Verschwiegen und geheim - Siegfried Binder - E-Book

Verschwiegen und geheim E-Book

Siegfried Binder

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Beschreibung

Es werden zwei Familienchroniken erzählt, in der Liebe, Hass, Verzweifelung und Verbrechen die Protagonisten bestimmen. Im Lichtreich der Werte sind sie in ihr Dasein geworfen, in dem Mensch für alles verantwortlich ist, was er tut. Das Drama des Menschseins wird hier anschaulich vor Augen geführt.

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Seitenzahl: 151

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

Verschwiegen und geheim

Der Sturz des Adlers

Verschwiegen und geheim

1

Wie sehen wir uns? Wohin gehen wir? Was erwartet uns? Sind diese Fragen zu beantworten?

Wir träumen von verführerischen Früchten und begehren sie, rächen unsere psychischen Verletzungen, bestrafen unsere Widersacher und streben nach Macht, Reichtum und Bewunderung. Das sind unsere Wünsche, bunt ausgemalt in den Tiefen unseres Bewusstseins. Sprechen wir darüber? Nein, unsere Bedürfnisse bleiben verborgen, sind geheim und intim, nicht gedacht für fremde Ohren. Wir überspielen, unterdrücken, verdrängen, verleugnen sie und stauen sie auf. Doch irgendwann sprengen sie die Gitter unseres Gefängnisses, treten gewaltsam und brachial zu Tage. Der Boden wankt, auf dem wir stehen. Das Böse ist in uns und stets gegenwärtig, wir werden davon regiert. Wir ahnen es. Dumpfe Angst und existentielle Furcht bestimmen deshalb unser Dasein. Wir fliehen vor uns in Tagträumereien und ignorieren, dass wir auf einem ausgelaugten, verseuchten und verödeten Planeten leben. Wir hoffen auf eine bessere Zukunft und finden aus dem Niedergang nicht heraus. Wie auch, wo wir Meister im Verleugnen unseres Soseins sind und uns nicht selbst ändern. Wir zünden Lichter an im gelebten Dunkel und meinen, es sei die Sonne. Es leuchtet auf, es leuchtet auf, es leuchtet auf der Fortschritt, so der Glaubensschrei. Und werken zugleich daran, dass die Meeresverschmutzung, die Erhitzung der Atmosphäre, die Resourcenausbeutung, die Überbevölkerung zunehmen und unsere Erde bis zum Ende und zum urigen Anfang treibt, so wie es geschrieben steht: Die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Flut und der Geist schwebte über dem Wasser. Der Mensch besinnt sich nicht, er bleibt derselbe und produziert unverdrossen Schimären. Er tötet und vernichtet wie in Vorzeiten. Er versinkt im selbstgeschaffenen Morast und redet sich ein, er befinde sich im Garten Eden. Rechts der Baum der Erkenntnis, links der Baum des Lebens. Die vererbte Welt zerfällt, Adam aber schaut beglückt zu, denn die neue Welt hat die künstliche Intelligenz hervorgebracht mit einmaligen Ideen. Grämt euch nicht, vertraut darauf. In Wirklichkeit ziehen diese Ideen den wetterwendischen Wolken hinterher und gehen von einem Tag zum anderen im Vergessen unter. Hoffnung und Scheitern liegen im gleichen Bett. Es ist das Glück des Blinden, wenn er in seiner Dunkelheit die Vision hat, Farben zu sehen. Wenn der Vorhang sich lichtet, folgt der zärtlichen Nacht das böse Erwachen am frühen Morgen. Ein Blick aus dem Fenster unseres Daseins genügt zu erkennen, dass wir keine neuen Kleider tragen, wir dreschen noch immer leeres Stroh. Es fehlt der Samen, der uns eine neue Ernte verheißt und einen neuen Menschen.

