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Dr. Secundus ist ein Kind des Fortschritts und hasst die Inhumanität des Fortschritts. Er will das Menschsein erhalten und tut als Wissenschaftler alles, um die Welt zu verbessern. Er beschleunigt den technischen Fortschritt bis zu jenem Punkt, an dem er mit Gewissenspein erkennt, dass die Menschen durch seine Erfindungen sich selbst aufgegeben haben, Computer an ihre Stelle getreten sind und eine neue Ära der Erdgeschichte einleiten.
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Seitenzahl: 151
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Dein Orakel zu verkünden,
Warum warfest du mich hin
In die Stadt der ewig Blinden,
Mit dem aufgeschloß`nen Sinn?
Warum gabst du mir zu sehen,
Was ich doch nicht wenden kann?
Das Verhängte muss geschehen,
Das Gefürchtete muss nahn.
Friedrich Schiller
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Lydia besuchte in Augsburg ein Gymnasium. Nach dem Abitur wollte sie die Fächer Deutsch und Mathematik für das höhere Lehramt studieren. Lydia war nicht nur Klassenbeste und sehr intelligent, sie war bildhübsch. Ihr ovales Gesicht wurde von welligen schwarzen Haaren umrahmt. Ihre großen Augen strahlten im tief dunklen Blau. Die feinen Gesichtszüge und der scheinbar immer lächelnde Mund mit den leicht aufgeworfenen roten Lippen wurde vervollkommnet von einer weichen und angenehmen Stimme. Sie trat stets bescheiden und zurückhaltend auf, offerierte sich nicht aufdringlich, zierte sich aber auch nicht. Sie hatte eine schlanke Figur, ihre Haut war glatt, leicht gebräunt und ohne Makel. Sie schminkte sich aus Prinzip nicht. Ihre Bewegungen zeigten eine natürliche Anmut. Obwohl stets sehr einfach, fast ärmlich gekleidet und in ihrer Gesamterscheinung keineswegs sexy, wetteiferten ihre Mitschüler um ihre Gunst. Man bot ihr Kinobesuche, Ausflüge, Happenings, Teilnahme an Feiern und Reisen an, alles Dinge, die sie sich finanziell nicht leisten konnte und mit denen sie sich nicht bestechen lassen wollte. Sie lehnte freundlich und bestimmt diese Ansinnen ab, ohne dabei zu kränken.
Wenn Unterrichtsstunden ausfielen oder in längeren Pausen schlenderte sie gern durch die Einkaufsstraßen von Augsburg, blieb lange Zeit vor Geschäften stehen und erfreute sich besonders an Schmuck und Kleidung. Sie konnte sich von deren Anblick nur schwer lösen und hielt geheim, dass sie davon träumte, eines Tages selbst Diamanten, Rubine, Smaragde, Perlen und Gold zu tragen. Sie hielt sich für ein Aschenbrödel und war sich ihrer Schönheit und Anziehungskraft nicht bewusst.
Der Mensch entwickelt sich, reift und altert. Man sagt, wer im zwanzigsten Jahr nicht schön, im dreißigsten Jahr nicht stark, im vierzigsten Jahr nicht klug, im fünfzigsten Jahr nicht wohlhabend, im sechzigsten Jahr nicht weise, im siebzigsten Jahr nicht friedfertig geworden ist, der hat sein Leben verfehlt und darf nicht hoffen. Der Unternehmer Dr. Secundus, er zählte 80 Jahre, war Aufsichtsratsvorsitzender von zwei weltbekannten Aktiengesellschaften und Doktor zweier Fakultäten der Universität München, hatte es zwar zu Reichtum gebracht, aber nicht zu weltanschaulicher Ausgewogenheit und innerer Harmonie. Er galt als Einsiedler und Exzentriker, manche beschrieben ihn als Rauschebart oder Waldschrat und schrieben ihm mystische Fähigkeiten zu. Es lag wohl daran, dass er zur Übersteigerung und Ausfabelung seiner Weltansichten neigte und darüber hinaus einen wallenden, wenn auch gepflegten grauen Vollbart trug. Dr. Secundus war sich seiner Verlorenheit bewusst. Er lebte in materiell gesicherten Verhältnissen und war doch mit sich und seiner Lebensleistung unzufrieden.
