr als zehn.

Wenn ich später als erwachsene Singlefrau in London lebe, werde ich wahnsinnig elegant und schlank sein und immer ein schwarzes Kleid tragen und Martinis trinken, und Männer lerne ich ausschließlich auf Buchpremieren oder Vernissagen kennen.

Der Beweis für wahre Liebe ist, wenn zwei Jungs sich um dich prügeln. Optimal ist es, wenn Blut fließt, aber keiner ins Krankenhaus muss. Eines Tages wird das auch mir passieren, falls es das Glück gut mir meint.

Es ist wichtig, seine Jungfräulichkeit nach dem siebzehnten, aber vor dem achtzehnten Geburtstag zu verlieren. Und zwar wortwörtlich – selbst am Tag davor ist es noch ausreichend, aber wenn man an seinem achtzehnten Geburtstag noch Jungfrau ist, wird man niemals Sex haben.

Man kann mit so vielen Leuten rumknutschen, wie man will, das hat nichts zu bedeuten, es ist einfach Training.

Die coolsten Jungs sind immer groß und jüdisch und haben ein Auto.

Am besten sind ältere Jungs, denn sie sind reifer und gebildeter, außerdem haben sie nicht ganz so hohe Ansprüche.

Sobald Freundinnen einen Freund haben, werden sie langweilig. Mit einer Freundin mit Freund hat man nur noch Spaß, wenn man selbst auch einen Freund hat.

Wenn man seine Freundin wirklich kein einziges Mal nach ihrem Freund fragt, kapiert sie irgendwann, dass das Thema einen anödet, und fängt nicht mehr von ihm an.

Es ist ratsam, erst etwas später zu heiraten, wenn man schon ein bisschen gelebt hat. Sagen wir, mit siebenundzwanzig.

Farly und ich werden nie in denselben Typen verknallt sein, denn sie steht auf kleine freche Jungs wie Nigel Harman und ich auf unnahbare Machos wie Charlie Simpson von Busted. Deshalb wird unsere Freundschaft ewig halten.

In meinem ganzen Leben wird es nie mehr einen romantischeren Moment geben als den, als Lauren und ich am Valentinstag in diesem seltsamen Pub in St. Albans auftraten und ich »Lover, You Should’ve Come Over« sang und ganz vorne Joe Sawyer saß und seine Augen schloss, weil wir davor über Jeff Buckley gesprochen hatten und er von allen Jungs, die ich kannte, im Prinzip der einzige war, der mich ganz und gar verstand und meine Ansichten teilte.

In meinem ganzen Leben wird es nie mehr einen peinlicheren Moment geben als den, als ich Sam Leeman küssen wollte, er mir auswich und ich vornüberfiel.

In meinem ganzen Leben wird es nie mehr einen schmerzhafteren Moment geben als den, als Will Young sein Coming-out hatte und ich so tun musste, als fände ich das gut, aber dann heulend das ledergebundene Buch verbrannte, das ich zur Konfirmation bekommen und mit Texten über unser gemeinsames Leben gefüllt hatte.

Jungs stehen total darauf, wenn man derbe Sachen zu ihnen sagt, und sie finden es kindisch und uncool, wenn man zu brav ist.

Wenn ich endlich einen Freund habe, wird so gut wie nichts anderes mehr wichtig sein.

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Jungs

Für manche ist das Geräusch, das sie mit ihrer Jugend verbinden, das fröhliche Geschrei der im Garten spielenden Geschwister. Für andere ist es das Surren der Kette ihres geliebten Fahrrads, mit dem sie über Hügel und durch Täler jagten. Wieder andere werden an das Vogelzwitschern auf ihrem Schulweg oder an das Lachen und Gebolze auf dem Fußballplatz denken. Für mich ist es das Geräusch, mit dem sich das AOL-Modem ins Internet einwählte.

Ich weiß immer noch genau, wie sich das anhörte, Ton für Ton. Zuerst die blechernen Pieptöne wie von Telefontasten, dann die kreischenden, abbrechenden Soundschnörkel, die eine halb aufgebaute Verbindung anzeigten, der hohe Ton, der bedeutete, dass es gleich weiterginge, gefolgt von zwei tiefen, schnarrenden Schlägen und einem Rauschen. Die dann eintretende Stille signalisierte, dass man das Schlimmste überstanden hatte. »Willkommen bei AOL«, sagte eine sanfte Stimme, und dann: »Sie haben Post.« Um die quälende Wartezeit zu verkürzen, tanzte ich zur Melodie des AOL-Einwählprozesses im Zimmer herum. Ich kreierte eine Choreografie aus Figuren, die ich im Ballett gelernt hatte: Pliés zu den Tastenpieptönen, Pas de chats zu den Schlägen. Ich tanzte sie jeden Abend, wenn ich aus der Schule kam. Das war der Soundtrack meines Lebens. Denn ich verbrachte meine Jugend im Internet.

Eine kurze Erklärung: Ich bin in einem Vorort aufgewachsen. Das war’s; das ist die Erklärung. Als ich acht Jahre alt war, trafen meine Eltern die grausame Entscheidung, aus unserer Souterrainwohnung in Islington aus- und in ein größeres Haus nach Stanmore zu ziehen. Stanmore – die letzte Haltestelle der Jubilee Line am äußersten Rand Nordlondons; weiter entfernt vom Stadtzentrum ging nicht. Es war, als würde man den ganzen Spaß von Weitem beobachten, statt die Party zu crashen.

Stanmore ist weder urban noch ländlich. Ich wohnte zu weit außerhalb, um zu den coolen Kids zu gehören, die ins Ministry of Sound gingen und Slang sprachen und hippe Secondhandklamotten trugen, die sie in erstaunlich guten Oxfam-Shops in Peckham Rye kauften. Gleichzeitig wohnte ich aber zu weit von den Chiltern Hills entfernt, um eines dieser rotwangigen, wilden Landkinder zu werden, die alte Seemannspullis trugen und mit dreizehn lernten, den Citroën ihres Vaters zu fahren, die Wanderungen machten und mit ihren Cousinen und Cousins in einem Wald LSD nahmen. Die Vororte im Londoner Norden erzeugten ein Identitätsvakuum. Es war genauso beigefarben wie die Plüschteppiche, die dort jedes einzelne Haus schmückten. Es gab keine Kunst, keine Kultur, keine historischen Gebäude, Parks, unabhängige Läden oder Restaurants. Stattdessen Golfclubs und Filialen einer italienischen Restaurantkette und Privatschulen und Auffahrten und Verkehrskreisel und Fachmärkte und glasüberdachte Einkaufszentren. Die Frauen sahen alle gleich aus, die Häuser waren alle gleich gebaut, alle fuhren das gleiche Auto. Die einzige Form individuellen Ausdrucks bestand darin, Geld für die immergleichen Dinge auszugeben – Gewächshäuser, Küchenausbauten, Autos mit eingebautem Navi, All-inclusive-Urlaube auf Mallorca. Wenn man nicht gerade Golf spielen, sich Strähnchen machen lassen oder Volkswagen-Autohäuser durchforsten wollte, gab es absolut nichts zu tun.

Das galt insbesondere dann, wenn man Teenager und darauf angewiesen war, dass seine Mutter einen in besagtem Golf GTIherumkutschierte. Gott sei Dank hatte ich Farly, meine Freundin, die fünfeinhalb Kilometer Radstrecke von unserer Sackgasse entfernt wohnte.

