Als wir die Maikäfer waren - Christoph Heubner - E-Book

Als wir die Maikäfer waren E-Book

Christoph Heubner

0,0

Beschreibung

Wenn die kleine Eva auf dem Rücken ihres Vaters im berühmten Budapester Gellert-Bad auftaucht, bringen sich die alten Damen in Sicherheit. Denn der Vater stürzt sich vom Beckenrand ins Wasser, dass es nur so spritzt. Immer muss Eva mit. Schwimmen lernt sie dann schon. Wer kann ahnen, dass dies später ihr Leben retten wird. Denn Eva ist zwölf, als sie wieder ins Wasser geworfen wird, diesmal in die eisig kalte Donau, mit einem Seil an zwei andere jüdische Mädchen gefesselt. Ungarische Nazis, die Pfeilkreuzler, tun ihr das an. Die Geschichten in diesem Buch erzählen von Menschen, die den Holocaust überlebt haben und in ihrem zweiten Leben weiterleben müssen mit ihren Toten und ihren Schuldgefühlen, mit ihrer Trauer und ihrem Zorn. Sie beruhen auf den Erinnerungen der Menschen, die Christoph Heubner im Rahmen seiner Tätigkeit als Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees kennenlernen durfte. Menschen, die bis heute hoffen, dass ihre Erinnerungen der Welt nützlich und eine Warnung sind. Die zutiefst beunruhigt sind und doch nicht aufgehört haben daran zu glauben, dass eine Welt ohne Hass und ohne Antisemitismus möglich ist.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 105

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Christoph Heubner

ErzählungenSteidl

Für

Anna Strishkowa, Kiew, und in memoriam

Boris Romantschenko, Charkiw

»So viele teure und helle Gestalten dunkeln im Erinnern. Versuch sie aufzuhalten, mein Lied, für späte Jahre, kommende Zeiten.«

Itzik Manger

Inhalt

Cover

Titel

An der Donau

Als wir die Maikäfer waren

Die Welt aus Eis

Späher der Nacht

Unsere Augen, unsere Sprache

Wir leben noch

Nachbemerkung

Dank

Impressum

An der Donau

Als ob sie gerade quer durch mich hinfloss, trüb war die Donau. Trüb, weise und groß.

Attila József

Etliche Jahre später, ich bin noch dürrer und krummer geworden und meine Kleider hängen an mir wie Stoff an einem Stock, reden meine Töchter mir zu: Ich habe eine Einladung zu einer Zusammenkunft von Überlebenden erhalten und Ihnen unvorsichtigerweise davon erzählt. Warum willst du nicht hingehen, Mama, fragt mich meine Jüngste, während sie und ihre Schwester versuchen, mich zum Aufessen meiner Hühnerbrühe zu überreden, auf der mehr Fettaugen schwimmen als Argus je gesehen hat. Und auch die Ältere stimmt ihr zu, und so stimme schließlich auch ich zu und schiebe die Hühnerbrühe von mir weg, was diesmal auf Grund meiner Zustimmung ausnahmsweise toleriert wird.

Ich hätte die Einladung besser studieren sollen, das Treffen findet im Hotel Astoria statt, das ich in meinem Leben nie betreten wollte, nachdem Eichmann und seine Horde dort Quartier bezogen und die Gardinen uns so schön verabschiedet hatten, damals. Meine Töchter seufzen: Das ist so lange her, Mama, so lange. Das ist ein ganz anderes Hotel, auch wenn es immer noch Astoria heißt, und es kann doch nichts dafür. Manchmal reden sie mit mir wie mit einem begriffsstutzigen Kind. Aber ich weiß, was ich weiß, und ich weiß, was ich nicht weiß. Ich weiß nicht, was geschehen wird, wenn ich das Hotel betrete. Wird Eichmann aus seinem Zimmer treten und mich anfletschen: Wo kommst du denn her, du darfst doch gar nicht leben! Warte nur, wir kriegen euch alle! Und wenn ich zehnmal weiß, dass sie ihn nach dem Prozess aufgeknüpft und verscharrt haben, sicher bin ich mir nicht, ich bin mir niemals sicher, was diese Dinge betrifft.

