Leidenschaft schafft Leiden - Siegfried Binder - E-Book

Leidenschaft schafft Leiden E-Book

Siegfried Binder

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Beschreibung

Was ist Leidenschaft? Ein emotionaler Zustand, der sich nur schwer mit dem Verstand steuern lässt... Diese Passion kann Leben verändern und auch das eigene oder das der anderen zerstören. In acht Erzählungen wird deutlich wie unterschiedlich Leidenschaft ausgelebt wird und Einfluss auf die Akteure und deren Lebensumstände hat.

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Seitenzahl: 198

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Die Handlung dieser Erzählungen sowie die darin vorkommenden Personen sind frei erfunden, eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Begebenheiten und tatsächlich lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Meinen Enkeln

Inhalt

Anna und ihr Mörder

Wen die Götter richten

Verschollene Jahre

Eine Karriere

Absurdität und Schicksal

Peng

Der Todestrank

Vergessene Schwüre

Anna und ihr Mörder

Sie spielte am Rand des Waldes. Unter ihr lag das Tal. Zwischen ihr und dem Elternhaus breitete sich die Wiese aus. Die Luft war gesättigt vom Duft des frisch gemähten Grases. An den Blüten naschten Bienen, der Wald rauschte ein beruhigendes Lied. Ein Bächlein durchzog die Wiese, dessen Wasser plätscherte und hüpfte von Stein zu Stein in die Niederung, die umgeben war von sanften Hängen. Anna hockte auf der Erde. In ihren Händen hielt sie einen dicken Strauß blühender Spätsommerblumen, die herb und süß dufteten. Der Himmel war behangen mit kleinen silbergrauen Wolken, durch die die Nachmittagssonne ab und an lugte, die Welt in mildes Spätlicht tauchte und die Erde wärmte. Die Wölkchen segelten gemächlich mit einer leichten Westbrise Richtung Osten, auf den grünen Matten weideten Kühe. In dieser wie von Zauberhand erschaffenen, abgeschiedenen, engen Welt heimelte das Glück. Anna war fünf Jahre alt und sommerlich luftig bekleidet. Sie sprach leise vor sich hin und übte einen Vers, den ihr der ältere Bruder zum Geburtstag der Mutter geschrieben hatte.

Ich komm zu dir und gratulier

dir zu deinem Ehrentag.

Ich wünsche, dass weiterhin die Zeit mit dir

in Lieb verbunden bleiben mag.

Ganz ihrer Übung hingegeben, achtete sie nicht darauf, was um sie geschah und bemerkte nicht die Gestalt, die aus dem Wald sich ihr genähert und, hinter einem Baum versteckt, sie eine Zeitlang beobachtet hatte. Es war ein Mann, ungepflegt in seinem Äußeren. Der Körper wurde von kurzen Beinen getragen, war wabbelig und plump. Seine langen Haare waren zu einem Zopf geflochten. Seine Augen saugten sich am Kinde fest und ließen nicht von ihm ab. Ertratnäher. Anna schaute zu ihm erschrocken auf.

„Oh, du hast einen Blumenstrauß gepflückt.

Wem willst du ihn schenken?“

„Meiner Mama.“

„Wie heißt du?“

„Anna.“

„Und wo wohnst du?“

Sie zeigte auf das Gehöft, das unterhalb der Wiese lag.

„Dort unten.“

„Wollen wir etwas in den Wald gehen?“

„Nein.“

Er streichelte ihre blonden Haare. „Wie schön du bist.“ Er betatschelte mit seinen fleischigen Händen ihren Oberkörper, fuhr unter das Kleid und raunte: „Deine Haut ist so zart, so weich, so seidig.“

Anna entwand sich seinem Zugriff und versuchte fortzulaufen. Er ergriff sie von hinten.

Sie schrie: „Mama, Mama.“

Er presste seine Hand auf ihren Mund und erstickte so ihren Hilferuf. Er warf sie auf die Erde und setzte sich rittlings auf sie. Sie schlug mit Armen und Beinen um sich.

„Nicht doch Anna, du musst ruhig, ganz ruhig bleiben.“ Seine Hand ruhte auf ihrem Mund.

