Gefangen im Netz der Macht - Siegfried Binder - E-Book

Gefangen im Netz der Macht E-Book

Siegfried Binder

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Beschreibung

Hubert, ein Dorfjunge, strebt nach Macht und Ruhm. Sein Ehrgeiz treibt ihn an, gefährliche Risiken auf sich zu nehmen und verstrickt ihn wider Willen in kriminelle Machenschaften der politischen Kaste.

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Seitenzahl: 181

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Die Handlung dieser Erzählungen sowie die darin vorkommenden Personen sind frei erfunden, eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Begebenheiten und tatsächlich lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

I

Die Geschichte beginnt in Göhrendorf, einem Ort, der bis 1946 etwa sechshundert Einwohner hatte, und im alten Kreis Querfurt in Sachsen- Anhalt angesiedelt ist. Ehemals waren dort zwei Großbauern mit prächtigen Häusern und Höfen und etwa zwanzig kleine und mittelgroße Bauern mit ihren Familien ansässig, deren Häuser und Stallungen festungsartig durch hohe Mauern und eisenbeschlagene Tore gesichert waren. Und so waren auch die Menschen. Misstrauisch, abweisend, verschlossen. Sie traten grobschlächtig auf und schienen gemütsarm zu sein. Sie alle lebten von der Landwirtschaft. Die Löss-Schwarzerde mit ihrem hohen Ertragspotential hatte im Laufe der Zeit den Bauern einen bescheidenen Wohlstand beschert. Die Landschaft ist flachwellig, die höchste Erhebung in dieser Gegend ist der Barnstädter Huthügel mit 244 m über Normalhöhe. Die meisten Gehöfte lagen in der Zeit, von der hier zunächst berichtet wird, an der gepflasterten Hauptstraße, so auch das Gemeindebüro und das für damalige Verhältnisse imposante Schulgebäude. Der zweite Weltkrieg hatte auch hier Wunden geschlagen und Leid hinterlassen.Und nun, nach dem Kriegsende, fielen sie wie Heuschrecken ein. Die Vertriebenen, vor allem aus Schlesien. Es waren überwiegend Mütter mit ihren Kindern, Alte und Kranke. 327 Seelen. Ausgezehrt, misshandelt, missbraucht, Angst und Entsetzen der Vertreibung noch ins Gesicht geschrieben. Die Schreckensbilder hatten sich bei den Kindern tief in ihre Seelen eingegraben. Erst im hohen Alter dieser Menschen wurden die Bilder ihrer Vertreibung wieder lebendig und sie wagten es, sie aus den dunklen Gräbern des Verschweigens an das Licht des Tages zu heben. Da lag die Zeit ihrer Kindheitserlebnisse hinter allen sieben Bergen und was sie zu erzählen hatten, hörte sich an wie ein Märchen aus vergangener Zeit. Jetzt aber galt es für die Erwachsenen, das Leben zu sichern. Sie besaßen so gut wie nichts und litten unausgesprochen unter der Schuld, sich die räuberischen Eroberungspläne der Nazis zu eigen gemacht zu haben. Die Einheimischen sollten das Wenige, das ihnen verblieben war, mit den Ankömmlingen teilen, ihnen Brot geben und Unterkunft gewähren. Das ging nur mit Zwang. Dabei fielen böse Worte und das verstärkte gegenseitige Ablehnung und Feindschaft.

Frau Kröne wurde mit ihren zwei Kindern Hubert und Horst bei einem Bauern in eine Abstellkammer mit einem Tisch und einem Kanonenofen gezwängt. Sie schliefen auf Strohsäcken und waren dankbar dafür. Der Bauer gab ihr und den Kindern zu essen, sie arbeitete für ihn als Magd und wechselte bald als Arbeiterin in den Braunkohlebergbau nach Mücheln. Am 14.01.1944 hatte man ihr unter der Feldpost-Nr. 44 427 K mitgeteilt, dass ihr Mann durch hinterhältige Minenverlegung der Banditen auf der Straße von Glinno nach Dokchyze am 12. Januar 1944 im Kampf um die Freiheit Großdeutschlands in soldatischer Pflichterfüllung, getreu seinem Fahneneid für Führer, Volk und Vaterland, gefallen sei. Sie glaubte nicht daran und hielt die Todesmitteilung zeitlebens für einen Irrtum.

