Altes Wissen für neue Wege - Eva Gütlinger - E-Book

Altes Wissen für neue Wege E-Book

Eva Gütlinger

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Beschreibung

Schamanische Philosophie verknüpft mit systemischer Wissenschaft, Konstruktivismus verbunden mit ganzheitlicher Ethik, Rationalität mit Spiritualität - all das braucht kein Widerspruch zu sein. Die Kombination von Denken und Fühlen, von überlieferten und erforschten Erkenntnissen hat viel zu einer positiven Lebensgestaltung und Weltsicht beizutragen. Dieses Buch ist eine Anregung zum Weiterdenken, zum Erleben und zum Arbeiten mit Menschen. Reisen ins Innere und kreative Denkweisen aus anderen Kulturen dienen der Stärkung der Persönlichkeit, des Selbstbewusstseins und der Erweiterung unserer Handlungsmöglichkeiten. Das "Werkzeug" dafür liegt in den eigenen Händen und in der eigenen Vorstellungskraft.

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Seitenzahl: 312

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

VORWORT

1. ALTES WISSEN UND NEUE LÖSUNGEN

Schamanismus

Schamanen und Schamaninnen

Schamanische Welten

Kriegerschamanismus/Abenteuerschamanismus

Neu-Entdecken und Übersetzen von Vorstellungen und Kulturen

Systemisch-Konstruktivistisches Denken

Systemisches Denken

Konstruktivismus

Schamanische Begleitung – Verknüpfung von Schamanismus und systemisch-konstruktivistischem Denken

Spiritualität – über die Wissenschaft hinaus

Nachvollziehbarkeit als Ziel

2. HALTUNG IN DER SCHAMANISCHEN BEGLEITUNG

Haltung entwickeln

Der Mensch ist wirksam

Hypothesen und Haltung offenlegen

Flexibilität

Bausteine der Haltung

Haltungs-Baustein 1: Bedingungslose Liebe

Haltungsbaustein 2: Mitgefühl

Haltungsbaustein 3: Lösungsorientierung

Haltungsbaustein 4: Veränderungen möglich machen

Haltungsbaustein 5: Sinngebung

Haltungsbaustein 6: Gleichwertigkeit

Haltungsbaustein 7: Selbstentwicklung

3. SCHAMANISCHE DENKWEISE / PHILOSOPHIE

Vier Betrachtungsweisen der Realität

Erste Betrachtungsweise der Realität: Objektive Welt

Zweite Betrachungsweise der Realität: Subjektive Welt

Dritte Betrachtungsweise der Realität: Symbolische Welt

Vierte Betrachtungsweise der Realität: Ganzheitliche Welt

Die passende Betrachtungsweise wählen

Sieben Prinzipien des schamanischen Denkens

IKE – Die Welt ist, wofür wir sie halten

KALA – Es gibt keine Grenzen

MAKIA – Energie folgt der Aufmerksamkeit

MANAWA – Jetzt ist der Augenblick der Macht

ALOHA – Liebe heißt, glücklich sein mit …

MANA – Alle Macht kommt von innen

PONO – Wirksamkeit ist das Maß der Wahrheit

4. SCHAMANISCHE ZUGÄNGE ZUR HEILUNG

Mit der Heilung bei sich selbst beginnen

Heilung mit innerem Licht

Energie übertragen

Kooperation zur Heilung

Energierückfluss

5. SCHAMANISCH REISEN

Trance

Schamanisch reisen auf Hawaiianisch

Die Reise beginnt

Wahrnehmung in der inneren Welt

Reise zur Harmonie

Schamanisch reisen in der schamanischen Begleitung

Selbst reisen

Ziele und Worte der schamanischen Reise

Das Leben harmonisieren – Innerer Garten

Grenzen überwinden und Situationen verändern

Vergangenheit verändern

Zukunft gestalten

6. SCHAMANISCH ARBEITEN

Krafttiere und Ressourcen

Seelenanteile zurückbringen

Ahninnen und Ahnen

Rituale

7. AUFTRAG UND BEITRAG

LITERATUR

Vorwort

Bist du auch neugierig auf neue Wege?

Ich lade dich ein, einen Weg mit kreativen Formen der Verbindung von Spiritualität und professioneller Begleitung von Menschen zu erkunden. Einen Weg, der Liebe als stärkste Kraft sieht und einen Zugang zu unendlichem Veränderungspotenzial, das für alle Menschen gleich erreichbar ist, eröffnet. Einen Weg, der altes Wissen mit moderner Denkweise verbindet.

Ich bin als Begleiterin von Menschen tätig. Als Coach und Trainerin begegne ich vielen verschiedenen Menschen mit unterschiedlichsten Herausforderungen. Als Soziologin und Beraterin hinterfrage ich Systeme und Denkweisen. Als Autorin gebe ich meine Erfahrungen und Erkenntnisse weiter. Als Konzeptentwicklerin versuche ich, Lernprozesse sinnvoll zu gestalten. Als Mensch erlebe ich meine ganz persönlichen Fragen und Stolpersteine. Auf diesem Weg bin ich immer auch auf der Suche nach geeigneten Plänen und Anhaltspunkten. Was macht meine Reise einfacher, welche Zwischenziele und Orientierungspunkte helfen, die jeweiligen Herausforderungen besser zu bewältigen?

Auf meiner eigenen Reise sind mir verschiedenste Methoden und Zugänge begegnet. Angefangen vom wissenschaftlich fundierten systemisch-konstruktivistischen Weltbild, unterschiedlichsten Philosophien und Therapierichtungen, soziologischen Theorien bis hin zum schamanischen Denken der Hawaiianer*, das mir zunächst eine ganz andere Richtung angezeigt hat. Eine Richtung, die mir ungewöhnlich und anders als alles bisher Erfahrene schien.

Je länger ich mich jedoch mit dem schamanischen Weltbild beschäftige, desto mehr Parallelen zur systemisch-konstruktivistischen Denkweise fallen mir auf. Denn die uralten Prinzipien der Hawaiianerinnen* lassen sich zu einem großen Teil ohne Weiteres auch in moderne Denkweisen übersetzen. Vieles, was die wissenschaftlich basierte Theorie vorschlägt, findet sich in den Leitsätzen der Hawaiianer auch schon. Und umgekehrt.

Im systemisch-konstruktivistischen Ansatz fehlt für mich allerdings etwas sehr Entscheidendes: eine spirituelle Ausrichtung. Es ist alles möglich, alles denkbar, alles eine Konstruktion des jeweiligen Menschen. Dadurch können sich alte Beschränkungen lösen, großes Veränderungs-und Entwicklungspotenzial wird verfügbar. Wohin aber gehen wir? Was ist das größere Ziel? Wo ist das Wohl eines größeren Ganzen? Wie finden wir die Weisheit des Herzens?