Ihre Kräfte erlahmten schnell. Er schaute lächelnd auf sie herab. Als sie still und erschöpft und ausgestreckt unter ihm lag, ließ er von ihr ab.

Sie flehte: „Lass mich, ich will zu Mama.“

Seine Pupillen weiteten sich. Er umfasste ihren Hals mit beiden Händen und drückte leicht zu. Anna begriff nicht, sie hatte nur Angst. Er verringerte den Händedruck, Anna begann zu weinen. Er presste stärker, sie rang nach Luft. Er lockerte seinen Griff, sie atmete heftig. Er griff noch fester zu, sie bäumte sich auf. Er wiederholte sein Tun, schnürte ihr die Kehle zu, drosselte und würgte, umkrallte eisern ihren Hals. Dann schwächte er die Umklammerung ab oder unterbrach kurzzeitig sein Werk. Anna stöhnte, japste, gurgelte, röchelte. Sie lief im Gesicht bläulich an und das Weiß ihrer Augen färbte sich rötlich. Er beobachtete lusterregt den qualvollen Todeskampf des Kindes und registrierte ihr letztes Krampfen und das plötzliche Erschlaffen des kleinen Körpers. Er stieß einen grunzig-brünstigen Laut aus, sein Herz raste, er atmete heftig, sein Körper war schweißgebadet. Aber er fühlte sich entspannt, schwebend, hochjauchzend mit sich und der Welt vereint. Nach einiger Zeit stand er auf, zog Anna in ein Gebüsch, legte ihren Blumenstrauß auf ihre Brust mit den Worten: „Du, mein Engel, ich werde nie vergessen, was du mir geschenkt hast.“ Die Erde tat sich nicht auf und verschlang ihn nicht. Er suchte konzentriert den Platz nach Spuren ab, die er vielleicht hinterlassen haben könnte. Dann ging er schnellen Schrittes auf kürzestem Weg durch den Wald ins Nachbardorf zu seiner Wohnung. Er wusste, er würde früher oder später als Täter ermittelt werden. Er rechnete nach. Bis zum Auffinden der Leiche müssten 24 Stunden vergehen, dann hätte er eine Chance und seine Verdeckungsmaßnahmen würden greifen. Dann ließe sich der genaue Todeszeitpunkt und sein Trunkenheitszustand nicht mehr genau bestimmen. Er schlich sich ungesehen in seine Wohnung, er leerte eine Flasche Wodka im Sturztrunk und begann nach einiger Zeit im Hause zu lamentieren. Er forderte Nachbarn torkelnd und lallend zum Mittrinken auf, grölte Lieder, wurde obszön, redete wirres Zeug.

Sein Strafregister enthielt drei Eintragungen.

