An den Rändern Europas - Achim Engelberg - E-Book

An den Rändern Europas E-Book

Achim Engelberg

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Beschreibung

Vom Zerfall und Aufbruch unseres Kontinents

Wie hat sich Europa in den letzten Jahrzehnten verändert, wenn wir es von seinen Rändern her betrachten? Achim Engelberg bereist seit vielen Jahren Europas Außengrenzen von Island bis Sizilien, von Spanien bis zum Balkan. Nach dem Kalten Krieg wurde es dort gefährlicher. Die 1990er Jahre waren geprägt von der Rückkehr des Krieges, von den ökonomischen Schockwellen, die Osteuropa erfassten und Westeuropa unsozialer machten. Die vielen Flüchtlinge aus zerfallenden Staaten des Ostens und vom Balkan verstörten, das Sterben im Mittelmeer begann. Es war 1989 nicht das Ende der Geschichte erreicht, wie viele geglaubt hatten, vielmehr brachen Ungewissheit und Unsicherheit über das stolze und saturierte Europa herein. Findet unser Kontinent erneut die Kraft, sich wie Phoenix aus der Asche zu erheben?

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Vom Zerfall und Aufbruch unseres Kontinents

Wie hat sich Europa in den letzten Jahrzehnten verändert, wenn wir es von seinen Rändern her betrachten? Achim Engelberg bereist seit vielen Jahren Europas Außengrenzen von Island bis Sizilien, von Spanien bis zum Balkan. Nach dem Kalten Krieg wurde es dort gefährlicher. Die 1990er Jahre waren geprägt von der Rückkehr des Krieges, von den ökonomischen Schockwellen, die Osteuropa erfassten und Westeuropa unsozialer machten. Die vielen Flüchtlinge aus zerfallenden Staaten des Ostens und vom Balkan verstörten, das Sterben im Mittelmeer begann. Es war 1989 nicht das Ende der Geschichte erreicht, wie viele geglaubt hatten, vielmehr brachen Ungewissheit und Unsicherheit über das stolze und saturierte Europa herein. Findet unser Kontinent erneut die Kraft, sich wie Phönix aus der Asche zu erheben?

Achim Engelberg, geboren 1965, schreibt u. a. für die Neue Zürcher Zeitung, die Blätter für deutsche und internationale Politik und Sinn und Form. Er ist Gründungskurator bei piqd. Als Historiker publiziert er Sachbücher und wertet den in der Berliner Staatsbibliothek vorliegenden Nachlass seines Vaters aus. Bei Siedler erschienen Die Bismarcks. Eine preußische Familiensaga vom Mittelalter bis heute (2010, zusammen mit Ernst Engelberg) und die von ihm herausgegebene Neuedition von Ernst Engelbergs Bismarck. Sturm über Europa (2014).

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ACHIM ENGELBERG

AN DEN RÄNDERN

EUROPAS

Warum sich das Schicksal unseres Kontinents an seinen Außengrenzen entscheidet

Deutsche Verlags-Anstalt

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Copyright © 2021 by Deutsche Verlags-Anstalt, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: total italic, Thierry Wijnberg (Amsterdam/Berlin)

Umschlagabbildung: iStock.com/FrankRamspott

Satz: Ditta Ahmadi

E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN: 978-3-641-15652-7V001

www.dva.de

Meiner Mutter Waltraut,

die Vertreibung,

meinem Vater Ernst,

der Flucht und Exil erlebte.

Als sich Europa nach dem Kalten Krieg vereinte, stiegen die Gefahren an den Außengrenzen. Bereits 1990 begann das Sterben im Mittelmeer, und es kam zu tödlichen Zwischenfällen an der deutsch-polnischen Grenze, als diese noch EU-Außengrenze war.

Der vielfache Aufbruch – vom Aufblühen vieler Metropolen über die Neuentdeckung von Regionen, die hinter dem Eisernen Vorhang gelegen hatten, bis hin zu den scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten des Internets – verdrängte die anschwellenden Konflikte. Doch dann kehrte der Krieg zurück nach Europa, überrollten ökonomische Schockwellen den Kontinent, die Osteuropa beutelten und Westeuropa unsozialer machten.

Die Massenankunft im Jahr 2015 war die Rückkehr des Verdrängten, das unaufhaltsam aus der europäischen Geschichte hervorbrach.

Stimmen aus Europa und von seinen Rändern verdichten sich zu einem Chor: Ein Kontingentflüchtling aus der zerfallenden Sowjetunion gehört dazu, der in Deutschland eine globale Familie fand, in der viele Geschichten von Flucht, Auswanderung und Vertreibung erzählt werden, und ein Beamter, der 1990 seinen Dienst in der Ausländerbehörde antrat und mit Weltkonflikten auf und vor seinem Schreibtisch befasst war. Neben den emotionalen Geschichten stehen die Reflexionen eines engagierten Wissenschaftlers und Politikberaters, der ein Institut für Migrationsforschung gründete, und die Gedanken, die dem Kapitän eines Rettungsbootes im Mittelmeer durch den Kopf gehen. Reportagen von den Rändern des Kontinents und aus Berlin, mehr ein Archipel von Minderheiten als ein Melting Pot, erzählen von Umbrüchen unserer zunehmend planetarischen Epoche. Es sind Geschichten von Leid und Mut.

Man geht nicht ohne Not, man geht nicht ohne Hoffnung.

Inhalt

Prolog

Was gibt es Neues im Osten?

Wie lang war der Weg zum Einwanderungsland?

Gibt es einen Ausweg ohne Leid?

Warum leben in Deutschland andere Migranten als anderswo?

Wie verändert sich die Berliner Sonnenallee, wenn’s draußen in der Welt bebt?

Wer floh gestern in die Türkei, wer flieht heute von dort?

Wie zeigt sich das Neue rund um den alten Djemaa el Fna?

Wie wurde das Mittelmeer zur gefährlichsten Grenze der Welt?

Warum kommen Freiheit und Gleichheit so schwer zusammen?

Kommt nach der Einwanderungs- die Minderheitengesellschaft?

Kein Epilog

Hin- und Nachweise

Anmerkungen

Bibliografie

Personenregister

Prolog

Nie wieder wird eine einzige Geschichte erzählt werden,

als wäre sie die einzige.

John Berger, 1972 1

Die große Völkermischung, der Verlust einer vermeintlichen Identität wird der weltumgreifende Konflikt, das Abenteuer der Gattung im 3. Jahrtausend. Die Katastrophen sind vorgezeichnet, die Rettungen sind zu erfinden.

Volker Braun, 2018 2

Im fahrenden Zug schaut der Mann intensiv auf den Ausschnitt des Vorübergleitenden, den das Fenster freigibt. Er ist alt, wahrscheinlich schon über achtzig Jahre. Er sieht funkelnde Autos, adrette Häuser mit ordentlichen Ziegeldächern, die Vorgärten gepflegt, Sträucher und Blumen wirken fast künstlich, und die Wege auf den Weinbergen sehen wie mit dem Lineal gezogen aus. Die weißen Flächen der alten Fachwerkhäuser leuchten so makellos hell zwischen den schwarzen Balken, als seien sie gerade erst gestrichen worden, die Kirchtürme ragen unbeschädigt in den Himmel. Selbst die Wolken erscheinen vom Zug aus nicht windgetrieben, sondern wie dekorativ verstreut vor blauem Grund.

Einen alten Baum verpflanzt man nicht, so heißt es. Was nützt diese Weisheit dem alten Mann? Er hat seine vertraute Umgebung verloren und ist auf dem Weg in eine ihm fremde, seltsame Welt. Er musste das Land seiner Geburt verlassen, in dem er unsägliche Entbehrungen erlitt. Seine Sprache verstehen hierzulande nur wenige. Wo er gelebt hat, wird er nicht sterben. Mit ihm reisen drei weitere Personen: Mutter, Tochter, Sohn. Ich schreibe Personen, nicht Familie. Vater und Mutter sind lange geschieden, doch der Zerfall ihres ungeliebten Landes zwingt sie, gemeinsam auszureisen. Sie kommen mit prall gefüllten Koffern nach Deutschland.

Die neuen Gerüche nehmen gen Westen rapide zu. Kaffee, Wäsche, Parfüm und Rasierwasser, alles duftet stärker und intensiver. Die Kinder der Mitreisenden betrachten die merkwürdigen Fremden mit dem vielen Gepäck verschreckt und zugleich unverhohlen neugierig.

»Das müssen hier alles Erholungsheime sein«, sagt der Vater.

Heute muss Jascha Nemtsov darüber lachen, wie sie alle die neue Welt missverstanden. Die Dörfer und Kleinstädte Baden-Württembergs erschienen dem Vater nicht wie eine dauerhaft bewohnte Welt, in der gearbeitet wird, sondern wie eine des Urlaubs, in der man für kurze Zeit dem Alltag entflieht.