Hubert war acht Jahre alt, Horst sieben. Auf der Flucht hatten sie gelernt, wie man das eigene Überleben organisiert. Die Gutsbesitzer von Göhrendorf waren auf Befehl der sowjetischen Militäradministration enteignet und kaserniert worden; der von Hochheim wurde kurzer Hand von den neuen Herren erschossen. Wenig später stellte sich das als Versehen heraus, denn er war aktives Mitglied des Widerstandskreises gegen das NS-Regime um von Stauffenberg gewesen. Man machte aus der Erschießung kein großes Aufsehen, entließ seine Familie als Wiedergutmachung umgehend aus dem Internierungslager, die sich auch sofort in den Westen absetzte. Hubert und Horst nutzten die Gelegenheit und plünderten deren verlassenes Anwesen, wie es andere auch taten und eigneten sich begehrenswerte Dinge wie Malstifte, Murmeln und Brettspiele an. Die Erwachsenen bevorzugten nützlichen Hausrat. Der aufgeschweißte Tresor war zur Enttäuschung der Plünderer leer. Den Vorbildern nachahmend, stahlen Krönes Buben von den Bauern Eier, Früchte, Feuerholz und holten, wenn es dunkelte, aus den Taubenschlägen die flügge gewordenen Jungtiere. Mutter Kröne schwieg dazu, briet die Täubchen, ohne Fragen zu stellen. So genossen die Knaben den “Vorteil“, keinen Vater zu haben, der sie bei Fehlverhalten hätte bestrafen können und eine Mutter, die von morgens bis abends beim Bauern schwer arbeitete und Erziehungsaufgaben nur eingeschränkt wahrnehmen konnte. Die Kinder lebten nach eigenen Gesetzen. Schlossen sich einer Gruppe von älteren Jungen an, von denen die meisten ungepflegt, schlecht genährt und ausgezehrt waren, die aber der Clique des Nachbardorfes den Krieg erklärt hatte und sich mit ihr wilde Schlägereien lieferte. Im Nahkampf bewarf man sich mit Steinen und schlug mit Fäusten, Latten oder Eisen aufeinander ein. Man schoss mit aufgelesenen Handfeuerwaffen, die von den fliehenden deutschen Soldaten in Gräben, in den Dorfteich oder auf die Müllhalde geworfen worden waren, im Wäldchen auf Bäume und andere Ziele und hatte großen Spaß daran. Sie versteckten sich in einer abseitigen, halbverfallenen Knechtskate, schmiedeten dort die nächsten Räubereien, rauchten heimlich getrocknete Blätter und vergnügten sich mit gefährlichen Experimenten. Was sollte aus diesen Verwilderten nur werden? Anständige Bürger, die sich dem Recht unterordnen? Niemals.

Viele Erwachsenen klagten darüber und sahen für die Zukunft schwarz.

Das ungezügelte Treiben der Nachkommenschaft erstreckte sich über ein halbes Jahr und fand sein Ende, als ein Junge eine Handgranate zündete, zu spät fortschleuderte und ihm dabei der rechte Arm abgerissen wurde. Die Erwachsenen erschraken gewaltig und sorgten dafür, dass von einem Tag zum anderen zum Leidwesen der Kinder Recht und Ordnung im Gemeinwesen durchgesetzt wurde. Sie mussten frühmorgens zur Schule, hatten in der kalten Winterzeit ein Brikett oder ein Scheit Holz mitzubringen, damit der Klassenraum geheizt werden konnte. Mittags nahmen sie durchweg an der Schulspeisung teil. Nachmittags wurden fast alle Schüler für landwirtschaftliche Arbeiten eingesetzt. Je nach Jahreszeit zum Schnee schippen, Rüben ziehen, Gänse hüten, Garben binden, Kartoffeln lesen, ausmisten.

Hubert war ein bestimmender, aktiver und zupackender Junge, Horst war in seinem Wesen zurückhaltend, besonnen und verträumt. Wenn Städter ins Dorf kamen, um bei den Bauern gegen Schmuck, Kunst oder Weißware Kartoffeln, Mehl, Getreide, Wurst oder Schinken einzutauschen, ertrug er das Bitten und Flehen dieser Menschen nicht. Er versteckte sich. Hubert dagegen stand mit einem Handwägelchen bereit, für eine Reichsmark Lasten wie Kartoffeln oder Getreide für die erfolgreicheren “ Bettler“ aus der Stadt zum Bahnhof zu fahren.