Wie für ein Foto aufgereiht sitzen sie auf den Sofas in der Eingangshalle des Hotels, Blutsverwandte, die noch nie miteinander gesprochen haben und dennoch alles voneinander wissen. Aus Amerika sind sie gekommen, aus Israel, aus Polen, aus Prag, Berlin und auch aus Wien, und wir, die wir in Budapest leben, setzen uns dazu. Meist sprechen wir Deutsch miteinander, gebrochenes Deutsch, manchmal fällt ein Brocken Jiddisch hinein oder ein Satz beginnt in Englisch, um dann doch wieder im Deutschen zu landen – das haben fast alle dort, wo sie waren, aus gutem Grund sehr schnell gelernt. Auch ich verstehe und spreche Deutsch. Wir hatten Familie in Wien, und vor dem ganzen Schlamassel besuchte man sich hin und her, bis kaum noch jemand übriggeblieben war, weder hier noch dort. Irgendwann fragt mich Vera aus Prag mit einem freundlichen Lächeln und ihrer kneifenden Stimme: Ja, wo warst jetzt du? Ich war zwölf, sage ich, und ich war nur in Budapest, aber das »nur« war schon genug. Und Vera, die sieht, wie Tränen in meine Augen steigen, legt ihre Hand auf meine Hand, und ihre Hand ist ganz anders als ihre Stimme, federleicht und warm.

Für den Nachmittag haben einige der Gäste aus dem Ausland eine Stadtrundfahrt mit Guide gebucht, und sie bitten mich während des Mittagessens dazu. Eigentlich will ich ablehnen: Ich hasse Stadtrundfahrten, und die Idee einer Stadtrundfahrt in meiner eigenen Heimatstadt scheint mir absurd, aber als Vera mich fragt, ob ich mitkomme, fällt mir auf die Schnelle kein triftiger Grund zur Absage ein, und so sitze ich eine halbe Stunde später neben ihr im Bus, achte Reihe links. Erst ab der achten Reihe wird mir nicht schlecht, so Vera, und ich folge meiner neuen Freundin, auf deren Pullover Wasserflecken zu sehen sind, weil sie beim Essen gekleckert hatte und den Pullover nach dem Essen auf der Damentoilette säubern musste. Soll ich Seife nehmen? Und ich habe ihr zu heißem Wasser geraten: Bloß keine Seife, das drückt die Flecken noch tiefer hinein. Vera hat meinen Rat befolgt, was mich gefreut hat, meine Töchter hätten extra viel Seife genommen.

Die Stadtführerin ist eine junge, sympathische Frau mit langen, dunklen Haaren, die sich als Kunsthistorikerin vorstellt. Sie ist sehr gebildet, und ich erfahre von dieser klugen, jungen Person viel Neues über meine Stadt. Dinge, die ich nie gewusst und über die ich mir nie Gedanken gemacht habe. Sie weiß, was sie will, die junge Frau, sie überfällt uns nicht mit ihrem Wissen und hält mit ihrer Mischung aus Zahlen, Namen und Anekdoten den Mittagsschlaf in Schach, der bei den meisten Stadtrundfahrten schon im Bus auf die Passagiere wartet. Als wir uns nach zweieinhalb Stunden und dem Abfahren aller Sehenswürdigkeiten langsam wieder dem Hotel nähern, kräht Vera plötzlich nach vorne: Da gibt’s doch ein Denkmal an der Donau, mit Schuhen, das möchte ich noch sehen. Und aus vielen Sitzreihen wird Veras Bitte mit lauten Worten bekräftigt: Ja, das wollen wir noch sehen. Die Stadtführerin ist unsicher: Wir waren doch bei der Synagoge, sie hat erzählt über die jüdische Geschichte und das Abkommen von Trianon, über Österreich-Ungarn und die Kaiserin Elisabeth und auch über die Deutschen, die in Budapest einmarschiert sind und unter den Ungarn gewütet haben. Sie hat doch alles erzählt. Was wollen diese alten Menschen noch, die bei jedem Halt mit Mühe aus dem Bus kraxeln und von denen immer welche nach einer Toilette suchen. Was wollen sie und wer sind sie überhaupt, dass ihnen dieses Übermaß an Schönheit, das sie vor ihnen aufgeblättert hat, nicht reicht. Das Denkmal an der Donau. Sie ist nie »extra« dorthin gegangen. Schlechtes Karma, sagt ihre Freundin immer, wenn sie auf dem Weg zum Zumba-Kurs diese Stelle am Donauufer mit schnellen Schritten passieren.