Eine Vergewaltigung eines jungen Mädchens, einen Kindesmissbrauch und einen Mord. Den Mord hatte er mit zwanzig Jahren an einem zehnjährigen Mädchen begangen, er war von der Jugendstrafkammer als jugendlich unreif eingestuft und zu sechs Jahren Jugendstrafe verurteilt worden. Im Gefängnis hatte er sich stets ordentlich, angepasst und kooperativ verhalten. Er hatte erfolgreich an einem Antiaggressionstraining teilgenommen, hatte therapeutische Einzelgespräche geführt, hatte sich zum Elektroniker qualifiziert und bei freien Ausgängen und Urlauben bewährt. Mitgefangene und Therapeuten hatten ihm viel beigebracht. Seine Lust an der Gewaltausübung sei Folge frühkindlicher Traumatisierungen, so die Therapeuten. Von Mithäftlingen hatte er von sexuellen Würgespielen gehört, deren Höhepunkt die orgastische Bewusstlosigkeit sei. Er hatte sich diese Erzählungen als selbsterlebte und erlittene Gewalterfahrungen zugedichtet. Er hatte sie immer wieder berichtet und ausgemalt und schließlich selbst daran geglaubt. So hätten sich bei ihm Wut- und Rachegefühle entwickelt, die er nüchtern unterdrückt, unter Alkohol aber impulsiv und wider Willen und Wollen ausgelebt habe. Ihm war beigebracht worden, wie mit Alkoholisierung eigenes Handeln über Erinnerungsausfälle oder Erinnerungslücken sich vertuschen und Eigenverantwortung abwälzen lässt. Er hatte über Jahre verschwiegen, dass er Nacht für Nacht die Vergewaltigung, den Missbrauch und den Mord sich vergegenwärtigt und tags in seinen Tagträumereien nacherlebt hatte. Dann war er von erregender, lustbetonter, körperlicher und psychischer Spannung und Gier ergriffen worden und hatte sich den Tag herbeigesehnt, an dem er frei sein würde und das Unausweichliche wiederholen würde. Sein sehnsüchtiges Verlangen hatte sich nun mit Anna erfüllt. Er empfand darüber weder Schuld noch Reue. Seine Veranlagung war für ihn genetisch bedingt, von daher normal und von ihm nicht zu verantworten. Scheinbar volltrunken, begann er zu kalkulieren, welche Strafe er als betrunkener, traumatisierter Täter zu erwarten habe. Mithilfe eines gewissensarmen Anwalts und eines gutgläubigen Psychiaters würde er wohl im schlimmsten Fall zu zehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt werden. Er würde seine Täterschaft bestreiten, würde Volltrunkenheit und Erinnerungsausfall geltend machen. Er würde wieder ein vorbildlicher Gefangener sein und sprechen, wie es sich für einen Straftäter gehört. Nach 2/3 seiner Strafzeit würde er dann wohl entlassen werden. Er war sich sicher, dass die Gerichte dann nicht über ihn und seine Veranlagung, sondern nach weltverbessernden und leidbringenden Ideen urteilen würden und man ihm Menschenwürde und Resozialisierung nicht verwehren werde. Er goss zwei Tage Alkohol in sich hinein, gab sich seinen Gewaltfantasien hin und schlief beruhigt und zufrieden. Er erwachte, als ihn nach zwei Tagen ein Kriminalbeamter aus dem Schlaf rüttelte.

Die Zeit seiner Maskerade war gekommen.

Annas Eltern, fromme Bauersleute, verfluchen seit jenem Tage Gott und die Gerechtigkeit.

Wen die Götter richten

Am 1.6.2012 drückte Polizeimeister Cramer nach dem Klingelton sofort das Telefon auf Empfang. „Hier ist das Polizeipräsidium Dortmund, was kann ich für Sie tun?“

Eine sonore männliche Stimme sprach laut und deutlich: „In der Wohnung Brückenstraße 62, drittes Stockwerk rechts, liegt eine Leiche.“

„Sagen Sie mir bitte Ihren Namen und Ihre Anschrift.“

Der Anrufer wiederholte: „In der Wohnung Brückenstraße 62, drittes Stockwerk rechts, liegt eine Leiche.“ Dann legte er auf.

Herr Cramer veranlasste sofort und routinemäßig das Erforderliche. Er informierte die Schutzpolizei und das zuständige Kriminalkommissariat. Nach wenigen Minuten trafen zwei Beamte in der Brückenstraße ein. Das Wohnhaus Nr. 62 war ein gepflegtes, vierstöckiges Gebäude und mochte in den 20-er Jahren erbaut worden sein. Eine breite Treppe mit kunstvoll geschmiedetem Geländer führte in die oberen Etagen. Die Haustür war angelehnt, die Tür zur Wohnung in der dritten Etage rechts war verschlossen. Die Beamten klingelten einige Male, es wurde ihnen nicht geöffnet. Nach mehreren Versuchen gelang es ihnen, die Tür mithilfe einer Kreditkarte zu öffnen. Sie betraten einen breiten Flur, von dem aus Türen in die Wohnräume führten. Die Beamten inspizierten bedächtig und vorsichtig den Einsatzort -Badezimmer, Schlafzimmer, das Gästezimmer. Der Wohnraum hatte eine Größe von etwa 42qm und war verbunden mit einer Essecke. Vor dem Kamin standen eine Couch und zwei Sessel, hinter der Couch entdeckten die Beamten eine Afrikanerin, die mit angewinkelten Beinen auf dem Parkettfußboden lag und offenbar leblos war. Sie informierten sofort die Zentrale, postierten sich vor der Wohnungstür und sicherten so den Fundort ab.

