Alter Mann, junge Frau - Siegfried Binder - E-Book

Alter Mann, junge Frau E-Book

Siegfried Binder

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  • Herausgeber: TWENTYSIX
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Sie war 42 Jahre alt und verheiratet mit einem 33 Jahre älteren Mann. Er war groß gewachsen, hager, hatte einen Habichtsblick und schämte sich nicht, selbst Fremde nach ihren Intimitäten direkt zu fragen. Er war rechthaberisch, reagierte empört auf die Meinung Anderer und ließ sie nicht zu Wort kommen. Sie hatte ihren Ehemann getötet und das Gericht fragte an, in welchem Zustand sie sich aus psychologischer Sicht bei Tatbegehung befunden habe.

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Seitenzahl: 77

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Inhaltsverzeichnis

Alter Mann, junge Frau

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Alter Mann, junge Frau

Sie war 42 Jahre alt und verheiratet mit einem 33 Jahre älteren Mann. Er war groß gewachsen, hager, hatte einen Habichtsblick und schämte sich nicht, selbst Fremde nach ihren Intimitäten direkt zu fragen. Wenn er Empörung erntete, lachte er, wandte er sich ab oder zuckte mit den Schultern. Er war rechthaberisch, reagierte empört auf die Meinung Anderer und ließ sie nicht zu Wort kommen. Sie hatte ihren Ehemann getötet und das Gericht fragte an, in welchem Zustand sie sich aus psychologischer Sicht bei Tatbegehung befunden habe. Sie wurde in der Haftanstalt dem Psychologen vorgeführt und ordnungsgemäß von ihm belehrt.

Sie hatte einen kräftigen, kleinwüchsigen Körperbau, ihre Haare waren schwarz gefärbt, ihr Blick offen. Sie war gepflegt gekleidet, ihre Sprache war geprägt von einem ostpreußischen Akzent. Ihre Körperhaltung war gespannt und verriet nervöse Zuckungen, die ihrer Kontrolle entglitten. Sie betrachtete den Gutachter kritisch.

„Sie sind sehr jung. Glauben Sie, dem gerichtlichen Auftrag gewachsen zu sein?“

Der Psychologe war irritiert, überlegte und antwortete:

„Ich glaube ja, wenn Sie Ihren Teil dazu beitragen.“

Sie schwieg eine Weile, dann sagte sie:

„Beginnen wir! Ich habe nichts zu verheimlichen. Ich habe nichts zu verbergen und kann in aller Offenheit mein Leben und über die Tat berichten.“

Sie erzählte über fünf Stunden, ermüdete nicht und war stets aufmerksam. Sie lehnte Pausen ab und war stets attent. Sie hatte durch die Verhöre der Kriminalpolizei, der Staatsanwaltschaft und dem Untersuchungsrichter gelernt und begann spontan mit ihrer Familiengeschichte:

„Mein Vater war von Beruf Steinsetzmeister. Ja, was war er für ein Mensch? Ich kann mich erinnern, dass er groß war und gut zu uns. Meine Mutter hat uns vom Vater erzählt, wenn er von der Front kam, hat er stets uns etwas mitgebracht. Es waren Kleinigkeiten, aber er hatte uns nicht vergessen. Er war im Krieg Soldat und hat überlebt. Er wurde 1939 eingezogen.

Nach dem Kriege habe ich ihn nur kurz gesehen. Er hatte eine schwere Lungen-Tbc, wollte uns Kinder nicht anstecken und ließ sich deswegen von unserer Mutter scheiden. Aber das weiß ich nur von unserer Mutter. Als Erwachsener mutmaßte ich, es gab andere Gründe für die Scheidung. Die Scheidung könnte 1949 gewesen sein. Ich bin 1936 in Königsberg geboren worden. Von Königsberg weiß ich kaum noch etwas. Ich kann mich dunkel erinnern, dass unser Vater immer ein Motorrad hatte.