II

Im Dorf arrangierte man sich mit der Zeit mit den neuen politischen Gegebenheiten. Das Leben fand zu einem geregelten Lauf zurück. Unruhe kam auf, als den Erwachsenen Fragebögen vorgelegt wurden, die sie mit ja oder nein zu beantworten hatten. Zunächst wurden die Personalien abgefragt und dann wurde penibel nach kritischen Daten geforscht:

Waren Sie eingeschriebenes Mitglied der HJ?

Waren Sie eingeschriebenes Mitglied der NSDAP?

Waren Sie bei der SS oder der SA aktiv tätig?

Waren Sie während der Nazizeit politisch engagiert?

Falls ja, sind Sie zur Mitgliedschaft gezwungen worden?

Haben Sie sich offen oder verdeckt am antifaschistischen Widerstand beteiligt?

Sind Sie während des 3. Reiches aufgrund Ihrer politischen Überzeugung verfolgt worden?

Sind Sie Mitglied oder Sympathisant der KPD oder der SPD?

Begrüßen Sie die Befreiung vom Faschismus durch die Rote Armee?

Sind Sie bereit, am Aufbau eines demokratischen Deutschlands mitzuwirken?

Es gab noch viele weitere Fragen, die die Dörfler beantworten mussten. Jeder log, so gut er konnte, keiner wurde denunziert. Alle atmeten auf, als veröffentlicht wurde, dass es im Dorfe zwar Mitläufer, aber keine überzeugten Nazis gegeben hatte und alle Bewohner als entnazifiziert eingestuft worden seien. Von den Einheimischen konnte sich auch kein Mensch an faschistische Umtriebe erinnern, von den braun getönten Volksfesten und Feiertagsreden abgesehen. Im Grunde sei jeder im Inneren Antifaschist gewesen. So verwunderte es auch niemanden, dass sich der ehemalige Parteisekretär der NSDAP als geheimer Widerstandskämpfer offenbarte und zum Bürgermeister des Ortes berufen wurde. Er führte ein strenges Regime ein und zeigte sich unnachsichtig gegenüber antisowjetischen und revisionistischen Tendenzen im dörflichen Bereich. Zwar munkelte man im Dorfe so manches Zweifelhafte über ihn, was ihm aber keinen Schaden antat. Im Gegenteil. Der Zulauf zur KPD und der wohlgelittenen SPD war groß. Zur ersten Amtshandlung des Bürgermeisters gehörte, dass er eine Dorfversammlung einrief mit der Absicht, das träge Volk in Schwung zu bringen und für die neue Zeit zu begeistern. Er war klein und dünn mit einem gewaltigen Bierbauch, stellte sich deshalb auf ein Podest und rief mit piepsiger Stimme aus aller Kraft:

„Liebe Volksgenossen, ich begrüße Euch zur ersten Zusammenkunft der Einwohner von Göhrendorf nach der Befreiung vom Faschismus durch die siegreiche Sowjetarmee und ihren genialen Führer Stalin. Er lebe hoch, hoch, hoch.“

Er streckte seine Arme in die Höhe, doch kein Zuhörer tat es ihm gleich. Ohne den Mut zu verlieren, fuhr er fort: „ Ihr seid jetzt frei von den Fesseln der Knechtschaft. Unsere Neubürger aus Schlesien und Ostpreußen konnten der Ausbeutung und Herrschaft der Junker entrinnen und sind zu uns gekommen, um gemeinsam mit allen demokratischen Kräften ein neues Deutschland aufzubauen. Sie werden das Land der enteigneten Gutsbesitzer erhalten, 25 ha pro Familie, ohne Ausbeutung fürchten zu müssen. Es lebe die Freiheit, es lebe die Gerechtigkeit, es lebe der freie Bauer auf seiner eigenen Scholle, es lebe das neue Deutschland.“