Kriminalhauptkommissar Schneider, Leiter der Mordkommission, Kriminalkommissar Becher und der Gerichtsmediziner, Dr. Lindter, trafen fast gleichzeitig nach einer halben Stunde in der Brückenstraße ein. Herr Schneider war groß, stark und kurzbeinig und hatte ein vollrundes Gesicht mit wasserblauen Augen. Er sondierte die äußeren Gegebenheiten. Das Zimmer war aufgeräumt, es fanden sich keine Kampfspuren, kein Tatwerkzeug, keine Hinweise für Tatverdeckungsmaßnahmen. Dr. Lindtner stellte den Tod der Farbigen fest. Der Leichnam war fühlbar erkaltet und wies keinerlei äußerliche Verletzungen auf. Er maß die Körpertemperatur und ließ protokollieren, dass die Tote vermutlich vor 10 bis 20 Stunden verstorben sei. Die Tote hatte einen fast schwarzen Teint, war klein und von zierlicher Gestalt, war bekleidet mit Jeans und einer Bluse, die die gereiften Formen umspannte. Sie hatte ein schmales Gesicht, eine fleischige Nase, schön geformte Hände und einen üppigen, breiten Mund voller Sinnlichkeit. Ihre Haare waren in viele kleine Zöpfe geflochten. Noch während der Besichtigung der Wohnung trafen die Spezialisten der Spurensicherung ein und nahmen ihre Arbeit auf. Herr Schneider sah sich in der Wohnung um und konnte einen deutschen und einen nigerianischen Pass mit dem Bild der Toten und den Namen Adventa Achebe sicherstellen. Er benachrichtigte die Staatsanwaltschaft, die die Beschlagnahme der Leiche, deren Obduktion und die toxikologische Untersuchung von Blut und Urin der Toten anordnete. Kriminalkommissar Becher hatte sich zwischenzeitlich bei den Hausbewohnern nach den Lebensgewohnheiten der Toten erkundigt. Das Ergebnis war mager. Man kenne sie unter den Namen Achebe, sie empfange kaum Besuche, sie sei eine sehr freundliche und ruhige Person. Welcher Tätigkeit sie nachgehe, wisse man nicht. Man habe weder am vorherigen noch am heutigen Tage etwas Auffälliges wahrgenommen. Eigentümer der Wohnung sei wohl der Rechtsanwalt Dr. Hermann.

Die Leiche wurde in das gerichtsmedizinische Institut der Universität Dortmund gebracht und die Wohnung wurde versiegelt. Herr Schneider und Herr Becher fuhren zur Kanzlei von Dr. Hermann. Dieser befasste sich schwerpunktmäßig mit Wirtschaftskriminalität, galt als Koryphäe auf diesem Rechtsgebiet und war bundesweit als Strafverteidiger begehrt. Er beschäftigte weitere sechs Anwälte und drei Volkswirte. Der Kriminalhauptkommissar war erstaunt, dass er sofort nach seiner Anmeldung zu Herrn Dr. Hermann vorgelassen wurde. Ihm trat ein übermäßig beleibter Mann mit einer ungeheueren Rundung des Bauches, mit einem kurzen Hals und einem kleinen Kopf entgegen, dessen wässrige Augen unruhig und listig hin und her wanderten. Der Anwalt bat die Beamten, Platz zu nehmen, und erklärte behutsam und gedämpft, noch bevor er als Zeuge belehrt werden konnte: „Also Herr Hauptkommissar, ich habe heute Morgen beim Polizeipräsidium angerufen. Die Angelegenheit ist mir sehr peinlich. Ich habe Frau Achebe vor fünf Jahren in einer Disko kennengelernt. Wir sind uns sehr schnell nähergekommen, wie soll ich sagen, sie wurde meine Nebenfrau. Ich wusste, dass sie Prostituierte ist, sie hat sich nach unserer Beziehung nicht weiter prostituiert. Ich mochte vor allem ihre Offenheit, ihre Lebensfreude, ihre Selbstsicherheit und natürlich ihren Sex. In meiner Ehe gibt es diesbezüglich Probleme. Etwa vor zwei Jahren habe ich ihr meine Eigentumswohnung in der Brückenstraße überlassen. Seitdem trafen wir uns dort einmal oder zweimal wöchentlich, man kann sagen, es war unser Liebesnest. Sie erhielt von mir eine monatliche Apanage von 2.000 € und war mir dafür auch in mancherlei Dingen behilflich. Vor drei Tagen feierten wir abends bei ihr unsere 5-jährige Bekanntschaft. Heute wollte ich ihr einen Armreif schenken, sie liebte Schmuck. Ich betrat mit meinem Schlüssel die Wohnung und fand sie im Wohnzimmer so vor, wie Sie vermutlich auch. Ich überzeugte mich, dass sie tot ist, ließ alles unberührt, fuhr nach Hause und rief von unterwegs das Polizeipräsidium an. Ich nannte meinen Namen nicht. Verstehen Sie bitte, ich will kein Aufsehen, ich möchte öffentlich nicht belastet werden. Es käme einem Rufmord gleich.“