Also auf zur Donau. Leise verhandelt die Stadtführerin mit dem Busfahrer über die Anfahrtsroute, den Kopf des Mikrophons hält sie mit einer Hand bedeckt, damit wir ihr nicht folgen können. Aber ich höre und verstehe jedes Wort. Vielleicht weiß sie nicht, dass auch ungarische Menschen im Bus sind. Möglichst nah heran soll der Busfahrer fahren, damit die Alten nicht so weit laufen müssen und es nicht zu lange dauert: Kann der Busfahrer nicht kurz im Halteverbot halten? Sie geht mit uns für einige Minuten zum Denkmal, und dann Schluss aus und ab zum Hotel? Der Busfahrer zuckt mit den Schultern. Ich höre, wie er bissig sagt: Den Strafzettel können Sie bezahlen, junge Dame. Das ist Ihre Entscheidung, ganz allein Ihre. Ich möchte am liebsten dazwischenrufen: Bitte, wir müssen dort nicht hinfahren. Wir werden nicht parken können. Es wird zu anstrengend für alle sein. Aber ich sage nichts und rutsche nur auf meinem Sitz herum, bis Vera mich fragt: Was ist mit dir? Und ich schweige.

Der Bus hält etwa hundert Meter vor dem Denkmal. Die Ersten stehen schon auf, als die Stadtführerin sich zu uns umdreht und ins Mikrophon zu sprechen beginnt. Sie hat jetzt einen ganz anderen Ton, sehr offiziell und deutlich; eine strenge Lehrerin, die ihrer Klasse die Grenze aufzeigen will: Einen Moment bitte noch, verehrte Damen und Herren, bitte nehmen Sie Platz. Ich werde Ihnen in wenigen Worten hier im Bus erklären, was es mit dem Denkmal auf sich hat, so ersparen wir uns einen zu langen Aufenthalt am Fluss. Es ist doch recht kühl geworden, und die Zeit für unsere Rundfahrt ist fast abgelaufen. Sie holt kurz Luft und fährt dann fort: Also, das Denkmal bezieht sich auf das Jahr 1944, als Ungarn von den Deutschen besetzt war und die Bevölkerung der Stadt viel unter den Besatzern zu leiden hatte. Hier an der Donau haben die Deutschen ungarische Menschen zusammengetrieben und sie direkt am Flussufer erschossen, so dass die Körper der Menschen ins Wasser stürzten und davongetrieben wurden. Die Schuhe bleiben als Symbol für die Menschen, die hier gestanden haben. Ja, das ist hier geschehen. Sie werden die Schuhe ja sehen, also die Nachbildungen der Schuhe – zur Erinnerung an das Verbrechen, das die Deutschen hier begangen haben.

In mir läuft eine hin und her, die schreit. Mir bricht der Schweiß aus, und ich bereue es, in diesem Bus und auf der Welt zu sein und die unverschämten Lügen dieses Menschenkindes anhören zu müssen, die sie mit ihrer Lehrerinnenstimme über uns ausgießt. Oder weiß die junge Frau es wirklich nicht besser? Ich will meinen ganzen Schmerz und die Wahrheit herausbrüllen, aber aus meinem Mund kommt nur ein heiseres Krächzen. Vera, die jetzt merkt, dass etwas Schlimmes geschehen sein muss, legt den Arm um mich und hält mich fest.

