Ändere die Welt! - Jean Ziegler - E-Book

Ändere die Welt! E-Book

Jean Ziegler

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Beschreibung

Das provokante Debattenbuch des international
bekannten Globalisierungskritikers


Die Kriege sind zurück, Hunger und Not gehören auch in Europa wieder zum Alltag, aufklärungsfeindliches Denken gewinnt an Boden. Die Welt verfügt zum ersten Mal in ihrer Geschichte über die Ressourcen, Hunger, Krankheit, Tyrannei auszumerzen; und doch wird der Kampf um knappe Güter menschenverachtend in immer neuen Dimensionen ausgetragen. Jean Ziegler, der seit Jahrzehnten Elend, Unterdrückung und Ungerechtigkeit anprangert, blickt zurück und befragt sich selbst, was er mit seiner wissenschaftlichen und politischen Arbeit bewirkt hat. Warum gelang es den Menschen in den westlichen Gesellschaften bisher nicht, ihre inneren Ketten abzuschütteln, die sie hindern, frei zu denken und zu handeln? Ziegler ruft dazu auf, die Welt zu verändern und zu einer sozialen Ordnung beizutragen, die nicht auf Beherrschung und Ausbeutung basiert. Seine Hoffnung richtet sich auf eine neue weltumspannende Zivilgesellschaft, die antritt, die Ursachen der kannibalischen Weltordnung zu bekämpfen.

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Jean Ziegler

ÄNDERE DIE WELT!

Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen

Aus dem Französischen übertragen von Ursel Schäfer

C. Bertelsmann

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Die Originalausgabe ist 2014 unter dem Titel »Retournez les fusils! Choisir son camp« bei Éditions du Seuil, Paris, erschienen.
© 2014 by Jean Ziegler © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: buxdesign München Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-641-15545-2 V002
www.cbertelsmann.de

Dieses Buch widme ich der Erinnerung anJoaquim Câmara Ferreira, genannt »Toledo«, Amílcar Cabral,Michèle Fierkund Georges Politzer,die mit ihrem Leben für ihre Ideen bezahlt haben,sowie Christine Daure-Serfaty,Daly Belgasmi,Hans Walter Königund Manuel Fernández-Cuesta.

INHALT

VORWORT – Eine Nacht in Olinda

ERSTES KAPITEL – Was nützt ein Intellektueller?

ZWEITES KAPITEL – Die Ungleichheit zwischen den Menschen

I. Wie entsteht Ungleichheit?

II. Die kannibalische Weltordnung

III. Wie entsteht ein Klassenbewusstsein?

Nachtrag

DRITTES KAPITEL – Die Irrwege der Ideologien

I. Was ist eine »richtige« Ideologie, und was ist eine »falsche«?

II. Wie entstehen, entwickeln und wandeln sich Ideologien?

III. »Naturgesetze«

IV. Obskurantismus

VIERTES KAPITEL – Wissenschaft und Ideologie

I. Max Webers Irrtum

II. Galileis Sieg

III. Die Perversion der Wissenschaft

IV. Wozu dient die Universität?

Nachtrag: Was die Wissenschaft über die Kunst sagen kann

FÜNFTES KAPITEL – Die Ketten in unseren Köpfen

I. Die Entfremdung

II. Das homogenisierte Bewusstsein

SECHSTES KAPITEL – Der Staat

I. Wie entsteht der Staat?

II. Der Staat, eine Waffe der Mächtigen

III. Die Bürokraten

IV. Die Staatsräson

V. Der gescheiterte Traum des Karl Marx

Nachtrag

VI. Die Universalisierung des Staates

VII. Der Staat, das unmögliche Bollwerk für die Schwachen

SIEBTES KAPITEL – Die Nation

I. Wie entsteht und behauptet sich die Nation in Europa?

II. Die rassistische Bedrohung

III. Die misslungene Dekolonisation

IV. Das Versagen der Eliten

V. Eine Mordkampagne

VI. Die Zerstückelung eines Kontinents

VII. Die Hölle im Südsudan

VIII. Der äußere Faschismus

ACHTES KAPITEL – Wie entsteht und wie entwickelt sich die Gesellschaft?

I. Die Gesetze der Geschichte

II. Wann und wie ist die erste menschliche Gesellschaft entstanden?

NEUNTES KAPITEL – Die Völker des Schweigens

ZEHNTES KAPITEL – Die Bruderschaft der Nacht

SCHLUSS – Auf welcher Seite stehst du?

Dank

Personenregister

Orts- und Sachregister

VORWORTEine Nacht in Olinda

Ja, ich glaube an die sanfte Gewalt der Vernunft über die Menschen. Sie können ihr auf die Dauer nicht widerstehen. Kein Mensch kann lange zusehen, wie ich […] einen Stein fallen lasse und dazu sage: er fällt nicht. Dazu ist kein Mensch imstande. Die Verführung, die von einem Beweis ausgeht, ist zu groß. Ihr erliegen die meisten, auf die Dauer alle.

Bertolt Brecht, Leben des Galilei1

Ich erinnere mich an eine kühle Nacht in Olinda, der Halbinsel mit ihren Barockkirchen, Tavernen, Klöstern und den Slums am Ufer der Lagune nördlich von Recife, im Nordosten Brasiliens.

Wir saßen gegenüber der Tür an einem Tisch, der sich unter Flaschen mit portugiesischem Weißwein, Schüsseln mit camarões und Hühnchen assado bog. Männer und Frauen – Bürger und Militärangehörige aus Recife, Priester aus Olinda, Händler aus Paraíba, Zuckerrohrbarone von der Küste, Viehzüchter aus dem Norden – kamen und gingen, schlugen die Türen ihrer Itamaraty-Limousinen zu und begrüßten sich lautstark von Tisch zu Tisch.

