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Macht, Geld, Liebe und selbst der Glaube sind Gifte, an denen der Mensch scheitern kann. Jeder nippt gern davon, doch mancher gar zu viel.
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Seitenzahl: 174
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Die Handlung dieser Erzählungen sowie die darin vorkommenden Personen sind frei erfunden, eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Begebenheiten und tatsächlich lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Aber kommt, wie der Strahl aus dem Gewölke kommt, Aus dem Gedanken vielleicht, geistig und reif , die Tat?
Hölderlin
Die Schlange
Der Schwesternmord
und eine ganz andere Geschichte: Ein alltägliches Ereignis
In meinem Beruf ist alles hintergründig und bedeutungsvoll. Ich unterhalte mich mit einem Menschen und achte unbewusst darauf, wie er spricht, was seine Augen, seine Mimik, seine Gestik über das hinaus verraten, wovon er gerade spricht. Keiner ist, was er gern sein möchte. Man teilt mir freudige, traurige, interessante Nachrichten mit, Geschichten von Glück, Versagen, Angst , Hass und Liebe und ich erkenne, was verschwiegen wird. Die Nachbarin erzählt in einem nicht endenden Redefluss, was ihr Hündchen frisst, wen es mag, dass es so gerne kuschelt und bei ihr schläft. Ihre Augen weiten sich dabei, die Augenmuskulatur legt sich in kleine Falten, der Mund lächelt breit und die Hände gleiten streichelnd über ihren Körper. Wenn sie lacht, verrät sie sich mit ihrem Lachen. Es ist schüchtern, fast ängstlich und hat keinen befreienden Klang. Es ist nicht Ausdruck von Freude, sondern Ausdruck ihrer Freudlosigkeit. Sie ist klein und zart gebaut. Sie spricht leise, ihre Stimme ist weich. Ihr Körper wirkt disproportioniert. Aber was sie sagt, klingt warm und liebevoll und über weite Strecken flehentlich. Mein Herz wird schwer. Ich erkenne, dass sie eine Gezeichnete, eine Abgewiesene, eine Zurückgestoßene, ein Stiefkind Gottes ist. Hinter der äußeren Schale verbirgt sich eine Seele, die nach Liebe dürstet, die begehrt und begehrt sein will, diese Lebensgier nur aus Erzählungen und Liebesromanen kennt und deshalb das Leben mit Gram betrachtet. In dem, was sie liest, wimmelt es von jungen und schönen, von klugen und reichen, von auserwählten und begnadeten Frauen, die in einem Überfluss leben, nach dem sie sich vergeblich verzehrt. Ja, das Hündchen ist für sie Ersatz für entbehrte Liebe. Sie ist mit den Jahren verblüht, ihre Zukunft ist aussichtslos und hoffnungslos, ihre irdische Existenz allein durch Pflichterfüllung und imaginierte Liebe zum vierbeinigen Liebling gerechtfertigt, von dem sie keinen Widerspruch erfährt, wohl aber Treue und Anhänglichkeit und so wenigstens ein Stück von Harmonie und Glück. Oder liegt in dieser Beziehung doch Glück, frei von Eifersucht, Bedrängnis, Vorwurf? Frei von Enttäuschung und Rachsucht? Und wird gesättigt durch Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit, Ruhe und Verlässlichkeit? Wenn ich abends vor dem Schreibtisch saß, spät zu Bett ging, dann waren es solche Gedanken, die