Der Sohn blickt hinaus auf dieses grüne, gepflegte Deutschland. Es ist ihm unheimlich, wie schnell der Zug fährt. So etwas kennt er gar nicht aus den gigantischen Weiten des Landes seiner Geburt. Die Züge, in denen sie bisher reisten oder in die sie verfrachtet wurden, fuhren langsamer. Die Geschwindigkeit nimmt ebenfalls zu, je mehr sie gen Westen kommen. Das Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten gibt es auch als sinnliche Gewissheit.

Der Zug fährt metallisch klirrend im Stuttgarter Hauptbahnhof ein. Die prall gefüllten Koffer haben keine Räder wie die der anderen Reisenden. Sie sind schwer und klobig, zum Teil mit Kordeln verschnürt. Mühsam werden sie aus dem Zug gehievt. Vier Personen in unpassender Kleidung stehen schließlich mit zwölf abgenutzten Koffern auf dem langen Bahnsteig. Sie wirken wie aus der Zeit gefallen, wie das Urbild von Flüchtlingen aus den verlorenen deutschen Ostgebieten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs.

Nur noch die kurze Fahrt nach Esslingen am Neckar in die Landesaufnahmestelle, dann sind die Nemtsovs ans vorläufige Ende ihrer Odyssee gelangt. Was sie nicht wissen: Eine letzte, dramatische Klippe müssen sie noch überwinden.

Es ist der Sommer 1992.

In Rostock-Lichtenhagen kommt es fünf Tage lang zu schweren Ausschreitungen vor dem Asylbewerberheim. Extremisten werfen unter dem Beifall von Anwohnern Brandsätze. Die Bilder gehen um die Welt. Bang wird gefragt, was aus der zweiten staatlichen Einheit der Deutschen werden soll. Seit der Vereinigung nehmen Angriffe auf Ausländer zu. Die in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 entwickeln sich zum größten rassistischen Exzess seit der Nazidiktatur.

Oft wird verkannt, dass es vergleichbare Attacken in vielen Ländern gab und gibt. Die wachsende Zahl der Flüchtlinge löst Diskussionen aus über eine schärfere Asylpolitik, die auch von der oppositionellen Sozialdemokratie mitgetragen wird. Angesichts des Terrors von Rostock-Lichtenhagen schreibt Heiner Müller: »Die Narben schrein nach Wunden: das unterdrückte Gewaltpotential, keine Revolution/Emanzipation ohne Gewalt gegen die Unterdrücker, bricht sich Bahn im Angriff auf die Schwächeren: Asylanten und (arme) Ausländer, der Armen gegen die Ärmsten …« 3 Örtlich betäubt wird etwas später sein Kollege Günter Grass, der für den Flüchtling Willy Brandt warb, die Sozialdemokratie enttäuscht und verärgert verlassen.

Der Samen keimte schon viel früher, aber das erkannten nur wenige. Die Boatpeople, wie die Ende der 1970er Jahre zu Tausenden in hochseeuntüchtigen Booten fliehenden Vietnamesen, Kambodschaner und Laoten genannt wurden, schockierten rund um den Globus. Schwimmende Leichen, Ertrinkende, traumatisierte Gerettete. Private, spendenfinanzierte Hilfsorganisationen – unter anderen die »Cap Anamur« – versuchen so viele zu retten, wie sie nur können. In der Epoche des Kalten Krieges wird das Elend noch als Begleiterscheinung des heißen Stellvertreterkriegs in Vietnam wahrgenommen. Michel Foucault, der langfristig wirkende französische Intellektuelle mit dem kurzen Leben, deutet das Flüchtlingsproblem bereits am 17. August 1979 tiefer, denn er sieht darin einen Vorboten der großen Wanderungsbewegung des 21. Jahrhunderts. 4

Mittlerweile wird das Jahr 1979 als historische Zäsur gedeutet: vom Sieg des islamischen Fundamentalismus im Iran über den Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan bis zu Chinas Öffnung unter Deng Xiaoping. Umrisse einer multipolaren Welt zeigten sich, die Zentralperspektive ging verloren, die Ränder gewannen an Bedeutung. 5 Viele der weltumspannenden Ereignisse sind mit Flucht und Migration verbunden. Mit den Ankommenden entstand die »Neue Rechte«, die gegen »Überfremdung« antrat. Beispielsweise starben im August 1980 zwei Boatpeople, Nguyên Ngoc Châu (22) und Đô Anh Lân (18), in Hamburg. Die drei Attentäter um Manfred Roeder waren später unmittelbar mit der Mordserie des NSU verbunden, Taten, bei denen noch viele Fragen offen sind.

Über dreißig Jahre später, im Jahr 2015, brandet die von Foucault vorhergesagte Wanderungsbewegung des 21. Jahrhunderts dann an- und abschwellend gegen die Grenzen der wohlhabenden Länder. Tausende sterben an Europas Küsten. Das Mittelmeer, eigentlich die See der Zivilisationen, wird zu einem Meer der Toten.

Es ist schon dunkel, als der Zug im Bahnhof Esslingen ankommt. Die Nemtsovs – Vater, Mutter, Sohn, Tochter – steigen mit ihren zwölf Koffern aus. Die Eltern bleiben auf dem Bahnsteig, die Kinder suchen die Landesaufnahmestelle. Die Straßen sind leer. Sie begegnen einem Kroaten, der ihre Situation sofort erfasst. In diesen Tagen treffen die ersten 5000 Flüchtlinge aus Bosnien und der Herzegowina in Deutschland ein. Auf dem Balkan toben bereits die schweren Zerfalls- und Aufteilungskämpfe Jugoslawiens, die den Krieg nach Europa zurückbringen.

Der Kroate kommt mit seinem Auto zum Bahnhof. Als er die vielen Koffer sieht, schlägt er vor, die Tochter soll mit dem Gepäck, das man nicht verstauen kann, zurückbleiben. Er wird zurückfahren und sie und die Koffer holen. Doch im Auto gerät die bis dahin gefasst-ruhige Mutter außer sich. Auf Russisch schreit sie, er solle umkehren, die Tochter dürfe nicht allein auf dem Bahnhof bleiben. Sie lässt sich nicht beruhigen. Da wendet der Helfer sein Auto. Die Nemtsovs verbringen die Nacht auf dem Bahnsteig, was Jascha Nemtsov mit den Worten kommentiert: »So kamen wir erst am nächsten Tag in die Landesaufnahmestelle, die voll war von russischsprachigen Juden und Kakerlaken.«

Man weist ihnen ein Zimmer zu, Bad und Küche müssen sie sich mit anderen teilen.

Durch den Ansturm von Flüchtlingen und Migranten aus ärmeren Ländern, das erfahren sie in den nächsten Tagen, wird sich für sie der Aufenthalt in derart beengten Verhältnissen länger als erwartet hinziehen. Auf dem Fernsehbildschirm sehen sie täglich Bilder von der Belagerung Sarajevos, die 1992 begann und sich zur längsten des 20. Jahrhunderts ausweiten sollte. Die blutigste mit weit mehr als einer Million Toten fand ein halbes Jahrhundert zuvor in Leningrad statt, der Metropole, in der die Nemtsovs zuletzt lebten. Und sie sehen von Mörsergranaten verletzte oder gar zerfetzte Menschen, die sich für Wasser oder Brot angestellt hatten.

In Esslingen warnt einer, der endlich die Möglichkeit erhielt, nach Stuttgart zu gehen, die Nemtsovs sollen sich in keinen kleineren Ort schicken lassen, dort gebe es kaum Arbeit und man bleibe der Fremde. Nach drei Monaten des Wartens und Verhandelns werden ihnen zwei Zimmer zugewiesen in einer Unterkunft in Stuttgart ohne eigenes Bad, ohne eigene Küche, ja nicht einmal einen Kühlschrank haben sie.

Angekommen sind sie in der Fremde. Wird sie Heimat? Für alle?

Was gibt es Neues im Osten?

In Terrassen türmt sich die große Stadt am Dnjepr auf, die alles Unglück überlebt hat.

Ossip Mandelstam, 1926

Wo Europa endet, beginnen die Ströme. Wer nach Kiew fährt und den Dnjepr sieht, dem erscheinen mitteleuropäische Flüsse wie Rinnsale. So eindrucksvoll die Donau in Budapest auch ist, zu einem Strom wird sie erst beim Zusammenfluss mit der Save in Belgrad. Wo Europa im Meer versinkt, im Grenzgebiet zwischen Rumänien und der Ukraine, liegt dann die mythische Flusslandschaft des Donau-Deltas.

Kiew ist eine eindrucksvolle Stadt mit einem markanten Hauptbahnhof. Vom Zentrum kommend sehe ich zuerst das torartige, geschwungene und dennoch eckige Eingangsportal, dann die beiden lang gestreckten Seitenflügel mit jeweils vier hohen Fenstern in einer Fassade von der umwerfenden Schlichtheit des frühen sowjetischen Konstruktivismus. Der Bau entstand, als Majakowski dichtete: »Her mit dem schönen Leben!«

Es ist kurz vor sechs Uhr morgens. Die Stadt erwacht, rekelt sich. Wenige Passanten sind schon auf den Beinen. Als ich das Empfangsgebäude erreiche, wimmelt es auf einmal von Leuten. Die erste U-Bahn spuckt Reisende aus, die mit Koffern, Taschen, Rucksäcken in die Bahnhofshalle eilen, andere strömen aus dem gerade eingefahrenen Nachtzug. Paare verabschieden oder begrüßen sich. Küsse, Umarmungen. Einige Männer in Uniform kommen allein, andere werden von ihren Frauen und Mädchen verabschiedet. Es geht an die Front.