Auf einmal tauchte direkt neben mir ein Junge von neun oder zehn Jahren auf, so alt wie damals mein Sohn. Er hatte eine ausgerenkte Hüfte und hinkte – und berührte mich am Arm. In einer Hand hielt er die übliche rostige Konservendose mit weißen Nüssen, die die Bettler in Recife an die Gäste in den Tavernen verkaufen. Der Schweizer Honorarkonsul, Besitzer großer Zuckerrohrplantagen im Caribé-Tal, der an unserem Tisch den Vorsitz führte, warf dem Jungen ein paar Centavos zu. Als er meine Verwirrung bemerkte, servierte er mir die abgedroschene Floskel, mit der die Herren des Nordens traditionell durchreisende Europäer abspeisen: »Der kleine Caboclo ist mein Freund. Er ist glücklich, wissen Sie: Er verdient ein paar Groschen, kauft dafür Bohnen und ein bisschen Reis bei einem Straßenhändler und legt sich unter einem Torbogen schlafen. Er muss weder in die Schule noch regelmäßig zur Arbeit gehen. Ach, wenn man doch so frei wäre wie er …!«

Nie werde ich die Augen des kleinen Jungen vergessen. Ich stand unter einem Vorwand auf und fand ihn draußen, auf den Felsen am Meer sitzend. Sein Name war Joaquim. Er zeigte weder Wut noch Traurigkeit, die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Seine Geschichte war alltäglich: Sein Vater, ein wandernder Zuckerrohrschneider, litt an Tuberkulose und hatte seit zwei Jahren keine Arbeit mehr, seine vier jüngeren Geschwister und seine kranke Mutter warteten seit dem Morgen in einer Hütte des Slums auf der anderen Seite der Lagune auf ihn. Das Geld, das er mit dem Verkauf von ein paar Nüssen am Abend verdiente, war das ganze Einkommen der Familie.

Joaquim hatte fiebrige Augen und wurde von Hunger gepeinigt. Der Koch streckte den Kopf aus einem Fenster der Taverne, und ich bat ihn, dem Jungen auf den Felsen eine Mahlzeit zu servieren. Als das Essen kam, breitete Joaquim eine alte Zeitung auf den Steinen aus. Mit zitternden Fingern leerte er einen Teller nach dem anderen – Reis, Huhn, fejão, caruru, Salat, Kuchen – über der Zeitung aus, verschnürte das Paket und verschwand in der Dunkelheit. Obwohl er selbst vom Hunger geplagt war, trug er das Essen zu seiner Mutter, seinem Vater und seinen Geschwistern.

Ich kehrte in die Taverne zurück, setzte mich wieder an den Tisch und nickte zu dem albernen Geschwätz des Konsuls – kurzum, ich schlüpfte wieder in meine Rolle als Professor und als Abgeordneter (der ich damals war), der auf der Durchreise in Olinda ist.

Warum habe ich meine Reise nicht unterbrochen? Und bin in den Slum gefahren? Habe nach Joaquim und seiner Familie gesucht? Am Morgen hatte ich mit dem Gouverneur gesprochen und am Mittag mit dem Bürgermeister, ich hatte Freunde in Recife. Wenn ich nicht weitergefahren wäre, hätte ich eine Arbeitsstelle für den Vater organisieren können, ein Krankenhausbett für die Mutter und ein Schulstipendium für Joaquim. Ich hätte eine Woche »verloren« oder einen Monat. Ich habe es nicht getan. Warum? Weil ich einen Zeitplan einhalten musste, Termine vereinbart hatte, eine soziale Rolle spielen, Berichte schreiben und Forschungen durchführen musste.

»Ein schlechtes Gewissen ist ein lebendiger Feind«, hat Jean-Paul Sartre gesagt. Fjodor Dostojewski kämpfte sein ganzes Leben gegen diesen »lebendigen Feind«. In seinem Roman Die Brüder Karamasow (1880) findet sich folgender Dialog:

Iwan Karamasow: »Ich will leben, und ich lebe, und sei es gegen die Logik. Auch wenn ich an die Ordnung der Dinge nicht glaube, aber die klebrigen, im Frühling sich entfaltenden Blättchen sind mir teuer, teuer ist mir der blaue Himmel, teuer ist mir mancher Mensch, den ich liebe, ohne zu wissen, warum, ob du’s mir glaubst oder nicht; teuer ist mir manche menschliche Tat, an die man vielleicht längst nicht mehr glaubt, die man aber trotzdem in alter Erinnerung von Herzen achtet.«

Aljoscha: »Ja, unbedingt, [das Leben] lieben vor aller Logik, unbedingt vor aller Logik, dann erst wird auch der Sinn begreiflich. Die Hälfte deiner Sache ist getan, Iwan, und gewonnen. Du lebst gerne. Jetzt musst du dich auch um die zweite Hälfte bemühen, und du bist gerettet.«2

Wie Iwan Karamasow lehne ich intellektuell diese Weltordnung ab. Aber wie er habe ich mich darin eingerichtet. Implizit nehme ich sie als normal hin. Durch mein alltägliches Handeln reproduziere ich sie.

Wir haben uns selbst verstümmelt. Wie Millionen andere lebe auch ich ständig gegen mich. Zu tun, was man will, und zu wollen, was man tut, ist das Schwierigste, was es gibt. Niemand hat die richtige Theorie für seine Praxis, wir alle sind – in unterschiedlichem Ausmaß – unaufrichtig, das heißt, wir lügen, geben uns Illusionen und Täuschungen hin. Wir schmieden unsere Ketten selbst, unermüdlich, mit Energie und Eifer. Wir füllen unsere sozialen Rollen aus, produzieren sie, reproduzieren sie, wie Beschwörungsrituale, als berge die Freiheit, die unerwartete Begegnung mit dem anderen, für uns schreckliche Gefahren. Aber diese Rollen ersticken uns, schnüren uns langsam die Luft ab. Tief in unseren Köpfen haben wir Ketten, die uns hindern, frei zu denken, zu schauen, zu gehen, zu träumen, zu fühlen.

Aljoscha hat recht: Der Mensch lebt, bildet sich, wächst, entfaltet sich nur mit der Hilfe anderer Menschen. Das Geheimnis der Beziehung ist viel größer als das Geheimnis des Seins. Um den Sinn des Lebens zu entdecken, genügt es nicht, das Leben zu lieben. Wir stoßen nicht auf den Sinn, wie wir beim Gehen an einen Stein stoßen. Der Sinn entsteht, setzt sich zusammen, offenbart sich. Er erwächst daraus, dass ich in der freien Beziehung zu einem anderen Menschen das bekomme, was ich nicht habe. Deshalb ist eine soziale Ordnung, die nicht auf wechselseitigen Beziehungen gründet, darauf, dass die Menschen sich ergänzen, sondern auf Konkurrenz, Beherrschung und Ausbeutung, zum Scheitern verurteilt.