mich bewegten. Ich hörte Worte, Sätze, Musik und Geräusche, grübelte über die menschliche Natur. Wären die Menschen fähig, Frieden, Harmonie und Gerechtigkeit zu leben, brauchten sie kein jenseitiges Paradies erfinden. Es wäre hier auf Erden. Ich versuchte zu erdenken, wie Gerechtigkeit sich gerecht verteilen lässt: Körperliche Schönheit, sportliche Befähigung, künstlerische und musische Kreativität, überragende Geisteskraft, familiäre Herkunft. Immer gibt es Überlegene und Unterlegene, immer fühlen sich die Verlierer benachteiligt, was sich in Neid, Feindseligkeit, Vorurteil und blinder Weltanschauung niederschlägt. Ich suche nach einer Lösung für dieses menschlichste aller Probleme und fand sie nicht. Nachts verlasse ich das Bett, weil mich Stimmen nicht schlafen lassen. Sie treten unvorhersehbar auf, sind laut und deutlich und erschrecken mich oft. Es sind Halluzinationen. Ich notiere das Gehörte, lese es am Tage und stelle fest, es ist ohne Zusammenhang, sinnlos und ohne Bedeutungsgehalt. Aber es klingt phantastisch, alles ist in sich plausibel, selbst das brennende Wasser und der fliegende Stein, der reiche Bettler und die Insel des Glücks. Ich berausche mich an der Freiheit der Gedanken, in der es keine Gesetze der Natur und der Gesellschaft gibt. Welch ein Irrsinn. Ich fürchte, dass ich ein psychiatrischer Fall bin, verschweige deshalb meine Visionen und ahne doch, dass ich eine Botschaft zu verkünden habe. Ich bin nur Landarzt mit einer kleinen, unbedeutenden Praxis für Allgemeinmedizin in Wohldorf nahe Hamburg und fühle mich insgeheim berufen, eine Weltsicht, ein höheres Bewusstsein und menschlichen Daseinssinn zu vermitteln, wie es schon immer von Denkern und Künstlern gedacht wurde und doch ständig in immer neuen Variationen von Berufenen in unser Leben hinein getragen werden muss. Mit diesem Anspruch ordne ich mich ein in die unendliche Reihe der Mahner und Visionäre, demütig und bescheiden.
In einem Zustand von Benommenheit und Klarheit hatte ich in einer Nacht eine Vision, in der ich Akteur und Zuschauer, Erzähler und Zuhörer zugleich war und das eine vom anderen nicht zu trennen vermochte. Mir wurde eine Geschichte erzählt. Das Gehörte schlug mich in Bann. Ich glaubte, in der Sinnestäuschung sei mir auf die metaphysische Sinnfrage eine verschlüsselte Antwort gegeben worden. Es ging nicht um gedankliche Abgehobenheit, sondern um Probleme der realen menschliche Existenz, um das alltägliche Thema, wie sich Geld, Liebe, Lüge und Wahrheit verstricken und unseren Lebensweg bestimmen. Am nächsten Morgen habe ich das realmystische Traumgeschehen auf Papier mit allen Widersprüchen und Ungereimtheiten festgehalten, soweit ich es noch erinnern konnte. Und das im Bewusstsein, dass nur das geschriebene Wort die Gefühle, die Gedanken und Überzeugungen und die wichtigsten Dinge des Lebens aus unserer und vergangener Zeit bewahrt, auch wenn sie für die nach uns Lebenden nicht nachvollziehbar und schwer erklärbar sind.
Hier nun meine Niederschrift, von der ich weiß, dass es nicht mein Geist ist, der sich in mir und den Figuren verkörpert.