Ich bin verabredet mit einem Mitarbeiter von der Diakonie Katastrophenhilfe und zwei lokalen Helfern aus der Ukraine. Im Gewimmel der Reisenden greife ich zu meinem Handy, aber ich komme nicht mehr zum Anrufen. Ein schwarzhaariger Lockenkopf mittleren Alters in Begleitung von zwei Mittzwanzigern fragt: »Achim?« – »Ja.« – »Tommy. Und das sind Milan und Shenya.« Händeschütteln, Lächeln, und auf geht’s durch die kathedralenartige Eingangshalle, per Rolltreppe hinauf, dann wieder zum Bahnsteig hinunter. Dort warten bereits viele Uniformierte auf den Zug nach Kostjantynowka – das ist jetzt die Endstation. Vor dem Krieg ging es bis nach Donezk, aber die Donbass-Metropole ist russisch besetzt. Dazwischen liegt die Front. Im Flieger nach Kiew las ich in einem Bericht der Vereinten Nationen, dass an dieser Front seit April 2014 bereits 9400 Menschen ums Leben gekommen und etwa 21 500 verletzt worden seien. 6

Am Zugfenster sieht man die Vororte der ukrainischen Hauptstadt vorbeiziehen. Der majestätische Dnjepr umströmt seine Flussinseln. Golden funkeln die Kirchtürme im terrassenförmigen Grün des Hochufers. Hochhauskomplexe wie Gebirge, Wald, Ortschaften. Es ist wie eine Zeitreise. Man schaut im Vorbeifahren auf Dörfer wie aus einer vergangenen Epoche. Neu sind Graffiti, die aber weniger werden, je mehr man sich von der Dnjepr-Metropole entfernt. Immer wieder geraten noch im Bau befindliche, neu errichtete oder soeben sanierte orthodoxe Kirchen mit goldenen Kuppeln in den Blick, Zwiebeltürme, blaue Dächer. Draußen kehrt eine Frau mit dem Holzbesen, auf den Monitoren im Zug wirbt man für automatische Staubsauger.

Surrend öffnet sich die automatische Tür, Servicepersonal schiebt einen Wagen mit Kaffee und Tee, Cola und Wasser, Sandwiches und Süßigkeiten herein. Sanft puffend schließt die Tür wieder. Einige wenden die Köpfe von den Smartphones und Tablets, die mit dem kostenlosen WLAN der Bahn verbunden sind. Was sie kaufen, können sie auch mit ihrer Kreditkarte bezahlen. Durch das Fenster sehe ich, dass wir einen weiteren noch manuell betriebenen Bahnübergang passieren, und verwitterte Häuser entlang einer kopfsteingepflasterten Straße. Wäre da nicht die Satellitenschüssel an einem der Gebäude, könnte man hier einen Film drehen, der in den 1950er Jahren spielt.

Der Zug wirkt wie eine Lokomotive des Fortschritts. In dem dünn besiedelten Land scheint die Zeit still zu stehen. Es gibt nur Einsprengsel von Neuem. Neben einem Auto aus sowjetischen Zeiten steht ein Gebrauchtwagen mit deutscher Werbung aus den 1990er Jahren. In den großen Städten allerdings sah ich etliche neue Limousinen und Vans. »Sie sind wichtiger als die Wohnung«, meint Tommy, dessen sarkastisch-lebenskluger Witz mir gefällt. »Es gibt Familien, da sind neue Reifen wichtiger als neue Schuhe für die Kinder.«

Tommy kennt die Krisengebiete dieser Welt. Als wir uns verabredeten, saß er im Dauerregen Myanmars. Mit den Philippinen verhandelt er gerade, weil eine Hilfslieferung widerrechtlich verzollt und versteuert werden soll. Da keiner vor den Wahlen etwas entscheiden will, droht das Holz zum Häuserbau zu verfaulen.

»Meine Gesprächspartner in Kiew sagten mir«, lenke ich das Gespräch auf die Ukraine, »dass eine Justizreform überfällig sei. Könnte so etwas auch hier geschehen?«

»Bislang ging alles gut. Aber man weiß nie … Jedes Gesetz wird durch folgende ergänzt. Das Gesetzeswerk ist wie ein vielfach leck geschlagenes und notdürftig repariertes Boot. Eine Kollegin sagte mir, es wäre besser, alles neu zu schreiben. Momentan werden mehr Rechtsanwälte als Ingenieure ausgebildet.«

Wir tauschen unsere Erfahrungen auf Reisen aus. Ich berichte Tommy von Transnistrien, das sich von Moldawien abspaltete, er mir von Südossetien, wo er in bestimmte Gebiete nicht durfte. »Da kamen nicht mal Baptisten hin – und die kommen nun fast überall hin.« Beide Gebiete entstanden an Bruchlinien europäischer Grenzregionen und könnten ohne russische Unterstützung nicht existieren; beide gehören zu Pufferzonen Russlands, sind Enklaven, die die Hoffnung auf die Wiedergeburt eines russischen Imperiums nähren.

Beide waren wir in der Südosttürkei – ich schrieb über die Region, er kümmerte sich um die Flüchtlinge. »Sie müssen dort eine Weile leben. Deshalb probierten wir ein System aus, nach dem sie nicht einfach rationiert Lebensmittel und Sanitärartikel bekommen, was in Katastrophengebieten unerlässlich ist, sondern selbst einkaufen können, anfangs einmal, nun zweimal im Monat. Das gibt ihnen mehr Selbstwertgefühl.«

Draußen ziehen großflächige Felder vorbei, auf denen noch mit der Sense gemäht wird, und Gehöfte mit wenigen Kühen, dann kilometerweit Kiefern- und Birkenwälder, die übergehen in eine Steppe mit wenigen Bäumen.

»Mensch, ist das Land dünn besiedelt!«, staune ich.

»Hier hat sich einer aus dem deutschen Zweig meiner Familie nach der Kriegsgefangenschaft durchgeschlagen«, sagt Tommy, »bis Odessa und dann mit einem Schiff weiter. Eine russische Krankenschwester hat sich in ihn verliebt und irgendwie die Entlassungspapiere beschafft.«

»Hat er sie wiedergesehen?«

»Nein. Aber ab und zu hat er vom Krieg erzählt. Von den Gräueln auf beiden Seiten.«

»Was konkret?«

»So wurde etwa ein Gefangener nicht erschossen, sondern einer schlug ihm mit dem Hammer eine Patrone in den Schädel.«

In Bulgakows Weißer Garde las ich: »Wird jemand je für das Blut bezahlen? Nein. Niemand. Nur der Schnee wird tauen, ein grünes ukrainisches Gras wird sprießen, die Erde umflechten … und prächtiges Korn wird aufgehen … die Schwüle wird über dem Ackerland zittern, und es bleibt vom Blut keine Spur zurück. Das Blut ist wohlfeil auf den güldenen Feldern, wer sollte es kaufen, wer kauft es frei? Keiner.« 7

Tommys Leben ist ein globales: Sein Vater ist Franzose mit algerischen Wurzeln, seine Mutter Deutsche. Aufgewachsen ist er in Dänemark. Rund dreihundert Tage im Jahr ist er in den Krisengebieten der Welt unterwegs. Zu Hause ist er an der kroatischen Küste, unweit des reizvollen Neretva-Deltas. »Im Urlaub fahre ich nie weg, sondern bin dort.«

Vor dem Zugfenster wechseln sich Tannenwälder in langem Nadelkleid mit Kiefern ab, die Stamm zeigen. Altersschwache Dörfer kommen ins Bild, rostige Züge, nur noch notdürftig betriebene Anlagen. Wer von den mit Latten umzäunten Katen in die Schluchten der großen Städte zieht, absolviert eine Zeitreise, macht einen Jahrhundertschritt. Manche werden Heimweh nach der Vergangenheit haben, in die sie mit einem Zugticket zurückreisen können.

Milan, einer der Hauptorganisatoren der Hilfstransporte vor Ort, dreht sich um und meint, dass wir uns der Front nähern. Tommy sucht vor unserer Ankunft nach neuen Nachrichten über die Gefahren in dem Krisengebiet, auf das wir uns zubewegen, und nach Empfehlungen. Er ist einer der wenigen, die Zugang zu einem Internetforum von Experten haben.

Der Zug fährt in Slowjansk ein. Am Bahnhofsgebäude prangt die Jahreszahl 1952, da wurde es eingeweiht, und 2014, da wurde es nach schweren Kämpfen wieder aufgebaut. Einige Gestänge auf einer Hügelkette in blauer Ferne sollen Überreste des Fernsehturms sein, der bei den Gefechten zerstört wurde. Auf den Zugmonitoren laufen Spots mit Muskelkerlen, die auf Motorbikes über schmale Brückenbögen rasen, hoch und hinunter, unter ihnen der klaffende Abgrund. Ein Fehler bedeutet unweigerlich Absturz. Draußen sieht man nun mehr Büsche als Bäume, Seen, Flüsschen, Feuchtgebiete. Der letzte Halt wird angesagt: Kostjantynowka.