Als Kind habe ich mich dann auf das Motorrad setzen und lenken dürfen. Mein Vater war dabei, es war ein kindliches Vergnügen, dass mir jetzt einfällt. In Königsberg ist es den Eltern finanziell sehr gut gegangen. Der Vater hat gut verdient, die Großmutter war Geschäftsfrau, der Großvater väterlicherseits Fuhrunternehmer. Es gab keine Not zu Hause.

Und diese Situation endete schlagartig 1944 mit der Flucht aus Ostpreußen. Wir fuhren mit dem Zug bis nach Danzig und wurden mit einem Schiff nach Dänemark übergesetzt. Ich kann mich erinnern, dass es in Danzig Fliegeralarm gab, unsere Mutter Phosphor in die Augen bekam, kurze Zeit erblindete und nicht sehen konnte. Sie musste auf das Schiff getragen werden. Die Träger des Schiffes wollten meine Mutter ins Wasser werfen. Ich klammerte mich an sie, schrie und war außer mir. Die Träger lachten, ich verstand den Spaß nicht. In Dänemark wurden wir in ein großes Internierungslager eingewiesen. Es war eine Schule.

Es gab dort kein warmes Essen, keine Heizung und wir hatten keine Betten. Wir mussten uns mit Papierdecken abfinden. Wir hatten keine Winterkleidung und mussten in einem Bett schlafen. In dieser Lage haben wir dreieinhalb Jahre verbracht. Ich war klein und halbwüchsig. Die Männer nahmen keine Rücksicht auf die Kinder, es war grauenvoll. Manche Mädchen wurden vergewaltigt, ich schaute weg und hörte nur das Schreien, das Wimmern, das Weinen. Darum hat uns unsere Mutter nie allein gelassen, sie war immer bei uns. In den dreieinhalb Jahren haben wir jeden Tag zwei Schnitten gekriegt, dazu ein kleines Klötzchen Margarine. Erst später gab es Kartoffelschalen, davon wurde Suppe gekocht. Ich magerte ab und war ständig krank. Unsere Mutter war unterernährt, sie brach öfter zusammen.

Fast jeden Tag starb einer von den Internierten, wir nahmen es hin. Und dann kamen wir nach Deutschland, nach R. Mein Vater hatte ein Zimmer von der Behörde bekommen, in diesem Zimmer haben wir zu sechst ein halbes Jahr oder länger gelebt. Meine Mutter erhielt Fürsorgeleistungen bis zu ihrem Tod. Sie wurde 66 Jahre alt. Was soll ich Ihnen zu meiner Mutter sagen? Sie war eine Frau mit vier Mädchen auf der Flucht, sie hat uns nicht weggeworfen oder anderen Männern angedient, wie es andere Frauen taten. Das hat sie nicht getan. Sie hat sich um uns gekümmert, ich kann nur Gutes von ihr sagen. Sie hat sich mit Offizieren der Siegermächte eingelassen, um unser Leben zu retten. Sie selbst sprach vom Sterben, wollte tot sein. Sie hat oft geweint, damit wir etwas zu essen hatten und hat sich deshalb für Lebensmittel verkauft. Sie war fleißig. Sie hat aus nichts irgendetwas machen können. Sie war ordentlich und hat uns zu anständigen und gewissenhaften Menschen erzogen so, wie sie es für richtig hielt. Ich habe meine Mutter mit Mutti angesprochen. Als sie im Sterben lag, hat sie gebetet, dass Gott ihre Sünden verzeiht. Aber ich weiß, dass sie für uns gesündigt hat. Es ist überhaupt so merkwürdig. Ich kann mich so viel anstrengen wie ich will, aus meiner Kindheit kann ich kaum etwas berichten. Erst, als wir erwachsen wurden, war die Mutter sehr streng. Wir durften nichts tun, was ihr nicht richtig vorkam. Wenn wir es trotzdem machten, dann bekamen wir Schläge. Wenn wir abends zum Beispiel ausgehen wollten, dann war sie damit nicht einverstanden. Und wenn wir etwas später nach Hause kamen, dann schimpfte sie oder wir durften nicht aus der Wohnung. Wir wohnten lange in einem Raum, wir konnten nicht heimlich kommen und gehen. Auch wenn wir ins Kino wollten, dann mussten wir sie mitnehmen. Allein durften wir nicht gehen. Ich erinnere mich, die letzten Schläge habe ich von der Mutter mit 22 Jahren bekommen. Ich kam von der Arbeit und stand vor der Tür. Und ich sagte zu ihr, sie wisse doch, dass ich, wenn ich nach Hause komme, nicht gern vor der Tür stehe. Und dann gab es das eine Wort das andere, bis ich ein paar vor die Ohren von ihr erhielt. Ich war verdutzt und reagierte nicht.