Farly war, und ist nach wie vor, anders als jeder andere Mensch in meinem Leben. Wir lernten uns mit elf in der Schule kennen. Sie war und ist das komplette Gegenteil von mir. Sie ist dunkelhaarig, ich bin blond. Sie ist ein bisschen zu klein, ich bin ein bisschen zu groß. Sie erledigt alles nach Plan, ich in letzter Minute. Sie liebt Ordnung, ich tendiere zum Chaos. Sie liebt Regeln, ich hasse Regeln. Sie hat null Ego, ich bin davon überzeugt, dass mein Morgentoast wichtig genug ist, um ihn in den sozialen Netzwerken zu teilen (auf drei Kanälen). Sie ist sehr gegenwärtig und auf anstehende Aufgaben fokussiert, ich befinde mich immer halb im Leben, halb in einer Fantasieversion davon in meinem Kopf. Aber irgendwie funktioniert das mit uns. Dass Farly sich an jenem Tag 1999 in Mathe neben mich setzte, war das Beste, was mir je passiert ist.

Ein Tag mit Farly lief stets nach demselben Schema ab: Wir hingen vor dem Fernseher, aßen Berge von Bagels und Chips (allerdings nur, wenn unsere Eltern nicht da waren – die vorstädtische Mittelschicht zeichnet sich auch dadurch aus, dass das Sofa heilig ist und im Wohnzimmer striktes Essverbot herrscht) und glotzten amerikanische Teeniesitcoms auf Nickelodeon. Wenn wir alle Folgen von Sister, Sister und Ein Zwilling kommt selten allein und Sabrina – Total Verhext! durchhatten, schalteten wir zu den Musiksendern um und starrten mit offenem Mund auf die Mattscheibe, während wir auf der Suche nach einem bestimmten Video von Usher alle zehn Sekunden zwischen MTV, MTV Base und VH1 hin und her zappten. Sobald uns das zu langweilig wurde, schauten wir auf Nickelodeon +1 all die Episoden der amerikanischen Teeniesitcoms, die wir eine Stunde zuvor gesehen hatten, in der Wiederholung.

 

Morrissey hat mal gesagt, seine Jugend habe sich angefühlt, als würde er auf einen Bus warten, der nie kommt. Diese Empfindung verstärkt sich noch, wenn man an einem Ort aufwächst, der einem vorkommt wie ein komplett beigefarbenes Wartezimmer. Ich war gelangweilt, traurig und einsam und wünschte mir fieberhaft, endlich kein Kind mehr sein zu müssen. Da tauchte – wie der edle Retter in der Not – auf dem Desktop unseres riesigen Familiencomputers der AOL-Button auf. Und dann erschien der MSN-Messengerdienst.

Als ich den MSN-Messenger herunterlud und anfing, E-Mail-Adressen zu sammeln – von Schulfreundinnen, Freunden von Freundinnen, Freunden auf benachbarten Schulen, die ich nie kennenlernte –, war es, als hätte ich gegen die Wand meiner Gefängniszelle geklopft und ein antwortendes Klopfen vernommen. Es war, als hätte ich auf dem Mars Grashalme entdeckt. Wie wenn man am Regler eines Radios dreht und aus dem Knistern endlich eine menschliche Stimme wird. Es war eine Flucht aus meiner Vorstadttrübsal, hinein ins pralle Leben.

MSN war für mich mehr als nur die Möglichkeit, mit meinen Freunden zu kommunizieren. Es war ein Ort. So habe ich es in Erinnerung; buchstäblich als einen Raum, in dem ich saß, jeden Abend und jedes Wochenende, stundenlang, bis meine Augen vom vielen Starren auf den Bildschirm blutunterlaufen waren. Selbst wenn wir die Vorstadt mal verließen und meine Eltern mich und meinen Bruder netterweise mit in den Urlaub nach Frankreich nahmen, blieb es noch immer das Zimmer, das ich täglich besetzte. Sobald wir in einem neuen Bed and Breakfast ankamen, erkundete ich als Erstes, ob es einen Computer mit Internetanschluss gab – meistens waren es schrottige Desktoprechner in dunklen Kellerräumen –, loggte mich in den MSN-Messenger ein und chattete ungeniert stundenlang, während hinter mir ein schlechtgelaunter französischer Teenie in einem Sessel saß und darauf wartete, an die Reihe zu kommen. Draußen brannte die provenzalische Sonne vom Himmel, der Rest meiner Familie lag lesend am Pool, aber meine Eltern wussten, dass es sinnlos war, das Thema MSN-Messenger mit mir zu diskutieren. Er war das Epizentrum all meiner Freundschaften. Er war mein eigener, privater Raum. Er war das Einzige, das mir ganz allein gehörte. Wie ich schon sagte – er war ein Ort.

Meine erste E-Mail-Adresse lautete [email protected]. Ich richtete sie mir mit zwölf im IT-Raum unserer Schule ein. Die Zahl 14 wählte ich, weil ich annahm, dass ich nur zwei Jahre lang Mails schreiben würde, weil es ab dann zu kindisch wäre. Ich gestattete mir diese neue exzentrische Modeerscheinung mitzumachen, bis meine Mailadresse sich an meinem vierzehnten Geburtstag in irgendetwas Bedeutsames verwandeln würde.

Bevor ich mit vierzehn zum MSN-Messenger wechselte, versuchte ich es auch noch mit der Adresse [email protected], um meiner frisch entfachten Schwärmerei für den Gewinner der Pop-Idol-Staffel von 2002 Ausdruck zu verleihen, sowie mit [email protected], nachdem ich mit meiner Performance als Mister Snow in der Schulaufführung des Musicals Carousel die Leute von den Stühlen gerissen hatte.

Als ich den MSN-Messenger herunterlud, reaktivierte ich munchkin_1_4 und freute mich über mein überquellendes Adressbuch voller Kontakte von Schulfreundinnen, die sich angesammelt hatten, seitdem ich die Adresse installiert hatte. Wirklich entscheidend aber war die Begegnung mit Jungs. Zu diesem Zeitpunkt kannte ich keine männlichen Wesen – abgesehen von meinem Bruder, meinem kleinen Cousin, meinem Dad und ein paar seiner Cricket-Freunde. Tatsächlich hatte ich im ganzen Leben noch nie Zeit mit einem Jungen verbracht. Doch MSN lieferte mir die Mailadressen und Avatare dieser neuen umherschwebenden Phantomjungs; sie wurden großzügig unters Volk gebracht von einigen Mitschülerinnen, die an den Wochenenden mit Jungen herumhingen und deren Mailadressen selbstlos an uns alle spendeten. Diese Jungs machten in MSN die Runde – jedes Mädchen auf meiner Schule fügte sie zu seinen Kontakten hinzu, und wir alle kamen in den Genuss unserer fünfzehn Minuten Ruhm, in denen wir mit ihnen sprechen durften.

Es existierten drei Kategorien von Jungs, abhängig von deren Rekrutierung. Die erste: Patensohn der Mutter eines Mädchens oder irgendein entfernter Freund der Familie, mit dem das Mädchen aufgewachsen war. Diese Jungen waren normalerweise ein oder zwei Jahre älter als wir, sehr groß und schlaksig und hatten eine tiefe Stimme. In diese Gruppe fielen auch Nachbarsjungen. Die zweite Kategorie bestand aus Cousins oder Großcousins. Und schließlich, und das waren die exotischsten, gab es noch die Jungs, die irgendjemand im Familienurlaub kennengelernt hatte. Sie waren das Nonplusultra, ernsthaft, denn diese Jungen konnten überall leben, unerreichbar fern wie zum Beispiel in Bromley oder Maidenhead, und doch unterhielten wir uns per MSN-Messenger mit ihnen, als befänden wir uns im selben Zimmer. Der totale Wahnsinn, ein einziges Abenteuer.