Tief im Inneren ahnte er, dass er seinen Wohlstand einer Fehleinstellung zu verdanken hatte, deren konkreter Inhalt ihm verborgen blieb.
Dr. Secundus wohnte allein in einer Villa am Starnberger See, der Haushälter Frieder und der Gärtner Franz hielten Haus und Garten in Ordnung. Er hatte sich mit seiner Vereinsamung abgefunden und mit der Tatsache, dass er nun, im Alter, für andere Menschen bedeutungslos war.
Die Hoch-Zeiten seines Lebens hatten sich geändert. Er spürte, dass eine körperliche Krankheit schleichend von ihm Besitz ergriff und sein Ende nahe war. Er suchte keinen Arzt auf und überließ den Dingen seinen Lauf. Die Gewissheit des Unvermeidlichen nahm er mit philosophischer Gelassenheit hin. Gleichwohl war er voller innerer Unruhe, deren Ursache er nicht kannte und vielleicht auch nicht wissen wollte. Er grübelte und dachte nach, dass in seinem Leben noch etwas fehle und es deshalb noch nicht vollendet sei. Aber was war es? In der Nacht fand er zu keinem Schlaf. Traumgebilde bedrängten ihn. Es waren nicht Projekte, nicht Entscheidungen, die keinen Aufschub duldeten.
Es waren Ereignisse aus seinem früheren Leben, die ihn bewegten. Sie waren deutlich und prägnant, belasteten ihn, beschäftigten ihn selbst am Tage, er konnte ihnen aber keine sinnhafte Bedeutung geben. Er begann, sich vor der Nacht zu fürchten. Vor den aufdringlichen Traumbildern, der drohenden Dunkelheit, den unkontrollierbaren Zuckungen seines müden Körpers. Dann stand er auf, durchwanderte die Zimmer seiner Villa, sprach seine Gedanken laut vor sich hin und gab sich selbst die Antwort auf seine Fragen. Wenn er auf die Veranda trat und den herzerfrischenden Vogelklängen lauschte, aus der Ferne den Gesang, das Lachen und die Wortfetzen von jungen, feiernden Leuten hörte, dann überfiel ihn eine unabweisbare Schwermut. Er beobachtete, wie der sachte Wind das Wasser des Sees leicht kräuselte, erfrischende Düfte mit sich trug und seinen vorbestimmten Weg nahm. Er wusste, dass seine Zeit vorüber war und befragte vergeblich schwankende Nebelgestalten, die auf dem Wasser schemenhaft wandelten, was ihm die Zukunft bringe. Sie kamen ihm in ihrer zurückhaltenden Art entgegen, winkten, lachten, erwarteten ihn mit leuchtenden Augen. Aber sie hatten ihm ebenso wenig zu sagen wie die Pastoren, deren Gottesdienste er besuchte, mit ihren leeren Versprechen und Verheißungen, und deren Kirchen deshalb so leer waren wie ihre hohlen Worte.
Lydia begegnete dem großen Herrn Dr. Secundus zum ersten Mal bei der Übergabe der neuerbauten Turnhalle ihrer Schule. Die Halle war von der Firma finanziert worden, die Dr. Secundus in seiner Funktion als Vorsitzender des Vorstands vertrat und zu deren Einweihung er die Festrede hielt. Lydia war ausgewählt worden, sich im Namen der Schüler für die großzügige Spende des Unternehmens zu bedanken. Bei dem anschließenden Buffet wies man ihr den Platz neben Dr. Secundus zu.
Er bemerkte, dass sie sich nicht von den angebotenen Speisen bediente und forderte sie auf, ihn zu begleiten.