Deshalb verknüpfe ich in diesem Buch mehrere Ansätze miteinander: Schamanisches Denken mit systemischer Wissenschaft, Konstruktivismus mit einer ganzheitlichen Ethik, Rationalität mit Spiritualität. Diese Kombination des Denkens und Fühlens hat aus meiner Sicht viel zur Heilung und Begleitung von Menschen beizutragen. Es ist eine Philosophie, eine Sammlung von Methoden und vor allem eine Haltung im Umgang mit Menschen. Es ist eine Anregung zum Weiterdenken, zum Leben und Arbeiten. Es sind Ideen, um das eigene Leben ein wenig leichter, fröhlicher und verantwortlicher zu gestalten. Und damit auch etwas für andere Menschen beitragen zu können.

Unseren Beitrag leisten wir dort, wo wir gerade sind. Wir alle sind Begleiter:innen von anderen Menschen. Manche von uns als Coaches und Berater:innen, manche als Lehrerinnen, andere als Therapeut:innen oder Ärzt:innen, einige als Führungskräfte und wieder andere in ihrer eigenen Familie, mit Kindern oder im Freundeskreis.

Als Begleiter:innen werden wir immer auch etwas vom eigenen Weltbild vermitteln. Egal nach welcher bestimmten Methode wir arbeiten, wir geben immer etwas von uns selbst mit. Wir tragen in jede Situation, in der wir mit Menschen zusammenkommen, auch unsere Lebenseinstellung hinein. Wenn wir diese Gesinnung hinterfragen und unsere Persönlichkeit entwickeln, können wir noch wirksamer arbeiten.

Es ist weder eine Moral noch eine Religion, die hier beschrieben wird. Ebenso wenig handelt es sich um eine Wahrheit. Wenn du heute beschließt, etwas aus dieser Weltsicht für sich anzunehmen, ist es gut. Wenn du morgen eine andere – passendere – Philosophie findest, ist es auch gut. Denn es geht nicht um Dogma, um Konsequenz oder gar moralische Regeln und Vorstellungen. Es geht um Wirksamkeit für ein gemeinsames Ziel, bei dem wir alle ein Stück dazu beitragen können, dass diese Welt ein guter, harmonischer und entwicklungsfördernder Platz wird.

Ich beschreibe hier eine innere Haltung der Lebensfreude, der Harmonie und der Liebe, die auch für deine persönliche Praxis und in deinem persönlichen Leben Wirksamkeit haben kann. Vielleicht sind es die Zugänge zu Energie und das Verständnis der Verbindung des Einzelnen zur Gesamtheit, die deine Entwicklung und deine Arbeit erleichtern können. Vielleicht sind es die Methoden der schamanischen Reise, die dir helfen, das Unbewusste gezielt und fast spielerisch zu beeinflussen und so manche Probleme zu lösbaren Herausforderungen werden zu lassen. Oder es ist die Verbindung zwischen wissenschaftlicher und schamanischer Weltsicht, die einen positiven Unterschied machen kann.

Die Integration von uraltem Wissen und bewährten Methoden aus anderen Traditionen in ein modernes Setting verbindet aus meiner Sicht das Beste aus beiden Zugängen. Harmonische Weltsicht und bedingungslose Liebe verbunden mit professioneller Haltung können ein spannendes Angebot darstellen. Natürlich sind die Zugänge der schamanischen Begleitung im privaten Umfeld genauso wie in unterschiedlichsten beruflichen Kontexten anwendbar. Die Einfachheit der Methoden und die dahinterliegende Philosophie öffnen den Zugang zu einem großen Feld zahlreicher Möglichkeiten.

Ich möchte dir also hier ein paar Ergänzungen zu deinen bisherigen Lebenseinstellungen und Arbeitsmethoden anbieten. Denkansätze und Techniken, die zwar vielleicht ein wenig ungewöhnlich klingen, dennoch aber ganz einfach integrierbar sind. Nimm dir ein paar Ideen mit, wie es möglich ist, wissenschaftliche und spirituelle Zugänge zu verbinden.

Probier es aus und finde deine eigene Wahrheit.

1. Altes Wissen und neue Lösungen

„Lernen besteht in einem Erinnern von Informationen, die bereits seit Generationen in der Seele des Menschen wohnen.“

Sokrates

Was ist die wichtigste Voraussetzung, um sich selbst zu entwickeln, anderen Menschen zu begegnen oder mit anderen zu arbeiten?

Ist es eine gute Ausbildung? Die perfekte Methode? Das richtige Setting? Oder sind es die passenden Fragen? Ist es die Fähigkeit zu einer professionellen Abwicklung von Prozessen, Techniken oder Beziehungen? Ist es eine bestimmte Form von Wissen?

In unserer modernen Welt haben wir einen sehr technischen Zugang zur Heilung, Begleitung und Stärkung von Menschen entwickelt. Nicht mehr funktionierende Organe werden ausgetauscht, fehlende Botenstoffe werden durch Psychopharmaka ersetzt, Chemie hilft, unsere Körperfunktionen aufrechtzuerhalten, Psychotherapie stellt sich alten Problemen, im Coaching werden durch gezielte Fragen und Methoden die Lösungskapazitäten der Menschen aktiviert, im Unterricht übernimmt der Computer die Stelle der Lehrenden u.v.m. Scheinbar können wir alle Fehlleistungen, Mängel und Schwierigkeiten, die unser Körper, unser Geist und unsere Psyche erzeugen, reparieren und ausgleichen.

Dennoch stoßen wir immer wieder an die Grenzen der Methoden. Nicht alles ist heilbar und machbar, auch wenn wir es gerne glauben möchten. An diesen Schranken stellt sich schließlich wieder die Frage nach dem spirituellen Zugang. Wir haben perfekte Methoden, Maschinen und Medikamente, dennoch sind viele Menschen auf der Suche nach dem Mehr: Was macht den Menschen aus? Wozu ist das Leben? Was ist der Sinn?

Lange Zeit haben uns die Religionen Antworten auf diese Sinnfragen gegeben. Für viele von uns sind diese Antworten jedoch heute nicht mehr gültig. Die ursprünglichen Ansätze des Glaubens sind zu sehr vermischt mit der Politik der Kirchen. Die vorgegebene Moral lässt sich in unser modernes Leben nicht mehr integrieren.