Warum diese Entfremdung? Warum verdrängen wir freiwillig diesen fantastischen Reichtum an Schöpferkraft, an Wünschen, den jede und jeder von uns besitzt? Warum sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts wir Menschen im Westen, die wir so großartige Privilegien errungen haben – Freiheiten, Rechte gegen die Willkür –, die wir den Mangel besiegt, das Geheimnis des Universums, der Sterne, des Atoms, des Lebens gelüftet und den Tod um Jahrzehnte hinausgeschoben haben, dennoch unfähig, das Joch unserer Rollen abzuschütteln, in Freiheit und Liebe die unerwartete Begegnung anzunehmen und endlich unserem Leben einen kollektiven Sinn zu verleihen?

Mein Buch versucht, auf einige dieser Fragen Antworten zu geben. Es enthält Einsichten, die nach meiner Einschätzung hilfreich sind, um unsere Situation zu verstehen und aufzuzeigen, was wir tun müssen, um sie zu verändern.

In den letzten dreißig Jahren hat sich die Welt zutiefst gewandelt.

Mit dem Zusammenbruch des Sowjetreichs im August 1991 verschwand die weltweite Bipolarität der Staatsgesellschaften. Aus den Ruinen der alten Welt tauchte eine neue Tyrannei auf: die Tyrannei der Oligarchien des globalen Finanzkapitals.

Hunger und Not sind zurück in Europa. Nach Angaben von UNICEF waren 2013 in Spanien 11 Prozent der Kinder unter zehn Jahren unterernährt. Die sogenannte »Sockelarbeitslosigkeit« liegt in den 28 Staaten der Europäischen Union bei 30,2 Millionen Männern, Frauen und Jugendlichen. Besonders schlimm ist sie bei den jungen Leuten unter fünfundzwanzig.

Die hochfliegenden Hoffnungen, die die antikolonialistischen Befreiungsbewegungen im letzten Jahrhundert geweckt haben, sind zerplatzt. In Schwarzafrika, in Mittelamerika und in mehreren asiatischen Ländern sind aus diesen Kämpfen Rumpfstaaten ohne echte Souveränität hervorgegangen, in denen Korruption und Elend herrschen.

Die Präambel der im Juni 1945 verabschiedeten Charta der Vereinten Nationen beginnt mit folgenden Worten: »Wir, die Völker der Vereinten Nationen, fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat …« Aber die Kriege sind wieder da, so furchtbar wie eh und je. Nach den blutigen Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien, auf dem Balkan, in Afghanistan und im Irak wüten heute Kriege in Syrien, im Jemen, im Ostkongo, im Süden und Westen des Sudan, in der Zentralafrikanischen Republik, in Myanmar, auf den Philippinen und in weiteren Regionen der Welt.

Die multiethnische, laizistische, multikulturelle Nation ist eine Errungenschaft der Zivilisation. Heute ist sie existenziell bedroht durch Schreckgespenster, die sich erhoben und Gestalt angenommen haben: den Dschihadismus, den christlichen, jüdischen, hinduistischen und buddhistischen Fundamentalismus, den gewaltbereiten Rassismus und aufklärungsfeindliches Denken jeder Couleur, allesamt Feinde der Vernunft. In zahlreichen westlichen Ländern gewinnen antidemokratische Parteien der extremen Rechten bei jeder Wahl dazu und vergiften das kollektive Bewusstsein.

Die Beziehungen zwischen Mensch und Natur haben sich verändert. Es ist ein neues Bewusstsein für die Gefährdung des Lebens auf der Erde und die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen entstanden. Aber die Zerstörung der Natur schreitet fort.

Überall werden die Menschenrechte, diese grundlegende Errungenschaft, die man nach der Schlächterei im Zweiten Weltkrieg für unumstößlich hielt, mit Füßen getreten. Die Rechte auf Essen, Wohnen, einen Arbeitsplatz, auf Gesundheit, körperliche Unversehrtheit und Freizügigkeit werden heute auf allen fünf Kontinenten jeden Tag massiv verletzt.

Es ist wieder legitim, Menschen zu foltern. Folter wird als »notwendig« und sogar »unvermeidlich« erklärt, und das nicht nur von Schurkenstaaten, sondern auch in einem Dekret des vorletzten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika.3

Der schottische Philosoph Edmund Burke schrieb im 18. Jahrhundert: »All that evil needs to triumph is the silence of good men« (»Alles, was das Böse braucht, um zu triumphieren, ist das Schweigen der guten Menschen«).

Wenn alle Welt schweigt, den Blick abwendet, nicht zuhört, passiv bleibt, von Schicksal spricht, vom normalen und unvermeidlichen Lauf der Dinge, muss der »gute Mensch« Fragen stellen, nachforschen, die Ursachen untersuchen, die Interessen, die im Spiel sind, die Verantwortlichkeiten, die Dinge beim Namen nennen, auf die Schuldigen hinweisen, wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Kalküle ans Licht bringen, die Menschenleben zerstören. Er muss den Frauen und Männern, die die Welt verändern wollen, Waffen in die Hand geben.

Régis Debray hat das so zusammengefasst: »Die Aufgabe des Intellektuellen ist es nicht, Liebenswürdigkeiten zu verteilen, sondern zu sagen, was ist. Er will nicht verführen, sondern bewaffnen.«

Das Buch hat folgenden Aufbau:

Zuerst versuche ich die Frage zu beantworten: Was nützt ein Intellektueller? Wissen ist nie neutral. Wie jede andere Wissenschaft ist die Soziologie ein Instrument, das befreit oder unterdrückt. Anschließend werden wir sehen, wie Ungleichheiten zwischen den Menschen entstehen. Im dritten und vierten Kapitel versuche ich, Ursprung und Funktion von Ideologien auf der einen Seite und der Wissenschaft auf der anderen Seite aufzuzeigen. Die Menschen sind nie so, wie sie zu sein glauben. Die Entfremdung des Bewusstseins hat in den letzten dreißig Jahren enorm zugenommen. Davon erzählt das fünfte Kapitel. Im sechsten Kapitel geht es um den Staat und im siebten um die Nation. Das achte Kapitel behandelt die Frage: Wie entsteht und entwickelt sich die Gesellschaft? Das neunte Kapitel ist den Völkern gewidmet, die keine Stimme haben.