Und sie sagte, entschuldige, es ist mir so herausgefahren. Gott wird mir verzeihen. Sie war eine fromme Frau und ging jeden Sonntag zur Kirche. Sie war evangelisch und hat ihre Kinder angehalten zu glauben. Zu Hause hat jedes Kind für sich im Bett gebetet. Das hat sie uns beigebracht. Sie fragte danach und sie gab sich mit unserer Antwort zufrieden. Wir wussten, dass Gott am Tage des Gerichts unsere Lügen vorhält. Sie begründete es damit, dass Gott alles hört und in unsere Herzen schaut. Wir müssten zum Allmächtigen ein persönliches Verhältnis haben.“

Sie hielt inne, schaute mir in die Augen und fragte:

„Haben Sie ein persönliches Verhältnis zu Gott?“

Sie wartete meine Antwort nicht ab und fuhr in ihrem Bericht fort:

„Ich hatte zu Gott Vertrauen, nur nach der Tat wagte ich nicht, vor ihm zu treten. Ich zweifle daran, ob er mir verzeihen kann. Es ist schändlich, was ich gemacht habe. Muss ich in die Hölle? Ich weiß es nicht!“

Sie legte wieder eine Pause ein, schnäuzte sich, es war mehr eine Verlegenheitsgeste. Dann erzählte sie weiter:

„Wir sind vier Geschwister. Meine älteste Schwester ist die schlechteste. Sie ist 50 Jahre alt und zum zweiten Male verheiratet. Sie hat vier Kinder wie ich. In der Kindheit habe ich mich mit ihr gut verstanden. Im Augenblick ist sie gegen mich. Ich weiß auch nicht warum. Ich habe ihr immer in der ärgsten Not geholfen. So habe ich ihre Kinder in meiner Wohnung über ein halbes Jahr aufgenommen.

Ich habe sie gepflegt und war eine gute Tante. Damals lebte sie in Scheidung, jetzt ist sie gegen mich. Sie belastet mich, will aber angeblich alles widerrufen. Meine zweite Schwester heißt Sigrid, ist 46 Jahre alt und hat drei Kinder. Nach dem Tode meiner Mutter hat die Sigrid Streit gemacht und seitdem habe ich keinen Kontakt mehr zu ihr und der Karin. Bei dem Streit ging es um das Geld meiner Mutter. Wir waren vier Geschwister und man hat uns gesagt, dass wir die Beerdigungskosten teilen könnten. Und das haben sie nicht getan.

Keiner von meinen Geschwistern hat gezahlt. Sie argumentierten, ich hätte so viel Geld und könne die Kosten alleine bezahlen. Ich habe die Kosten übernommen und spreche seitdem nicht mehr mit den Schwestern. Nun wollen Sie wissen, wer die Jüngste ist. Sie heißt Gudrun und wird 40 Jahre alt. Sie war verheiratet, hat ein Kind und ist geschieden. Als Kinder haben wir uns alle verstanden. Gudrun war ja damals sehr klein und wir haben sie großziehen müssen. Wir hielten zusammen, verstanden uns und hielten Kontakt zueinander.

Bis der große Streit kam. Soweit ich mich erinnern kann, sind wir vier Geschwister von der Mutter gleich erzogen und gleich behan