Um das Vakuum zu füllen, gibt es eine unglaubliche Vielzahl von Heilsversprechen, Erklärungen der Welt und Angebote, die von Menschen auf der Suche nach dem Sinn genutzt werden. Zahlreiche Modelle und Methoden kommen aus anderen Kulturen. Manche sind eine Mischung unterschiedlichster Zugänge und Quellen. Die Esoterik treibt mitunter bunte und auch seltsame Blüten. Viele dieser Denkweisen werden wegen ihrer mangelnden wissenschaftlichen Nachvollziehbarkeit aber auch immer wieder kritisiert. Manche beweisen sich selbst aufgrund ihrer Wirksamkeit und andere stellen sich als moderne Mythen heraus.

Irgendwo inmitten dieses Supermarktes der spirituellen Angebote findet sich auch der Schamanismus, altes Wissen aus verschiedensten Kulturen rund um die Welt. Heilzugänge, die oft über Jahrtausende weitergegeben wurden und heute wieder besonderes Gehör finden. Ansätze, die wieder aktuell werden, weil viele Menschen auf der Suche nach Antworten sind. Schamanismus ist eine Philosophie und ein Angebot von Heilung, das sich nicht nur an den Körper und die Materie richtet. Es ist eine Denkweise, die ganzheitliche Antworten liefert. Dennoch ist auch nicht einfach übertragbar, zu viele kulturelle Eigenheiten sind mitbeteiligt.

Schamanismus

In allen menschlichen Kulturen gibt es Jahrtausende alte Nachweise für eine spirituelle Tradition und Methoden, die zur Heilung und Begleitung von Menschen eingesetzt wurden. Diese Zugänge sind oft unter dem Stichwort „Schamanismus“ zusammengefasst. Der Begriff „Schamanismus“ selbst wurde in den 50er Jahren vom rumänischen Religionswissenschafter Mircea Eliade (vgl. 2006) geprägt. Er leitet sich vom tungusischen (sibirischen) „šaman“ ab und hat die Bedeutung „denken“ und „wissen“.

Schamanismus ist im Spiral Dynamics genannten Stufenmodell menschlicher Evolution (entwickelt von Chris Cowan und Don Beck) auf einer animistisch-magischen Stammeskulturentwicklungsstufe angesiedelt. In der ursprünglichen Form der schamanischen Welterklärung und Tradition herrschen Geister, Beschwörungen, Segnungen und Verfluchungen vor. Doch wurde der Jahrtausende alte Schamanismus inzwischen weiterentwickelt und an eine moderne Weltsicht angepasst. Heute können uns adaptierte und übersetzte schamanische Zugänge auch den Weg zur ganzheitlichen und integrativen Weltsicht eröffnen. Einer Welt von Vernetzung und Wertschätzung, von Gesamtverantwortung und Entwicklungsmöglichkeiten.

Durch die Medien und auch über Vermittlung durch indigene Schaman:innen, die um die Welt reisen, ist heute viel über mongolische und sibirische Zugänge, die indianischen Traditionen Nordamerikas und die alten Kulturen Südamerikas bekannt. Immer mehr verbreitet sich auch das Wissen aus dem polynesischen Kulturraum, die hawaiianische schamanische Tradition „Huna“, die in diesem Buch ausführlicher beschrieben wird. Auch im europäischen Raum hat es immer Schaman:innen gegeben. Kräuterkundige des Alpenraumes, die als Hexen verbrannten Hebammen und die Heiler aus Mittelalter und Neuzeit können ebenso in einer schamanischen Tradition gesehen werden. Sogenannte „Hausmittel“ und magische Rituale zu bestimmten Jahreszeiten zeugen heute noch von der Überlieferung des alten Wissens unseres Kulturraumes.

Mit Schamanismus sind eine alte Heilmethode, eine Denkweise und eine Lebensart gemeint. Er kann auch als die älteste Philosophie der Welt gesehen werden, schon Felszeichnungen aus der Steinzeit lassen schamanische Denkweisen, Weltsichten und Heilungszugänge erkennen. Schamanismus ist keine Religion, sondern ein Ganzes aus Philosophie und konkreten Methoden, die das Ziel verfolgen, Unterstützung für die Begleitung menschlicher Entwicklung und Heilung zu erwirken. Schamanische Erkenntnisse können in jede persönliche Weltsicht integriert werden, so schließen sich weder Schamanismus und religiöse Überzeugung, noch Schamanismus und Wissenschaft aus.

Eine Besonderheit des hawaiianischen Schamanismus ist die „Politik der offenen Tür“, die vom hawaiianisch-amerikanischen Schamanen Serge Kahili King (2002) initiiert wurde. Im Gegensatz zur wörtlichen Übersetzung des Begriffes Huna als „geheimes Wissen“ sieht er die Weitergabe des Wissens – und zwar von Philosophie und Methode – als zentrale Aufgabe. „Ein echter Schamane macht jedoch kein Geheimnis aus Wissen, das helfen und heilen kann. Die Schwierigkeit besteht nicht darin, Wissen geheimzuhalten, sondern die Menschen zu bewegen, es zu verstehen und zu gebrauchen“. (King 2002)

Einen Missbrauch des Wissens schließt er dabei nicht aus, meint aber, dass dieser – wenn überhaupt – eher aus Unwissenheit geschehen wird. Wenn jeder Mensch Zugang zum schamanischen Wissen erhält, besteht weniger die Gefahr, dass nur Einzelne es nutzen und anderen damit schaden können.

Schamanismus wird in der heutigen Zeit auch immer mehr als Marketingbegriff für den Verkauf von verschiedenartigsten Seminarangeboten und Produkten verwendet. Der Vorteil davon ist, dass das alte Wissen auf diese Weise für eine breite Masse zugänglich wird. Der Nachteil ist, dass manches davon nicht zum Besten für eine harmonische Weiterentwicklung von Menschen und ihrer Umwelt eingesetzt wird. Eine klare Abgrenzung, was schamanische Arbeit ist und was nicht, wird jedoch nur schwer gelingen. Die amerikanische Psychologin und Schamanin Sandra Ingerman (2010) bezeichnet es als Paradoxon, dass die schamanische Arbeit einerseits sehr individuell zu entwickeln ist und es andererseits doch bewährte Regeln dafür gibt. Diese Regeln sind wiederum von Kultur zu Kultur verschieden und doch grundsätzlich gleich: Es ist immer die Ausrichtung am Wohl eines größeren Ganzen.

Schamanen und Schamaninnen

Der amerikanische Anthropologe Alberto Villoldo (in Ingerman 2010) führt aus, dass die spirituellen Praktiken des Schamanismus auf unmittelbarer persönlicher Erfahrung Einzelner beruhen, die auch von anderen Menschen nachvollzogen werden können. Herkunft, Religion, Sprache oder der soziale Hintergrund spielen hier keine Rolle. Verständnis entsteht aus der Bereitschaft zur Beschäftigung mit dem Thema.