Ich bin Harlekin und Schelm, führe unendliche Dispute mit mir selbst und komme weder zur Selbst- noch zur Welterkenntnis. Ein Thema dröhnt in meinem Kopf und treibt mich zur Verzweiflung. Als Knabe von neun Jahren erlebte ich das erste Drama meines Lebens. Es machte mich einsiedlerisch und zurückgezogen, machte mich über alle Maßen vorsichtig und behutsam. Bei einem Indianerspiel mit Pfeil und Bogen war im Eifer des Gefechts und aus Versehen ein Pfeil von mir in das linke Auge meines Cousins eingedrungen. Er trug fortan ein Glasauge. Man machte mir keine Vorwürfe, tröstete mich damit, dass es ein zufälliges Ereignis gewesen sei. Jede Begegnung mit meinem Cousin, und die ließen sich nicht vermeiden, riefen bei mir Schuldgefühle hervor. Die Frage, warum gerade mich ein solches Unglück getroffen hatte, verdichtete sich bei mir zum endlosen Nachdenken über den Sinn von Schuld und seiner Sühne. Ich mied die Abenteuerspiele der Jungen meines Alters, ging jedem Streit aus dem Wege und wurde ein Eremit inmitten des pulsierenden Lebens um mich herum. Nach dem Abitur begann ich, Philosophie und Theologie zu studieren. Im vierten Semester der Philosophie erkannte ich meine intellektuelle Beschränktheit und entschloss mich, das nutzlose Denken aufzugeben und nur noch Gutes zu tun. Das kam allerdings auch nicht von ungefähr. Zur gleichen Zeit war ich mit einem guten Freund mit dem Auto zu einer Theateraufführung unterwegs. Wir waren im Gespräch vertieft, ich übersah ein Halteverbot und verursachte einen Unfall, bei dem sich mein Freund eine schwere Kopfverletzung zuzog. Ich war über mich entsetzt. Wie konnte das geschehen, was habe ich da wieder angestellt. War es ein Fingerzeig der Vorsehung oder blinder Zufall? Bin ich die Inkarnation des Bösen? Ein Teil jener Kraft, die stets das Gute will und doch das Böse schafft? Ich entschloss mich, Medizin zu studieren und bin seitdem bemüht, Hochmut und Zorn zu unterdrücken, meine Leidenschaft zu zähmen, rechtschaffen zu sein, der Wahrheit zu dienen und keinem Menschen Schaden zuzufügen. Man nennt mich deshalb den frommen Frieder.
Ich bin der Sohn eines Kleinbauern, schwach gebaut, im Umgang nachgiebig und friedfertig und wuchs auf in armen und engen Verhältnissen. Ich war aber keineswegs ein Schattenkind, nein, ich habe Liebe und Zuwendung im Überfluss erhalten. Nach meinem Studienwechsel fühlte ich mich befreit und berufen, Kranke zu heilen, Sieche zu pflegen und den Todgeweihten das Sterben zu erleichtern. Nach Abschluss meiner Ausbildung ließ ich mich in meiner Heimat in unmittelbarer Nähe von Hamburg als Landarzt nieder.
Mein erster Patient war ein junger Mann von 28 Jahren. Er war mir als Maximilian Geist von meiner Sekretärin angekündigt worden.
Hochgewachsen und vornehm betrat er schüchtern und gehemmt den Behandlungsraum, schaute sich prüfend um und nahm nach Aufforderung vor meinem Schreibtisch mir gegenüber auf einem Stuhl Platz. Seine blauen Augen hatten eine auffällige Strahlkraft, während mir seine Mimik im Kontrast dazu merkwürdig starr erschien. Ich leitete das Gespräch mit der Frage ein, was ihn zu mir führe und welche Beschwerden er habe. Seine Antwort irritierte mich.