Von diesen Vagabunden hatte ich schnell eine eigene Adressliste in meinen Kontakten zusammengetragen; ich nannte die Liste »JUNGS«. Ich unterhielt mich wochenlang mit ihnen – über unsere Wahlfächer für die Abschlussprüfung der Mittelstufe, über unsere Lieblingsbands, darüber, wie viel wir rauchten und tranken und »wie weit« wir schon mit dem anderen Geschlecht gekommen waren (was jedes Mal eine imponierende, ausgefeilte Geschichte erforderte). Natürlich hatten wir alle so gut wie keine Ahnung, wie die Jungs aussahen – es war die Zeit vor Handykameras und Social-Media-Profilen, und uns blieben nur ihre winzigen MSN-Profilfotos und Selbstbeschreibungen. Manchmal machte ich mir die Mühe, mit dem Scanner meiner Mum ein Foto von mir bei irgendeinem Familienessen oder im Urlaub hochzuladen, auf dem ich gut aussah, um dann in Paint mit dem Zuschneiden-Werkzeug vorsichtig meine Tante oder meinen Opa aus dem Bild zu entfernen. Aber meistens war mir das zu anstrengend.

Das Auftauchen virtueller Jungs in der Welt von uns Schulfreundinnen führte zu einer ganzen Menge neuer Konflikte und Dramen. Die Gerüchteküche, wer gerade mit wem chattete, stand nie still, und Mädchen bewiesen Jungen, denen sie nie begegnet waren, ihre Treue, indem sie deren Vornamen mit Sternchen und Herzchen und beidseitigen Unterstrichen in ihre eigenen Nutzernamen einfügten. So manches Mädchen, das glaubte, einen exklusiven Online-Dialog mit einem Jungen zu führen, wurde durch diese aufpoppenden Usernamen eines Besseren belehrt. Es kam vor, dass fremde Mädchen von benachbarten Schulen einen zu ihren Kontakten hinzufügten, um dann direkt zu fragen, ob man etwa mit demselben Jungen chattete wie sie. Ab und zu – und diese Fälle dienten der Gemeinschaft als abschreckende Beispiele – gab irgendein Mädchen seine MSN-Beziehung zu einem Jungen versehentlich preis, indem es eine Nachricht an ihn ins falsche Fenster tippte und einem anderen Kontakt schickte. Tragödien shakespeareschen Ausmaßes folgten.

Mit MSN gingen komplizierte Verhaltensregeln einher. War der Junge, auf den man stand, gleichzeitig mit einem selbst eingeloggt, beachtete einen jedoch nicht, dann konnte man seine Aufmerksamkeit todsicher durch Aus- und erneutes Einloggen für sich gewinnen: Durch die Information über deinen Wiedereintritt wurde er an deine Anwesenheit erinnert, was – so hoffte man – in ein Gespräch mündete. Außerdem gab es noch den Trick, seinen Onlinestatus zu verbergen, wenn man mit niemandem außer einer bestimmten Person sprechen wollte – was man dann heimlich tun konnte. Es war wie ein komplizierter höfischer Balztanz, und ich machte bereitwillig und begeistert mit.

Diese langen Korrespondenzen führten nur selten zu einem Treffen im wirklichen Leben, und wenn, dann war es meistens eine herbe Enttäuschung. Da war Max mit dem Doppelnachnamen – ein notorischer MSN-Casanova, der bekannt dafür war, dass er Mädchen Baby-G-Uhren schickte –, mit dem Farly nach einem Monat Chatten an einem Samstagnachmittag vor einem Zeitschriftenladen in Bushey verabredet war. Sie kam dort an, sah ihn, bekam Panik und ging hinter einem Mülleimer in Deckung. Sie beobachtete, wie er von einer Telefonzelle aus immer wieder auf ihrem Handy anrief, doch sie konnte sich der Realität eines persönlichen Treffens nicht stellen und haute ab. Die beiden unterhielten sich weiterhin jeden Abend stundenlang auf MSN.

Ich hatte zwei Treffen – das erste war ein katastrophales Blind Date in einem Einkaufszentrum und dauerte nicht mal fünfzehn Minuten. Das zweite war mit einem Typen von einem nahegelegenen Internat, mit dem ich fast ein Jahr lang gechattet hatte, bevor wir im Pizza Express in Stanmore endlich unser erstes Date hatten. Im darauffolgenden Jahr führten wir eine Art On-Off-Beziehung; meistens im Off, da er in der Schule eingesperrt war, aber hin und wieder besuchte ich ihn – mit Lippenstift und einer Tasche voller Kippenpäckchen, die ich ihm gekauft hatte. Als wäre ich Marilyn Monroe, die im Zweiten Weltkrieg zur Unterhaltung der Truppen entsandt wurde. Es gab dort im Schlafraum keinen Internetzugang, sodass MSN für uns nicht mehr infrage kam, aber das glichen wir mit wöchentlichen Briefen und langen Telefonaten wieder aus. Mein Vater verzweifelte angesichts der monatlichen dreistelligen Telefonrechnung regelmäßig.

 

Mit fünfzehn begann ich eine Liebesaffäre, die überwältigender war als alles, was jemals in den Fenstern des MSN-Messengers geschehen war. Ich traf ein Mädchen mit ungebändigtem Haar und Sommersprossen und kajalumrandeten braunen Augen; ihr Name war Lauren. Wir hatten uns, seit wir Kinder waren, immer mal wieder auf der abstrusen Hollywood-Bowl-Geburtstagsparty gesehen, aber so richtig lernten wir uns erst durch unsere gemeinsame Freundin Jess bei einem Essen in einer der vielen italienischen Restaurantketten in Stanmore kennen. Die Verbindung zwischen uns war genauso, wie ich es in all den romantischen Filmen auf ITV2 kennengelernt hatte. Wir redeten uns den Mund fusselig, wir beendeten die Sätze der anderen, wir lachten uns so kaputt, dass die Leute an den anderen Tischen sich nach uns umdrehten, Jess ging irgendwann nach Hause, und als wir beide aus dem Restaurant geworfen wurden, setzten wir uns in der Eiseskälte noch auf eine Bank, um uns weiter zu unterhalten.

Sie war Gitarristin und suchte nach einer Sängerin, um eine Band zu gründen; ich hatte mal auf einer spärlich besuchten Open-Mic-Nacht in Hoxton gesungen und brauchte einen Gitarristen. Am nächsten Tag fingen wir im Schuppen ihrer Mutter damit an, Bossa-Nova-Cover der Songs von Dead Kennedy zu proben; die erste Idee für unseren Bandnamen lautete Raging Pankhurst. Wir änderten ihn später – noch abwegiger – zu Sophie Can’t Fly. Unseren ersten Auftritt hatten wir in einem türkischen Restaurant in Pinner; in der wogenden Menge befand sich nur ein einziger Gast, der nicht zu unseren Familien oder Schulfreunden gehörte. Wir grasten weiterhin alle wichtigen Locations ab – ein Theaterfoyer in Rickmansworth, ein baufälliges Nebengebäude in einem Biergarten in Mill Hill, ein Cricket-Pavillon außerhalb von Cheltenham. Wir improvisierten auf jeder Straße, auf der kein Polizist zu sehen war. Wir sangen vor jeder Bar-Mizwa-Gesellschaft, die uns hören wollte.