Der hawaiianische Autor Serge Kahili King definiert einen Schamanen als einen Heiler von Beziehungen: zwischen Geist und Körper, zwischen Menschen, zwischen Menschen und ihren Lebensumständen, zwischen Mensch und Natur sowie zwischen Materie und Geist (2002). Ein:e Schaman:in kann auch als Mittlerin zwischen der menschlichen Welt und den Geistwelten beschrieben werden. Sandra Ingerman (2010), eine amerikanische Psychotherapeutin, die auch in der Tradition des indianischen Schamanismus arbeitet wurde, gibt dem Wort Schamane die Bedeutung von dem, „der im Dunklen sieht“.

Menschen mit schamanischer Ausbildung oder Berufung betrachten ihre Aufgabe als dahingehend, anderen Menschen, der Gesellschaft und Gemeinschaft, Tieren, Pflanzen, der Umwelt, dem Planeten Erde oder dem gesamten universellen Gefüge an sich heilende Energien zur Verfügung zu stellen. Heilung kann dabei auf verschiedenste Art und Weise geschehen: mittels Kräuterheilkunde oder Energiearbeit, durch medizinische Hilfe, durch psychologische Beratung, bei der Konfliktvermittlung, bei der Beratung von Unternehmen oder Organisationen, im bewussten Umgang mit Geld, durch den Verkauf von Produkten oder in der Herstellung von wertvollen Nahrungsmitteln. Den Anwendungsbereichen sind wohl keine Grenzen gesetzt.

Schamanismus ist nicht Geschichte, sondern gelebtes Wissen. Ärzt:innen, Trainer:innen, Berater:innen, Lehrer:innen, Führungskräfte und auch andere Berufsgruppen bzw. Privatpersonen arbeiten auch in Mitteleuropa mit schamanischen Zugängen, ohne sie immer explizit als solche zu benennen. Um schamanisch zu arbeiten, muss man nicht aus einer alten schamanischen Kultur kommen oder deren Methoden übernehmen und weiterführen. Auch das Interesse und Engagement, verbunden mit einem spirituellen Weltbild, können zur schamanischen Arbeit inspirieren.

Prinzipiell verfügen alle Menschen über grundlegende Eigenschaften und Fähigkeiten, die eine Schamanin auszeichnen und die in indigenen Kulturen in jahre- bzw. jahrzehntelangen Lernprozessen bis zur Meisterschaft ausgebildet werden. Die schamanischen Fertigkeiten blieben in unserer Kultur bisher allerdings meist ungeweckt. Trotzdem können wir diesen Ansatz nutzen und bewusst in die eigene Lebenspraxis, die eigene Heilarbeit und in eine sinnvolle Entwicklung von Spiritualität und Ganzheit integrieren.

Sandra Ingerman (2010) betont allerdings, dass es einen Unterschied macht, ob man Schamanismus praktiziert oder Schamane wird. Schamanismus ist kein Beruf, den man sich unter mehreren Alternativen aussucht. „Alle authentischen Visionäre sind sich darin einig, dass einen das Schicksal zum Schamanen bestimmt – man wird dazu berufen.“

Wenn wir unsere westliche Kultur und unsere modernen Heilweisen mit schamanischen Praktiken bereichern, ist dies also nicht mit der Berufung zur Schamanin zu verwechseln. Wir alle können den Schamanismus für persönliches Wachstum und Heilung nutzen. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir alle zu Schaman:innen berufen sind. In indigenen Kulturen würde sich niemals jemand selbst als Schaman:in bezeichnen. Hier lässt meint José Stevens (in Ingerman 2010) dass es wohl eine Haarspalterei ist, sich endlos mit der Frage nach den konkreten Eigenschaften eines Schamanen zu beschäftigen. Wir sollten uns auf Wichtigeres konzentrieren: Wie können wir die uralte schamanische Kunst im Alltag zu praktischen visionären Zwecken einsetzen, ohne selbst traditionelle Schaman:innen zu sein.

Im Laufe meiner Ausbildungen und meiner Arbeit hat sich auch für mich immer wieder die Frage nach der Bezeichnung dessen, was ich tue, gestellt. Aufgrund der oben genannten Argumente bezeichne ich mich bewusst nicht als Schamanin, sondern weiterhin einfach als Begleiterin, Coach oder Beraterin. Ich bin nicht in einer schamanischen Kultur aufgewachsen, bin nicht schamanisch initiiert, hatte keine schamanische Krankheit und niemand hat mich zur Schamanin erklärt. Es ist für mich Respekt vor den vielen verschiedenen schamanischen Kulturen, keine Bezeichnung anzunehmen, die ich in meiner Kultur nicht habe.

Allerdings arbeite ich auf einer sprachlichen und nicht-sprachlichen Ebene mit Zugängen und Methoden der Schaman:innen. Ich begleite Menschen in Entwicklungsprozessen. Mein Weltbild ist sowohl wissenschaftlich wie auch schamanisch geprägt. Für mich liegt ein spannender Zugang in beiden Bereichen. Meine Arbeit als schamanische Begleiterin verbindet diese unterschiedlichen Welten.

Schamanische Welten

Schamanische Philosophien und Rituale sind so verschieden wie die Menschen und Kulturen auf dieser Welt. Dennoch gibt es verbindende Elemente, die in vielen schamanischen Kulturen gleichermaßen vorkommen.

Schamanisches Denken bedeutet im Allgemeinen eine spirituelle Zugangsweise, in der die gesamte Welt als beseelt und belebt angesehen wird. Nicht nur Menschen haben eine Seele und ein Bewusstsein, sondern auch Tiere, Steine, Landschaften, das Wetter oder Möbelstücke. Diese Annahme macht einen entscheidenden Unterschied in unserem alltäglichen Umgang mit der Umwelt. So sind schamanische Kulturen sehr bewusst in Kooperation mit den Elementen, der Natur und allen Teilen unserer Umwelt. Es ist immer ein Ausgleich von Geben und Nehmen, eine große Verantwortlichkeit. Es herrscht stets eine Verbundenheit mit einem größeren Ganzen, wie auch immer dieses genannt wird – Gott, Aumakua, Manitu oder Universum.

Wir können aus der schamanischen Überlieferung lernen, dass alles, was existiert, auch lebendig ist und einen Geist hat. Wir sind über ein Energiefeld mit allem Leben verbunden. Dieses Bewusstsein teilen indigene Schamanen mit Quantenphysikerinnen und Zen-Buddhisten. Wir erkennen immer mehr, dass wir spirituelle Wesen sind, die in einem Körper wohnen und eine menschliche Erfahrung machen. Sandra Ingerman (2010) sieht den Vorteil für uns, dass wir sowohl Wege zur Heilung wie auch die nötige Unterstützung im Leben bekommen, wenn wir in unmittelbaren Kontakt mit der geistigen Welt treten. Im Umgang mit diesem „transpersonalen Anderen“ geht es allerdings nicht darum, dass wir es anbeten. Mehr geht es darum, eine Beziehung aufzubauen.