„Haben Sie keinen Appetit? Kommen Sie, wir wollen mal sehen, was uns verführen soll.“
Sie folgte ihm schüchtern. An der Anrichte reichte er ihr einen Teller und bestückte ihn überreichlich mit Wurst, Käse, Fisch. Er geleitete sie zurück zu ihrem Sitzplatz und kommentierte sein Verhalten mit väterlichem Tonfall:
„Sie sind jung, da darf man noch kräftig zulangen.“
Lydia fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut, aß umständlich, achtete verkrampft auf ihre Tischmanieren und mied den Blickkontakt zu ihrem Kavalier. Ihre Kehle war wie zugeschnürt und sie brachte kein Wort heraus. Der alte Herr betrachtete sie wohlwollend, stellte für sich fest, dass sie hübsch und für ihr Alter sehr schüchtern sei.
Er versuchte, mit ihr ins Gespräch zu kommen.
„Entschuldigen Sie, wie ist Ihr Name?“
„Lydia Karger.“
„Und in welcher Klasse sind Sie?“
„In der zwölf.“
„Wissen Sie schon, was Sie nach dem Abi machen wollen?“
„Ich möchte Oberstufenlehrerin werden.“
„In welchen Fächern?“
„Deutsch und Mathe.“
„Oh, da müssen Sie eine sehr gute Schülerin sein.“
„Ich weiß nicht. Es geht.“
„Hat Ihre Berufswahl einen familiären Bezug?“
„Nein, meine Mutter ist Putzfrau.“
„Oh, da haben Sie einen Karrieresprung vor. Viel Glück und Erfolg dabei. Und wo wohnen Sie?“
„In Augsburg.“
„Sie sprechen sehr offen von Ihrer Herkunft, ohne Verlegenheit.“
„Ich bin stolz auf meine Familie. Wir sind ehrbare Leute und arbeiten hart für unser Auskommen.“
„Und Sie gehen den Schritt ins bürgerliche Lager. Auch dort wird hart gearbeitet. Man sagt, ohne Fleiß kein Preis.“
Sie schlug ihre Augen nieder und wusste nicht zu antworten.
Dr. Secundus beendete das Gespräch.
„Ich muss jetzt gehen. Es war für mich eine große Freude, Ihnen zu begegnen.
Vielleicht sehen wir uns wieder.“
Lydia verließ kurz nach Dr. Secundus die Feier und bummelte durch die Fußgängerzone der Stadt. Sie blieb wie immer bevorzugt vor Juweliergeschäften stehen. Beim Juwelier „Der Goldschmied“ betrachtete sie intensiv den ausgestellten Schmuck in der Auslage. Ein in Weißgold gefasster Aquamarin faszinierte sie. Sie konnte ihren Blick nicht von diesem Ring lösen. Sie überhörte die Worte, die ein Passant hinter ihr laut sprach.
„Blau wie das Meer, nein, hellblau wie das Meer an einem schönen Sommertag.“ Als Lydia nicht reagierte, drängte sich der Passant an ihre Seite und sprach lauter als zuvor.