Ein weiteres Hobby, das uns verband, war das Kreieren einer neuartigen Methode, mit der wir unsere MSN-Chats auf verschiedene Plattformen verlagerten. Schon früh in unserer Freundschaft hatten wir festgestellt, dass wir beide seit der Einführung des Messengers unsere Unterhaltungen mit Jungs in ein Microsoft-Word-Dokument kopiert, dieses ausgedruckt und die Seiten dann in einen Ringordner geheftet hatten, um sie vor dem Schlafengehen wie einen Erotikroman zu lesen. Wir betrachteten uns selbst als eine Art Zweimannversion der Bloomsbury Group zu Zeiten des MSN-Messengers der frühen Nullerjahre.

Doch gerade als meine Freundschaft zu Lauren aufkeimte, verließ ich Suburbia, um hundertzwanzig Kilometer nördlich von Stanmore auf ein gemischtes Internat zu gehen. MSN konnte meine Neugier auf das andere Geschlecht nicht mehr länger stillen; ich musste wissen, wie Jungs im echten Leben waren. Der sich verflüchtigende Duft von Ralph Lauren Polo Blue auf einem Brief befriedigte mich nicht mehr, genauso wenig wie das »Ping« und das Rattern von neuen Nachrichten auf MSN. Ich wollte aufs Internat, um mich an Jungen zu gewöhnen.

(Und nebenbei bemerkt: Gott sei Dank tat ich das. Farly blieb in der Oberstufe auf unserer reinen Mädchenschule, und als sie auf die Universität kam – ohne jemals Zeit mit Jungs verbracht zu haben –, verhielt sie sich wie ein Elefant im Porzellanladen. Am ersten Abend der Orientierungswoche fand eine »Ampelparty« statt, auf der Singles etwas Grünes und diejenigen mit einer Beziehung etwas Rotes tragen sollten. Die meisten von uns begnügten sich einfach mit einem grünen T-Shirt, doch als Farly die Bar in unserem Wohnheim betrat, trug sie ein grünes Kleid, eine grüne Strumpfhose, grüne Schuhe, und im Haar hatte sie außer einer riesigen grünen Schleife auch noch grünes Haarspray. Genauso gut hätte sie sich »ICH WAR AUF EINER REINEN MÄDCHENSCHULE« auf die Stirn tätowieren lassen können. Ich werde bis in alle Ewigkeit dankbar sein, dass ich auf dem Internat einen zweijährigen Grundkurs in gemischter Interaktion absolvieren durfte; ansonsten, fürchte ich, wäre auch ich in der Orientierungswoche wohl mit einer Dose grünen Haarsprays kollidiert.)

Wie sich herausstellen sollte, hatte ich absolut nichts mit Jungen gemeinsam, und sie interessierten mich so gut wie gar nicht, außer wenn ich sie küssen wollte. Allerdings wollte keiner der Jungs, die ich küssen wollte, mich küssen – und so hätte ich genauso gut in Stanmore bleiben und weiterhin all die Fantasieromanzen genießen können, die sich auf dem fruchtbaren Boden meiner Vorstellungskraft abspielten.

Für meine hohen Erwartungen an die Liebe mache ich zwei Dinge verantwortlich: Zum einen bin ich das Kind von Eltern, die so sehr ineinander verknallt sind, dass es fast schon peinlich ist. Zum anderen sind da die Filme, die ich in meinen prägenden Jahren sah. Als Kind hatte ich eine ziemlich ungewöhnliche Leidenschaft für alte Musicals, und nachdem ich in absoluter Besessenheit von Filmen mit Gene Kelly und Rock Hudson aufgewachsen war, erwartete ich immer, dass Jungen sich ähnlich elegant und charmant geben würden. Eine Vorstellung, die auf der gemischten Schule sehr schnell zunichtegemacht wurde. Da war zum Beispiel meine erste Politikstunde. Ich war eines von nur zwei Mädchen in einem zwölfköpfigen Kurs und hatte nie in meinem Leben mit so vielen Jungs zusammen in einem Raum gesessen. Der bestaussehende Junge, über den man mir bereits erzählt hatte, dass er ein berüchtigter Mädchenschwarm sei (sein großer Bruder, der im Jahr zuvor seinen Abschluss gemacht hatte, wurde von allen »Zeus« genannt) – dieser Junge also reichte mir unter dem Tisch einen Zettel, während unser Lehrer das Verhältniswahlrecht erläuterte. Auf den zusammengefalteten Zettel war ein Herz gezeichnet, sodass ich mit einem Liebesbrief rechnete. Schüchtern lächelnd öffnete ich ihn. Doch als ich den Zettel aufgefaltet hatte, stieß ich nur auf die Zeichnung einer Kreatur – hilfreicherweise mit einer Anmerkung versehen, die mich darüber informierte, dass es sich um einen Ork aus Herr der Ringe handelte –, unter der geschrieben stand: »SO SIEHST DU AUS.«

An den Wochenenden kam Farly zu Besuch und begaffte die Hunderte von Jungs in allen Formen und Größen, die mit über die Schulter geworfenen Sporttaschen und Hockeyschlägern durch die Straßen liefen. Sie konnte mein Glück nicht fassen, dass ich jeden Morgen in den Bankreihen der Kapelle in greifbarer Nähe zu ihnen saß. Doch ich empfand das Leben mit Jungen als ziemlich enttäuschend. Weder waren sie so witzig wie die Mädchen, die ich auf dem Internat kennenlernte, noch auch nur annähernd so interessant oder nett. Und irgendwie konnte ich in ihrer Gegenwart nie richtig entspannen.

 

Als ich die Schule abschloss, verabschiedete ich mich vom MSN-Messenger – und zwar genauso inbrünstig, wie ich ihn einst benutzt hatte. Mit meinem ersten Semester auf der University of Exeter kündigte sich das Aufkommen von Facebook an. Facebook war die reinste Fundgrube für Jungs – und, besser noch, diesmal wurden alle wichtigen Informationen über sie übersichtlich auf einer Seite erfasst. Ich durchstöberte regelmäßig die Fotos meiner Kommilitonen und schickte jedem, der mir optisch gefiel, eine Freundschaftsanfrage. Das artete schnell in ein Hin und Her an Nachrichten aus und dann in Verabredungen auf einer der vielen Wodka-Shark-Clubnächte oder Schaumpartys, die in dieser Woche stattfanden. Ich ging auf eine Campus-Universität in einer Domstadt in Devon – es war nicht sehr kompliziert, sich gegenseitig zu finden. War MSN noch eine leere Leinwand gewesen, auf die ich lebhafte Fantasien malen konnte, so war Facebook ein rein funktionales Kennenlernwerkzeug. Es war für uns Studentinnen und Studenten die Methode, unsere nächste Eroberung auszumachen, den nächsten Donnerstagabend zu planen.

Nachdem ich die Uni abgeschlossen hatte und wieder nach London gezogen war, gab ich meine Gewohnheit der Facebook-Kaltakquise möglicher Traummänner (die ich mit der aggressiven Überredungskunst einer Kosmetikvertreterin betrieben hatte) auf. Stattdessen bildete sich ein neues Muster heraus: Jetzt lernte ich Männer durch Freundinnen oder beim Ausgehen kennen, bekam ihre Namen und Nummern, und dann entwickelte sich eine wochenlange Brieffreundschaft per SMS oder E-Mail, bis ich einem zweiten persönlichen Treffen zustimmte. Vielleicht lief es so, weil ich nur diesen Weg des Kennenlernens kannte – mit einer Distanz zwischen uns, mit genügend Raum für mich, um die bestmögliche Version meiner selbst zu präsentieren. Mit all den gelungenen Scherzen, den richtigen Sätzen und den Songs, von denen er beeindruckt war, dass ich sie kannte – die mir in der Regel von Lauren geschickt wurden und für die ich ihr im Gegenzug Songs für ihren Brieffreund schickte. Sie sagte einmal, wir würden einander gute neue Musik zum Großhandelspreis schicken und sie dann mit einem »emotionalen Preisaufschlag« als unsere eigene an unseren Schwarm weiterverkaufen.