Der Anwalt schwieg, der Kommissar hakte nach. „Was ist Ihrer Meinung nach geschehen?“

„Ich weiß es nicht. Nichts deutet auf einen Kampf, nichts auf Gewaltanwendung hin. Ich bin aber überzeugt, dass Adventa, also Frau Achebe, getötet wurde.“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Sie war jung, 32 Jahre alt. Sie war gesund und litt an keiner körperlichen Erkrankung. Und sie bejahte das Leben, versprühte Vitalität und Optimismus.“

„Gab es zwischen Ihnen Konflikte?“

„Nein, vielleicht kleine Meinungsverschiedenheiten - Alltägliches.“

„Hatte Adventa Feinde?“

„Nein, ich wüsste nicht.“

„Hat sie Ihnen von Problemen erzählt?“

„Ja, da hat wohl jemand sie beschuldigt, dass sie eine Abmachung nicht eingehalten hat. Das hat sie aber nicht weiter aufgeregt.“

„Wissen Sie, wer sie belastet hat?“

„Nein, kann ich nicht sagen.“

„Hatte sie psychische Probleme, war sie depressiv?“

„Nun ja, sie hatte oft Sehnsucht nach Afrika und wurde dann ein kleinwenig schwermütig. Aber das ging schnell vorbei.“

Hauptkommissar Schneider bat den Anwalt, sich für weitere Fragen bereit zu halten, er versprach Diskretion und beschloss, die Ergebnisse der medizinischen und toxikologischen Untersuchungen abzuwarten. Fünf Tage später wurden ihm die Befunde vom gerichtsmedizinischen Institut per E-Mail mitgeteilt. Der Tod der Frau Achebe sei vermutlich durch spontanes Herzversagen eingetreten, es gebe keinen Hinweis auf Fremdeinwirkung und kein Nachweis für toxische Substanzen. Der Kommissar beschlagnahmte die persönlichen Gegenstände der Verstorbenen und übergab sie dem Anwalt zur weiteren Veranlassung. Die Staatsanwaltschaft gab den Leichnam frei, drei Tage später wurde Frau Achebe auf dem Südfriedhof beerdigt. Am Begräbnis nahmen der Anwalt, der Hauptkommissar und vier farbige Frauen teil. Ein evangelischer Pfarrer hielt eine kurze Trauerrede und leierte das Vaterunser herunter. Der Himmel bezog sich mit dunklen Wolken und Regentropfen fielen. Der Beamte und der Anwalt verließen eiligen Schrittes und schweigend gemeinsam den Friedhof. Am Haupteingang stießen sie auf die sauber und frisch gekleideten afrikanischen Frauen, die miteinander lebhaft schwatzten. Der Anwalt wendete sich an sie: „Entschuldigen Sie, ich möchte Sie zu einem kleinen Imbiss einladen. Das ist bei uns so Brauch.“