Denken wurzelt immer in einem kulturellen und intellektuellen Nährboden, der bereits vorhanden ist. Ich werde darlegen, wessen Erbe ich bin, wer mein Denken angeregt hat und weiterhin anregt. Ich werde auch darlegen, wo ich mit denen, die mir auf dem Weg vorangegangen sind, und denen, die mich begleitet haben und noch begleiten, übereinstimme und wo nicht.

Und schließlich werde ich erläutern, welche Hoffnung das Buch durchzieht. Ein neues Subjekt der Geschichte ist im Entstehen begriffen: die neue, weltumspannende Zivilgesellschaft. Sie tritt an, die kannibalische Weltordnung zu vernichten. Mein Buch ist kein Buch der Utopie, sondern ein Handbuch für den Kampf, für den Aufstand dieser tausendfältigen Widerstandsfront, dieser mysteriösen Bruderschaft der Nacht.

Das Buch ist auch eine intellektuelle Autobiografie. Über drei Jahrzehnte war ich Professor für Soziologie an afrikanischen, brasilianischen und französischen Universitäten, vor allem und ganz besonders intensiv aber an der Universität Genf. Im Gegensatz zu meinen vorausgegangenen Büchern Die neuen Herrscher der Welt; Das Imperium der Schande; Der Hass auf den Westen; Wir lassen sie verhungern enthält Ändere die Welt! relativ viele philosophisch-theoretische Elemente. Sie inspirieren und beeinflussen meine Arbeit seit vielen Jahren.

Bei Ernst Bloch steht der paradoxe Appell: »Vorwärts zu unseren Wurzeln!« Für zahlreiche Leserinnen und Leser gehören mehrere der hier vielfach zitierten Autoren ins Neolithikum der Sozialwissenschaften. Karl Marx, Georg Lukács, Max Horkheimer, Jean-Paul Sartre – um nur einige zu nennen – sind die Begründer des radikal kritischen Bewusstseins im Kapitalismus. Alle ihre Werke sind von bestechender Aktualität. Die Mechanismen der Entfremdung, die Schaffung eines homogenisierten Bewusstseins, die akuten Flurschäden des grassierenden Neoliberalismus bleiben ohne sie unverständlich. Wir stehen in ihrer Schuld im Sinne des inzwischen geflügelten Wortes: Wir sind Zwerge auf den Schultern von Riesen … und sehen deshalb weiter als sie.

Ich stelle mir die Frage, wie nützlich mein berufliches Wirken war. Dieses Buch versucht, seinen Sinn aufzuspüren.

Zum ersten Mal in der Geschichte des Planeten ist heute der objektive Mangel an materiellen Gütern, die zum elementaren Überleben der Menschen nötig sind, überwunden.

Karl Marx starb am 14. März 1883 friedlich in dem einzigen Sessel seiner bescheidenen Wohnung in London. Bis zum letzten Atemzug war er überzeugt, dass der objektive Mangel – das verfluchte Paar aus Herr und Knecht, die miteinander um die Kontrolle über die knappen Güter ringen, die alle Menschen zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse brauchen – die Menschheit noch über Jahrhunderte begleiten würde. Seine gesamte Theorie über den Klassenkampf, die weltweite Arbeitsteilung, den Staat als Überbau gründet auf der Hypothese, dass der Mangel an Gütern fortbesteht. Aber Marx hat sich getäuscht. Seit seinem Tod hat die Menschheit eine großartige Abfolge wissenschaftlicher, technischer, elektronischer und industrieller Revolutionen erlebt, die das Potenzial der Produktivkräfte auf unserem Planeten auf außerordentliche und vollkommen unvorhersehbare Weise um ein Vielfaches gesteigert haben. Der objektive Mangel wurde tatsächlich überwunden.4

Ich nenne nur ein einziges Beispiel: das tägliche Massaker des Hungers, dem jedes Jahr viele Millionen Menschen zum Opfer fallen. Zum ersten Mal in der Geschichte besteht heute das Problem nicht darin, dass zu wenig Nahrungsmittel erzeugt werden, sondern dass auf skandalöse Weise unzählige Menschen aus Mangel an finanziellen Mitteln keinen Zugang zu Nahrungsmitteln haben, die andernorts im Überfluss vorhanden sind.

Erinnern wir uns an die älteste, strahlendste Erklärung der Menschenrechte, die direkt von Jean-Jacques Rousseau und seinem Gesellschaftsvertrag inspiriert wurde: die Erklärung, die die amerikanischen Revolutionäre am Morgen des 4. Juli 1776 in Philadelphia verabschiedeten. Sie ist als Präambel der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten vorangestellt. Verfasst wurde sie von Thomas Jefferson und Benjamin Franklin. Darin heißt es:

»Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingerichtet werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten; dass, wenn irgendeine Regierungsform sich für diese Zwecke als schädlich erweist, es das Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen und sie auf solchen Grundsätzen aufzubauen und ihre Gewalten in der Form zu organisieren, wie es zur Gewährleistung ihrer Sicherheit und ihres Glücks geboten zu sein scheint.«5

Im Jahr 1776 kam das Menschenrecht auf das Streben nach Glück noch einer Utopie gleich. Die auf dem Planeten verfügbaren Güter reichten ganz einfach nicht aus, um die Grundbedürfnisse aller zu befriedigen. Heute hingegen könnte dieses Recht für alle Menschen Realität werden, egal, wo und in welcher Gesellschaft sie leben. Um genau zu sein: Ich spreche hier von materiellen Bedürfnissen und materiellen Gütern zu ihrer Befriedigung. Das immaterielle Unglück – Einsamkeit, Liebeskummer, Trauer, Verzweiflung – ist ein anderes Kapitel. Aber, darauf beharre ich: Das materielle Leid, das immer noch Hunderte Millionen unserer Zeitgenossen quält, könnte morgen beseitigt sein.