Diese Form des Austauschs endete so gut wie immer in einer Enttäuschung. Mir wurde allmählich klar, dass es für ein erstes Date am besten war, wenn es persönlich und nicht in schriftlicher Form stattfand. Andernfalls wurde die Diskrepanz zwischen dem, wie man sich den anderen vorstellte, und dem, wie er wirklich war, immer größer. Oft genug hatte ich in meinem Kopf eine Person erfunden und eine Chemie zwischen uns heraufbeschworen – so als hätte ich ein Filmdrehbuch geschrieben – und wurde dann bei unserem ersten persönlichen Treffen bitter enttäuscht. Wenn sich die Dinge nicht genauso entwickelten, wie ich sie mir vorgestellt hatte, fühlte es sich an, als hätte der andere eigentlich einen Ausdruck meines Drehbuchs zum Auswendiglernen bekommen sollen, aber sein Agent offensichtlich vergessen, es ihm zu schicken.

Jede Frau, die in ihrer Kindheit und Jugend nur von anderen Mädchen umgeben war, wird das bestätigen: Man kann sich nie ganz von der Vorstellung lösen, dass Jungs die faszinierendsten, verführerischsten, abstoßendsten, bizarrsten Wesen der Welt sind; so gefährlich und mythisch aufgeladen wie der Yeti. Und dann wird einem nur immer wieder klargemacht, dass man auf Lebenszeit eine Träumerin bleiben wird. Denn wie könnte man das nicht sein? Jahrelang hatte ich nichts anderes getan, als mit Farly auf einer Mauer zu sitzen, mit meinen Gummisohlen gegen die Ziegelsteine zu treten, in den Himmel zu starren und Stoff zu erträumen, der uns von dem nicht enden wollenden Anblick Hunderter Mädchen in den gleichen Uniformen ablenkte. Wenn man auf eine reine Mädchenschule geht, absolviert die Vorstellungskraft das tägliche Trainingspensum eines Olympiateilnehmers. Es ist verblüffend, wie sehr man sich an die intensive Hitze von Fantasien gewöhnt, wenn man sich so oft in sie flüchtet.

Ich hatte immer angenommen, dass sich meine Faszination und Obsession für das andere Geschlecht legen würde, sobald die Schule vorbei wäre und das richtige Leben begänne; nie hätte ich gedacht, dass ich in meinen späten Zwanzigern noch genauso planlos in Bezug auf Männer sein würde wie damals, als ich mich zum ersten Mal in den MSN-Messenger einloggte.

Jungs waren ein Problem. Ein Problem, für dessen Lösung ich fünfzehn Jahre brauchen sollte.

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Die Bad-Date-Tagebücher

Zwölf Minuten

Wir schreiben das Jahr 2002. Ich bin vierzehn Jahre alt, trage schwarze Dr. Martens, einen karierten Rock von Miss Selfridge und ein bauchfreies Top in Neonorange.

Der Junge, Betzalel, ist ein Bekannter meiner Schulfreundin Natalie. Sie haben sich in einem jüdischen Ferienlager kennengelernt und seitdem per MSN gechattet und einander »Ratschläge in Beziehungs- und Lebensfragen« erteilt. Natalie ist auf der Suche nach neuen Freunden, denn ihre bisherigen hat sie vergrault, indem sie über ein Mädchen das Gerücht verbreitete, es würde sich selbst verletzen, obwohl es nur ein schlimmes Ekzem hat. Ich gehöre zu Natalies anvisierten Zielpersonen.

Sie weiß, dass ich gerne einen Freund hätte, also schlägt sie vor, mich und Betz per MSN-Messenger zusammenzubringen. Ich bin mit unserer stillschweigenden Übereinkunft, dass sie mir einen Jungen spendiert, mit dem ich chatten kann, wenn ich im Gegenzug ab und zu mit ihr Mittag esse, völlig einverstanden.

Betz und ich verabreden uns für ein Date, nachdem wir uns einen Monat lang jeden Abend auf MSN unterhalten haben. Er findet alle anderen in seinem Alter unreif – ich auch –, und außerdem ist er für sein Alter recht groß – ich auch. Immer wieder haben wir uns genüsslich in diesen gemeinsamen Erfahrungen gesuhlt.

Wir wollen uns bei Costa im Brent-Cross-Einkaufszentrum treffen. Ich bitte Farly, mitzukommen, damit ich nicht alleine hinmuss.

Dann kommt Betz, und er sieht kein bisschen so aus wie auf dem Foto, das er mir geschickt hat – er hat seine Locken abrasiert und seit dem Camp ordentlich zugelegt. Wir winken uns über den Tisch hinweg zu. Betz bestellt nichts.

Farly sorgt für die Unterhaltung, während Betz und ich zu Boden starren; peinlich berührt, schweigend. Betz hat eine Tüte dabei – er erzählt uns, dass er sich gerade Toy Story 2 auf Video gekauft hat. Ich sage ihm, dass das kindisch sei. Er sagt, mit meinem Rock sähe ich aus wie ein schottischer Mann.

Ich sage, dass wir gehen müssten, damit wir den 142er nach Stanmore kriegen. Das Date dauert zwölf Minuten.

Als ich wieder zu Hause bin und mich bei MSN einlogge, schickt Betz mir sofort eine lange Nachricht. Mir ist klar, dass er sie – in der für ihn typischen, kursiven lilafarbenen Comic Sans – in Microsoft Word vorgeschrieben und dann ins Chatfenster hineinkopiert hat. Er sagt, ich sei ein nettes Mädchen, aber er habe keine Gefühle für mich. Ich antworte, es sei nicht fair von ihm – der so nahe bei Brent Cross wohnt, während mein Bus fünfundzwanzig Minuten nach Hause braucht –, eine Rede zu schreiben und dazusitzen und darauf zu warten, dass ich mich einlogge, bloß weil er weiß, dass ich ihn viel weniger gut finde als er mich, und er nicht will, dass ich ihm zuvorkomme.

Einen ganzen Monat lang blockiert Betz mich auf MSN, aber schließlich vergibt er mir. Wir haben nie ein zweites Date, aber bis ich siebzehn bin, weihen wir einander in unsere Beziehungsangelegenheiten ein.

Da ich meiner vertraglichen Pflichten enthoben bin, gehe ich nie wieder mit Natalie Mittag essen.

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Die Chroniken der schlechten Partys

UCL-Studentenwohnheim, Silvester 2006

Seit dem Beginn meines Studiums sind dies die ersten Ferien, die ich zu Hause verbringe. Lauren, die ebenfalls über Weihnachten nach Hause gekommen ist, schlägt vor, auf die Silvesterparty in einem Wohnheim des University College London zu gehen. Sie wurde von ihrer Schulfreundin Hayley eingeladen; die beiden haben sich seit ihrer Abschlussfeier nicht mehr gesehen.