Die Angesprochenen verstanden ihn nicht. Er wiederholte sich auf Englisch und wies auf ein kleines Restaurant gegenüber dem Friedhof. Die Frauen zeigten sich leicht irritiert, nahmen aber seine Einladung dann doch lächelnd an. Herr Schneider und Dr. Hermann gingen der Gruppe voraus. Der Kriminalbeamte überlegte, warum der Anwalt kein Wort des Schmerzes, des Bedauerns oder der Trauer äußerte. Der Anwalt fragte: „Herr Schneider, die Staatsanwaltschaft hat das Ermittlungsverfahren eingestellt; was bewegt Sie, am Begräbnis einer Ihnen unbekannten Frau teilzunehmen? Es ist ungewöhnlich.“

Die Antwort des Kommissars enthielt Schärfe. „Ja, es ist ungewöhnlich. Ich glaube nicht an eine natürliche Todesursache.“

„Und jetzt sind Sie auf der Pirsch?“

„Ja.“

Die kleine Trauergemeinde setzte sich in der Gaststätte an einen Tisch, schwieg und suchte Ruhe und Sammlung. Unter der Wirkung von Aperitifs, Wein und einem Dreigangmenü lockerte sich allmählich die Stimmung. Der Kommissar hielt schließlich den Zeitpunkt für gekommen, seine Fragen zu stellen. Er wandte sich an eine Dame mit schwarzen, zart umschatteten, träumerischen Augen.

„Ihre Begleiterinnen sprechen Sie mit Rosa an, woher kommen Sie?“

„Vom Asylheim. Da haben wir uns befreundet.

Wir sind Asylanten.“

„Und aus welchem Land kommen Sie?“

„Aus Nigeria.“

„Nigeria ist groß; aus welcher Gegend?“

„Meine Familie kommt weit aus dem Norden, aus Ibadan. Aber ich bin in Lagos zu Hause.“

„Was hat Sie aus Ihrer Heimat vertrieben?“

„Oh, Sie wissen nichts von Nigeria. Nigeria ist ein schlimmes Land. Ganz schlimm. Es gibt viele arme Leute und viel Hunger. Es gibt Banden, die überfallen und die Menschen ausrauben. Und Terroristen, die töten Christen. Man bekommt keine Arbeit und wir Frauen werden schlecht behandelt. Da werden Frauen entführt und die Stämme hassen sich. Wir wollen in Europa ein besseres Leben.“

„Und woher ist Adventa gekommen?“

„Aus Lagos, aus dem Viertel Endogu. Da habe auch ich gewohnt. Aber wir haben uns in Endogu nicht gekannt. Es ist ein großes Stadtviertel mit vielen Menschen. Und fast alle haben keine Arbeit.“

„Hat Ihnen Adventa erzählt, wo und wie sie dort gelebt hat?“

„Nein, sie sagte nur, dass ihr Elternhaus zwischen dem Meer und der Müllhalde steht. Und dass sie viele Geschwister hat und ihr Vater sehr früh verstorben ist.“

„Wie lange haben Sie Adventa gekannt?“

„Vielleicht ein halbes Jahr, dann ist sie fortgegangen. Eine weiße Frau hat sie abgeholt.“

„Was können Sie mir von Adventa erzählen, was für ein Mensch war sie?“

„Sie hat immer Spaß gemacht und hatte immer etwas zu tun. Sie hat viel gesungen und hat viel getanzt, sie kannte viele Lieder in unserer Sprache auswendig. Sie hat uns geholfen, wo sie konnte, denn sie sprach gut Deutsch.“

Der Kommissar wandte sich der Nachbarin zu.