„Ich habe keine körperlichen Beschwerden. Ich bin Physiker, theoretischer Physiker beim Max-Planck-Institut. Wir führen die empirischen Modelle der Experimentalphysik mathematisch auf bekannte Grundlagentheorien zurück und falls dies nicht möglich ist, entwickeln wir Hypothesen für neue Theorien, die dann wiederum experimentell überprüft werden können. Unser Ziel ist es, die Gesetze unserer Welt weiter zu erforschen, um konkrete Vorhersagen physikalischer Begebenheiten treffen zu können. Mir persönlich geht es vor allem darum, die Wechselwirkungen von Mikrokosmos und Makrokosmos zu erfassen, um sie in eine zutreffende Weltformel zu gießen.“
Die Stimme meines Patienten war bei seinem Vortrag wenig moduliert. Von ihm ging für mich etwas Unheimliches und zugleich etwas Beeindruckendes aus. Ich lehnte mich in meinen Sessel zurück, schloss die Augen und überlegte. Was er vortrug, war klug und entsprach den gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Und doch sagte mir mein Gefühl, er ist ein psychiatrischer Fall. Was tun? Ihn an einen psychiatrischen Kollegen überweisen? Der würde ihm Psychopharmaka verschreiben und damit seine Persönlichkeit zerstören. Ich entschloss mich, mich auf seine Weltsicht einzulassen. Ich beugte mich über meinen Schreibtisch vor und sagte dem Ersten, so betitelte ich ihn bereits im Stillen:
„Sie sind mein erster Patient. Ich habe Sie erwartet. Ich wusste, dass Sie kommen. Aber ich kann nicht sagen, woher und von wem ich das weiß.“
Maximilian schwieg lange Zeit, ich wartete geduldig auf seine Antwort. Er schien betroffen zu sein. Dann stellte er wie ein Beamter trocken und emotional unbeteiligt fest:
„Man hat mir gesagt, ich soll Sie aufsuchen. Ich kann auch nicht sagen, wer mir diesen Ratschlag gegeben hat. Ich bin ihm jedenfalls gefolgt. Uns verbindet offenbar eine mir bisher unbekannte physikalische Größe.“
„Vielleicht. Nun aber lüften Sie ihr Geheimnis, denn deshalb sind Sie wohl zu mir geschickt worden.“
Der Erste tat sich sehr schwer. Er schluckte, dann platzte es aus ihm heraus, leise und eindringlich:
„Die Erde geht im Jahre 2035 unter. Danach kommt das Jüngste Gericht und die Menschen werden nach ihren Taten gerichtet. Diejenigen, die ohne Schuld und ohne Bosheit sind, erwartet paradiesische Freude, diejenigen, die sich schuldig gemacht haben und bösartig sind, erwartet höllische Qual. Was soll ich tun? Ich habe Angst vor dem Weltuntergang und habe Angst, die Menschheit aufzuklären und zu warnen. Täte ich es, würde man mich für verrückt erklären und meine soziale Existenz vernichten.“
Ich hakte nach.
„Woher haben Sie ihr Wissen?“
„Ich höre gelegentlich Stimmen, die mir das Zukünftige vorhersagen.“
„Oder sind es Ihre Gedanken, mit denen Sie sich intensiv beschäftigen und die sich bei Ihnen hörbar verdichten?“
„Nein, nein, ich habe schon viele Beweise gesammelt, wie die Menschheit tatkräftig ihren eigenen Untergang organisiert. Ich habe das Prinzip der Gerechtigkeit erkannt. Die Menschen selbst schaffen sich jene Bedingungen, unter denen sie zukünftig leben oder untergehen.“
„Nun gut, ich möchte Ihnen anvertrauen, dass auch ich zuweilen Sinnestäuschungen erliege. Sie bestimmen sehr stark mein Denken, Fühlen und Handeln. Oder ist es umgekehrt, dass mein Denken, Fühlen und Handeln meine Sinneswahrnehmung bestimmt? Wie auch immer. Es ist ein Rätsel meines Lebens, das ich noch nicht gelöst habe. Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Behalten Sie ihr Wissen und ihr Erleben für sich. Setzen Sie sich nicht den Schmähungen der Unverständigen aus, denn jeder Mensch trägt ein Geheimnis in sich, jeder Mensch bedarf des Schutzes. Sie sind ein Auserwählter, es ist das Höchste, was uns widerfahren kann. Das ist wunderbar. Warten Sie ab, was die Zeit bringt. Nehmen Sie Ihre Gewissheit als Hypothese an und überprüfen Sie im Jahre 2035 ihre Hypothese auf ihren Realitätsgehalt. Nur nicht gegen Windflügel kämpfen. Leben Sie aktiv und frohgemut auf die Zukunft hin, seien Sie weiterhin ein guter Mensch und Vorbild für andere. Bejahen Sie, wofür Sie sich bestimmt fühlen. Vielleicht sind Sie tatsächlich ein Prophet.“
Ich war von meinem Zweckoptimismus und der Wirkung meiner Worte überzeugt und sprach frei aus frohem Herzen. Der Erste wurde von meiner verbalen Beschwingtheit angesteckt. Er gab seine Distanziertheit auf, entkrampfte sich und lächelte.