Er hielt inne und wartete auf den Beifall seiner Zuhörer. Aber nein, kein Bravo, kein Zuruf, kein Händeklatschen. Welch stumpfsinniges Volk. Wie konnte man dieses Landvolk wachrütteln und aus seiner Lethargie reißen? Da sah er eine rote Fahne, ergriff sie, schwenkte sie weit ausholend über seinen Kopf und stimmte mit hoher Stimme mangels einer neuen, die alte Nationalhymne an: „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt...“ Die Versammelten blieben still, er fühlte alle Augen auf sich gerichtet. Er unterbrach seinen Gesang nach der Strophe „ Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt.“ Gelächter brandete auf und ihm dämmerte, dass er etwas falsch gemacht hatte. Er verkündete flugs, die Kundgebung sei beendet. Immerhin. Die Vertriebenen erhielten nach wenigen Wochen das versprochene Ackerland, bauten sich in Eigenregie kleine Häuser und lebten fortan wie die ansässigen Dorfbewohner im Wechsel der Jahreszeiten und im Rhythmus von Arbeit, Liebe und dörflicher Geselligkeit. Sie ließen gleichgültig die sozialistischen Parolen über sich ergehen, erfüllten murrend das auferlegte Ablieferungssoll für ihre landwirtschaftlichen Produkte und hintergingen wie zu allen Zeiten listig die staatlichen Eintreiber. Klagten über Missernten, bunkerten Getreide und schlachteten in aller Heimlichkeit ihre Schweine.

Im Leben von Hubert gab es nur wenige aufregende Ereignisse. Der Unterricht an der Volksschule wurde von einem Altlehrer und drei Junglehrern bestritten, die nicht älter als neunzehn Jahre und politisch unbelastet waren und in einem halbjährigen Schnellkurs ihre pädagogische Qualifikation erlangt hatten. Ihnen fehlte zwar fachliches Wissen und praktische Erfahrung, aber ihr pädagogisches Engagement und ihr politisches Bewusstsein kompensierten ihre Defizite, von denen Hubert sehr bald ein Lied singen konnte. Als sich vier Jahre nach Kriegsende Kommunisten und Sozialdemokraten zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands brüderlich vereinigten, trat die Lehrerschaft solidarisch der neu gegründeten Organisation bei und vermittelten den Kindern mit Pathos die Weltsicht der neuen Obrigkeit. Wir lernen von der siegreichen Sowjetunion unter Führung des großen und genialen Stalin, die klassenlose Gesellschaft zu errichten, um den Menschen ihren Zukunftstraum von Wohlstand und Glück zu erfüllen. Im kapitalistischen Westen werden die Menschen unterdrückt, ausgebeutet und in einen neuen Krieg geführt. Seid wachsam. Der Sozialismus wird siegen, der Kapitalismus wird untergehen. Horst war von den geschilderten Widersprüchen von Reichtum und Armut, von Herrschaft und Knechtschaft, von Prassertum und Hungerleid im kapitalistischen Westen Deutschlands beeindruckt. Er und sein Bruder gehörten zu den Wenigen, die im Sommer barfuß und im Winter in Holzklotschen herumliefen, die sich von Kleiderspenden beschämt fühlten und in Jutesäcken ihre Schulbücher transportierten. Horst übernahm das Ideal einer zukünftigen kommunistischen Gesellschaftsordnung in sein Denken und das mit Herzensglut.