Selbst nach mehreren Stunden Fahrt wirkt die Landschaft nicht langweilig, eher wie die Komposition eines minimalistischen Meisters. Es gibt nur wenige Elemente: Wald, Hügel, Wiesen, Felder. Immer, wenn es eintönig zu werden droht, strukturieren ein See, ein Dorf, ein Flüsschen die Landschaft. Ich begreife, warum nicht alle die Wurzel des Landesnamen Ukraine auf die Bedeutung Grenzland zurückführen wollen, sondern eher auf die Schönheit der Landschaft. Wer aus dem Osten kam, etwa aus der Hungersteppe, atmete hier auf. Hier konnte er nicht verhungern oder verdursten. Für Oksana Sabuschko, eine der bekanntesten ukrainischen Intellektuellen, schlug sich gerade deshalb der Holodomor – die staatlich zumindest geduldete Hungersnot von 1932/33 mit Millionen Toten – »umfassender als der Zweite Weltkrieg als wahrhaft ontologisches Trauma im ukrainischen Bewusstsein« nieder, da er eine der »ältesten Agrarkulturen« traf, die »auf einem der fettesten und größten Schwarzerdegebiete der Welt siedelt (hier befindet sich über ein Viertel der Schwarzerdeböden weltweit) und bis ins 20. Jahrhundert keine Hungersnöte kannte«. 8

Im staubigen Bahnhof von Kostjantynowka warten Taxifahrer auf Reisende, die nach Donezk wollen. Es ist der erste Hinweis auf Verbindungslinien zwischen den Fronten. Zeichen der Normalisierung? Womöglich der Anfang vom Ende des Krieges? Was gibt es im Internetforum?

»In den letzten Wochen nahmen die Zwischenfälle wieder zu«, meint Tommy. »Ein Beschuss da, ein anderer dort.«

Die übliche Kommunikation eines Stellungskrieges. Es sprechen, wie es heißt, die Waffen.

Gleich neben dem Bahnhof steht eine neu erbaute Kirche. Sie hebt sich ab von den grauen Häusern der Umgebung. Auf neue Kirchen trifft man in diesem Land erstaunlicherweise überall. Sie wirken wie aus Fertigteilen zusammengesetzt, so sehr ähneln sie sich: die Wände makellos graffitifrei, die Kuppeln golden glänzend, das Ganze umgeben von einem schmiedeeisernen Zaun. Wie ist das möglich?

»Diejenigen, die sich Millionen genommen haben«, meint Tommy sarkastisch, »geben dann eine für den Kirchenbau. Es ist für ihr Seelenheil, und danach machen sie weiter wie zuvor, immer nach dem Motto: Moral ist gut, Doppelmoral ist doppelt gut.«

Ein Fahrer erwartet uns. Begrüßung. Gepäckverstauung.

Milan hat seine Kindheit in der Stadt verbracht. Seine Großmutter wohne noch hier, sagt er und deutet mit der Hand auf ein Gebäude: Das sei seine Schule gewesen.

»Was machen deine Schulfreunde? Sind sie im Krieg?«

»Weiß nicht. Ich lebe ja in Kiew.«

Dann wechselt er das Thema, bespricht lieber Organisatorisches.

Wir fahren so schnell über eine holprige Straße, dass mir ganz flau im Magen wird. Ab und zu weist jemand auf eine zerbombte Ecke hin, die notdürftig repariert ist. Viele Fabriken stehen still, nur wenige Schornsteine rauchen, dabei wirken die Anlagen auf den ersten Blick nicht oder kaum beschädigt. Das habe ich in Kroatien und Bosnien anders gesehen.

Nicht nach anderthalb, sondern bereits nach einer Stunde erreichen wir Sewerodonezk. Das Zentrum mit seinen rechtwinkligen Straßen hat wenig von einer europäischen Stadt und mehr von einem römischen Feldlager – ein Lager aus Betonplatten. Das Ganze scheint eher für Aufmärsche konzipiert. Straßencafés passen nicht hierher, Zählappelle schon.

»Keine Sorge, wenn nachts Kanonenschüsse in der Ferne zu hören sind«, beruhigt Milan an der Hotelrezeption des »Zentralnaja«, »bis hierher gelangen die Granaten nicht.«

Bei einem Wodka blicke ich auf den tristen Hauptplatz und lasse die bisher in der Ukraine verbrachten Tage Revue passieren. Ich hatte erwartet, auf der Fahrt nach Sewerodonezk mehr Kriegsschäden zu sehen und in Kiew kaum etwas vom Krieg im Osten zu bemerken. Das Gegenteil ist der Fall: Hier, in der Nähe der Frontlinie, sieht man auf den ersten Blick nichts, dagegen gibt es in der Hauptstadt keinen Ort für Touristen, an dem nicht auf den Konflikt mit Russland hingewiesen wird. Auf dem Weg vom Bessarabischen Markt über den Krestschatik, den zentralen Boulevard von Kiew, und den Maidan zum Hotel »Dnipro« am Europaplatz stieß ich überall auf Bilder der Toten des Euro-Maidans, die als Helden verehrt und als »Himmlische Hundertschaft« gepriesen werden. Unterwegs fragte mich eine Frau zwischen vierzig und fünfzig nach der Uhrzeit, versuchte, mich in ein Gespräch zu verwickeln. »Ich habe zwei Kinder zu Hause – hungrig. Nach der Revolution ist meine Mutter gestorben …« Wenig später ein ähnlicher Versuch. Verwandelt sich der Maidan vom Helden- zum Bettlerplatz? Führte die »Himmlische Hundertschaft« in die Hölle der Armut?

In Kiew ist der Krieg nicht nur um den Maidan Nesaleschnosti, den Unabhängigkeitsplatz, gegenwärtig, sondern überall in der Stadt. Die Zahl derer, die ihre Habseligkeiten oder Blumen, Obst und Gemüse aus dem Garten anbieten, nimmt zu. Es wird für die Armee geworben und gesammelt, Plakate erinnern an das Schicksal der Krimtataren, Denkmäler aus sowjetischer Zeit sind gelb-blau übermalt, der einstmals rote Stern leuchtet ebenfalls in den Nationalfarben, im Osten erbeutete russische Waffen werden als Beweise der Invasion ausgestellt. Ähnliches sah ich auch in Charkiw, der reizvollen, aber nahezu unbekannten Stadt der russisch-ukrainischen Moderne.

Von den Dnjepr-Höhen aus scheint es, als entsteige Kiew einem Meer aus Kastanien- und anderen Laubbäumen. Wie in den wenigen großen Städten am Meer, in Barcelona zum Beispiel, findet man Sandstrände nahe am Zentrum. Kiew ist Kultur- wie Landschaftsereignis, keine Stadt mit Parks, sondern eine Metropole in einer Wald-, Park- und Stromlandschaft.

Wer auf den Dnjepr-Höhen entlanggeht, wird an die extreme Gewalt erinnert, die der Region widerfuhr. Da sind das zerstörte Denkmal und die geschändeten Gräber der während der Oktoberrevolution Gefallenen, die Denkmäler derer, die 1918 den kurzlebigen ersten ukrainischen Staat erkämpften, Erinnerungsorte an den Holodomor, der als Gründungsmythos der heutigen Ukraine gilt, ferner ein Mahnmal für die zwischen 1979 und 1989 in Afghanistan gefallenen Soldaten sowie die Mutter Heimat mit Museumskomplex zur Erinnerung an den Kampf der Sowjetunion gegen das nationalsozialistische Deutschland. Nach 1945 erwuchs daraus der Mythos bleibender Brüderschaft zwischen Russland und der Ukraine, der nun wohl zerbrach. Vor und auf der Anlage stehen erbeutete russische Waffen. In der Stadt selbst gibt es weitere Gedenkstätten, etwa an die mehr als 100 000 vom sowjetischen Geheimdienst Ermordeten und im Bykiwnja-Wald am Stadtrand Verscharrten oder an die rund 33 000 Juden, die von mobilen SS-Truppen in der Schlucht von Babi Jar erschossen wurden.

In Sewerodonezk notiere ich: »Alle Rebellionen der letzten Jahre, vom Arabischen Frühling bis zum Euro-Maidan, konnten bestenfalls autoritäre Herrscher entmachten, aber sie konnten bislang in keine erfreuliche Zukunft führen. Politische Aufbrüche enden mit wirtschaftlichen Abbrüchen. Krisen tendieren oft nicht zur Demokratie, sondern zur Diktatur. Die Sehnsucht nach dem starken Mann wächst aus der Ratlosigkeit der Massen. Die Umbrüche, die demokratische Revolutionen sein wollten, fraßen und fressen ihre Kinder. Da die Revolten keine Lösung brachten, wählen viele das Weggehen.«

Mit düsteren Gedanken gehe ich zu Bett. Immerhin: In dieser Nacht dringt kein Granatgrollen an mein Ohr.