„Ich will Ihnen glauben und nehme Ihren Ratschlag an. Aber ich schlage Ihnen ein zeitnahes experimentum crucis vor. Sie werden in absehbarer Zeit sterben, in den Himmel aufsteigen und als neuer Mensch auferstehen. Dann erst werden Sie mich wirklich verstehen.“
Seine Worte machten mich nachdenklich, doch die neuen Eindrücke des Tages ließen sie mich vergessen.
Maximilian und ich vereinbarten weitere Konsultationen. Ich aber fand, dass mein Start in das Berufsleben recht gelungen war.
Ich habe einen sehr vertrauten Freund, er heißt Jonatan Dampf, man ruft ihn aber Jonas. Wir sind zwei grundverschiedene Naturen, ziehen uns vielleicht deshalb an. Er ist Sohn eines Autohändlers, ist von Statur ein kräftiger, aufgeschossener Bursche mit feurigen Augen, der stets viel zu erzählen hat, die Menschen leicht zum Lachen bringt, nie zur Ruhe kommt und in jeder Situation um Aufmerksamkeit und Beachtung buhlt. Ein Sonnenkind. Seine strahlende Oberfläche hat wenig Tiefe. Gleichwohl versteht er es, mit Beredsamkeit zu überzeugen und Freunde zu gewinnen. Ihm gelingt alles, was er will, ihm fällt das Glück sozusagen auf die Füße. Gedankentiefe ist nicht seine Sache, doch sein Verstand trübt nie seine Urteilskraft und seinen Realitätssinn. Als die Zeit kam, sich für einen Beruf zu entscheiden, nahm er das Studium der Betriebswirtschaftslehre in Kombination mit Informatik auf, denn er hatte in einem Wirtschaftsmagazin gelesen, auf diesem Wege könne man schnell sehr reich werden. Mit dem Studium erging es ihm wie dem Esel, dem der Sack Weizen zu schwer wurde, ihn deshalb abwarf und leichtfüßig seinen Weg fortsetzte. So auch Jonas. Noch während des Studiums lieh er sich von seinem Vater eine nicht unbeträchtliche Geldsumme, ersteigerte sich damit eine Schiffsladung chinesischer Antiquitäten und verkaufte sie gewinnbringend. Nach Abschluss des Geschäfts stand fast eine Million Euro auf seinem Konto. Der Erfolg bewegte ihn, das Studium aufzugeben, einen Investmentfond zu gründen, diesen bei der Börse zu listen, mit fantastischen Versprechen von Reichen und Armen Geld einzusammeln und es spekulativ anzulegen.