2

Die Sonne schien, die Bäume färbten sich rot, braun, ocker oder gelb. Friedrich, im Alltag Fritz gerufen, radelte frohgemut durch den Park, genoss den milden Herbstwind und war voller Glückseligkeit. Er hatte vor wenigen Stunden die Nachricht erhalten, dass er das Architekturstudium bestanden hatte. Er empfand die Schönheit der Welt, ihren Anblick und ihre Harmonie körperlich sinnlich nahe. Die Zukunft stand ihm offen. Was er sich erwünscht hatte, war ihm durch Fleiß zugefallen. Er hatte das Diplom mit sehr gut bestanden, was ihn mit Stolz erfüllte, er aber verschwieg. Wer nichts hat, lernt sich zu bescheiden. Er war in einer Arbeiterfamilie aufgewachsen, in der jeder Euro zählte. Er träumte viel und malte sich in seiner Fantasie das Begehrte aus. Zum Beispiel den fliegenden Teppich, der ihn an jeden Ort der Erde seines Wunsches brachte. Dann wanderte er durch Wüsten und erklomm die höchsten Berge, besichtigte Tempel und Ruinen vergangener Zeiten, war reich und mächtig. Jetzt, wo er die Sprungschanze der höheren Bildung verlassen hatte und Höhenluft ihn trug, wagte er, die kühnsten Vorstellungen zuzulassen. Er hatte große Pläne, gab sich seinen Fantasien hin und pfiff dabei den neuesten Schlager vor sich hin. Wie schön war die Welt! Er nahm seine Hände vom Lenker des Rades und fuhr mit dem Körper die Balance haltend auf dem schmal gehaltenen Weg des Parks. Er hörte noch, wie eine Mädchenstimme laut, aber vergebens rief:

„Tonja, nein, nein, hierher, komm hierher! Hierher!“

Der Hund sprang ihn an und Friedrich fiel seitlich auf die Erde. Der Hund schien begeistert von seinem Spielgenossen zu sein, tollte um ihn herum und leckte ihm im Hin und Her bei günstiger Gelegenheit eifrig das Gesicht ab. Noch in Abwehr gefangen, konnte Friedrich zwei weibliche Beine vor sich sehen. Er blickte auf und sah in ein erschrockenes Gesicht. Ihre Augen waren aufgerissen und ihre Pupillen geweitet. Sie beugte sich nieder und half ihm aufzustehen.

„Haben Sie sich weh getan?“

Welch eine Frage, wo sie doch sah, dass er blutete. Sie schimpfte: „O Tonja, Tonja, was hast du gemacht.“ An Friedrich gewandt: „Tonja, mein Hund, ist noch jung und sehr verspielt. Sie ist nicht bissig. Entschuldigen Sie, bitte, entschuldigen Sie. Es war meine Schuld. Ich habe sie nicht an der Leine geführt, es war meine Schuld. Oh, Sie bluten im Gesicht.“

Sie griff in ihre Manteltasche, holte ein Tempotaschentuch heraus und tupfte damit das Blut im Gesicht von Friedrich ab, vorsichtig und behutsam. Es war wohl das Beste, was sie tun konnte. Er hielt still und betrachtete sie bei ihrem Tun.

Sie stellte fest und fragte im gleichen Atemzug: „Sie sind verletzt. Tonja hat sie nicht gebissen, es war der Sturz. Ist es vielleicht besser, wenn ich einen Krankenwagen rufe?“ Er fand zur Sprache zurück. „Nein, die Wunde ist nicht der Rede wert. Machen Sie sich keine Vorwürfe, auch ich bin am Unfall schuldig. Ich bin freihändig gefahren. Mut macht blind.“

Er lachte gekünstelt und ergänzte:

„Sprichwörter treffen genau. Hochmut kommt zum Fall! Aber ein weiteres Sprichwort behauptet, dass aller Segen von oben kommt.“

Er schaute sie prüfend an, ob er nicht zu viel gesagt hatte.

Sie prustete los, ihr Gesicht entspannte sich und sie feixte: „Nein, nein. Ein gebranntes Kind scheut das Feuer. Merken Sie sich das! Und das Gegenteil: Jeder ist seines Glückes Schmied. Und mir fällt noch ein weiteres Sprichwort ein. Warum in die Ferne schweifen, sieh, das Glück, es liegt so nah!“

Ihr Gesicht lockerte sich und sie lächelte. Er schüttelte seinen Schmerz ab wie Tonja das Wasser, starrte sie an und konnte sich an ihr nicht satt genug sehen. Ihr Gesicht wurde eingerahmt von rotblonden, gelockten Haaren. Ihre Augen strahlten blau, die Nase war edel geschwungen, ihr Mund schien ihm wie eine lichtrote Rose in der Blüte. Sie machte ihn befangen. Es war ein Zustand von Verwirrung und Beglückung, den er angesichts eines schönen Mädchens immer hatte. Er überlegte, was konnte er ihr sagen? Er wollte sie kennenlernen und brachte doch kein weiteres Wort hervor. Er fühlte, dass seine Stimmung wechselte, die er noch vor wenigen Momenten hatte und ihn jetzt lähmte. Ihn ergriffen jene unfassbaren und absurden Gefühle, die ihn sein bisheriges Leben lang begleitet hatten. Es war eine unbestimmbare Angst, die sein Dasein verdunkelt hatte. Sie war stets da, wo er sich akzeptiert und doch anders behandelt fühlte. In solchen Situationen wie der jetzigen glaubte er, dass er gemieden und als bedeutungslos angesehen werde. Die flüchtige Augenweide der weiblichen Schönheit machte ihn hilflos und er wünschte sich ein Mittel, das ihn mit einem Schlag von seiner Schüchternheit heile. Sein Komplex hatte ihn jedoch auch gegenwärtig fest im Griff. Ihn ergriff eine unverständliche irrationale Furcht. Er hob sein Fahrrad hoch und stammelte:

„Es ist alles gut, alles gut, grüß Gott!“

Er schwang sich auf sein Rad und preschte davon. Sie verfolgte ihn mit Blicken und dachte irritiert: „Verrückter Kerl, habe ich etwas Falsches gesagt?“

Friedrich ging das Gesicht der Fremden nicht aus dem Kopf. Er stellte sich ihre großen, runden und ausdrucksvollen Augen vor, die kleine Nase, die vollen Lippen und die hohen Wangenknochen. Ihre Attraktivität zog ihn unwiderstehlich in den Park. Er fuhr dort täglich mit dem Rad Runde um Runde in der Hoffnung, ihr zu begegnen. Tatsächlich traf er sie mit der angeleinten Tonja öfter an. Dann nickte er zum Gruß kurz mit dem Kopf und trat gleichzeitig kraftvoll in die Pedalen. Er wollte nicht, dass sie glaube, dass er ihretwegen im Freizeitgelände herumfahre. An einem Sonntag im November rief er seiner Mutter zu, dass er noch einige Kilometer radeln wolle. Sie verließ sich auf ihre Intuition und durchschaute ihn: „Ist es ein Mädchen? Grüß sie von mir!“ Sie schmunzelte und freute sich, denn sie wusste, dass er Mädchen gegenüber sehr gehemmt war.

Sie dachte, er ist alt genug, vielleicht klappt es. Er wich seiner Mutter aus:

„Ach Mama, Du kennst mich doch!“

Er schwang sich auf das Rad und fuhr wie so oft in der Hoffnung, die Unbekannte zu treffen, zur Parkanlage. Er spähte nach ihr, entdeckte sie nicht und übersah, dass sich die Wolken zusammenzogen. Es dunkelte, Windstöße kündigten ein Unwetter an.

Blitze und ferner Donner warnten, er aber suchte. Die ersten Tropfen fielen, er jedoch hoffte. Der Wind wurde zum Sturm, er gab seine Zuversicht nicht auf. Noch bevor er sich in Sicherheit bringen konnte, goss des Himmels Meer sich in Strömen auf die Erde nieder. Er suchte Schutz vor diesen Wassermassen und fand ihn notdürftig unter einem Baum. Der Fluss schwoll an, auf seiner Oberfläche tanzten Bläschen. Er vernahm ein Trappeln und sah, wie das Mädchen mit Tonja angelaufen kam. Sie war leicht bekleidet und völlig durchnässt. Sie stellte sich zu ihm, er zog seine Windjacke aus und legte sie um die unbekannte Fremde.

Sie sagte beklommen: „Danke. Ich heiße Rosa. Ich glaube, wir kennen uns. Welch ein fürchterliches Wetter!“

Das Wunder geschah, es war fast so finster wie in der Nacht. Er sprach in die Dunkelheit, er sah sie nur verschwommen. Der Mund wurde ihm geöffnet und wie das Wasser aus einem Quell quollen die Worte leicht aus ihm heraus. Er stellte sich vor und war in seinem Redefluss nicht zu bremsen:

„Mein Name ist Friedrich Banse, alias Eliam Löwenstein. Ich kam 1942 in einem kleinen Dorfe in Sachsen-Anhalt zur Welt. Mein Vater war der Dorfschuster. 1943 drangen SS-Soldaten zur Mittagszeit in seine Wohnung ein. Mein Vater sprach gerade das Mittagsgebet. Sie verhafteten ihn und zwei meiner älteren Brüder. Meine Mutter ahnte Böses und konnte mit mir in das gegenüberliegende Haus des Großgrundbesitzers Banse flüchten. Sie erwartete ein Kind, sie war im achten Monat schwanger und das Rennen fiel ihr schwer. Sie hielt mich an der Hand, ich war etwas über ein Jahr alt.

Die Soldaten verfolgten sie. Sie erreichte mit letzter Kraft das Haus Banse und trommelte ungestüm an deren Haustür. Der Anführer der Schergen brüllte, bleiben sie stehen oder wir schießen. In diesem Moment öffnete Frau Banse die Tür und zerrte meine Mutter in das Haus. Meine Mutter flehte sie an, um Christi willen, retten sie uns. Und Frau Banse zögerte nicht. Sie forderte meine Mutter auf, mich ihr zu geben. Meine Mutter hob mich auf und legte mich in ihre Arme. Der SS-Unteroffizier befahl, geben sie mir das Balg, es sind Juden. Frau Banse antwortete heftig, dass ich ihr Kind sei. Wenn er es haben wolle, müsse sie ihn erschießen.