Die Party findet in einer großen Studenten-WG in einem schäbigen Gebäude in irgendeiner Seitengasse zwischen Euston und Warren Street statt. Die Gäste setzen sich aus kiffenden UCL-Studenten, Laurens Schulfreunden und zufällig vorbeikommenden Leuten zusammen, die die Tür offen stehen sehen. Den Großteil des Abends läuft »Ignition« von R. Kelly in Dauerschleife. Lauren und ich haben je eine Flasche Rotwein dabei (den Shiraz von Jacob’s Creek, denn es ist ein besonderer Anlass), den wir aus Plastikbechern trinken (nicht aus der Flasche, denn es ist ein besonderer Anlass).

Ich suche den Raum nach Jungs mit intakten Gliedmaßen und fühlbarem Puls ab. Ich bin zu diesem Zeitpunkt achtzehn, habe seit sechs Monaten ein aktives Sexualleben und befinde mich in einer einzigartig intensiven Phase der Sexualität; eine kurze Episode, in der Sex mein größtes Abenteuer und meine spannendste Entdeckung ist; eine Zeit, in der Vögeln für mich in etwa denselben Stellenwert hat wie Kartoffeln und Tabak für Sir Walter Raleigh. Ich kann nicht verstehen, wie es sein kann, dass es nicht alle andauernd treiben. All die Bücher und Filme und Songs, die darüber geschrieben wurden, machen nicht annähernd begreiflich, wie fantastisch es ist. Wie kann es sein, dass nicht jeder jeden einzelnen Abend als Möglichkeit betrachtet, Sex zu haben oder jemanden zu finden, mit dem er Sex haben könnte? (Dieses Gefühl sollte sich zum Zeitpunkt meines neunzehnten Geburtstags heimtückisch wieder aus dem Staub gemacht haben.)

Ich entdecke das vertraute und freundliche Gesicht eines großen, breitschultrigen Typen und identifiziere ihn schnell als den Set-Runner einer Sitcom, bei der ich nach der Mittelstufe ein Praktikum gemacht habe. Wir haben miteinander geflirtet und bei heimlich hinter dem Studio gerauchten Zigaretten über die arroganten Schauspieler gelästert. Jetzt gehen wir mit ausgebreiteten Armen aufeinander zu, umarmen uns und fangen quasi sofort an zu knutschen. So ging ich damals mit meinen Hormonen um, wenn sie dickflüssig und heftig durch meine Blutbahn pumpten – Küssen war jetzt wie ein Händeschütteln, Rummachen wie eine Umarmung. Die gesellschaftlich akzeptierten Kriterien für Intimität kletterten alle ein paar Stufen nach oben.

Nachdem wir ein paar Stunden lang den Shiraz miteinander geteilt und uns aneinander gerieben haben, schließen wir uns im Badezimmer ein, um Nägel mit Köpfen zu machen. Wir fangen gerade an, gegenseitig an Jeans beziehungsweise Rock herumzufummeln – betrunkene Teenager, die versuchen, eine rausgeflogene Sicherung wieder instand zu setzen –, als es an der Tür klopft.

»DAS KLO IST KAPUTT!«, schreie ich, während der Runner an meinem Hals knabbert.

»Doll«, höre ich Lauren zischen, »ich bin’s, lass mich rein!« Ich knöpfe meinen Rock wieder zu, gehe zur Tür, öffne sie einen Spaltbreit und stecke meinen Kopf hinaus.

»Was ist?«, frage ich. Sie zwängt sich durch den Spalt.

»Also, ich hab was mit Finn angefangen.« Sie bemerkt meinen Freund in der Ecke des Badezimmers, der gerade verlegen den Reißverschluss seiner Jeans hochzieht. »Oh, hallo«, haucht sie. »Also, ich mache gerade mit Finn rum, aber ich hab Angst, dass er meine Unterhose berührt.«

»Wieso?«

»Es ist so eine Shape-Unterhose«, sagt sie und hebt ihren Rock, um mir eine fleischfarbene Miederhose zu zeigen. »Die quetscht den Bauch und den Hintern zusammen.«

»Na ja, dann zieh sie einfach aus. Tu so, als würdest du gar keine Unterwäsche tragen.« Ich schiebe sie zur Tür.

»Wo soll ich sie denn hintun? Ich war schon überall, in jedem einzelnen Zimmer sind Leute.«

»Steck sie da hin«, sage ich und zeige hinter den schäbigen Spülkasten der Toilette. »Da wird sie niemand finden.« Ich helfe ihr, die Unterhose über ihre Beine zu zerren, wir stopfen sie hinters Klo, und ich dränge Lauren aus dem Bad.

Leider kriegt der Runner – wegen der immensen Menge von Alkohol, die wir zusammen getrunken, und des Joints, den wir zusammen geraucht haben – keinen hoch. Wir starten mehrere Versuche, die Situation zu retten, von denen einer so heftig ist, dass wir versehentlich die Duschvorrichtung aus der Wand reißen, aber es ist zwecklos. Also bereiten wir der Sache ein Ende und gehen einvernehmlich getrennter Wege – er will zu einer anderen Party, und wir umarmen uns zum Abschied. Gerade ist es Mitternacht geworden.

Lauren und ich treffen uns in dem Zimmer wieder, wo das meiste Marihuana geraucht wird, und bringen uns gegenseitig über unsere Jagderfolge auf den neuesten Stand. Finn ist ebenfalls gegangen, um in den tiefschwarzen ersten Stunden des neuen Jahres nach einer besseren Party zu suchen. Wir trinken auf die Macht der Freundschaft und auf die nicht enden wollenden Enttäuschungen mit Jungs, und dann entdecken wir eine Emo-Band, die wir auf dem Whetstone Open Mic Circuit kennengelernt haben. Schnell freunden wir uns an, und Lauren kümmert sich um den Sänger mit der Robert-Smith-Frisur und ich mich um den Bassisten mit den Pausbacken. Wir fläzen uns vor einen Schrank, reichen Silk Cuts und Joints in unserer Viererkette hin und her und stöpseln abwechselnd unsere iPods in die Box, um einen ausgewogenen Mix aus John Mayer und Panic! At The Disco zu spielen. Da verstummt die Musik plötzlich.

»Irgendjemand hat die Dusche kaputtgemacht«, verkündet Hayley gebieterisch. »Wir müssen denjenigen finden, und er muss dafür zahlen. Wir kriegen sonst riesigen Ärger mit dem Heimleiter.«

»Ja, wir müssen ihn finden«, stimme ich lallend zu. »Ich glaube, es war dieser kleine langhaarige Typ.«

»Wer?«

»Vor Kurzem war er noch hier«, sage ich. »Er war’s garantiert, er kam mit einem Mädchen aus dem Badezimmer, und sie haben sich kaputtgelacht. Ich glaube, er wollte draußen eine rauchen gehen.«

Ich führe ein Inquisitionskommando des Studentenwohnheims auf die Straße, um meinen erfundenen Mann zu suchen, verliere aber schnell das Interesse an dem Schauspiel, als ich Joel erblicke, der anscheinend gerade auf die Party will. Joel ist im gesamten Londoner Norden als Weiberheld bekannt, ein jüdischer Warren Beatty mit gegelter Igelfrisur und Aknenarben, der Danny Zuko der Vorstadt. Ich biete ihm eine Zigarette an, und sofort knutschen wir miteinander, einfach so, als würden wir über das U-Bahn-Chaos plaudern. Wir gehen wieder rein, und ich genieße es, öffentlich mit Joel rumzuknutschen – das sind einige Prestigepunkte mehr als der Runner von vorhin. Allerdings finde ich es schade, dass ich das Badezimmer nicht noch mal besetzen kann, denn das wird jetzt von Hayley und ihrem kindischen Silent-Witness-Team von Spaßbremsen-Forensikern okkupiert, die herauszufinden versuchen, wer die Dusche zerstört hat und wie. Ich suche gerade nach einem neuen Versteck, als Christine, eine wunderschöne Blondine (die Sandy zu Joels Danny), fragt, ob sie kurz mit Joel reden könne. Ich überlasse ihn ihr großzügig – denn wie lautet das alte Sprichwort: Wenn du jemanden vögeln willst, gib ihn frei.