Just auf dem Höhepunkt seines Erfolges hatte sich Jonatan in Hamburg im Hotel Vier Jahreszeiten einquartiert, um Geschäfte abzuwickeln. Zu gleicher Zeit war auch ich Gast des Hotels, um an einem Ärztekongress teilzunehmen. Wir trafen uns zufällig beim Abendessen, waren freudig überrascht und tauschten Kindheits- und Schulerinnerungen aus. Wir verabredeten uns, gemein-sam den Abend zu verbringen und beschlossen, die allseits bekannte Disko „Baalsaal“ auf der Reeperbahn aufzusuchen. Für mich stellte dieser Entschluss ein ungewöhnliches Abenteuer dar, für Jonatan gehörte das nächtliche Vergnügen zu seinem Lebensstil. Die Disko quoll über von vergnügungshungrigen Menschen. Wir entdeckten abseits noch einen Tisch, an dem eine junge Dame saß, aber drei Stühle unbesetzt waren. Wir erhielten von ihr zögerlich die Erlaubnis, zwei der freien Plätze in Beschlag zu nehmen. Wir stellten uns mit unseren Vornamen vor. Ich musterte das Mädchen. Sie hatte weite, grün-graue Augen, die mit kindlichem Ausdruck erstaunt in die Welt blickten. Ihre Lippen waren verführerisch aufgeworfen. Sie mochte etwa zwanzig Jahre alt sein, wirkte unreif, aber weltoffen. Jonatan nahm sofort das Gespräch mit ihr auf, erfuhr, dass sie Tanja hieß, achtzehn Jahre alt war und hier auf jemanden wartete, den sie nicht kannte, mit dem sie sich aber übers Internet verabredet hatte. Wir flößten ihr wohl sehr schnell Vertrauen ein, schienen ihr allein aufgrund unseres mehr als fünfzehn Jahre höheren Alters solide und rechtschaffen zu sein. Sie schwatzte daher, was ihr gerade einfiel und wies sich damit als naiv, gutmütig und offenherzig aus. Sie erzählte, dass sie als Notariatsgehilfin beschäftigt sei und über Anzeigen bemüht sei, sich einen richtig reichen und attraktiven Mann zu angeln. Sie sprühte voller Lebenslust und wollte erkennbar Spaß vom Leben haben. Sie liebe Rockmusik, Hip-Hop und das Tanzen über alles. Jonatan rückte näher an sie heran, erzählte von seinen geschäftlichen Erfolgen, von seinen Luxusautos, seinen Weltreisen, von Bekanntschaften mit berühmten Männern und Hotelsuiten, in denen bereits Könige und Präsidenten residiert hatten. Seinen Reichtum umschrieb er mit einer witzigen Anekdote:
„Vor Jahren erschien mir im Traum der Teufel. Gehörnt und mit Pferdefuß. Ich bat ihn, mir zu helfen, reich zu werden. Er meinte, das sei kein Problem für ihn. Bedingung dafür wäre, dass ich ihm einen Gefallen erweise. Ich war dazu bereit, aber ich würde nichts mit Blut unterschreiben und würde ihm auch nicht meine Seele verkaufen. Er erklärte, das sei auch nicht sein Anliegen. Ich solle nur vor der Kirchentür einen großen Haufen machen, denn der Dorfpfarrer spreche seine Beichtkinder zu oft von allen Sünden frei und entreiße sie so den verdienten Höllenqualen. Ich war einverstanden, schlich mich zur Kirchentür, zog meine Hosen herunter und presste aus Leibeskräften. Und davon wurde ich wach. Ich hatte in mein Bett geschissen. Immerhin, der Teufel hielt sein Wort, ich wurde reich und das Glück hat mich seitdem nicht verlassen.“
Wir lachten. Tanja hörte ihm bewundernd zu, staunte, indirekt teilzunehmen an den Ereignissen der großen Welt und himmelte ihn an. Er forderte sie zum Tanzen auf, bewies ihr, dass sein Blut noch brausend durch die Adern floss. Er warf sie kraftvoll um sich, verschärfte das Tempo, spornte sich selbst an und steigerte sich in einen Bewegungsrausch. Er beendete seine Kür erst, als Tanja ihn atemlos bat, sie ein wenig ausruhen zu lassen.
Verschwitzt und ausgepumpt kehrte das Pärchen auf seine Plätze zurück. Tanja, vom Tanzen erschöpft, poppig gekleidet, sah reizvoll aus. Sie dachte, er sieht gut aus, ist klug und ist reich. Er erzählt so interessant und ist charmant. Er wäre der Mann, den ich mir immer erträumt habe. Sie trank viel Wein, war bald trunken und alles an ihr blitzte und verführte.