Ganz anders Hubert. Intelligent, kritisch und weltoffen, gesellte er sich frühzeitig zu den Unbotmäßigen und Aufsässigen. Die Mutter ermahnte ihn oft, er versprach Wohlverhalten und sie glaubte ihm und seinem treuherzigen Lächeln. Seine blauen Augen blickten sanft und freundlich, selbst wenn er widersprach. Er hinterfragte alles und vertrat, Gott weiß warum, unverhohlen konservative Überzeugungen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Liebe deinen Nächsten, vergib und tue Gutes, sei barmherzig. In ihm brannte die Sehnsucht, eines Tages gut beschuht und schön bekleidet zu sein. Von Natur begnadet, schien es undenkbar, dass sich seine Grundhaltung verändern könnte. Weil er sich geweigert hatte, den Schüler zu benennen, der mit einem Ball versehentlich eine Fensterscheibe der Wohnung eines Lehrers eingeworfen hatte, erhielt er fünfzehn Rutenhiebe, eine durchaus übliche, im Dorf allgemein akzeptierte, wenn auch sehr harte Strafe. Schläge hätten noch Keinem geschadet, aber Jedem das Gewissen geschärft. Bei der Strafprozedur wuchs mit jedem Hieb Huberts Überzeugung, dass es Unrecht sei, mit Gewalt den Widerstand eines Menschen zu brechen. Fortan beobachtete er mit seinen großen Augen still seinen Strafvollstrecker, Lehrer Schindel. Herr Schindel unterrichtete Russisch und Mathe. Hubert und Horst waren in Schlesien mit einer russischen Magd aufgewachsen, für die Buben eine zweite Mutter, die mit ihnen nur Russisch sprach. Herr Schindel war selbst noch Lernender und seinen Schülern in Russisch nur zwei Lektionen des Lehrbuchs voraus. Wenn er einfachste Sätze in Deklination, Konjugation oder Betonung falsch vorsprach, wiederholte sie Hubert korrekt. Das versetzte Schindel in Missmut und Zorn und er begann, Hubert zu schikanieren. Als Hubert auf die Lehrbuch bezogene Frage, wer das Fenster geöffnet habe, antwortete, das Fenster (okno) sei von der Mutter geöffnet worden und das O phonetisch richtigerweise als A aussprach, konnte Schindel nicht an sich halten:

“Ihr primitives Bauernvolk, ihr fresst Spatzen zu Mittag, grunzt wie Schweine und könnt ein o nicht von einem a unterscheiden. Setz dich, fünf.“

Von nun an hielt es Hubert für angebracht, sein besseres Wissen für sich zu behalten. Saß still auf seinem Platz, verfolgte aufmerksam das redliche Bemühen seines Lehrers und schüttelte kaum bemerkbar verneinend seinen Kopf, wenn Schindel sein holpriges und falsches Russisch zum Besten gab. Schindel fühlte sich dann gedemütigt und glaubte zu bemerken, dass dieser Bengel seine Schmach genoss. Mit jeder Unterrichtsstunde stieg seine Verbitterung, er deutete selbst unverfängliche Bewegungen von Hubert als Hohn, tigerte dann im Klassenzimmer angespannt auf und ab, verlor gelegentlich seine Beherrschung, wies mit ungezügelter Gestik auf die Tür und brüllte mit sich überschlagender Stimme:

„Hubert, Du störst wieder einmal den Unterricht. Raus.“

Hubert suchte zunehmend die Einsamkeit auf und entwickelte sich zur Leseratte. Am meisten hatten es ihm die Karl May Bücher angetan. Er verstand es, mit viel Geschick sich von allen möglichen Leuten die Abenteuerromane des Autors auszuleihen und verschlang sie, wann und wo er es immer konnte. Seine Leidenschaft blieb seinen Klassenkameraden nicht verborgen. Unter dem Vorwand, ihm einen gefangenen Fuchs zeigen zu wollen, lockten sie ihn in eine Scheune, überfielen ihn dort und fesselten ihn. Sie drohten ihm, ihn nicht eher frei zu lassen, bis er ihnen die Abenteuer von Old Shatterhand erzählt habe. Er tat es mit Vergnügen, denn insgeheim lechzte er nach Ruhm und Bewunderung. Er steigerte sich dabei in eine eigene Fantasiewelt. Schilderte Kämpfe, Siege, Niederlagen; flüsterte, schrie, beschwor und flehte, lachte und weinte mit seinen Figuren. Er riss seine Zuhörer mit sich und entführte sie in eine Welt, die der Wahrnehmung entrückt ist, aber nicht der Seele. Die Zusammenkünfte der Jungen wurden von den Erwachsenen ungern gesehen. Die Jungen ließen sich davon nicht abhalten, weil Huberts Fantastereien sie aus dem Grau des Tages rissen und ihren diffusen Sehnsüchten Inhalt gaben. Hubert begriff, welche Macht Worte über Menschen haben und verstand, dass Menschen sich gern betrügen lassen, weil die gemalte Fiktion schöner ist als die brutale Realität.