Diese Verbindung zu diesem nicht sichtbaren „Anderen“ können wir zum Beispiel in der schamanischen Traumwelt herstellen. Das führt uns zu einem weiteren zentralen Element der schamanischen Denkweise: der Unterscheidung von alltäglicher und nicht-alltäglicher Wirklichkeit, oder anders gesagt, der Welt des Sichtbaren und der Welt des Verborgenen (vgl. Ingerman 2010, S. 32). In der alltäglichen Wirklichkeit findet das sogenannte normale Leben in der Wahrnehmung unserer Sinnesorgane statt. In der nicht-alltäglichen Wirklichkeit – in der Welt des (Tag)Traumes – ist die schamanische Arbeit angesiedelt. Es ist eine Erfahrungsebene, die über das Greif- und Erklärbare hinausgeht. Beide Wirklichkeitsebenen sind allerdings eng miteinander verbunden: Alles, was in der nicht-alltäglichen Wirklichkeit verändert wird, verändert auch den Alltag, die sogenannte Wirklichkeit.

Schamanische Arbeit findet oft in dieser nicht-alltäglichen Wirklichkeit statt, einer Vorstellungswelt, einer Welt der Visionen, Imaginationen, Träume und inneren Bilder. Für Schaman:innen ist diese Welt ebenso real wie die Alltags-Wirklichkeit. Schaman:innen aller Kulturen reisen in diese andere Welt, um dort Harmonie zu schaffen. Mit Hilfe von Krafttieren und spirituellen Begleitwesen und in bestandenen Herausforderungen wird die Traumwelt, die nicht-alltägliche Wirklichkeit, gestaltet. Mit ganz konkreten Auswirkungen auf das Leben und die alltägliche Realität.

Die schamanische Reise ist eines der bekanntesten Instrumente und Methoden, um die nicht-alltägliche Wirklichkeit zu erreichen. Abgewandelt ist sie mit vielen bekannten Therapieformen zu verbinden: NLP, Hypnotherapie, die therapeutische Symbolarbeit nach C.G. Jung u.v.m. können auch mit schamanischen Reisen verglichen werden. Hier liegt die große Chance einer Beschäftigung mit den schamanischen Zugängen. Wir können modernes Wissen mit alter Weisheit verbinden und so das Beste aus beiden Richtungen erfahren.

Auf die schamanische Reise gehe ich in weiterer Folge im zweiten Teil dieses Buches noch ausführlicher ein, da sie zu den zentralen Elementen schamanischer Heilarbeit gehört, die auch besonders leicht in eine moderne, aufgeklärte Arbeit mit Menschen übersetzbar ist.

Kriegerschamanismus und Abenteuerschamanismus

Serge Kahili King unterscheidet in seinem Buch „Der Stadtschamane“ zwei Weltbilder und Traditionen im schamanischen Denken: kriegerschamanische Traditionen und abenteuerschamanische Ansätze. Während die kriegerschamanischen Methoden und Gedanken sehr weit verbreitet und in indigenen Kulturen teilweise auch noch praktiziert werden (z. B. in Südamerika, Sibirien, Afrika u. a.), rücken die abenteuerschamanischen Zugänge (aus Hawaii und dem polynesischen Kulturraum) erst in den letzten Jahren mehr in den Mittelpunkt des Interesses.

Kriegerschamanische Traditionen gehen davon aus, dass es gute und schlechte Energien (Zustands- oder Ausdrucksformen) gibt. Gute Energien fördern uns, schlechte hemmen oder machen uns krank. So erklären sich diese Schaman:innen zum Beispiel Krankheiten als Folge einer Besetzung durch schlechte oder böse Geister.

Durch die Extraktion der Geister bzw. Energien können Menschen wieder geheilt werden. Die bösen Geister könnten in einer modernen Deutung durchaus auch als krank machende Denkmuster oder Gewohnheiten gesehen werden. Die oft spektakuläre Heilungszeremonie – durchgeführt durch Schaman:innen – bringt eine Veränderung der Lebenseinstellung oder Lebensführung mit sich, dadurch wird Heilung möglich.

Ziel der Krieger:innen ist es, durch Übungen, Meditationen, Kämpfe und entsprechende Gestaltung des eigenen Lebens so stark und machtvoll zu werden, dass sie keine Bedrohungen durch schlechte Energien, böswillige, nicht-lichte Spirits (oder krank machende Denkmuster) mehr befürchten müssen. In dieser Stärke ist schließlich ein harmonisches, liebevolles Leben möglich. Kurz gesagt: Je stärker und mächtiger ich bin, desto liebevoller kann ich sein.

Ein kriegerschamanischer Zugang, der uns allen bekannt ist, ist die westliche Schulmedizin. Hier werden Krankheiten bekämpft, Viren ausgemerzt und die Widerstandskraft des Körpers entwickelt, damit wir in Gesundheit und Harmonie leben können. Ohne es so zu benennen, liegt hier doch die gleiche Denkweise zugrunde wie vielen schamanischen Heilmethoden.

Die Abenteuerschaman:innen haben ein völlig anderes Denkmodell entwickelt: In ihrer Philosophie gibt es keine schlechten oder bösen Energien. Es gibt Energie und diese ist als solche neutral. Es gibt natürlich Plätze, Situationen, Menschen, die einem nicht guttun. Das hat allerdings nichts damit zu tun, dass etwas böse ist. Was mir nicht guttut oder sogar unpassend ist, kann für jemand anderen sehr nützlich und passend sein. Dadurch fällt die moralische Bewertung völlig weg.

Abenteuerschamanisch werden Zustände wie Angst, Krankheit oder Disharmonie eher als (manifestierte) Auswirkungen von Denken oder Verhalten behandelt. Der heilende Umgang damit ist am besten in der Entfaltung von Liebe und Zusammenarbeit möglich. Liebevolle Veränderung von Denk- und Handlungsmustern kann wieder Harmonie herstellen. Harmonie ist dabei aber nicht immer Harmonie im Sinne der individuellen Wünsche oder Vorstellungen. Harmonie ist ein umfassendes universelles Prinzip und umschließt daher alles, was existiert. Harmonie bedeutet eine Ausrichtung auf das Wohl aller. Das muss nicht immer sofort das sein, was wir uns in diesem Augeblick wünschen. Doch auch wenn es keinen Anspruch auf die Erfüllung von individuellen Harmonievorstellungen gibt, wird das Einfügen in die Ganzheit immer auch Harmonie im Inneren des Einzelnen bringen. In einem unbegrenzten Universum voller Harmonie ist es außerdem sehr wahrscheinlich, dass dabei auch unsere persönlichen Wünsche Berücksichtigung finden.