Am nächsten Morgen brechen wir mit einem Kleintransporter und zwei Pkws in Richtung Frontlinie auf. Es geht vorbei an Abraumbergen. Die Industrie wirkt veraltet, die Gegend ärmlich, aber nicht wie eine, in der noch vor zwei Jahren ein Krieg tobte. Warum wohl?

»Viele Fabriken wurden nicht zerstört, weil man sie übernehmen wollte.«

Später, beim Kraftwerk von Schastje, sehen wir sogar rauchende Schlote. Es gehört Rinat Achmetow, dem reichsten Mann der Region, wenn nicht gar der ganzen Ukraine. Der zwielichtige Milliardär soll zu beiden Konfliktparteien Beziehungen unterhalten. Er schickt Hilfslieferungen in den Donbass und bekommt Kohle von dort.

Zunächst passieren wir Bachmut, das ich auf meiner Ukraine-Karte nicht finde. Artemiwsk hieß es bis Februar 2016, erklärt man mir, benannt nach Artjom, dem 1921 tödlich verunglückten Mitstreiter Lenins. Wir fahren auf der Lumumbastraße.

»Die Straßen werden nun umbenannt«, erklärt Milan. »Die Lumumbastraße soll im Kampf gegen den Kommunismus auch anders heißen.«

»Damit«, entgegne ich, »übernimmt die Ukraine ein Zerrbild, das in der einschlägigen Literatur längst widerlegt ist.«

»Wer war denn Lumumba?«

»Der erste Ministerpräsident des unabhängigen Kongo. Er stritt stets ab, Kommunist zu sein. Anfang der 1960er Jahre, wohl 1961, wurde er bestialisch ermordet. In vielen Regionen Afrikas ist er bis heute ein Held.«

Dieses Umbenennen erfolgt in einer Zeit, in der die Ukraine sich als ehemalige Kolonie begreift, die sich weiter emanzipieren muss. So schrieb Oksana Sabuschko: »Die Ukraine insgesamt bezeichnet sich heute als postkolonial. Die ukrainische Kultur an sich und in ihrer Gender-Struktur bleibt freilich weiterhin eine Kolonialkultur.« 9

Es folgen kurz nacheinander vier Kontrollpunkte, an denen schwer bewaffnete Soldaten kontrollieren. Das martialische Äußere korrespondiert nicht mit ihrem Verhalten. Die Pässe werden nur lax begutachtet, nicht einmal die Fotos mit unseren Gesichtern verglichen. Einmal muss ein Kofferraum geöffnet werden, aber eine wie ein Waffensack aussehende Tasche darf geschlossen bleiben.

»Sonst muss ich die immer aufmachen«, wundert sich Tommy. Nicht der Posten, aber ich will wissen, was drin ist. »Meine Klamotten. Ich muss immer Sommer- und Wintersachen für zwei Wochen dabeihaben. Wenn sich eine Katastrophe ereignet wie das Erdbeben in Nepal, muss ich sofort losfliegen können. Dann kann es sein, dass ich einen solchen Hilfstransport unterbrechen und sofort weiter muss. Die ersten vierzehn Tage nach einer Katastrophe sind entscheidend.«

Verbrannte Wälder, Häuser mit Einschusslöchern ziehen vorbei. Der irreal wirkende Krieg wird auf einmal ganz real. Die Kontrollen werden schärfer, die Straße schlechter. Es geht nur noch langsam voran, einmal müssen wir sogar umkehren und einen anderen Weg suchen, da die Straße unpassierbar ist. Die Fahrbahnen sind lange nicht repariert worden und von Schlaglöchern zerklüftet, schwere Militärfahrzeuge haben ihre Zerstörungen hinterlassen, und es klaffen auch Bombentrichter. Vor und nach den zahlreichen Kontrollposten fahren wir wegen der Absperrungen und der vielen Straßenschäden dazwischen im Slalom.

Sengende Hitze liegt über der Landschaft, die Autos ziehen lange Staubwolken hinter sich her. Unsere Fahrzeuge sind über und über mit Schlamm bespritzt, da die Schlaglöcher und Granattrichter noch voll sind vom Regen am Vortag. Ein Rind und zwei Kühe saufen aus einem besonders großen Loch mitten auf der Fahrbahn. Sie reagieren nicht auf uns, sind es wohl gewohnt, dass Autos sie umfahren. Wir erreichen einen Kontrollposten mit schweren Barrieren und bunkerartigen Sicherheitsräumen. Hier wird scharf kontrolliert.

»Der heißt Stalingrad«, sagt Milan. »Weißt Du warum?«

»Bis dahin sind es doch noch drei- bis vierhundert Kilometer«, antworte ich ausweichend.

»Aber hier fällt wieder die Entscheidung.«

Wir fahren in Staniza Luhanska ein, das direkt an der Frontlinie liegt. In Flussnähe sei die Gefahr wegen der Heckenschützen besonders groß, wird gewarnt. Viele Fenster wurden von Granaten zerstört, in einige sind wieder Scheiben eingesetzt, andere mit durchsichtiger Plastikfolie zugeklebt. In der notdürftig in einem Postamt eingerichteten Stadtverwaltung – das eigentliche Gebäude befindet sich zu nah an der Front – hängt eine riesengroße Tafel aus den 1960er Jahren mit bildlichen Anweisungen, wie man sich bei einem Atomkrieg zu verhalten habe. Gerade in der Ukrainischen SSR waren viele Atomraketen stationiert. Sie wurden 1994 vernichtet unter der Bedingung, dass die Grenzen der Ukraine respektiert werden. Auch Russland hat das unterschrieben. Das Abkommen galt bis zur russischen Einmischung, die seit Februar 2014 changiert zwischen Invasion und Unterstützung von Separatisten. Nun wird sich kein Staat mehr von seinen Atomwaffen trennen. Das ist die bittere Lehre aus einem Regionalkonflikt, der allmählich gelöst, weiter bestehen, aber auch eskalieren kann. Es ist ein asymmetrischer Krieg neuer Art: Hier kämpfen nicht Freischärler gegen eine Großmacht, sondern Russland, größter Flächenstaat der Welt, übernimmt deren Methoden.

Soldaten, die vom Postendienst an der Front zurückgekehrt sind, telefonieren mit ihren Handys. Ein Jugendlicher hangelt an den überirdisch verlaufenden Gasleitungen. Eine alte Frau richtet zwischen einem zerschossenen Haus und einem wiederhergestellten einen kleinen Verkaufsstand mit Früchten und Gemüse aus ihrem Garten ein.

Wir erreichen den Platz, an dem die Hilfsgüter verteilt werden sollen. Aus Angst, dass es nicht für alle reicht, haben sich dort schon lange vor der Verteilung etliche Menschen eingefunden. Es sind nicht nur Arme, die schon immer arm waren, sondern auch viele, deren bürgerliches Leben der Krieg zerstörte. Als das Rote Kreuz einmal nicht genug liefern konnte, haben sie dort eine eisige Nacht und einen Vormittag lang gewartet. An diesem Tag werden die Lebensmittel und Sanitärartikel schnell und effizient direkt von der Ladefläche an die Wartenden verteilt.

Lydmila, eine Frau in mittleren Jahren, zeigt Fotos ihres zerbombten Hauses. Es ähnelt dem an der Straßenecke: ein fast quadratisches zweistöckiges Gebäude, umgeben von einer Ziegelsteinmauer mit schmiedeeisernen Schmuck- und Schutzelementen. Die Vermutung drängt sich auf, dass sich die Familie in den Jahren seit der Unabhängigkeit nur für das Haus und dessen Einrichtung abgerackert hat. Lydmila bestätigt das. Nun wollen sie alles wieder aufbauen, obwohl die Tochter, die sich zur Lehrerin ausbilden lässt, mittlerweile ausgezogen ist. Sie haben ein wenig Geld von einer amerikanischen Stiftung erhalten, und Lydmila versucht, weitere Geldgeber aufzutreiben.

»Ich will hierbleiben«, sagt sie. »Etliche geflohene Bekannte sind schließlich zurückgekehrt. Wer keine Verwandten oder sonstige Verbindungen hat, der kommt in anderen Regionen nicht zurecht. Die Großstädte verwirren mich. Auch andere von hier. Mit meinem Mann will ich schnell mit dem Wiederaufbau beginnen.«

Einer der Fahrer zeigt Bilder seiner Wohnung, in die eine Granate einschlug. Es stellt sich heraus, dass alle Helfer von Wostok SOS, der ukrainischen Partnerorganisation der Diakonie Katastrophenhilfe, Vertriebene sind.

Forscher der Kiewer Mohyla-Akademie, die die Binnenmigration seit 2014 beobachten, haben mir erzählt, dass viele Bewohner der umkämpften Gebiete bleiben wollen. Dennoch gibt es Hunderttausende Binnenflüchtlinge infolge dieses Krieges, nach Angaben des UNHCR sogar mehr als in Pakistan und im Kongo.