Wir leben in einer absurden Weltordnung. Jeder von uns, an welchem Ort er sich befindet und zu welcher Gesellschaft er gehört, kann viel zu ihrer Bekämpfung und Überwindung beitragen.

Mein Buch erhebt natürlich nicht den Anspruch, eine Bestandsaufnahme aller aktuellen Kämpfe gegen die Entfremdung zu liefern oder eine vollständige Liste der vorhandenen analytischen Konzepte. Es werden nur die vorgestellt, die direkt mit meiner wissenschaftlichen und politischen Erfahrung verbunden sind und darum mit den praktischen und theoretischen Kämpfen für die Emanzipation der Menschen, an denen ich mich beteiligen wollte und weiterhin beteiligen will. Insofern gibt das Buch eine Erfahrung wieder, ist es eine Rechenschaft mit einem unvermeidlich schicksalhaften und subjektiven Anteil.

Die Suche nach dem Sinn der Gesellschaft, der Geschichte, des Lebens kann immer nur ein kollektives Unterfangen sein. Sie findet in den und durch die praktischen und theoretischen Auseinandersetzungen statt, in denen wir Akteure und Thema zugleich sind. Jeder von uns, der Autor wie der Leser, ist das konkrete Produkt einer komplexen Dialektik zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen. Das Verlangen nach Totalität und das Streben nach Sinn sind den Menschen angeboren. In dem Maß, wie mein Buch dazu beiträgt, kann es auf einen Wunsch des Lesers antworten, wird es eine gemeinsame Arbeit und erhält es seine Legitimität.

1 75. Auflage, Frankfurt am Main 2013, Drittes Bild. S. 34 f.

2 Fjodor Dostojewskij, Die Brüder Karamasow, aus dem Russischen von Swetlana Geier, Frankfurt am Main 2006, S. 371 f.

3 Mit einer executive order zog George W. Bush im Juni 2004 die amerikanische Unterschrift unter die Konvention der Vereinten Nationen zurück, die Folter und andere Formen unmenschlicher Behandlung verbietet. Seine Begründung lautete: »Der amerikanische Präsident hat die verfassungsmäßige Gewalt, eine Militäraktion zum Schutz des amerikanischen Volkes durchzuführen …« Damit wurde das Verbot der Folter bei Verhören auf Anordnung des Oberbefehlshabers aufgehoben (»The prohibition against torture must be construed as inapplicable to interrogation undertaken pursuant to his commmander-in-chief-authority«).

4 Vgl. François Perroux, Vorwort zu Œuvres de Karl Marx, Bd. I, L’Économie, Paris 1965.

5 Text der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung: http://usa.usembassy.de/etexts/gov/unabhaengigkeit.pdf. In der vom Konvent von Virginia im Zuge der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung verabschiedeten Grundrechtserklärung war erstmals vom »pursuit of happiness« (vom Recht auf das »Streben nach Glück«) die Rede.

ERSTES KAPITELWas nützt ein Intellektueller?

Lerne das Einfachste! Für dieDeren Zeit gekommen istIst es nie zu spät!Lerne das Abc, es genügt nicht, aberLerne es! Laß es dich nicht verdrießen!Fang an! Du mußt alles wissen!Du mußt die Führung übernehmen.

Lerne, Mann im Asyl!Lerne, Mann im Gefängnis!Lerne, Frau in der Küche!Lerne, Sechzigjährige!Du mußt die Führung übernehmen.Suche die Schule auf, Obdachloser!Verschaffe dir Wissen, Frierender!Hungriger, greif nach dem Buch: es ist eine Waffe.Du mußt die Führung übernehmen.

Scheue dich nicht zu fragen, Genosse!Laß dir nichts einredenSieh selber nach!Was du nicht selber weißtWeißt du nicht.Prüfe die RechnungDu mußt sie bezahlen.Lege den Finger auf jeden PostenFrage: wie kommt er hierher?Du mußt die Führung übernehmen.

Bertolt Brecht, Lob des Lernens6

In den Jahren 1935/1936 hielt Georges Politzer an der Arbeiteruniversität von Paris eine Vorlesung mit dem Titel Elementare Prinzipien der Philosophie. Die Arbeiteruniversität wurde 1939 aufgelöst. Politzer, der Widerstandskämpfer gegen den Faschismus und aktive Kommunist, starb durch die Kugeln eines Exekutionskommandos der Nazis. Nach der Befreiung Frankreichs veröffentlichte einer seiner ehemaligen Studenten, Maurice Le Goas, die Aufzeichnungen, die er sich in Politzers Vorlesung gemacht hatte.

Politzer konnte sich eine institutionelle Aufteilung des Wissens nicht vorstellen: Seine Vorlesung richtete sich an Männer und Frauen aus allen Berufen und allen Altersgruppen, die durch ihr Denken und Handeln Zeugnis von ihrer Entschlossenheit ablegten, eine ungerechte Gesellschaft zu verändern. Seine Ausführungen mussten deshalb für jedermann verständlich sein – weil sie sonst für niemanden verständlich gewesen wären. Wie Maurice Le Goas schrieb, sollte die Vorlesung den Arbeitern, jungen wie alten, Hand- und Kopfarbeitern, »eine Methode des Nachdenkens an die Hand geben, die ihnen erlaubt, unsere Zeit zu verstehen und ihr Handeln auszurichten, sowohl in ihrer Technik wie auf dem politischen und sozialen Feld«.7 Politzers Vorlesung ist für mich ein Modell pädagogischen Handelns.

Indem ich hier die elementaren Prinzipien einer radikal kritischen oppositionellen Soziologie darlege, möchte ich einen möglichst wirksamen Beitrag dazu leisten, dass die Gerechtigkeit und das Bewusstsein der Menschen für ihre eigene Macht Fortschritte machen.

Jede Gesellschaft spricht mit sich über sich selbst. Jeder Mensch hat vielfältige Meinungen über sich und andere. Die kollektiven und individuellen Vorstellungen, die Bilder, die die Menschen sich von ihrem Leben machen, bilden den Überbau der Gesellschaft. Die materiellen Umstände ihres Lebens, die Produktivkräfte und das dazugehörige Werkzeug bilden den Unterbau. Bilder und Realität, Überbau und Basis ergänzen sich und stehen zugleich im Widerspruch. Diese Beziehungen bilden die Gesellschaft.