Die Stunde der Genugtuung kam für Schindel schneller als erhofft. Wie alle Schüler war Hubert ein Junger Pionier und hatte sich entschieden, sein gesellschaftliches Engagement durch Mitwirkung in der Theatergruppe unter Beweis zu stellen. Für den Jahrestag der Befreiung vom Faschismus übte der Altlehrer mit dem Theaterensemble ein von ihm verfasstes Theaterstück ein, das die Befreiung der Bauern aus der Knechtschaft der Großgrundbesitzer beinhaltete. Hubert sollte den Großgrundbesitzer spielen, sein Freund Klaus einen sadistischen SS-Mann. Hubert personifizierte den zukunftsweisenden Fortschritt, sein Freund Klaus den faschistischen Reaktionär. Um dies kenntlich zu machen, sollte Klaus eine rote Armbinde mit weißem Hakenkreuz tragen und es mit Kreide auf den Stoff malen, denn es gab im ganzen Dorf keine faschistischen Armbinden mehr. Auf dem Nachhauseweg trotteten die Freunde neben einander, diskutierten und konnten sich nicht einigen, wie ein Hakenkreuz aussieht. Ob das Kreuz links oder rechts abgewinkelte Arme habe. Um das Problem anschaulich zu klären, malten sie mit weißer Kreide auf Hauswände und Mauern von der Schule bis zum Elternhaus von Klaus eine Vielzahl des Nazisymbols, mal mit linken, mal mit rechten Winkeln. Künstlerisch wenig gelungen, in der Aussage aber eindeutig. Im Dorfe machten die Schmierereien schnell die Runde, man sprach gar von Aufruhr, Geheimbündelei und Konterrevolution. Die Übeltäter konnten schnell ausfindig gemacht werden, ihre Eltern wurden nach wenigen Stunden von der Staatssicherheit verhaftet und verhört, ihre Wohnungen durchsucht. Sie gaben sich erstaunt und unwissend, leugneten beharrlich jedwede Form von Anstiftung und Tatbeteiligung, spielten die Unschuldigen, kurz, legten das übliche Täterverhalten an den Tag und waren weder zu Einsicht noch Geständnis, geschweige zu Reue und Schuldbekenntnis zu bewegen. So überführen sich Schuldige selbst nach gängiger Kriminalerfahrung. Dabei war die Beweislage sehr eindeutig, denn Schindel hatte geschworen, dass bei der Theaterprobe von einem Hakenkreuz nie die Rede gewesen und im übrigen ihm Hubert wiederholt mit neofaschistischen Redensarten aufgefallen sei. Hubert und Klaus wurden in die nahegelegene Kreisstadt gefahren und dort von einem Spezialisten kindgerecht vernommen. Die Befragung wurde wörtlich protokolliert.

„Also, wer hat Euch zu dieser Provokation angestiftet?“

„Das war der Parteisekretär.“

Der Verhörende konnte ein triumphierendes Lächeln nicht unterdrücken.

„Aha, Partei. Wisst Ihr, wann diese Partei gegründet wurde?“

„Nein, es ist wohl schon lange her.“

„Und wer ist ihr Anführer?“

„Das ist unser Altlehrer.“

„Gut meine Jungs. Das sind sie, die Wölfe im Schafspelz. Ihr braucht keine Angst zu haben und könnt mir vertrauen. Wer ist noch in dieser Partei?“

„Unser Klassenlehrer, Herr Schindel, seine Frau und der Leiter der Theatergruppe.“

“Aha, das ist also der Kopf der Verschwörung. Welche

Aufgabe hat man Euch übertragen?“

„Ich sollte die Armbinde tragen und Naziparolen rufen.“

„Wisst Ihr, was man geplant hat?“

„Es war doch alles vorbereitet. Im Gasthof „Zur Eiche“ sollte die Versammlung stattfinden und der Aufruf zum Kampf für ein neues Deutschland, Freiheit und Demokratie solidarisch verabschiedet werden. Die Losung hieß: Stadt und Land, Hand in Hand.“