Ich wundere mich, dass so schnell und vor allem so nah an der immer noch gefährlichen Grenze wieder aufgebaut wird. »In Bosnien haben wir teilweise fünfhundert Meter von der Front entfernt die Häuser wiederherstellen lassen«, sagt Tommy. »Manche sind auch wieder zerstört worden. Aber: Wer eine Kelle in der Hand hat, bringt seinen Nachbarn nicht um. Der tägliche Blick auf Zerstörungen macht aggressiv.«

In Kiew hatte mir die ukrainische Autorin und Fotografin Yevgenia Belorusets prophezeit, dass ich im Krisengebiet weniger über Logik, Ursachen und Perspektiven des Krieges erfahren würde als vom Frieden und der Sehnsucht nach Normalität.

Inzwischen hat sich Nikolai zu uns gesellt. In seinem Trainingsanzug wirkt er ausgemergelt und müde. Er hat ein Kleinkind im Arm. Einen Grund für den Krieg kann er ebenso wenig nennen wie Lydmila. Vielleicht will er es auch nicht.

»Meine Eltern sind alt. Ich kann nicht weg.«

»Hört der Krieg bald auf?«

»Ich weiß es nicht, ich hoffe.«

Neben dem Mahnmal für den Krieg von 1941 bis 1945 ragt die Ruine der zerbombten Schule auf. Ich sehe kein Denkmal, das gelb-blau eingefärbt worden ist. Man hat hier andere Sorgen, als Mahnmale anzupinseln.

Die Autos der Hilfsbedürftigen sind in einem jämmerlichen Zustand. Bei einem ist die Elektronik notdürftig mit Pflaster an das Lenkrad geklebt. Die ausgesetzten Hunde der Geflohenen streunen herum. Einige zerstörte Bauernhäuser aus Lehm und Holz erinnern an die im Zweiten Weltkrieg ruinierten. Die Granaten haben Löcher in Dächer und Wände gerissen und Dellen in die eisernen, meist grünen Tore geschlagen.

Mit einer Mitarbeiterin der Stadtverwaltung tuckert unser Tross langsam dorthin, wo die Alten leben – allein, als Ehepaar, in einer Wohngemeinschaft, im Mehrgenerationenhaus. Bis auf einen Mann mit extrem sehnigen Armen, der mit freiem Oberkörper vor uns tritt, sind es alte Frauen. Der Alte trägt eine silberne Kette mit Kreuz um den Hals, in den Zimmern der Frauen hängen Ikonen an den Wänden. Die alten Frauen sehen, was sie bereits als junge Mädchen sahen: ein zerschossenes, zerbombtes Dorf. Die Sowjetunion bescherte ihnen die längste Friedenszeit, die Kolchose bot ihnen eine Heimat. Überall in den Dörfern und Kleinstädten der Nachfolgestaaten habe ich diese Frauen getroffen, oft mit bäuerlichem Kopftuch. Früher sei es besser gewesen, aber heute gehe es auch, erklären die meisten, immerhin sei kein Krieg. Im Osten der Ukraine ist das nun anders.

Eine der Frauen erzählt, dass sie als Jugendliche den Vernichtungskrieg der Wehrmacht und der SS erlebte, dann 1986 den Reaktorunfall von Tschernobyl. Sie musste damals Dorf und Haus verlassen und kam hierher. Nun lebt sie wieder in einem kriegsversehrten Ort. Eine betet darum, bald zu den Engeln zu kommen. Eine andere liegt wie totenstarr, dann bewegt sie den Kopf und spuckt Speichel neben sich. Wahrscheinlich liegt sie im Sterben. Wieder eine hofft, noch ein bisschen durchzuhalten, um Kinder und Enkel mit ihrer kärglichen Rente und den Hilfsgütern unterstützen zu können. Viele verdienen sich mit dem Ertrag des Gartens etwas hinzu. Arbeit gibt es kaum. In dem Mehrgenerationenhaus riecht es streng nach Alter – der Menschen, der Sachen, der Wände. Alles ist rissig, bröcklig, morsch, modrig.

Wir fahren zum Grenzübergang an der behelfsmäßig reparierten Brücke. Dort sollen viele Menschen sein. Der Kontrollpunkt liegt neben zerbombten Häusern und einer zerstörten Tankstelle mit grotesk zerschossener Preistafel. In einem Zelt ist eine provisorische Kirche eingerichtet. Ein Denkmal für die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs leuchtet wohl deshalb in ukrainisch gelb-blauer Bemalung, weil es von der anderen Seite der Front zu sehen ist. Die Waffen ruhen, die Waren werden bewegt, es herrscht reger Verkehr.

Eine Frau aus dem russisch besetzten Gebiet zieht einen Wagen mit fünf Steigen Erdbeeren hinter sich her. Ein Mann aus der ukrainischen Pufferzone schiebt einen mit dreizehn Kisten Obst und Gemüse beladenen in die andere Richtung – ein Sisyphos mit gestreckten Armen, gebeugtem Rücken und angestrengt arbeitenden Beinen. Eine Frau, die wir ansprechen, ist mit fünf großen Steigen Tomaten unterwegs. Sie behauptet, das Gemüse sei für den Eigenbedarf, sie treibe keinen Handel. Die Frau mit den Erdbeeren kommt zurück. Eine Steige ist sie anscheinend nicht losgeworden, dafür hat sie nun vier Steigen Tomaten und Gurken im Wagen. Milan und Shenya sagen, dass die Menschen Preisunterschiede nutzen, um etwas Geld zu verdienen. Die Angebote differieren hier sehr stark. Einige Alte passieren ohne Gepäck den Kontrollposten, über dem gleich zwei ukrainische Flaggen im Wind flattern und knattern. Diese Grenzgänger holen sich die Rente ab, besuchen Verwandte. Einige Männer in Jeans und Trainingsjacke stehen herum, rauchen und palavern. Oder planen sie etwas? Handeln sie einen Deal aus?

Am nächsten Tag macht sich der Tross zu einem Pflegeheim für psychisch Kranke auf, das in der ländlichen Pufferzone bei Bachmut liegt. Am Kontrollposten das übliche Ritual: Anhalten, ein Soldat mit Sturmgewehr winkt, wir fahren langsam im Slalom um die rechts und links aufgestellten Panzersperren, halten wieder einmal neben dem Wachhabenden, die Pässe werden hinausgereicht. Am Tag zuvor haben wir das an die zwanzig Mal hinter uns gebracht. Es waren immer kurze Zwischenstopps. Heute ist das anders. Ein weiterer Grenzer kommt aus dem Häuschen und sichert ab. Die Männer in den militärgrünen T-Shirts sind braun gebrannt, der eine trägt eine dunkle, verspiegelte Sonnenbrille, der andere eine Schutzweste. Neben dem großkalibrigen Sturmgewehr sehe ich Pistolen im Gürtelholster. Man prüft die Pässe, erkundigt sich nach unserem Vorhaben. Mittlerweile ist ein dritter Mann herausgetreten. Man will einen weiteren Bescheid, ohne den kämen wir nicht weiter. Aber letzte Woche … Heute neuer Befehl … Man könne sonst nicht … Befehl ist Befehl. Milan und Shenya sind ausgestiegen, zeigen auf die Waren im Laster hinter uns. Man wolle ja, aber … Befehl ist Befehl … Man müsse eine Lösung finden.

Tommy und ich beobachten die Gesten von vermeintlicher Exaktheit und realer Macht. Milan und Shenya loben die wichtige Arbeit am Kontrollpunkt, man müsse, werde doch eine Lösung finden.

»Hoffentlich dauert es nicht drei Stunden wie mal in Bosnien«, meint Tommy.

»Dort war es ja meist so, dass man passieren durfte, wenn man ins Gespräch kam. Ist das auch hier so?«

»Das ist überall so. Denen ist auch langweilig.«

Es ist der Orientalismus des Militärs. Wie ein Basarhändler Freude am Feilschen hat, haben die Posten Freude an dem Gefühl der Macht, da sie ansonsten nur zu gehorchen haben in ihrem eintönigen Alltag, der tödlich enden kann. Gerade Kontrollposten sind ein beliebtes Ziel. Der ukrainische Grenzübergang, den wir gestern passierten, sei heute mit Panzerfäusten angegriffen worden, hatte mir Tommy beim Frühstück erzählt. Es habe Verletzte gegeben.

Milan kommt zu uns, fragt nach der Telefonnummer von der Leiterin des Pflegeheims.

Wir warten, trinken Wasser, schauen in die Landschaft, reden mit den Posten. Bilder von Kindern, Frauen, Freundinnen, Hunden werden auf den Smartphones gezeigt. Ohne den Kontrollposten würde es wie eine friedliche Gegend mit Feldern und Dörfern wirken – bis wilde Hunde herantrotten.