Es gibt nur eine Wissenschaft, nämlich jene, die jede metasoziale Begründung ablehnt: Alain Touraine hat als Erster 1973 in seinem grundlegenden Werk Production de la société8 die überzeugendste, theoretisch untermauerte Kritik an metasozialen Konzeptionen formuliert. Die metasoziale Begründung, so wie Alain Touraine sie definiert, geht von einer Instanz jenseits der Realität der Gesellschaft aus. Mittels solcher Instanzen erheben die Mächtigen den Anspruch, Bedeutungen zu legitimieren, bestimmte Praktiken aufzuzwingen, Verhaltensweisen zu reglementieren.

In der Geschichte der Gesellschaften hat es den Rückgriff auf metasoziale Begründungen und die entsprechenden Instanzen immer gegeben. Er diente und dient dazu, unveränderliche, ahistorische »Wahrheiten« zu rechtfertigen und letzten Endes den Fortbestand der herrschenden Machtverhältnisse zu sichern.

Drei Beispiele sollen das erläutern, zwei sind der französischen Geschichte entnommen, das dritte der Aktualität der Weltgesellschaft.

Erstes Beispiel: Ludwig der Heilige, dessen Herrschaft im 13. Jahrhundert den Höhepunkt des Königtums der Kapetinger markierte, legitimierte seine Macht mit der Formel »Ludwig, durch die Gnade Gottes König von Frankreich«. Die metasoziale Begründung seiner Macht verweist auf die religiöse Ideologie. Der König empfing seine Macht von Gott, vermittelt durch die kirchliche Bürokratie. Der erste französische König, der gesalbt wurde, war Pippin der Kurze. Er wurde ein erstes Mal 751 von einer Versammlung von Bischöfen des Königreichs gesalbt, die in Soissons zusammengekommen waren, und ein zweites Mal 754 in Saint-Denis durch Papst Stephan II. Als letzter französischer König wurde Karl X. 1825 in der Kathedrale von Reims gesalbt.

Metasoziale Begründungen können auch dazu dienen, komplexere politische Teilstrategien zu rechtfertigen. Dazu ein Beispiel:

Suger, der Abt von Saint-Denis (der Abtei vor den Toren von Paris, die Grablege der französischen Könige ist), Ratgeber der Könige Ludwig VI. und Ludwig VII. sowie Kanzler des Reichs, illustriert, was damit gemeint ist. Suger wollte der im Entstehen begriffenen Monarchie eine solide Legitimität verschaffen und zugleich seine eigene Macht festigen. Das konnte er nur erreichen, indem er den Heiligen, dessen Reliquien die Abtei besaß, zum Beschützer des Reiches und wichtigsten Heiligen Frankreichs erhob.9 Darum musste er ein möglichst prunkvolles, luxuriöses und eindrucksvolles Heiligtum errichten. Doch weil damals Not und Hunger herrschten, gab es anhaltende und heftige Kritik an solch verschwenderischen Ausgaben. Suger fand einen Ausweg: In den Schriften, die er über die Verwaltung von Saint-Denis hinterlassen hat10 – in denen es um die Rekonstruktion der Kirche geht, um möglichst große Balken, kostbare Edelsteine, wundervolle Goldschmiedearbeiten, prächtige Fenster –, präsentiert er sich selbst als Instrument Gottes, des heiligen Dionysius und der anderen Heiligen. Er beteuert, seine Entscheidungen über Ausgaben, über teures Material und so weiter seien ihm in Visionen und durch Wunder »diktiert« worden. Somit geht sein Handeln aus der Heilsgeschichte hervor, die Ereignisse rechtfertigt, ihnen eine metasoziale Begründung verleiht und damit die Realität verschleiert.

Heute ist die mächtigste und zugleich die gefährlichste metasoziale Begründungsweise die »Naturalisierung« ökonomischer Fakten. Die Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals berufen sich auf sogenannte »Naturgesetze der Wirtschaft«, um den Menschen aus seiner eigenen Geschichte zu vertreiben, um präventiv jeden Ansatz von Widerstand, der ihm in den Sinn kommen könnte, zu brechen und ihre Profite abzusichern. Der »Weltmarkt«, die oberste Regelungsinstanz nicht nur für die Produktion und den Austausch von Waren, sondern auch für menschliche Beziehungen und Konflikte, wird auf diese Weise in den Rang einer »unfehlbaren unsichtbaren Hand« erhoben. Das Ziel aller Politik soll demnach die vollständige Liberalisierung sämtlicher Bewegungen von Kapital, Waren und Dienstleistungen sein, die Unterwerfung aller menschlichen Tätigkeiten unter den Grundsatz der Maximierung von Profit und Rentabilität und darum die Privatisierung aller öffentlichen Bereiche. Diese Strategie enthält ein Versprechen: das Versprechen, dass die Marktkräfte, wenn sie erst einmal endgültig der öffentlichen Kontrolle und allen territorialen Beschränkungen entzogen sind, unvermeidlich weltweites Wohlergehen erzeugen werden. Weil dann das Kapital automatisch in jedem Moment dorthin geht, wo es den maximalen Profit erzielen kann.

James Wolfensohn, der einstige Wall-Street-Banker, Multimilliardär, begnadeter Pianist, ein warmherziger, kultivierter Mann, war bis 2005 Präsident der Weltbank. Sein Credo, das er unzählige Male leidenschaftlich auf internationalen Podien wiederholte, lässt sich auf folgendes Motto reduzieren: »stateless global governance«. Mit anderen Worten: Die Selbstregulierung des Weltmarkts, endlich befreit von aller Einmischung von Staaten, Gewerkschaften, Bürgern und so weiter, wartet am Horizont und ist das endgültige Ziel der Geschichte.

Die »Marktgesetze« sind eine metasoziale Begründung, die zumal dadurch besonders gefährlich ist, als sie sich auf einen strengen Rationalismus beruft. Tatsächlich handelt es sich um nichts anderes als Hokuspokus, der uns glauben machen möchte, wissenschaftliche Strenge und die Strenge der »Marktgesetze« seien das Gleiche.