„Er hat bestimmt sechs bis acht Karat. In der Antike hat man Aquamarine ins Meer geworfen, um Poseidon, den Gott des Meeres, zu beschwören, damit er Erdbeben und Stürme verhindere. Andere Mythen berichten, dass er den Träger zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden lasse. Deshalb ist er auch der beliebteste Schmuckstein der Frauen. Sind es nur Legenden? Ich glaube nicht. Wir wissen, dass alle materiellen und organischen Strukturen eigene Energieschwingungen haben, woraus die sichtbaren und unsichtbaren Phänomene unserer Welt sich aufbauen. Über das Gesetz der Schwingungsresonanz ist es möglich, dass sie auf Körper, Geist und Seele des Menschen einwirken. Der Aquamarin, der Sie fasziniert, gehört zur Familie der Berylle. Seine lichtblaue Färbung gleicht einem Meer, in der sich ein wolkenloser Himmel spiegelt. Er sendet Schwingungen aus, die den Geist des Menschen unendlich weiten, die uns die Zwiesprache mit unserem höheren Selbst öffnen und die die Liebe und Wahrheit erschließen, die im Kern unseres Wesens verborgen liegt. Dieser Stein bringt Licht und Klarheit in die geheimsten Winkel der Seele, macht sie licht und rein und vermittelt die wundervolle Erfahrung der Allverbundenheit. Es ist der Stein der Seher, Mystiker und Heiler. Ich sehe in ihm vor allem den Stein der Besonnenheit und Weisheit, mit dessen Hilfe sich Materie in Geist verwandelt.“
Lydia schrak auf. Neben ihr stand Dr. Secundus. Sie fühlte sich ertappt und schämte sich ein wenig. Sie hatte sich damit abgefunden, ein bescheidenes und solides Leben führen zu müssen. Sie hatte noch nie extravagante Kleider oder prunkhaften Schmuck besessen und wusste, sie würde ihn auch zukünftig nicht besitzen. Und doch zog sie dieser äußere Glanz magisch an. Wenn sie sich vor Schaufenstern aufhielt, die diese ihr fremde Welt offerierten, dann glitzerten ihre Augen. Sie fühlte sich von den schönen Dingen magisch angezogen und empfand es als schmerzlich, auf diesen Luxus verzichten zu müssen. Sie begrüßte verlegen den hohen Herrn, der aber ergriff ihren linken Arm, zog sie ohne Erklärung in das Geschäft und bat die Verkäuferin, den Aquamarin-Ring aus der Auslage sehen zu dürfen. Er begutachtete mit einer Lupe die Qualität des Steins, streifte den Ring über Lydias Finger und stellte fest:
„Er ist rein, hat einen exzellenten Treppenschliff und er passt.“
Lydia war verdattert und reagierte nicht. Auch er hätte nicht sagen können, was in ihn gefahren war. Er schien unbeeindruckt zu sein von seinem ungewöhnliches Verhalten:
„Man kann diesen Stein nicht kaufen, man erwirbt dann nur einen leeren Glanz.
Die Seele des Steins kann man nur schenken oder geschenkt bekommen. Denn rein und hoffnungsfroh wie das Blau des Meeres ist auch die Seele dieses Edelsteins.“
Er zahlte, ohne zuvor nach dem Preis zu fragen. Sie blieb irritiert abseits und war sich unschlüssig, ob er sie beschenken wollte oder nicht. Sie hatte ihren Stolz vergessen und alle bisher unterdrückte Sehnsucht schien in diesem Augenblick sich zu erfüllen. Sie errötete und war schöner als zuvor. Ihre Augen wurden wässrig und sie musste schlucken. Er gewahrte ihre unterdrückte Freude und den gerührten Ausdruck ihrer großen, tiefblauen Augen. Er begriff, dass er unbewusst ihr Herz getroffen hatte und das machte ihn glücklich. Lydia wehrte sich.
„Herr Dr. Secundus, ich kann den Ring nicht annehmen.“
„Keine Sorge, Frau Karger, es ist kein Geschenk, davon abgesehen, dass man durch Geschenke keine Rechte erwirbt. Ich bitte Sie, den Ring solange zu tragen, bis Sie glauben, dass wir einander nicht mehr vertrauen. Dann geben Sie ihn mir zurück. Es ist ein Freundschaftsring. Ich lade Sie zum Abendessen ein. Dann haben wir Zeit und ich kann Ihnen die Hintergründe meines ungewöhnlichen Verhaltens erklären. Und Sie können mir den Ring zurückgeben, falls Sie es für geboten halten.“ Sie zögerte.
„Und wie stellen wir fest, dass wir einander vertrauen?“
„Es ist der Tag, an dem unsere Welt untergeht.“
„Oh, Sie verschieben die Stunde der Wahrheit in die Ewigkeit. Wer entscheidet? Wir stehen uns selbst zu nah und dem Nächsten zu fern. Der Schiedsrichter fehlt - oder wollen Sie die Entscheidung dem Zufall überlassen?“
Er schmunzelte.
„Treffen wir uns?“
Sie nickte bejahend.