Streunende Hunde zeigen Um- und Ausbrüche an. Man trifft auf sie in Krisengebieten oder in Landstrichen, die im Abstieg begriffen sind und aus denen viele wegziehen. Streunende Hunde sieht man im Kosovo oder im rumänischen Sulina, auf dem Lykavittos, dem Stadtberg Athens, oder in Sofia. In einem seiner Bücher beschreibt Aleksandar Tišma, wie die Vierbeiner in seiner Heimatstadt Novi Sad jaulend und bellend ihren in Viehwaggons zusammengepferchten Herrchen und Frauchen hinterher jagten, bis der Transport in die Vernichtungslager ihnen enteilt und nur noch als rauchender Punkt in der Pannonischen Tiefebene wahrzunehmen war. Und Milan Kundera erzählt von der Jagd nach den ausgesetzten Hunden jener, die nach der Niederschlagung des Prager Frühlings die Tschechoslowakei und den Ostblock verließen. Durch die Zentren traben die Vierbeiner mit trauriger Gelassenheit, liegen in dunklen Ecken und schnüffeln hier und da, an den Rändern hingegen sammeln sie sich zu jagenden Meuten. Verwildert können sie einen das Fürchten lehren. 

Die weiß getürmten Wolken wirken mit ihrer dunklen Unterseite wie vom flachen Land aufgestiegen, als hätten sie die Schwerkraft der Erde überwunden, um nun, der Ewigkeit der bäuerlichen Kreisläufe entkommen, vom Wind aus der Steppe in andere Gegenden getrieben zu werden, gleich den jungen Leuten in den Dörfern, die es in die großen Städte zieht. Viele von ihnen träumen von einem Leben hinter der Grenze, weit im Westen, wo es freier ist. Europa, ach Europa! Viele Wolken werden dieses gelobte Land früher erreichen als die jungen Männer und Frauen mit den sehnsüchtigen Blicken.

Ein alter Lada tuckert zum Kontrollposten. Kaum hat er angehalten, öffnet sich die Beifahrertür. Eine Mittfünfzigerin steigt aus. Ihre Erscheinung steht im Widerspruch zum abgenutzten Auto. Man sieht sofort: Das ist jemand, der gewohnt ist, Entscheidungen zu treffen. Bald können wir mit der Direktorin der Anstalt zum Klinikum weiterfahren.

Etliche Patienten drängeln sich um den Wagen, lachen und scherzen. Einige müssen zurückgehalten werden, bis der Laster seine Position erreicht hat. Dann können sie endlich ausladen. Jeder möchte viele und große Hilfsgüter in den Lagerraum schaffen, und so fällt im Eifer einiges herunter. Allmählich werden Rangordnungen erkennbar, es bildet sich eine Reihe. Alle eint die Freude, etwas tun zu können. Immer mehr Patienten kommen aus dem Haus, einige sind unschlüssig. Ein Mann mit Down-Syndrom, der anfangs nur zuschaut, zieht seine Jacke aus, hängt sie ordentlich auf und packt an. Einer gebärdet sich als »Chef« der Kranken, ein anderer stimmt ihm laut lachend in allem zu, setzt die Anweisungen seines »Chefs« durch, nimmt sich mit zunehmender Dauer aber das Recht heraus, selber Befehle zu erteilen. Er fordert Herumstehende zum Anpacken auf. Die machen meist freudig mit, nur einer weigert sich, zieht sich ins Gebäude zurück und beobachtet mit größerem Abstand das Entladen – ein Spiegelbild normaler Gruppendynamik.

Etwa sechzig der 345 Patienten, so erfahren wir im Gespräch mit der Klinikleitung, kommen aus den russisch besetzten Gebieten. Sie vermissen vertraute Orte und Menschen, daher nehmen Stress und Krankheiten zu. Immer wieder würden sie fragen, wann sie denn heimfahren. Die Assistentin der Direktorin ist aus Donezk geflohen. Sie will nach Kriegsende nicht mehr zurück. Kriegsmüdigkeit liegt in den Augen und Gesten vieler Menschen, denen ich während meiner Reise begegne. Die Soldaten machen derbe Scherze, wenn sie von der Front zurückkehren. Freude sehe ich nur in den Gesichtern der Irren.

Während der wenigen Tage meiner Reise durch die Ostukraine starben nach unterschiedlichen Berichten mindestens vier ukrainische Kämpfer und eine Zivilistin, darüber hinaus gab es etliche Verletzte. Über die Toten auf der russischen Seite können keine Angaben gemacht werden.

Es waren ganz normale Tage, seitdem die Front zum Stillstand gekommen ist.

Im Osten nichts Neues.

Wie lang war der Weg zum Einwanderungsland?

Flüchtlinge in Menge, besonders wenn sie kein Geld haben, stellen ohne Zweifel die Länder, in denen sie Zuflucht suchen, vor heikle materielle, soziale und moralische Probleme. Deshalb beschäftigen sich internationale Verhandlungen, einberufen, um die Frage zu erörtern: »Wie schützt man die Flüchtlinge?« vor allem mit der Frage: »Wie schützen wir uns vor ihnen?«

Alfred Polgar, 1938

Olaf de Bodt lernte ich auf einer Party an der Elbe kennen. Es war während der Hundstage, die früher als üblich begonnen hatten. Die Hitze ließ kaum nach. Der Fluss war schmaler als sonst, größere Schiffe konnten nicht mehr fahren. Aber das fließende Nass zog die Menschen nach wie vor an die Ufer. Die Gaststätten waren überfüllt, obwohl der freigelegte morastige Flussuntergrund penetrant stank.

Meine Gastgeberin hatte Olaf de Bodt gefragt, ob er mich vom Bahnhof abholen könne. Er trug einen geflochtenen Sommerhut und überragte mich mindestens um einen Kopf. Bevor er zum Bahnhof kam, hatte er Lebensmittel und Getränke in einem der riesigen Supermärkte am zersiedelten Rand der nächsten großen Stadt eingekauft und erzählte mir während der Fahrt in seinem schnittigen Auto, dass es Schwierigkeiten geben könnte, die Polizeiautos hätten die Flussstraße gesperrt. Warnleuchten blinkten, Beamte beugten sich zu den Autofenstern hinab, sprachen mit den Fahrern. Viele wendeten daraufhin ihre Fahrzeuge. Wir konnten so kurz vor dem Ziel nicht mehr ausweichen und mussten warten. Was geborgen wurde, sagten die Beamten nicht.

Es war die alte, aber immer wieder im wahrsten Sinne des Wortes auftauchende Geschichte: Im Flussschlamm hatten Spaziergänger einen verdächtigen Gegenstand entdeckt. Spezialisten entschieden sich für eine gezielte Sprengung der Bombe, Jahrzehnte, nachdem sie abgeworfen worden war. Wahrscheinlich war der Pilot längst tot.

»Da war es!« sagt de Bodt, nachdem wir die Fahrt endlich fortgesetzt hatten, und weist mit dem Finger dorthin, wo die Sprengung stattgefunden hatte. Nichts deutete mehr darauf hin, nahezu still floss die Elbe unter der Hitzeglocke dahin. »Für den Zweiten Weltkrieg interessiere ich mich«, sagt er noch, »meine Geburtsstadt ist total zerbombt worden. Bis auf wenige Häuser gibt es nichts mehr von früher.« Kurz darauf biegen wir ab zu einem Sommerhaus mit Flussblick.

Beim Gespräch am Abend wundere ich mich über Olaf de Bodts Bemerkungen und Fragen. Wenn ich von Jordanien erzähle, berichtet er über Schicksale von dort. Wenn ich Erlebnisse aus der Ostukraine schildere, erwähnt er Flüchtlinge von dort, obwohl er nie in dem Land gewesen ist. Aber er kennt die, die von dort kamen, und die berichten ihm von ihrer Welt.

Ähnliches höre und erlebe ich immer wieder. Eine pensionierte Deutschlehrerin, die nach dem Tod ihres Mannes keine großen Reisen mehr unternimmt, unterrichtet eine afghanische Frau, eine Rumänin, einen Mann von den Malediven und zwei syrische Schüler. Die Welt, sagt sie, komme mit ihren vielfältigen Problemen zu ihr nach Hause. Sie sorgt sich um die Enkel, sieht aber auch – da ihr Mann vor seinem Tod die Familiendokumente ordnete –, welche Feuerstürme die Familie nach 1945 überstanden hat. Der Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und dessen Folgen ist ein wiederkehrendes Motiv bei der Auseinandersetzung mit den Geschichten der Ankommenden.

Was aber macht Olaf de Bodt?

»Ich arbeite nicht mehr … Nee, Rentner bin ich nicht. Oder seh’ ich schon so alt aus? … Wenn du mit einem gebrochenen Bein im Café sitzt, dann bist du krank. Wenn ich das mache, heißt es aber, der macht blau.«

Schließlich sagt er, dass er lange in einer Ausländerbehörde gearbeitet habe.

Was geht in denen vor, die entscheiden müssen, wer bleiben darf und wer gehen muss, wer eingebürgert und geduldet oder wer abgeschoben wird? Wie verändert sich das Leben in einer aufgewühlten Öffentlichkeit? Wann schlägt die wachsende Quantität der Fremden in eine neue Qualität der Gesellschaft um?