Für die Heilarbeit bedeutet der abenteuerschamanische Zugang als Erstes daher Entspannung. Ein Annehmen dessen, was ist, und eine freundliche Kooperation mit den vorhandenen Elementen – ganz gleich, wie sie uns begegnen. Viren werden nicht bekämpft, sondern als Auswirkung gesehen, Krankheiten sind Botschafter und Ängste ein Hinweis auf ein noch nicht bearbeitetes Thema. Wenn das entsprechende Muster dahinter verändert ist, können auch Krankheiten oder Störfaktoren, die als Auswirkung aufgetaucht sind, umgewandelt werden. Soweit es eben einer ganzheitlichen Harmonie entspricht.

Eine abenteuerschamanische Kurzfassung dieses Weltbildes würde heißen: je liebevoller, desto mächtiger.

Der Zugang zu Heilung und Ganzheitlichkeit funktioniert am besten über Harmonie und Liebe.

Es geht nicht darum, kriegerschamanisches und abenteuerschamanisches Weltbild gegeneinander auszuspielen. Beide Systeme haben ihre Traditionen und Berechtigungen. Und im Endeffekt das gleiche Ziel: ein Leben in Harmonie, Gesundheit, Ganzheit und Liebe.

Serge King (2002) führt aus: „Je machtvoller man ist, desto liebevoller ist man auch (da es immer weniger zu fürchten gibt); und je liebevoller man ist, desto machtvoller ist man auch (da das Vertrauen immer größer wächst).“

In diesem Buch werde ich vor allem auf die Zugänge, Denkweisen und Methoden des abenteuerschamanischen Weges aus Hawaii, genannt „Huna“ eingehen. Es ist der Weg, den ich am besten kenne und am intensivsten erfahren durfte. Es ist der Weg, der mir am besten zur Integration in ein westliches, systemisches und wissenschaftliches Denken geeignet erscheint. Dies bedeutet aber natürlich nicht, dass es nicht auch noch viele andere Wege der Integration und Vermittlung geben kann, die ebenso gültig und heilsam sind.

Neu-Entdecken und Übersetzen von Vorstellungen und Kulturen

Die schamanische Sichtweise ist eine des alten Wissens. Eine überlieferte Denkweise, die es in verschiedensten Kulturen und Traditionen rund um die Welt gibt. Die Schaman:innen haben für wahr erklärt, was ihnen die Erfahrung gezeigt hat. Schamanismus ist daher gelebtes Erfahrungswissen. Schaman:innen haben gelernt, indem sie ausprobiert haben. Sie haben nach dem Vorbild ihrer Vorfahren und Lehrer:innen gewirkt und dieses Wissen in vielerlei Formen weiterentwickelt und weitergegeben.

Für unsere moderne Gesellschaft gibt es die wissenschaftliche Denkweise. Die Denkweise der Überprüfbarkeit und der Nachvollziehbarkeit. Wir lernen in Schulen, Universitäten und Lehrgängen. Die Ausbildungen in unserer Welt werden zwar immer länger, dennoch kommen die wirklich entscheidenden Aspekte des Lebens in den langjährigen Kursen oft nicht vor. Wir lernen eine ganze Menge Theorie(n). Die sprachliche und logische Nachvollziehbarkeit hat große Vorteile. Doch wie wir mit uns selbst, mit unseren Wünschen, Ängsten und unserer Macht, das Leben zu gestalten umgehen können, erfahren wir im organisierten Ausbildungsbereich manchmal zu wenig. Hier haben wir daher meiner Meinung nach Aufholbedarf. Den wir unter anderem mit den Lehren der Schaman:innen abdecken können.

Allerdings gilt es zu bedenken, dass Schamanismus nicht immer unverändert in die moderne Welt zu übertragen ist. Schamanische Rituale sind in unterschiedlichen Kulturen und Ländern in Anpassung an die jeweiligen Umweltbedingungen und Herausforderungen entstanden. Verbunden sind diese Kulturen mit Heilsvorstellungen und Lebensarten, die für in der Moderne lebende Menschen oft schwer nachvollziehbar sind. Die Denkwelt und die Vorstellungen sind zu verschieden. Heilung über die Extraktion von Geistern, die eine Patientin besetzt haben, ist zum Beispiel in einem modernen Krankenhaus kaum anwendbar. Ein mit einer ganzen Menge hochprozentigem Alkohol durchgeführtes Ritual eines sibirischen Schamanen ist wohl ebenso schwer in unsere Welt zu übersetzen wie ein Schlachtopfer einer afrikanischen Schamanin.

Diese Rituale haben in ihrer Tradition ihre Berechtigung und mit Sicherheit auch ihre Wirksamkeit. Wenn wir als westlich geprägte Menschen an solchen Ritualen teilnehmen können, hinterlassen sie oft einen tiefen Eindruck. Verändern etwas in uns. Vielleicht sind sie auch sehr wirksam in der Heilung verletzter Anteile oder körperlicher Krankheiten. Dennoch scheinen sie nicht wirklich in unsere Kultur zu passen.

Wir können diese Formen von Lebensanschauung und Ritualen nicht direkt in unsere Welt mitnehmen. Die Städte und Dörfer, in denen wir leben, eignen sich nicht so gut dafür. Unsere Gesellschaft, unsere Wissenschaft und unsere Religionen haben ganz andere Formen von Wirklichkeit geprägt. Die große Chance, die wir heute haben, ist jedoch, dass wir von unzähligen Angeboten und Zugangsweisen zu lernen vermögen. Neues in unser Leben integrieren können. Dass es uns möglich ist, Philosophien und Weltbilder, die aus anderen Kulturen kommen, mit dem wissenschaftlichen Denken, das unsere eigene Kultur prägt, zu verbinden.

Somit können wir in einer Synthese von schamanischem und modernem Weltbild einen neuen und ganzheitlichen Zugang zu Heilung, Beratung und Begleitung zu schaffen.

Es gibt schamanisches Wissen und entsprechende Methoden, die gut mit einem modernen wissenschaftlichen Denken zu verknüpfen sind. Denkweisen und Erfahrungen, die eine technisierte Welt bereichern können, ohne die Errungenschaften der Aufklärung in Frage zu stellen. Schamanische Begleitung ist ein Zugang, der Wissenschaft und Spiritualität verbindet, – eine Anregung zur Erweiterung des persönlichen Weltbildes.

Systemisch-Konstruktivistisches Denken

Wissenschaftlicher Ausgangspunkt für die Verknüpfung von Schamanismus und modernen Beratungs- und Begleitungszugängen in diesem Buch ist das systemisch-konstruktivistische Denken. Hier findest du eine kurze Zusammenfassung der für mich wichtigsten Grundlagen dieser Theorie und Arbeitsweise mit Menschen.