„Und Sie?“

„Ich bin eine Ibibio. Ich heiße Florence.“

„Es ist ein schöner Name. Ihr Stamm liegt weit im Süden von Nigeria. Was hat Sie nach Deutschland verschlagen?“

Florence lachte und malte fast schwärmerisch aus:

„Es ist eine lange Geschichte. Ich war noch klein, vielleicht fünf oder sechs oder sieben Jahre alt. Da träumte ich, dass mir jemand ein Halsband umlegt, an dem sich ein großes Kreuz befindet. Das Kreuz lag auf meiner Brust, es war heiß und brannte sich in meine Haut ein. Ich wollte das Kreuz entfernen, aber es gelang mir nicht. Ich riss an dem Band, wollte es über den Kopf ziehen. Vergeblich. Als ich am frühen Morgen aufwachte sah ich, dass auf der Haut meiner Brust ein Kreuz sich eingeprägt hatte. Ich zeigte es meiner Mutter und sagte, dass ich nun eine Christin bin. Sie lachte mich aus. Ich hielt an meiner Überzeugung fest und kaufte mir später ein Silberkettchen mit dem Gekreuzigten als Anhänger. Meine Eltern schleppten mich zum Ahnenpriester, der sagte, ich sei verhext. Er beschwor mich, reinigte mich mit dem heiligen Wasser und bestrich mein Mal mit Salbe aus den Gebeinen der Ahnen. Mein Mal blieb. Es wurde mein Makel. Ich wurde in unserem Dorfe geächtet und hatte deshalb nur noch den Wunsch, bei den Christen in Europa leben zu dürfen. Und deshalb bin ich hier. Sehen Sie selbst!“

Florence öffnete ihre Bluse, dem Kommissar boten sich zwei kleine, feste Brüste dar, zwischen denen an einem Silberkettchen ein Kruzifix angeschmiegt lag. Florence schob das Kreuz beiseite, darunter wurde auf der dunklen Haut deutlich weißgezeichnet das christliche Symbol sichtbar. Der Kommissar reagierte verlegen.

„Es ist fast wie ein Wunder und ich wünsche sehr, dass Sie von den Christen in Europa nicht enttäuscht werden.“

Die Asylantinnen plauderten noch einige Zeit, dann bedankten sie sich und verließen aufgekratzt das Lokal. Dr. Hermann schaute ihnen nachdenklich nach.

„Herr Schneider, was nun?“

„Der Ball liegt bei Ihnen.“

„Bei mir?“

„Nun ja, jetzt wissen wir, Adventa kommt aus dem Stadtteil Endogu von Lagos und wir wissen, wo ihr Elternhaus zu suchen ist. Das ist ein Anfang. Ich kann und darf nichts von Amts wegen unternehmen. Sie müssen sich entscheiden, ob Ihnen die Aufklärung des Falls einige tausend Euro wert ist.“

„Haben Sie konkrete Vorstellungen, wie dabei vorzugehen ist?“

„Ja. Ich kenne einen sehr befähigten jungen Mann. Der ist aus der Kriminalpolizei entfernt worden, weil er bei einer Frau aus dem Milieu übergriffig geworden sein soll. Nun führt er Ermittlungen auf privater Schiene durch. Das ist ein schwieriger Job. Aber er wäre geeignet. Trotz seiner Vorgeschichte ist er sehr verlässlich und vertrauenswürdig. Er arbeitet auch sehr effizient. Er müsste in Lagos die Spur aufnehmen. Die Kosten tragen Sie.“

„Welche Erfolgsaussichten haben wir?“

„Die sind gering, vielleicht eins zu fünf.“

Dr. Hermann überlegte kurz. „Okay, ich zahle und Sie fädeln die Sache ein. Und die Sache bleibt zunächst unter uns.“