Flüchten ist der Versuch, einen Ort zu erreichen, an dem man nicht unmittelbar bedroht ist. Daher kann Flucht vieles bedeuten: Migration im eigenen Land, wie nach dem Ausbruch des Krieges in der Ostukraine, oder Auswanderung in sichere Nachbarländer, wie sie rund um den Globus zu beobachten ist, vor allem im Süden. Aber sie kann auch bedeuten, auf einem anderen Kontinent ein neues Leben zu beginnen. Die Auswirkungen von Flucht und Vertreibung aus  den Ländern des brennenden Halbmonds rund um Europa sind inzwischen auf den Straßen und Plätzen Europas allgegenwärtig.

Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts waren nicht Nationalstaaten das wichtigste Teilstück der politischen Ordnung, sondern Imperien mit vielen Völkern. Als die riesigen Kolonialreiche der Staaten Westeuropas zerfielen – auch das eine Folge der Selbstzerstörung Europas –, bildeten sich weltweit neue Staaten mit zuweilen bis heute umstrittenen Grenzen, starken inneren Spannungen und nicht selten großer ökonomischer Schwäche. Bürgerkriege, Menschenrechtsverletzungen, Gebietskonflikte verstärken sich gegenseitig, tragen zur Destabilisierung bei und erschweren den Aufbau von festen politischen Ordnungen. Immer mehr Menschen kehren ihrer Heimat den Rücken, suchen eine Zuflucht.

Krähenrufgruseliger Bodennebel hängt zwischen den Bäumen am Fluss, als ich vor dem Einschlafen eingegangene Mails und Nachrichten lese. Das Niedrigwasser der Elbe legte Hungersteine frei. Inschriften, die sich gewöhnlich unter Wasser befinden, tauchen aus der Vergangenheit auf: »Wenn du mich liest, dann weine!« Manche stammen noch aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Damals wurde vor einer drohenden Hungersnot infolge einer schlechten Ernte gewarnt, oder man hoffte, dass die Transportschiffe wenigstens mit geringerer Ladung ihre Fahrt fortsetzen könnten. In jener Zeit, die in diesem heißen Sommer im wahren Sinne des Wortes wieder auftauchte, waren die Vorfahren Olaf de Bodts als geächtete Hugenotten auf der Flucht – zuweilen wirft die Geschichte Schatten über die Jahrhunderte hinweg. Der Dürre hierzulande wird keine Hungersnot folgen. Der neue Dreißigjährige Krieg findet woanders statt – im Nahen Osten, in Afrika oder »hinten, weit, in der Türkei …«.

Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, Wenn hinten, weit, in der Türkei, Die Völker aufeinander schlagen. Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus Und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten; Dann kehrt man abends froh nach Haus Und segnet Fried und Friedenszeiten.

Die spießig-rührselige Gelassenheit, die Lust am Schrecken der Bürger in der Szene »Vor dem Tor« aus dem ersten Teil von Goethes Faust ist dahin, verweht. Der Krieg »hinten, weit«, taucht allmählich in unseren Straßen auf und löst Gereiztheiten aus. Es ist ein neuartiger Krieg, dieser Krieg gegen den Terror und der Terror als Krieg.

Es ist der Sommer, bevor die Jugend protestierte – nicht Studenten, wie so oft, sondern Schüler. Fridays for Future. Beim Frühstück sticht schon die Sonne. Das Wasser, dunkel und braun, fließt träge dahin. Trocken knackt das Holz. Bei dieser Dürre könnte schon ein Funke einen Feuersturm verursachen – auch das ein Menetekel für die unbewohnbar werdenden Gegenden der Welt. Es werden immer mehr und mit ihnen steigt die Zahl der Klimaflüchtlinge.

Langsam enthüllt Olaf de Bodt, der von sich sagt, er habe Gewitterstürme im Kopf, seine Geschichte. Je kräftiger sein Erzählfluss strömt, umso mehr gerät er in den Dialekt seiner Heimat. Als er 1990 – wie einst sein Vater – die Beamtenlaufbahn einschlug, war er zunächst Sachbearbeiter für Flüchtlinge aus der DDR, die wenige Monate später Mitbürger waren. In den Jahrzehnten seiner Amtszeit verschoben sich die Außengrenzen der Europäischen Union, die damals noch nicht so hieß, immer weiter nach Osten. Erst war die Grenze die zur DDR, dann war jenseits der Grenze Polen, schließlich Weißrussland und Russland und Richtung Süden ging es bis ins Donau-Delta.

Vor dem Krieg in Jugoslawien flohen Menschen aus dem Nahen Osten oder Afrika nach Europa, und Olaf de Bodt lernte Libanesen und Algerier kennen. Bald stammen die Flüchtlinge aber auch aus dem sich angeblich vereinenden Europa. Die ethnisierten Konflikte Jugoslawiens entluden sich in Kriegen auf dem Westbalkan – dem ersten in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Bosnier kamen aus einer Region, die er als Kind während eines Jugoslawienurlaubs bereist hatte. Er kannte auch Gastarbeiter, die sich etwas dazuverdienten, etwa beim Hausbau einer befreundeten Familie, aber er erfuhr weder damals in Jugoslawien noch anderswo auf der Welt jemals am eigenen Leib, wie es ist, das Leben in einem Kriegs- oder Krisengebiet. Wie die Konflikte aus solchen Unruheherden sich auf unseren Straßen und Plätzen zeigen, davon kann er allerdings mehr als eine Geschichte erzählen.

Seit jenem heißen Sommer ist das Gespräch mit Olaf de Bodt nie abgebrochen. In Wahrheit heißt er anders, auch einige Umstände sind hier verfremdet. Er ist, wie einige seiner Kollegen, mit denen ich sprach, ein Whistleblower – ein Vertreter jener paradigmatischen Gestalt der verwalteten Welt, die sich über Jahrhunderte entwickelt hat.

Die Arbeitsteilung in unseren Gesellschaften mit ihren vielen Ämtern, Papieren und Dokumenten schreitet unentwegt voran, und es bilden sich immer neue Berufe heraus. Diese Entwicklung ist eng verflochten mit der allmählichen Verwandlung der Welt in eine bürgerliche und die Erfindung des Staatsbürgers. Lange konnte man ohne Pass reisen, jenes Dokument, das letztlich zurückgeht auf drei mittelalterliche Erfindungen: Register, Steckbrief und Eingangskontrollen (das französische passeport bedeutet wörtlich: geh durch die Tür). Die Entwicklung des modernen Passes ist eine Geschichte von Aus- und Eingrenzungen. Als die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert Millionen Arbeitskräfte in Bewegung setzte, als Menschen vom Land in die Städte zogen, wo es Arbeit gab, war es auch Armen erlaubt, ohne gültige Papiere zu reisen. Später war das Reisen ohne Dokumente dann ein Privileg der Reichen – eine »Reise ohne Papiere«, so warb man 1888 für eine Luxusreise im Orientexpress von London nach Konstantinopel. 10

Vor dem Ersten Weltkrieg durfte man noch ohne Pass reisen, doch bald nach seinem Ende, am 21. Oktober 1920, legte der Völkerbund fest, was ein Pass ist. Man glaubte, es handle sich dabei um ein Provisorium, doch die Abschaffung dieses Notbehelfs ist nicht abzusehen. Gleich am Beginn des ersten von Brechts Flüchtlingsgesprächen heißt es: »Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen … Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.« Möglichst fälschungssicher sollen die Papiere sein. Dennoch beschäftigen Passfälscher ganze Kompanien von Ermittlern, Handwerkern und Beamten, die die Dokumente ständig verbessern und die Passfälscher zu immer neuen Ideen anregen. Es ist ein Wettlauf der Technik und eine Suche nach Lücken.

Bis heute werden vor allem Papiere und Urkunden manipuliert, mit denen erstklassige Pässe erworben werden können. Asylsuchende, denen das nicht möglich ist, legen oft gar keine Papiere vor, behaupten, diese seien ihnen bei der Flucht abgenommen worden oder abhandengekommen. Nicht selten geben sie Herkunftsländer an, die ihre Chancen auf Anerkennung als Asylbewerber verbessern. Angeblich verlorene Papiere können plötzlich wieder auftauchen, etwa wenn die Eheschließung mit einem deutschen Partner in Aussicht steht. Erst mit der Einbürgerung ist die Gefahr der Abschiebung gebannt. Es ist die härteste Entscheidung, die die Ausländerbehörde trifft – selbst Mitarbeiter fürchten sie.

Olaf de Bodt trat die Arbeit in der Ausländerbehörde gemeinsam mit einem Kollegen an, den er aus der Ausbildung kannte. Die Fluktuation in diesem Amt ist hoch und mit ungewöhnlich vielen Schwankungen und Turbulenzen verbunden, und so musste er, als eine Kollegin den Dienst unvermittelt quittierte, sehr viel früher als geplant eine Abschiebung durchführen, genauer gesagt fiel ihm ein entscheidender Anteil bei diesem Vorgang zu, der über mehrere Behörden und Ämter verteilt ist, sodass keiner am gesamten Ablauf beteiligt ist.