Ich verfolgte aufmerksam das zufällige Zusammentreffen dieser unterschiedlichen Naturen mit kritischen Augen. Ich stellte die Überlegung an, dass Jonatan eitel und egoistisch ist. Seine Balz ist darauf angelegt, ihr zu imponieren und ist doch nur Fassade. Ich empfand Mitleid mit diesem anmutsvollen und unerfahrenen Geschöpf. Er ist heterophob und wird sie enttäuschen, sie früher oder später kalt abservieren. Was habe ich eigentlich in dieser Gesellschaft zu suchen, wie kann ich verschwinden, ohne meinen Freund an den Kopf zu stoßen. In diesem Moment kehrten die beiden von der Tanzfläche zurück. Tanja fragte, was ich beruflich mache. Ich wollte nicht unhöflich sein.
„Ich bin Landarzt. Ich habe eine Praxis in der Nähe von Hamburg.“
Tanja konnte nicht an sich halten.
„Oh wie schrecklich. Da verkommst Du ja bei den Landpomeranzen und den Kühen.“
„Nein, so ist es nicht. Es ist ein Leben, das viele Menschen sich nicht mehr vorstellen können. Die Bauern und Landleute sind fleißig, rackern sich ab und haben ein schweres Leben. Sie verdienen mit ihrer Arbeit nur wenig Geld. Aber sie sind erdverbunden, sind offen, ehrlich und bescheiden. Sie helfen einander in der Not, feiern gemeinsam Feste und halten ihre dörflichen Traditionen hoch. Viele gehen am Sonntag noch regelmäßig zur Kirche. Sie lieben ihr Dorf und ihr Land.“
„Also eine Insel der Seligen?“
„Auch das ist verzerrt. Menschen erkranken, die Alten brauchen Pflege, Kinder verunglücken. Für sie bin ich da. Wir sprechen über ihre Sorgen und Probleme. Wir kennen uns, sind uns nahe, vertrauen uns, geben uns gegenseitig Trost und Halt.“
Ich sprach leise, vielleicht auch zu gefühlsgetragen. Tanja wurde für kurze Augenblicke nüchtern, betrachtete mich erstaunt und lächelte. Meine Worte hatten ihre Seele in Schwingungen gebracht, hatten eine schlafende Sehnsucht geweckt, die sie nicht benennen konnte .
Jonatan erfasste diesen Stimmungswechsel von Tanja instinktiv. Fast grobschlächtig rief er dem Ober zu:
„Bringen Sie bitte eine Flasche Champagner, den besten Champagner, den Sie haben!“
Und an Tanja und mich gewandt:
„Dieser Abend soll uns unvergessen bleiben.“
Der Ober schenkte ein. Jonatan erhob sein Glas.
„Ich spüre, mit Euch trete ich in ein neues Leben ein und mit Euch will ich es beenden.“
Ich war von seinem Toast überrascht. Machte der Alkohol ihn weinerlich? Ich wusste, dass er homosexuell ist. War er deprimiert, weil das präsente Glück ihm nicht fassbar war?
Ich hob mein Glas.
„Das Schicksal soll uns binden, das Schicksal mag uns trennen. Zwischen Leben und Sterben wollen wir unsere Freundschaft festigen und alle Zwietracht meiden.“
Tanja resignierte.
„Ach, ihr Philosophen. Ich verstehe nichts. Ich lebe. Ich stoße auf das Leben an.“
Wir stießen an, tranken noch eine Flasche Champagner und hatten unseren Spaß. Jonatan wurde einsilbig und überlegte im trunkenen Kopf, wie er sich Tanja in dieser Nacht entledigen könne, denn sie machte ihm gegenüber aus ihren Liebeshunger keinen Hehl. Ebenfalls deutlich alkoholisiert überlegte ich, dass durch Zufall sich hier und jetzt Lebenslinien kreuzen und ob das wohl für einen gemeinsamen, im Suff beschworenen Lebensstrom ausreichen könne.
Wir feierten in die Nacht hinein und verließen am frühen Morgen heiter und wohlgemut gemeinsam das Lokal. Der Vollmond schimmerte fahl und schaute, goldig gemalt wie ein Heiligenschein, auf uns nieder. Doch was tat sich auf der Erde? Jonatan bot Tanja an, sie mit dem Taxi zu