Systemisches Denken

Im letzten Jahrhundert wurde die Systemtheorie als ein interdisziplinäres Erkenntnismodell aus Biologie und Medizin, Kybernetik, Physik, Synergetik sowie Autopoiese-Forschung und Konstruktivismus gebildet. Vom ursprünglichen Wortsinn her bedeutet „System“ etwas, was zusammensteht oder -liegt. Christa Renoldner (2007) vergleicht ein System mit einem Mobile lebendiger Figuren. Bewegt sich ein Teil des Mobiles, bewegen sich auch alle anderen Teile mit. Durch jede Veränderung im System (z. B. jemand verlässt eine Gruppe) wird ein neues Gleichgewicht hergestellt.

Systeme können soziale Systeme wie Gesellschaften, Familien, einzelne Menschen wie auch biologische oder technische Einheiten sein. Der Körper ist ebenso ein System wie das Arbeitsteam oder das Projekt. Wir erfahren in unserem Alltagsleben permanent eine Zugehörigkeit zu oder ein Ausgeschlossensein aus Systemen: Familie, Verein, Organisation, Nachbarschaft, Freundeskreis, Team u. v. m. Diese Systeme bestehen aus Strukturen, Regeln, Beziehungen, Kommunikationen und Handlungen, die von Menschen erzeugt werden. Das Zusammenwirken der einzelnen Elemente (Mitglieder) erzeugt etwas Neues, über das Einzelne Hinausgehendes.

Systemisch zu denken bedeutet daher, Menschen vor allem auch in ihrem Kontext und in ihren Beziehungen wahrzunehmen. Die die menschliche Entwicklung „entsteht“ im System bzw. findet in Systemen statt. Von der ersten Minute an sind wir in Systeme eingebunden, die uns prägen. Unsere Funktionen und Rollen, unser Verhalten im System bestimmen, wer wir in dem betreffenden System sind und welche Verhaltensweisen, Ziele und Erwartungen damit verbunden sind. So erklärt sich das Handeln von Menschen nicht durch Charakteristiken wie „böse“, „gut“, „rational“ oder „dumm“, sondern durch ihre Position im System. Menschen sind imstande, sich in verschiedenen Systemen auch völlig unterschiedlich zu verhalten. Als einfaches Beispiel können wir hier unsere eigenen Verhaltensänderungen in einer Familien- oder Arbeitssituation verwenden. Der gleiche Mensch zeigt unterschiedliche Verhaltensweisen. Ein systemischer Grundsatz lautet daher: „Der Mensch ist nicht, der Mensch verhält sich“ (vgl. Radatz 2008).

In diesen Beziehungen ist alles ist mit allem vernetzt, alles hat auf alles einen Einfluss. Es gibt daher keine eindeutigen „Ursachen“ oder „Schuldigen“, sondern nur Beteiligungen von unterschiedlicher Art und unterschiedlichem Ausmaß. Es macht keinen Sinn mehr nach Ursachen oder Schuldigen zu suchen. Zielführender ist, sich Gedanken zu machen, welche Muster von Kommunikation, Beziehungen und Handlungen im Zusammenspiel mit anderen Mustern letztendlich zu einem bestimmten Ergebnis führen. Und wie diese Muster anders „gestrickt“ (vgl. Radatz 2008) werden können, damit zieldienlichere Muster entstehen.

Selbstgestaltung lebender Systeme

Systeme erhalten sich selbst am Leben, indem sie untereinander kommunizieren und gegenseitige Übereinstimmung in ihrem Denken und Handeln suchen. Damit ein System sein Leben sichern und reproduzieren kann, erzeugt es auf sich selbst rückbezügliche Regeln, die nicht nur den Aufbau des Systems ermöglichen, sondern auch dafür sorgen, dass die Regeln weiter aufrechterhalten werden.

Unsere Erfahrungen, Einstellungen, Sichtweisen und die Art, wie wir die Welt bisher kennengelernt haben, erzeugen eine spezielle und persönliche Art des Denkens und Handelns, die sich ständig wiederholt. Problematisch wird es dann, wenn unsere Form des Denkens und Handelns nicht mehr erfolgreich ist: weil sich die Umweltbedingungen geändert haben, weil wir unsere Ziele abwandeln oder weil nun andere Menschen mit anderen Erwartungshaltungen beteiligt sind.

Diese Erfolglosigkeit bestimmter Muster erzeugt manchmal so etwas wie eine Opferrolle. Menschen erleben sich in einer bestimmten Situation als hilflos: Erst wenn sich die anderen oder die Umstände ändern, können auch sie selbst wieder etwas beitragen und aktiv werden. Aus einer systemischen Sichtweise vermag jedoch jeder Mensch, der mit seinen Denk- und Handlungsweisen ein Problem erzeugen kann, dieses Problem auch wieder zu lösen. Dazu braucht es vielleicht eine „hilfreiche Verstörung“ oder einen positiven Anstoß von außen – durch Fragen, Anregungen, Ideen, Selbstreflexion, etc., um aus dem bisherigen Denkschema aussteigen und ein neues – Erfolg versprechenderes – Muster anwenden zu können.

Lebende Systeme zeichnen sich also durch Bewegung und ständige Veränderung aus, die Strukturen werden aktiv aufrechterhalten. Auch Beständigkeit und Mangel an Veränderung bedürfen der Aktivität: „Alles verändert sich, es sei denn, irgendwer oder -was sorgt dafür, dass es bleibt, wie es ist.“ (Simon 2006). Ein interessanter Ansatz, wenn es zum Beispiel um lang andauernde Konfliktsituationen geht.

Es gibt also ein Nebeneinander von Beständigkeit und Wandel. Einerseits neigt jedes Lebewesen oder System dazu, einen einmal gefundenen stabilen Zustand zu bewahren, gleichzeitig gibt es den Antrieb zu permanenten strukturellen Veränderungen.

Das grundlegende Organisationsmuster wird aber nach Möglichkeit erhalten. Marlies und Klaus Holitzka verwenden in ihrem Buch „Der kosmische Wissensspeicher“ (2002) dafür das Beispiel des menschlichen Körpers. So werden die Zellen der Bauchspeicheldrüse innerhalb von 24 Stunden fast vollständig erneuert, die Magenschleimhaut nach etwa 3 Tagen und in weniger als einem Monat wird 98 % des Proteins in unserem Gehirn ausgetauscht. Alle diese Erneuerungen laufen auf eine Art und Weise ab, in der das grundlegende Muster – in diesem Fall der Körper – erhalten bleibt. Erhalten in der Form, in der das Muster konstruiert ist. Das kann auch ein Magengeschwür oder die chronische Entzündung beinhalten.