Lauren und ich finden uns für eine Kippe zusammen, inzwischen sind wir auf Mayfairs umgestiegen.

»Sie waren in der Schule ein Paar«, erklärt sie mir. »Mit vielen Aufs und Abs, sehr intensiv.«

»Oh.«

Ich schaue mich im Zimmer um und sehe, wie Christine und Joel händchenhaltend die Wohnung verlassen.

Er winkt mir entschuldigend zu.

»Ciao«, formt er mit den Lippen.

Lauren ist wieder mit dem Emo-Sänger beschäftigt, sie unterhalten sich über Akkordfolgen, ein sicheres Zeichen, dass Lauren sich auf das Vorhaben Sex eingeschossen hat. Es ist fast vier Uhr, und ich muss in zwei Stunden wieder aufstehen, um meinen Job als Verkaufsassistentin in einem eleganten Schuhgeschäft auf der Bond Street anzutreten. Ich arbeite für ein Prozent Kommission und kann es mir nicht leisten, darauf zu verzichten. Als ich mich auf die Suche nach einem Fleckchen Teppich in einem dunklen Raum mache, auf dem ich schlafen kann, finde ich zu meiner Freude ein Bett und stelle meinen Wecker auf sechs Uhr.

Zwei Stunden später wache ich mit dem schlimmsten Kater meines Lebens wieder auf. Mein Hirn fühlt sich an, als wäre es auf links gedreht worden, meine Augen sind mit Mascara verklebt, und mein Atem riecht, als wäre nachts eine Sauvignon saufende Ratte in meinen Mund gekrochen, dort gestorben und verwest. Ich blicke an meinem braunen Minirock von Topshop, meinen bloßen Beinen und den Piratenstiefeln hinunter, und mir fällt ein, dass ich meine Arbeitsuniform nicht mitgebracht habe.

»Hayley«, flüstere ich und schubse ihren leblosen Körper, der neben mir auf dem Fußboden in einem Stapel von Pullovern liegt, mit dem großen Zeh an. »Hayley! Ich muss mir was Schwarzes zum Anziehen ausleihen. Einfach irgendwas schlichtes Schwarzes. Ich bringe es später wieder vorbei.«

»Du liegst in meinem Bett«, sagt sie matt. »Du warst vorhin nicht rauszukriegen.«

»Sorry«, sage ich.

»Und Lauren hat mir gesagt, dass du die Dusche kaputtgemacht hast«, murmelt sie in die Pullover.

Ich antworte nicht, verlasse leise die Wohnung und bereue meinen Altruismus von vor ein paar Stunden, als ich unter Hayleys Kopfkissen ein Notizbuch mit ihren kleinen traurigen Gedichten gefunden, es aber nicht von vorne bis hinten durchgelesen habe.

»Du siehst aus wie eine Pennerin«, schnauzt mich meine Chefin Mary mit dem Hexengesicht an, als ich in den Laden komme. »Du riechst auch wie eine. Geh runter ins Lager.« Sie wedelt mich weg wie eine Fliege. »Heute hältst du dich von den Kunden fern.«

Als ich nach dem längsten Arbeitstag meines Lebens abends nach Hause komme, logge ich mich bei Facebook ein, um den fotografisch festgehaltenen Schaden der letzten Nacht zu begutachten. Und da, ganz oben in meiner Timeline, prangt eine Nahaufnahme von Laurens enormem Miederschlüpfer. Sie befindet sich in einem Album namens »Fundsachen«, das Hayley erstellt und zu dem sie alle Partygäste hinzugefügt hat. Die Bildunterschrift lautet nur: »WESSEN UNTERHOSE IST DAS?«

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Eine Krawallschwester auf dem Weg nach Leamington Spa

Mit zehn war ich zum ersten Mal betrunken. Zusammen mit vier weiteren Mädchen meines Jahrgangs gehörte ich zu den glücklichen Auserwählten, die zu Natasha Bratts Bar-Mizwa eingeladen waren. Im sonnendurchfluteten Partyzelt im Garten ihres Elternhauses in Mill Hill reichte man geräucherten Lachs, der Wein floss, die Haare der Frauen waren in irrsinnigen Föhnwellen aufgebauscht und ihre Lippen ausnahmslos in mattem Beige angemalt. Aus Gründen, die ich niemals begreifen werde, schenkten die Kellner uns Mädchen – mit unseren schulterfreien Kleidchen und Schmetterlingshaarspangen eindeutig als präpubertär erkennbar – ein Glas Champagner nach dem anderen ein.

Zuerst spürte ich nur, wie eine warme Woge meinen Körper erfasste, wie mein Blut raste, meine Haut bitzelte. Dann fühlte es sich an, als wären alle Schrauben in meinen Gelenken gelockert worden, und mein Körper wurde so elastisch und luftig wie frischer Teig. Und dann begann das große Geschnatter – lustige Geschichten, das Nachahmen von Lehrern und Eltern, dreckige Witze, die besten Schimpfwörter. (Bis heute durchlebe ich beim Trinken diese dreistufige Abfolge.)

Der Tanz von Vater und Tochter zu Van Morrisons »Brown Eyed Girl« wurde jäh vorzeitig unterbrochen, als sich ein Mädchen, das noch ein bisschen mehr gehabt hatte als wir, mit einem Bauchplatscher auf die Tanzfläche warf und wie ein Fisch auf dem Trockenen manisch zwischen den Beinen der beiden Tänzer herumzappelte. Sofort folgte ich ihrem Beispiel, bis uns ein beleidigter Onkel wegzerrte und zurechtwies. Doch da hatte die Nacht gerade erst angefangen.

Voll neu entdecktem Selbstvertrauen beschloss ich, dass es an der Zeit für meinen ersten Kuss war, gefolgt von meinem zweiten (vom besten Freund des ersten Jungen), gefolgt von meinem dritten (vom Bruder des ersten). Alle machten mit, und wir tauschten Partner und Küsse aus, als würden wir einen Nachtisch teilen. Schließlich wurde diese Vorstadtkinder-Orgie beendet. Wir wurden ins Wohnzimmer gebracht, bekamen schwarzen Kaffee eingeflößt, die Tür wurde abgeschlossen, und unsere Eltern wurden telefonisch darum gebeten, uns abzuholen. Unser Fehlverhalten war so unerhört, dass wir am darauffolgenden Montag ein weiteres Mal gerügt wurden, diesmal von unserer Schuldirektorin. Sie schalt uns dafür, »unsere Schule in einem schlechten Licht dargestellt« zu haben (ein Vorwurf, den ich mir in meiner Schullaufbahn noch öfter anhören musste und der mich jedes Mal ziemlich umwarf, vor allem, weil ich mich nie dafür entschieden hatte, die Schule zu repräsentieren; vielmehr hatten meine Eltern sich für eine Schule entschieden, die mich repräsentieren sollte).