Das machte ihn ratlos. Er drehte sich um und suchte wohl Rat bei seinen Soldaten. Die aber hielten den Kopf gesenkt. Da befahl er, wir nehmen die Frau des Schusters mit, das Kind ist das Kind des Großbauern. Es bleibt hier. Die SS-Männer ergriffen meine schlotternde Mutter und führten sie ab. Sie wehrte sich nicht. Meine Mutter, mein Vater und meine zwei Geschwister wurden ermordet.“

Friedrich hielt in seiner Erzählung kurz inne und das Mädchen bemerkte, dass seine Augen nass wurden und seine Stimme zitterte. Sie wurde von Traurigkeit erfasst und spürte den Regen und die Kälte nicht. Nach einer Weile fuhr er fort:

„Ja, so wurde Frau Banse meine Mutter. Alle Dorfbewohner wussten, wer ich war. Keiner verriet sie, keiner sprach sie darauf an. Auch ich erfuhr von meiner Herkunft nichts. 1946 wurde die Familie Banse von den kommunistischen Machthabern enteignet und wir flohen nach Westdeutschland. Mein Ersatzvater fand eine Anstellung bei der Firma Bayer. Als ich sechzehn Jahre alt wurde, händigte mir meine Mutter meine Geburtsurkunde aus und schilderte mir das Drama meiner Herkunft. Sie erzählte mir das Geschehen in allen Details. So wurde ich in ihre Familie aufgenommen. Es schockierte mich. Bis dahin wurde ich in der Familie als etwas Besonderes behandelt. Man verwöhnte mich und zog mich den anderen älteren Brüdern vor. Ich verhielt mich, als sei ich etwas Besonderes. Nun wurde mir von einer zur anderen Minute bewusst, dass ich ein Kuckuckskind bin. Man bemitleidete und bevorzugte mich deshalb. Fortan glaubte ich, dass ich nur aufgrund meines Schicksals die Vorzüge, den Schutz und die Liebe einer ehemals reichen und integren Familie genossen hatte. Als meine Ersatzmutter mir meine Rettung enthüllte, weinte ich und sie weinte auch. Sie nahm mich in ihre Arme und raunte mir unter Schluchzen zu:

„Gott hat Dich mir geschenkt, vergiss es nicht, Du bist ein Geschenk Gottes und ich bin Deine Mutter für alle Zeit. Du bist etwas Besonderes, der Allmächtige hat Dich von vielen Juden auserwählt.“

Ich nickte und schwieg. Dennoch quälen mich seit dieser Zeit Angst, Bedrohung und Gefühle der Demütigung. Ich fand mich im Dickicht meines finsteren Urgrundes nicht zurecht. Ich wusste nicht, wohin ich gehöre, zu den Verfolgern oder zu den Verfolgten. Ich durchlebte immer wieder in Vorstellungen, Träumen und Gedanken die Situation meiner leiblichen Mutter ohne sie zu kennen. Sie wird geschlagen, gefoltert, getötet. Ich sehe sie, ich höre sie, ich fühle sie. Sie fleht und schreit und bittet, ich bekomme ein Baby, tötet mich nach der Geburt, aber lasst das Ungeborene leben. Und dabei werde ich den Gedanken nicht los, warum habe ich überlebt und mein Geschwister nicht. Ich habe erkannt, es waren die Taten Satans und fürchtete mich insgeheim vor ihm. Frau Banse war furchtlos im Vertrauen auf Gott. Sie ist meine Mama, sie ist mir mehr als nur Ersatzmutter, sie ist der Geist, der mich trägt. Sie ist das warme Licht, das mich und die Welt erhellt und mich am Leben erhalten hat. Sie ist ein Kristall, hell und durchsichtig. Ihr Vorname ist Maria. Welch ein Götterspruch! Ich nahm ihretwegen mein Schicksal an, litt und tat, was man von mir verlangte. Und doch hat mich ihr Erzählung verändert. Ich verlor meine Lebensfreude, wurde gehemmt und fühlte mich oft verfolgt, obwohl es dafür keinen Anlass gab. Ich beschäftigte mich mit der Geschichte meines Volkes und erkannte, dass es die Vorsehung einer höheren Gewalt ist, die bestimmt, wie unser Leben verläuft, was uns gelingt und wann wir scheitern, wann wir sterben und ob wir im jenseitigen Leben aufgenommen werden. Unser Anteil daran besteht darin, dass wir die Gebote Gottes befolgen oder verwerfen. Nun habe ich Dir fast alles von mir gesagt. Nein, es ist nicht alles. Ich habe studiert und bin seit sechs Wochen Diplom-Ingenieur. Und jetzt fahre ich Dich nach Hause. Setze Dich auf die Stange, fürchte Dich nicht, ich falle nicht immer vom Rad.“