Das Verhalten von Menschen wird ebenso nicht durch deren Umwelt beeinflusst, sondern durch die Entscheidung der Menschen, in einer ganz bestimmten, individuellen Art zu reagieren, die nicht vorhersehbar ist. Wir können Menschen nicht „in eine bestimmte Richtung verändern“ – die Entscheidung, sich in einer bestimmten Art zu verhalten oder nicht zu verhalten, bleibt ganz allein beim Einzelnen.

Das bedeutet nicht, dass Menschen generell nicht beeinflussbar sind oder völlig unabhängig von ihrer Umgebung entscheiden. Aber die letztendliche Entscheidung über ein Verhalten liegt beim Menschen selbst, ist nicht vorhersehbar und kann sich in mannigfache Richtungen entfalten. Menschen müssen von sich aus Sinn darin finden und bereit sein, sich zu ändern oder eine bestimmte Handlung zu setzen, damit sie sich tatsächlich auf eine neue Weise verhalten können.

Konstruktivismus

„Die Wirklichkeit entsteht im Auge des Betrachters“, das ist die Grundaussage der konstruktivistischen Erkenntnistheorie. Damit ist gemeint, dass es keine objektive Wirklichkeit gibt. Was wir mit unseren Sinnesorganen wahrnehmen, ist eine Stimulierung, die an das Gehirn weitergeleitet wird. Nicht in den Sinnesorganen, sondern im Gehirn entsteht schließlich der eigentliche Sinneseindruck. Somit konstruiert jeder Mensch die sinnlich erlebte Welt selbst. Es kann daher niemals zwei Menschen geben, die gleichzeitig auf die gleiche Art und Weise das Gleiche erleben. Somit können auch keine allgemein gültige Wahrheit und keine objektiven Tatsachen existieren. In den Worten von Christa Renoldner (2007): „Was wir von einer Beobachtung weitergeben, ist nicht die Wirklichkeit.“

Der Einfachheit halber tun wir aber so, als gäbe es eine abgesprochene Realität.

Wir haben Vorstellungen darüber, wie es sein soll, und gehen davon aus, dass alle Menschen ähnlich denken und wahrnehmen. Der Prozess der Konstruktion der Wirklichkeit ist jedoch kein bewusster, etwa wie ein Architekt ein Gebäude konstruiert, sondern ein unbewusster, bei dem Erfahrungen geordnet und zueinander in Beziehung gesetzt werden. (vgl. Simon 2008).

Konflikte sind hier natürlich vorprogrammiert. Denn, wie wir glauben, dass es sein „soll“, bedeutet noch lange keine Übereinstimmung mit den Überzeugungen anderer. Daraus entstehen zwangsläufig Enttäuschungen, denn wir sehen nicht den „Raum“ der Welt, sondern wir erleben unsere persönliche Wahrnehmung.

Was einerseits zunächst irritierend erscheint, nämlich dass es keine gesicherte Wirklichkeit „da draußen“ gibt, eröffnet andererseits die Möglichkeit, die Wirklichkeit, so wie sie subjektiv erlebt wird, aktiv zu gestalten. Ein Mensch kann sich als außenstehender Betrachter seiner Welt zurückziehen und wie durch ein Schlüsselloch beobachten, was da draußen, in seiner Wirklichkeit, geschieht, kann alles als gegeben und unveränderlich wahrnehmen, ohne die Möglichkeit zu einer eigenen aktiven Beteiligung zu sehen und ohne das Geschehen auf das eigene Handeln zu beziehen. Oder er kann sich im Sinne des Konstruktivismus entscheiden, Teil des Ganzen, der Welt, des Universums zu sein, dann ist er nicht mehr zur passiven Erduldung des Geschehens verurteilt, sondern kann die Welt, an der er teilhat, beeinflussen, indem er bewusste Handlungen setzt.

Bei dieser Sichtweise tritt die Verantwortung für die eigene Wirklichkeit in den Vordergrund. Es mag bequemer sein, eigene Handlungen als bloße Reaktionen auf die Welt da draußen zu sehen und sich als Opfer zu fühlen, das seine Realität erleidet, ohne dafür Verantwortung zu tragen bzw. in unserem alltäglichen Sprachgebrauch „Schuld zu haben“. Wer sich als Teil der Welt, seiner Welt, begreift und Verantwortung für die Ursachen des eigenen Handelns in sich selbst wahrnimmt, dem eröffnen sich vorher nicht erkennbare Wahlmöglichkeiten. Wenn wir Verantwortung für unsere Wirklichkeit übernehmen und diese durch unser Handeln aktiv gestalten, dann können wir eine vielleicht nicht so wünschenswerte Realität auch verändern, indem wir bewusst andere Handlungen setzen als bisher.

Beratung (Coaching, Therapie, Begleitung, Lehre ...) nach systemisch-konstruktivistischen Grundlagen hat folgerichtig das Ziel, es Menschen zu ermöglichen, ihr Wahrnehmungsfeld zu erweitern oder ihr Erleben zu verändern, indem sie Dinge anders beschreiben, bewerten oder erklären. Neue Denk- und Handlungsmuster werden angeregt, dadurch entstehen spezifische, maßgeschneiderte Problemlösungen, die Veränderungen und Lernen möglich machen.

Schamanische Begleitung – Verknüpfung von Schamanismus und systemisch-konstruktivistischem Denken

Für die Schaman:innen ist diese Sicht auf die Wirklichkeit nicht neu, sondern ganz selbstverständlich. Alles ist beseelt und belebt, alles hat ein Bewusstsein, alles hat Eigenmacht. Ganz egal, ob wir von Menschen, Tieren, Pflanzen oder Dingen reden: In einem schamanischen Universum ist alles fähig zu kommunizieren und zu antworten. Ein altes Bild aus der Wissenschaft wäre, Systeme höherer Ordnung (von den Zellen aufwärts) als lebendig zu betrachten. Systeme niederer Ordnung (wie z. B. Moleküle, Steine, Pflanzen) gelten als unbelebt und tot. Menschen sind die Herrscher über tote Materie, die zu keiner Reaktion fähig ist. Die Systemtheorie stellt diese Zusammenhänge auch wissenschaftlich neu her und verbindet sich damit gleichzeitig mit den Aussagen der Schaman:innen.

Jedes System erzeugt Wirklichkeitsschablonen, Landkarten, über die das Leben wahrgenommen wird. Die Wirklichkeit an sich existiert nicht, es gibt nur unsere Wahrnehmung. So kann auch das berühmt gewordene Zitat von Alfred Korzybski verstanden werden: „Die Landkarte ist nicht das Gebiet.“