Nach dieser Nacht, deren Erlebnisse bis in meine Teeniezeit genug Material für die Seiten meiner Tagebücher boten, war ich nicht mehr dieselbe. Ich hatte in viel zu jungem Alter Geschmack am Alkohol gefunden. Auf jeder Familienfeier bettelte ich um ein kleines Glas verdünnten Weins. An Weihnachten schlürfte ich in der Hoffnung auf die Folgen den süßen, zähflüssigen Sirup aus den gefüllten Schokoladenglöckchen. Mit vierzehn fand ich endlich heraus, wo Mum und Dad den Schlüssel für den Barschrank versteckten. Wenn sie nicht zu Hause waren, kippte ich deckelweise billigen französischen Brandy und genoss den warmen schummrigen Nebel, der sich auf die dräuende Pflicht der Hausaufgaben senkte. Manchmal zog ich Farly mit in meine heimlichen Saufgelage hinein – wir nahmen einen großen Schluck vom Beefeater Gin ihrer Eltern und füllten ihn mit Wasser wieder auf, dann hockten wir uns im Schneidersitz auf den Plüschteppich, schauten Wer wird Millionär? und stritten beschwipst über die richtigen Antworten.

Nie habe ich etwas mehr gehasst, als Teenager zu sein. Ich hätte nicht weniger für den Zustand einer Heranwachsenden geeignet sein können. Ich sehnte mich danach, erwachsen zu sein, danach, ernst genommen zu werden. Ständig auf andere angewiesen zu sein, war mir ein Gräuel. Eher wollte ich den Fußboden schrubben, als Taschengeld anzunehmen, und lieber lief ich fünf Kilometer im Regen nach Hause, als mich von meinen Eltern abholen zu lassen. Mit fünfzehn informierte ich mich über die Mietpreise von Einzimmerwohnungen in Camden, sodass ich schon mal wusste, wie viel meines Lohns fürs Babysitten ich sparen musste. Im selben Alter missbrauchte ich die Rezepte meiner Mutter und ihren Esstisch für »Dinnerpartys« und zwang meine Freundinnen zu Rosmarinbrathühnchen mit Tagliatelle und Himbeerbaiser, untermalt von Frank Sinatra, während sie am liebsten einfach nur Burger essen und zum Bowling gehen wollten. Ich wünschte mir eigene Freunde, eigene Pläne, ein eigenes Zuhause, eigenes Geld und ein eigenes Leben. Meine Teenagerzeit empfand ich als eine einzige große, frustrierende, demütigende, bloßstellende, von anderen abhängige Peinlichkeit, die gar nicht schnell genug enden konnte.

Ich glaube, Alkohol war meine eigene kleine Unabhängigkeitserklärung. Er war die Möglichkeit, mich wie eine Erwachsene zu fühlen. All die Dinge, die mit dem Trinken einhergingen – das Knutschen, Kreischen, Einweihen in Geheimnisse, das Rauchen und Tanzen –, waren schön und gut, aber am meisten liebte ich am Alkohol das Gefühl von Erwachsensein, das ich mit ihm verband. Ich lebte die vermeintlich perfekte Kopie eines erwachsenen Lebensstils. Selbstsicher ging ich zum Spirituosenladen und überflog die Etiketten von Flaschen, während ich so tat, als unterhielte ich mich an meinem Nokia 3310 mit jemandem über »eine gediegene Party am Samstagabend« oder »einen Horrortag im Büro« oder darüber, »wo ich das Auto stehen gelassen« hätte. Wenn freitagnachmittags um vier alle aus der Schule stürmten, postierte ich mich – eine Ausgabe von Der weibliche Eunuch in den Händen, die voller Eselsohren war (ironischerweise fast nur dekorativer Natur) – mitten im Korridor und brüllte Farly zu: »ES BLEIBT BEIM DINNER HEUTE ABEND, ODER? ICH FÄNDE EINEN VOLLMUNDIGEN ROTEN TOLL!« Ich genoss den verdutzten Ausdruck auf den Gesichtern der Lehrer, wenn sie an mir vorbeikamen. Ja, glotz du nur, dachte ich. Ich mache etwas, das du auch machst. Ich trinke. Ich bin erwachsen. Nimm mich verdammt noch mal ernst.

Erst als ich mit sechzehn aufs Internat wechselte, kultivierte ich den Brauch des harten Saufens. Meine Schule hatte als letzte in England noch eine Bar für die Oberstufenschüler auf dem Campus. Donnerstags und samstags verschwanden Hunderte von Sechzehn- bis Achtzehnjährigen in einem kleinen Kellerraum, wo sie ihre Wertmarken für zwei Dosen Bier einlösten und sich auf der dunklen, stickigen Tanzfläche zum Sound von Beenie Man und anderen Legenden des Dancehall aneinander rieben. Mein Wohnheim lag zum Glück direkt gegenüber der Bar, sodass ich bis elf Uhr bleiben und dann schnell nach Hause taumeln konnte, wo unsere Hausmutter uns schachtelweise Pizza hingestellt hatte, die wir betrunken mampften. Außerdem fungierte unser Wohnheimgarten als hedonistische Afterhour-Spielwiese, und eine halbe Stunde nach Barschluss stülpte sich unsere Hausmutter ihren Tropenhelm über und drang auf der Suche nach halbnackten fummelnden Schülern ins Dickicht vor. Nachdem sie alle Mädchen, die sie entdeckt hatte, ohne Pizza ins Bett und die Jungs in deren Wohnheim geschickt hatte, gab es jedes Mal diesen wunderbaren Moment, in dem sie aus ihrem Arbeitszimmer den Hausvorsteher der Jungen anrief und wir sie belauschten.

»Ihr James lag hinter meinem Rhododendron, mit meiner Emily und offener Hose«, sagte sie in ihrem breiten Yorkshire-Akzent. »Ich habe ihn nach Hause geschickt, er müsste in zehn Minuten bei Ihnen sein.«

Alle Lehrer wussten, dass wir schon mit dem Trinken anfingen, bevor wir in die Bar gingen. In unseren Koffern schmuggelten wir Wodka ein, den wir in leere, ausgespülte Shampooflaschen gefüllt hatten. Unter unseren Matratzen horteten wir einen nie endenden Vorrat an Marlboro Lights. Die Ausdünstungen unserer Spuren überdeckten wir mit billigem Parfum und Mentholkaugummi; wenn ich einen Joint geraucht hatte und meine Augen gerötet waren, machte ich mir die Haare nass, als hätte ich gerade geduscht, und schob es aufs Shampoo. Die unausgesprochene Grundsatzregel lautete: Wir vertrauen darauf, dass ihr eure Grenzen kennt, also versaut es nicht. Trinkt und raucht, aber benehmt euch nicht daneben und tut es nicht offensichtlich. Im Großen und Ganzen funktionierte das System. Es gab immer eine, die es zu weit trieb und einen Stuhl zerschmetterte oder den jungen Mathelehrer anmachte, der gerade Aufsicht hatte, aber die meisten von uns schafften es, sich zusammenzureißen. Überhaupt respektierten die Lehrer uns Schüler sehr; sie behandelten uns eher als junge Erwachsene denn als Kinder. Die einzigen Jahre meiner Adoleszenz, die ich genoss, waren die beiden, die ich im Internat verbrachte.

 

Für jemanden mit einer schwierigen Beziehung zu Alkohol ist eine Universität nie ein guter Ort, aber: An jenem Tag, als ich die Bewerbungsunterlagen für Exeter ausfüllte, entschied ich mich