Und da stürmt Gyuri nach vorn, der weit hinten im Bus gesessen hat. Er ist der Neffe von Eva, die in Auschwitz und in der Sklavenarbeit in Deutschland gewesen ist. Geben Sie mir das Mikrophon, brüllt er schon aus dem Gang die Stadtführerin an, die ihn völlig entsetzt ansieht und ihm erschrocken das Mikrophon entgegenstreckt. Gyuri sagt nichts, er versucht sich zu beruhigen und seinen Atem unter Kontrolle zu bekommen. Nach etwa einer Minute beginnt er betont langsam und leise zu sprechen: Die junge Dame, die uns so freundlich und wissend durch die Stadt begleitet hat, sagt nicht die Wahrheit. Die Wahrheit ist, dass an diesem Ufer und an dieser Stelle ungarische Nazis, sie hießen die Pfeilkreuzler, ungarische Jüdinnen und Juden ins Wasser geschossen haben. Es waren auch Kinder unter ihnen. Dieses Verbrechen haben nicht die Deutschen begangen, sondern dieses Blut wurde von ihren ungarischen Kumpanen vergossen, die uns Juden ebenso gehasst haben wie sie – schon seit langer Zeit. Er hält das Mikrophon in der erhobenen Hand, schweigt einen Moment und sagt dann: Und heute lügt man über diese Geschichte, und der Hass ist längst zurück. Er gibt der jungen Dame sehr langsam das Mikrophon zurück, die sich räuspert und zur Frontscheibe des Busses hingewandt sagt: Ich entschuldige mich, ich habe das nicht gewusst. Immer hat man uns so unterrichtet, wie ich es Ihnen weitergegeben habe. Ich verstehe das nicht … Und sie schweigt in ihr Mikrophon, eine kleine Bewegung mit der anderen Hand zum Fahrer hin: Sie können jetzt die Türen öffnen.

Vera sagt nichts. Während Gyuris Rede hat sie begonnen, meine Hände zu kneten. Ich sehe Tränen in ihren Augen. Du musst nix sagen, sagt sie zu mir. Und ich sage leise: Drei Mädchen, zusammengebunden, mit einem Seil. Ich bin zwölf.

Als wir die Maikäfer waren

Dann weiß es das Herz, und die Hand, und der Mund …

Miklós Radnóti

Onkel Bandi rauchte Zigarren, und er war froh, wenn er seine leeren Zigarrenkisten, die sich im Wohnzimmer stapelten, bei uns loswerden konnte. Wir brauchten sie dringend wegen der Maikäfer. Aber quält die Tiere nicht, brummte Onkel Bandi hinter dem Rauch, es braucht Löcher im Deckel und gebt Laub in die Kiste. Und so haben wir die gesammelten Maikäfer in die Zigarrenkisten gesetzt, in die wir ein paar grüne Blätter gelegt hatten, damit es dort gemütlich für sie war. Wenn ich mich heute daran erinnere, denke ich, dass sich die Käfer in der Kiste entsetzlich gefühlt haben müssen, auch wenn wir sie manchmal herausnahmen. Mir machte es nichts aus, wenn Maikäfer über meinen Handrücken krabbelten, aber meine Freundin Agi schrie und heulte los: Tut sie weg, tut sie weg! Und wir steckten sie in die Kiste zurück. Manchmal hob ich die Kiste an mein Ohr, um zu hören, ob die Käfer sich bewegten, aber da war kein Laut, und das Laub hörte man erst rascheln und rollen, wenn es vertrocknet war. Haben wir die Käfer irgendwann freigelassen? Ich weiß es nicht mehr, unvergesslich sind mir nur das leise Rascheln des trockenen Laubs an meinem Ohr und der Rauch von Onkel Bandis Zigarre in meiner Nase.