Und noch etwas anderes gilt es zu verstehen: Indem sich die Diktatur des globalisierten Finanzkapitals hinter blinden »Marktgesetzen« verschanzt, zwingt sie uns eine geschlossene, starre Sicht der Welt auf, in der es keine menschliche Initiative gibt, kein geschichtliches Handeln, das aus der subversiven Tradition des noch nicht Existierenden, des Unvollendeten, der Freiheit erwächst.

Um zu illustrieren, was ich meine, zitiere ich eine Erinnerung. Einige meiner Bücher, vor allem Eine Schweiz – über jeden Verdacht erhaben (1976), Die Schweiz wäscht weißer (1990) und Die Schweiz, das Gold und die Toten (1997) zogen den Hass der schweizerischen Bankiers auf sich. Um mich finanziell zu ruinieren und so zum Schweigen zu bringen, wurden neun Prozesse gegen mich angestrengt. Meine parlamentarische Immunität wurde aufgehoben. Die Schadenersatzforderungen summierten sich auf mehrere Millionen Schweizer Franken, und weil ich alle Prozesse verloren habe, war ich am Ende tatsächlich ruiniert. Doch trotz des Hasses, trotz aller Meinungsverschiedenheiten blieben einige persönliche Beziehungen bestehen. Eines Abends steige ich in den letzten Zug von Bern nach Genf, der ziemlich leer ist. Ein Privatbankier, Calvinist, in seiner strengen familiären und gesellschaftlichen Tradition eingesperrt wie in einer Zwangsjacke, bemerkt mich. Er vergewissert sich, dass außer uns niemand sonst in dem Abteil sitzt, und macht mir ein Zeichen. Ich setze mich ihm gegenüber. Wir diskutieren über die Lage in der Demokratischen Republik Kongo nach dem Tod von Laurent Kabila. Einige Tage zuvor habe ich im Hotel President Wilson in Genf dessen Sohn und Nachfolger Joseph Kabila getroffen. Die Tribune de Genève hat über die Begegnung berichtet.

Der Bankier: »Du hast den jungen Kabila getroffen?«

»Ja.«

»Wie ist die Lage im Kongo?«

»Furchtbar. In Kinshasa gibt es wieder Epidemien, es herrscht Hunger. Seit dem Jahr 2000 sind über zwei Millionen Menschen gestorben. Überall Elend, Krieg. Der Staat ist bankrott.«

»Ich weiß. Einer meiner Cousins ist Missionar da unten … Er hat mir die Situation geschildert, sie ist schrecklich.«

Ich gehe zum direkten Angriff über: »Mobutu hat über 4 Milliarden Dollar auf schweizerische Konten verschoben. Ich habe gehört, ein Teil der Beute liege bei deiner Bank.«

»Du weißt, dass ich dir darauf keine Antwort geben kann. Bankgeheimnis … Aber unter uns gesagt: Mobutu war ein Dreckskerl. Mein Bruder hat erzählt, an dem heutigen Elend seien vor allem die Plünderungen unter Mobutu schuld.«

Mittlerweile hat der Zug Romont weit hinter sich gelassen. Über dem Genfer See schimmern schwach die Lichter des Lavaux. Es regnet. Ich hake nach: »Also, warum gibst du das gestohlene Geld nicht einfach der neuen Regierung zurück? Du weißt genau, dass sie es sich nicht leisten kann, vor schweizerischen Gerichten jahrelang um die Rückgabe zu prozessieren.«

Mein Gegenüber wirkt nachdenklich. Vor den nassen Zugfenstern ziehen Lichter vorbei. Schließlich sagt er mit fester Stimme: »Unmöglich! In die Kapitalflüsse kann man nicht eingreifen.«

Wir werden im dritten Kapitel auf die neoliberale Wahnidee zurückkommen.

Ein Bestand an »Werten« – die nicht aus der Erfahrung der Menschen hervorgehen, die nicht in ihrer Geschichte ihren Niederschlag finden, sondern die als unerschütterliche, ewige Leitsätze daherkommen – dient als Rechtfertigung für das Handeln der Mächtigen. Der Bruch mit den metasozialen Begründungen macht das materialistische, empirisch-rationalistische Wesen unserer Wissenschaft aus. Er gibt ihr ihre Realität zurück. Oder wie Edgar Morin schrieb: »Das Kriterium für Realität ist die Feststellung der empirischen Existenz des Phänomens, verbunden mit der strikten Beachtung der Regeln rationaler Logik … Das Kriterium der Realität, das nicht das Gefühl der Realität ist, erlaubt dem Gefühl der Realität, sich festzusetzen, Gestalt anzunehmen.«11

Wie für jede Wissenschaft gilt auch für die Soziologie: Entweder ist sie materialistisch, oder sie ist gar nicht. Sie kann nur eine empirische und rationale Erklärung des Universums (des physischen, sozialen und so weiter) akzeptieren. Mit anderen Worten: Jede Gesellschaft erschafft sich selbst, sie hat keine anderen Bezüge, keine anderen Anhaltspunkte für ihre Legitimität, keine anderen Werte als die, die ihrer eigenen Praxis entspringen. Genau diese Selbsterschaffung der Gesellschaft will ich erläutern und verständlich machen.

Wenn man die materialistischen Grundlagen der Wissenschaft erst einmal anerkannt hat, ist der nächste Schritt, die Verschleierungsstrategien zu entlarven, die auf metasoziale Begründungen zurückgehen. Wie schon gesagt: Jede Gesellschaft spricht zu sich selbst über sich. Aber jedes System der Selbstinterpretation – jedes kulturelle System, jede Ideologie, jede Religion – verhüllt, verbirgt, lügt und enthüllt zugleich. Was am meisten verborgen wird, ist besonders wahr. Was gezeigt wird, muss erklärt werden durch das, was nicht zu sehen ist. Ich habe gesagt, die Soziologie versuche zu verstehen, wie die Gesellschaft sich selbst hervorbringt. Um es noch präziser zu formulieren: Der Soziologe muss das aufspüren, entlarven, ans Licht bringen, was nicht in der Selbsthervorbringung der Gesellschaft auftaucht. Die Aufgabe ist schwierig, denn was da verborgen ist, wurde absichtlich versteckt.