Rosa lächelte ihn an und war den Tränen nahe. Es vermischten sich bei ihr Mitleid und Scham. Auch sie hatte auf Demonstrationen gerufen, mein Bauch gehört mir und sich damit solidarisch mit jenen Christen erklärt, die den Nichtgeborenen das Leben verweigern. Sie äußerte leise: „Du sprichst wunderschön, Du hast mir Erkenntnis gebracht. Ich bin gerührt, meine Gefühlte sind aufgeputscht.

Ich vertraue Dir und weiß nicht warum.“ Beide kamen nach wenigen Minuten zu ihrem Elternhaus. Sie gab ihm seinen Mantel zurück und sagte mit feinem Spott:„Welch wunderbares Wetter. Der Himmel hat uns gesegnet. Sehen wir uns wieder?“Da kroch die Angst in ihm wieder hoch. Ohne zu antworten schwang er sich auf sein Fahrrad und schrie beim Wegfahren, um seine Angst zu übertönen: „Ja, ja, ja. Rosa, ja, wir sehen uns wieder.“ Sie vernahm seine letzten Worte nicht und war sich dennoch sicher, dass das Liebesband zu ihm geknüpft war.

Sie trafen sich öfter im Park, stellten sich schließlich ihren Familien vor. Rosas Vater arbeitete Schlosser, die Mutter war Hausfrau, sie hatten drei Kinder. Glaubensfragen wurden in dieser Familie nicht diskutiert. Rosa hatte den Beruf einer Krankenschwester ergriffen, war zweiundzwanzig Jahre alt und ihre Eltern waren nicht überrascht, dass sie heiraten wollte. Sie hatten auch keine Einwände, als Friedrich alias Eliam vorschlug, die Hochzeit nach jüdischen Ritus zu zelebrieren. Friedrich und seine Familie waren über die Verbindung hocherfreut, denn ein eheloser Mensch gilt nach jüdischer Auffassung als unvollkommen. Nachkommen zu zeugen ist ein göttliches Gebot. Friedrich verstand sich innerlich als Jude. Er konsultierte mit Rosa den nächstgelegenen Rabbiner und bat ihn zu überprüfen, ob nicht Ehehindernisse gegen die geplante Heirat sprächen und an welchem Tag die Trauung stattfinden solle. Der Sabbat und jüdische Festtage kamen nicht infrage.

Die Zeremonie wurde einverständlich auf einen Dienstag festgelegt und sollte im Freien im Park stattfinden, um Gottes Segen für die Ehe vom Himmel ungehindert empfangen zu können. Die Braut und der Bräutigam erschienen an diesem Tage ganz in Weiß gekleidet, die Braut hatte ihr Gesicht als Zeichen der Unschuld und der Reinheit verschleiert, der Bräutigam trug eine weiße Kippa. Ein Baldachin war unter dem Baum aufgebaut, unter dem sich die Brautleute nahe gekommen waren. Die Familienangehörigen und drei junge Männer hatten sich unter der Chuppa versammelt. Der Rabbiner sprach die Heiligung und die Angelobung aus, füllte einen Becher mit Wein, segnete die Brautleute und ließ sie den Wein aus dem Becher gemeinsam trinken. Eliam steckte danach den Ehering an den Zeigefinger der rechten Hand von Rosa und sprach auf aramäisch die Worte: Du bist mir durch diesen Ring angelobt entsprechend dem Gesetz von Moses und Israel. Damit war die Ehe geschlossen. Der Rabbiner las laut und vernehmlich den Ehevertrag vor. Eliam habe seine Frau zu ehren, für sie zu sorgen und ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Sie sei verpflichtet, ihm treu ergeben zu sein und den gemeinsamen Haushalt nach besten Können zu versorgen. Nun sprach der Rabbiner sieben Segenssprüche aus, die Jungvermählten tranken nochmals aus einem Weinglas und der frisch vermählte Ehemann zertrat mit dem Fuß dieses Glas. Die Zeremonie war damit beendet, eine kleine Kapelle spielte auf, Geschenke wurden überreicht und mit Tanz, Gesprächen und Witzen