Max Siegel war 35 Jahre alt und von kleiner und schmächtiger Körperstatur. Er war fanatischer Langläufer und Kickboxer. Er betrieb seit drei Jahren eine Privatdetektei und hatte sich auf unaufgeklärte Tötungsdelikte spezialisiert. Er saß im Flugzeug und studierte den Stadtplan von Lagos. Das Hotel „Lagos Orientel Hotel“, in das er sich einquartiert hatte, liegt direkt am Niger. Der Jet flog vom Meer her den Airport von Lagos an. Der Himmel war wolkenlos und Max konnte beim Landeanflug die riesige Ausdehnung dieser Millionenmetropole erkennen. Als er nach der Landung dem Flugzeug entstieg, flog ihm eine feuchte Hitze entgegen, die Lufttemperatur mochte bei 32° Celsius liegen, die Luftfeuchtigkeit bei 90%. Es war hier Spätsommer und der Beginn der Regenzeit wurde in vier bis sechs Wochen erwartet. Max ließ die penible Passkontrolle über sich ergehen, er wartete mit Gleichmut am Transportband auf seinen Koffer und ließ sich dann mit einem Taxi zu seinem Hotel fahren. Sein reserviertes Zimmer war geräumig und bequem eingerichtet. Das Hotel verfügt über einen Außenpool und einen Fitnessraum. Es wird vor allem von risikofreudigen Touristen belegt, die eine Pauschalreise gebucht haben und sich von ihrem Urlaub versprechen, afrikanische Lebensart und das Land kennenzulernen. Die Stadt selbst ist ein Moloch, der alle Individualität verschlingt, sodass in diesem Gemenge von Menschen aus aller Herren Länder sich Max unauffällig und frei bewegen konnte. In den ersten zwei Tagen seines Aufenthaltes besichtigte Max die Sehenswürdigkeiten von Lagos, wovon es allerdings nicht viele gibt. In Lagos wird englisch gesprochen, seine weiße Hautfarbe blieb unbeachtet. Am dritten Tage fragte er sich nach Endogu durch. Er benutzte dabei die öffentlichen Verkehrsmittel und tauchte nach zwei Stunden Busfahrt in eine Welt des Elends ein. Das Stadtviertel Endogu wird nur von Schwarzen bewohnt. Die Häuser sind klein, ebenerdig und schmutzig, die Straßen sind löchrig und mit Müll übersät. In den Nebenstraßen werden die Häuser von Wellblech- und Holzhütten abgelöst, auf provisorischen Gestellen oder auf Matten werden überall und an jedem Ort Obst, Fleisch- und Gemüsespeisen, Reisbällchen und Fischgerichte, gebrauchte Kleidung und Plastiksouvenirs angeboten. Die Bevölkerung scheint nur aus Kindern zu bestehen, die schreiend herumtoben, betteln, ihre Dienste anbieten. Max bemerkte, dass er mit seinem Outfit und seiner Hautfarbe Aufsehen erregte. Er spürte, wie ihn Augen aus allen Ecken folgten und beobachteten. Er verlor sehr bald die räumliche Orientierung und fragte wiederholt Passanten, in welcher Richtung die Mülldeponie liege. Er erhielt keine brauchbare Antwort. Man lachte, wandte sich von ihm ab oder hob bedauernd die Schultern und Arme. Schließlich entdeckte Max einen besser gekleideten jungen Mann, dem er sein Anliegen vortrug. Es entstand zwischen ihnen ein längeres Gespräch, in dem der Angesprochene sich bemühte, dem Europäer die Richtung und den Weg zur Müllhalde zu zeigen. Das Gespräch wurde von einem Polizeibeamten unterbrochen, der im barschen Ton Max aufforderte, ihm zur Polizeiwache zu folgen. Max widersprach nicht. Die Wache bestand aus einem schmuddeligen Raum und war möbliert mit einem Schreibtisch mit Stuhl und zwei Bänken, vor denen ein Tisch stand. Max wurde von einem älteren, grauhaarigen Herrn mit müden Augen begrüßt, der ihn mit einer Handgeste aufforderte, auf der Bank Platz zu nehmen.

„Darf ich Ihren Pass sehen?“

Max reichte ihm das Dokument.

„So, Sie kommen also aus Deutschland.“

„Ja.“

„Und was ist der Zweck Ihres Aufenthaltes?“

„Ich bin Tourist.“

„So, so. Und da treiben Sie sich ausgerechnet in Endogu herum und sprechen junge Männer an?“

„Ich suche eine Familie.“

„So, so. Wissen Sie, dass Homosexualität bei uns mit dem Tode bestraft werden kann?“

„Nein, das weiß ich nicht.“

„Ich muss Sie verhaften. Sie haben einen uns bekannten Schwulen angesprochen. Gehen Sie Ihrer Perversion in Deutschland nach, verschonen Sie uns damit. Wie viel Geld haben Sie ihm geboten?“

„Ich bin nicht schwul und ich habe ihm kein Geld angeboten. Ich bin aber bereit, eine Ordnungsstrafe zu zahlen.“