Die Verabredung mit einer Frau war die erste, die Dr. Secundus nach vielen Jahren wieder wagte und die erste, die Lydia mit einem Mann einging, weil sie keine Gefahren argwöhnte. Wie vereinbart trafen sie sich abends im Restaurant „Zum Franziskaner“ und fanden einen gemütlichen Platz in der Fuchs‘n Stub‘n. Lydia staunte über das Ambiente des Lokals. Der Raum war in gedämpftes Licht getaucht, man hörte die Stimmen der Gäste schwach im bunten Durcheinander, drei Musikanten spielten dezent alte Tanzmusik, die Tischdecken zierten mit altmodischen Blumenmustern die Tische, die Stühle hatten Armlehnen und eine körpergerechte Sitzhöhe, den Gästen wurde eine Speisenkarte gereicht. Ihr gefiel die behagliche und geruhsame Stimmung dieses Ortes. Sie konnte ihre Verwunderung nicht zurückhalten und schaute neugierig im Raum herum. Als ein Kellner an ihren Tisch trat und sich nach den Wünschen der Gäste erkundigte, blieb sie sprachlos. Sie hatte erwartet, dass man wie üblich an einem Automaten Getränke und Speisen eintippt und der Apparat das Gewünschte auswirft. Sie lächelte verlegen und wusste keine Antwort. Dr. Secundus bestellte für sie und für sich ein Algenomelett mit gegrillten Mehlwürmern und einen badischen Wein. Lydia nahm das Geschehen um sich unkonzentriert wahr. Ihre Gedanken kreisten um die Frage, was dieser Mann, der ihr Urgroßvater sein konnte, von ihr wohl wolle. Dr. Secundus hatte nicht vor, sie wie Helena mit Gewalt oder List zu entführen. Einer plötzlichen, inneren Eingebung folgend, hatte er die Zufallssituation vor dem Juweliergeschäft genutzt, um aus dem Käfig seiner Isolation auszubrechen. Er trug in sich eine utopische, ideale Traumgestalt von Weib ohne Fleisch und Blut in sich und ließ sich nicht von Sinnenlust bestimmen. Lydia entsprach von ihrer Erscheinung her seiner Fiktion. Bei dieser ersten Begegnung blieb Lydia gehemmt und verwirrt, sie fühlte sich peinlich berührt und hatte den Eindruck, dass Dr. Secundus ihre Unbeholfenheit mit Vergnügen beobachtete. Sein Auftreten war jedoch unaufdringlich und taktvoll. Er ahnte unbewusst, dass sie der Mensch war, der mit seiner natürlichen Ursprünglichkeit ihm helfen könnte, Barrieren seines Lebens zu überwinden. Obwohl ihr überlegen, fühlte er sich wie ein ausgesetztes Kätzchen hilflos und klein, hoffte unbewusst, von ihr umsorgt zu werden und bei ihr die großen Gefühle der Bemutterung zu wecken, die in jedem Weibe schlummern. Als beide am Tisch saßen, Getränke und Speisen bestellt hatten, öffnete er sich, heiter und humorvoll, während sie vor allem an den Ring dachte und dabei eine angenehme körperliche Erregung empfand.