„War das nur für Göhrendorf geplant?“

„Das wissen wir nicht, aber die Rede war auch von Halle und Leipzig.“

Der Vernehmende verließ aufgeregt den Raum. Gefahr war im Verzug. Er informierte die Stasizentrale, die stehenden Fußes die Inhaftierung des Lehrerkollegiums von Göhrendorf anordnete. Bei der Bedeutung des Falles wurden der sowjetischen Militäradministration die Ermittlungsprotokolle mit der Anregung vorgelegt, das Militär in höchste Alarmbereitschaft zu versetzen, um den drohenden Putsch bereits im Keim ersticken zu können. Der Oberst des sowjetischen Geheimdienstes studierte sorgfältig die überreichten Protokolle, ließ Hubert und Klaus vorfahren und sich ausführlich von ihnen den Vorgang berichten. Er notierte unter den Abschlussbericht:

„Die deutschen Genossen sind dümmer, als die Sowjetmacht es erlaubt. Das kann man leider nicht ändern, es wird uns noch viel Kopfzerbrechen bereiten. “

Er ordnete absolute Geheimhaltung über den Vorfall und die sofortige Entlassung aller Inhaftierten an. Schindel und Genossen schlichen sich wie geprügelte Hunde ins Dorf zurück. Dort wurde das Ereignis mit Witzen belacht. “Papa, warum fuchteln die beiden Männer so wild mit den Armen und Händen?“

„Mein Junge, die Zeiten ändern sich grundlegend.

Früher musste man bei Aufmärschen vor der Tribüne den rechten Arm zum Gruß erheben. Heute muss man mit beiden Armen über den Kopf in die Hände klatschen. Das üben sie, um nicht versehentlich das Falsche zu tun.“

„Hast Du schon gehört, die Genossen sind im Gefängnis gelandet.- Was Du nicht sagst. Alle?- Ja, alle.-Wer hat sie verhaftet?- Die Genossen haben sich gegenseitig verhaftet. - Und warum? - Sie sind solidarisch und fühlen sich nur im Gefängnis wohl und wollen darin ihr ganzes Leben verbringen.“

Im nachfolgenden Jahr ereilte Hubert ein zweites, wenn auch selbstverschuldetes Unglück. Er war 14 Jahre alt und verehrte, nein, liebte seine Klassenkameradin Erika. Er suchte ihre Nähe, stellte ihr mit den Augen nach, sprang ihr bei, wo immer er konnte. Erika merkte es wohl, fühlte sich geschmeichelt, verhielt sich ihm gegenüber aber kühl und abweisend. Hubert war ihr, der bereits fraulich Gereiften und von Männerblicken Verwöhnten, zu unreif und zu unfertig. Hubert blickte wie die meisten seiner Klassenkameraden mit Verachtung auf die Jungen herab, die sich zur Teilnahme an der Volkstanzgruppe hatten überreden lassen. Er hielt das Gehopse für weibisch und unwürdig für ein gestandenes Mannsbild. Erika, ein lebensbejahendes und Frohsinn versprühendes Mädchen, tanzte leidenschaftlich gern und so entschloss sich Hubert in seiner Liebestorheit, dem Volkstanzensemble beizutreten. Erika wurde ihm zunächst wie erhofft als Tanzpartnerin zugeordnet. Er durfte sie umfassen, durfte ihre Hände halten, ihr in die Augen schauen und sie um sich wirbeln. Er wähnte sich hoch jauchzend im Himmel und konnte kaum die Übungsstunden abwarten, bis sein Glück ein jähes Ende fand. Er war ein guter Tänzer, wurde deshalb von seiner Partnerin getrennt, um ein kleines, unansehnliches Mädchen von 12 Jahren für Figuren und Schritte anzulernen. Er empfand diese Entscheidung als ungerecht und unzumutbar, lehnte sich innerlich dagegen auf und sann auf Genugtuung. Er überzeugte seine Kameraden, dass man sich mit dem ungelenken Herumspringen vor Schaulustigen nur lächerlich mache. Ehrbar sei für Männer nur der sportliche Wettkampf, das Messen von Kraft, Schnelligkeit oder Ausdauer. Dank seiner Beredsamkeit überzeugte er die Angesprochenen, sie stimmten ihm zu.

Wie immer sollte der 1. Mai von allen Werktätigen mit einem Umzug, mit Reden und mit Kulturveranstaltungen gefeiert werden. Die Volkstanz-gruppe sollte auftreten, aber die Jungen versammelten sich in einer Scheune, tranken Bier, klopften mutige Sprüche, fühlten sich dabei stark und blieben dem Auftritt fern. Hubert hatte sein