„Lydia, ich bin sehr alt und Sie sind sehr jung. Es ist nicht einfach, in einer Gesellschaft zu altern, die sich mit Jugend schminkt. Junge Menschen sind sehr oft überheblich, weil sie noch nichts sind, aber viel bedeuten wollen. Schauen Sie nicht auf mich herab. Ich bin krank und Sie sind voller Jugendfrische. Sie leben für die reale Zukunft, ich in der Hoffnung, im späten Alter meinen Lebenssinn zu finden. Sie streben nach Wohlstand, ich nach dem Seelenheil. Gesprochen und geschrieben wird am meisten über die Probleme der Jugend und des mittleren Alters. Und das zu Recht, denn die Übel des Alters schrecken ab - die physische Schwäche, die klingenden Ohren, die tropfende Nase, die zitternde Hände, die gebogenen Beine, der kurze Atem. Nicht zu vergessen die Veränderungen der Psyche im Alter. Die Vergesslichkeit, Missmutigkeit, Trägheit, Verlangsamung, der Egoismus und der Starrsinn. Und von diesen Mängeln, das werden Sie noch feststellen, habe ich eine Menge. Alter kann auch seine Vorteile haben. Es muss nicht Stillstand oder Niedergang sein. Man wird nicht mehr von der Hast des Tages gehetzt, genießt die Beschaulichkeit, die erforderlich ist, um das Wesentliche der Dinge zu erkennen. Es ist die Zeit der Weinlese und die Zeit, um die gereiften Früchte eines ganzen Lebens zu ernten. Als Alternder schielt man um die Ecke, nur so. Man weiß ja nie. Und wer sitzt dort auf der Mauer des sprudelnden Brunnens, lässig und gelangweilt? Der Tod. Er hat Zeit und wartet. Wir wenden den Blick ab, laufen davon und behaupten, wir hätten ihn nicht gesichtet. Und belügen uns damit selbst. Manche meinen, der Sensenmann hält sich an keine Verabredung. Er komme zu früh, Erbschleicher sagen, er komme zu spät und viele behaupten, er komme immer zur unrechten Zeit. Denn es gäbe noch Unaufschiebbares zu erledigen. Wie lächerlich und aufgebauscht ist das. Das Unaufschiebbare sind im Grunde alltägliche Familienprobleme, die sich selbst regeln und natürlich häufen, je älter man wird. Das war schon immer so. Der greise Abraham geht fremd und verstößt seinen nichtehelichen Sohn Ismael und das auf Geheiß seiner streitbaren Frau. Der Enkel von Abraham, Kain, erschlägt seinen Bruder Abel, ein anderer Urenkel, Jakob, betrügt seinen Bruder Esau um das Erbe. Die Strafe folgt auf dem Fuße. Jakob muss erleben, wie sein liebster und jüngster Sohn Joseph angeblich von einem Löwen gerissen, in Wirklichkeit aber von seinen missgünstigen Brüdern in die Sklaverei verkauft wird. Und so geht es weiter mit den Streitigkeiten bis in unsere Zeit. Nur ich durfte solche Familienprobleme nie erfahren, so, als stände ich außerhalb der Gesellschaft. Und wenn mir das bewusst wird, meine ich, dass ich im Grunde nie gelebt habe. Zwiespalt und Ärger in der Familie, Freude und Frohsinn sind eigentlich das zentrale Thema des Lebens. Man liebt sich, aber wer liebt, kann auch hassen. Ich stelle mir gelegentlich vor, dass sich mir mit dem Tode ein bis dahin verschlossenes Daseinsgeheimnis erschließt, dass nicht der Vergänglichkeit unterliegt und der Tod meine Selbstbewusstheit nicht einfach ausradiert, sondern mich den Hauptinhalt meiner irdischen Existenz erkennen lässt.
Dass ich in ein Licht eintauche, welches das Dunkel und selbst die Freude des schönsten weltlichen Augenblicks unfassbar überstrahlt. Und doch habe ich Angst vor diesem Augenblick der Erkenntnis und tauschte es gern mit dem Trubel eines banalen Familienlebens mit all seinen Problemen und Zukunft weisender Intentionalität, was mir hier auf Erden versagt geblieben ist.“
Dr. Secundus hielt inne und widmete sich seinem Essen. Lydia tat es ihm gleich. Dann bemerkte sie schüchtern und fragte: „Sie sprechen so vergnügt und froh gestimmt und zugleich auch doppeldeutig. Was Sie sagen, macht mich schwermütig und traurig. Darf ich wissen, woran Sie erkrankt sind?“
„Erkrankt? Nein, erkrankt bin ich nicht. Vielleicht vereinsamt. Das war ich eigentlich schon immer. Im Alter kommt hinzu, dass Freunde und Bekannte sterben, der Bewegungsraum altersbedingt eingeengt wird und man eines Tages merkt, dass man allein und überflüssig geworden ist. Aber auch das ist nicht mein Problem.“
Lydia gab nicht nach.
„Und was ist Ihr Problem?“