Jedes System der Selbstinterpretation ist vom Klasseninteresse durchdrungen und besetzt. Jede Ideologie, insofern sie behauptet, die »Wahrheit der Fakten« auszusprechen, ist eine Lüge. Die Aufgabe des Soziologen ist es, die historischen materiellen Bedingungen aufzudecken, unter denen diese »Wahrheit« produziert wurde, sowie die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Interessen ans Licht zu bringen, die sie kaschiert und denen sie dient. Er analysiert auch die Symbolsysteme, die als Instrumente verwendet werden, um die »Wahrheit« umzusetzen. Bei dieser Aufgabe muss er in jedem Augenblick berücksichtigen, was Bertolt Brecht über das Verhalten des Revolutionärs formuliert hat:

Er fragt die AnsichtenWem nützt ihr?[…]Und wo Unterdrückung herrscht und von Schicksal die Rede istWird er die Namen nennen.12

Die Arbeit des Intellektuellen (und damit des Soziologen) ist definitionsgemäß subversiv. Seine Arbeit zielt darauf ab, ein Objekt real zu erfassen. Egal, was die subjektive Absicht des betreffenden Subjekts sein mag, das reale Erfassen eines Objekts ist immer ein subversiver Akt, das heißt ein Akt, der in Konflikt mit den herrschenden sozialen Strategien gerät. Indem der Soziologe aufzeigt, wie gesellschaftliche Strukturen entstehen, ihre Systeme der Selbstinterpretation, ihre apodiktischen Behauptungen, bringt er zugleich auch die Strategien ans Licht, mit denen sie erzeugt werden, und die Gewalt, die bei ihrer Entstehung am Werk ist, kurzum: ihre unabweisbare Kontingenz. Kein Machthaber kann das dulden.

Ich übernehme folgendes Beispiel von Max Horkheimer: Napoleon war nach Preußen vorgedrungen und hatte dort die republikanischen Ideale verbreitet, die Menschenrechte, die Idee der Volkssouveränität, das Konzept der Staatsbürgerschaft. In der Völkerschlacht von Leipzig wurde die französische Armee 1813 geschlagen. Der preußische König stellte die autokratische Monarchie wieder her, in Potsdam triumphierte die Restauration. Aber der König hatte ein Problem: Er musste die Universität Berlin säubern und sich vor allem um den wichtigsten Lehrstuhl kümmern, den Lehrstuhl für Philosophie. Also ließ er in allen deutschen Staaten die Mitteilung anschlagen, dass er einen Philosophen suche, der in der Lage sein müsse, die »französische Drachensaat« auszumerzen, das heißt das republikanische Denken und all jene Ideen, die den Geist der Studenten vergifteten. In Heidelberg stießen die Werber des Königs auf den scharfsinnigen, brillanten Georg Wilhelm Friedrich Hegel, ein Reaktionär durch und durch, der von der monarchischen Restauration, autoritärem Denken und Gottesgnadentum überzeugt war und fest daran glaubte, dass der absolutistische Staat Vorrang gegenüber dem Individuum haben müsse. »Hegel […] war von einer verdrossenen Ablehnung spezifischer Verhältnisse so weit entfernt, daß der König von Preußen ihn nach Berlin berief, damit er den Studenten die gebührende Loyalität einschärfe und sie gegen politische Opposition immunisiere. Hegel tat sein Bestes in dieser Richtung und erklärte den preußischen Staat für die ›Wirklichkeit der sittlichen Idee‹ auf Erden. Aber das Denken ist eine eigentümliche Sache. Um den preußischen Staat zu rechtfertigen, mußte Hegel seine Studenten zur Überwindung der Einseitigkeit und der Beschränkungen des gewöhnlichen Menschenverstandes erziehen und zur Einsicht in den wechselseitigen Zusammenhang zwischen allen begrifflichen und realen Verhältnissen bringen. Überdies mußte er sie lehren, die menschliche Geschichte in ihrer komplexen und widersprüchlichen Struktur zu erfassen, den Ideen von Freiheit und Gerechtigkeit im Leben der Völker nachzugehen und zu erkennen, daß diese untergehen, wenn ihr Prinzip sich als unangemessen erweist und die Zeit für neue soziale Formen reif ist. Die Tatsache, daß Hegel seine Studenten im theoretischen Denken unterweisen mußte, hatte für den preußischen Staat durchaus zweideutige Folgen. Auf die Dauer wurde dieser reaktionären Institution dadurch mehr Schaden zugefügt, als sie Nutzen aus ihrer formalen Glorifizierung bezog. Die Vernunft ist ein schwacher Bundesgenosse der Reaktion. Noch nicht zehn Jahre nach Hegels Tod (sein Lehrstuhl war während dieser Zeit unbesetzt) berief der König einen Nachfolger, der gegen die ›Drachensaat des Hegelschen Pantheismus‹ und gegen ›die Anmaßung und den Fanatismus seiner Schule‹ kämpfen sollte.«13

Die Frage, was genau ein Intellektueller nützt, zieht unvermeidlich andere Fragen nach sich. Wir schauen uns einige davon an.

Wie jeder Intellektuelle bringt auch der Soziologe neue Erkenntnisse in die Welt. Aber ebenso wie etwa der Nuklearphysiker hat er keine Kontrolle über ihre Anwendung, darüber, welchen Gebrauch Dritte von seinen Forschungsmethoden machen, seinen Analysekonzepten, von dem problematischen Wissen, das er geschaffen hat. So haben die Soziologen äußerst präzise Forschungsmethoden entwickelt, ausgehend von Interviews mit kleinen Gruppen von Personen, die sorgfältig aus einer größeren Gesamtheit ausgewählt wurden. Diese Methoden erlauben es, unbewusste kollektive Motive einer ganzen Gesellschaft ans Licht zu bringen (und zu nutzen). Dank dieser Erkenntnisse kann der Soziologe über die subjektiven Antworten der Befragten hinaus auf ein ganzes Bündel wiederkehrender Verhaltensweisen und verinnerlichter Normen schließen, die der Person in dem Moment, in dem sie befragt wird, gar nicht vollständig bewusst sind. Diese Methoden sind im Allgemeinen nützlich und stellen sicher, dass unsere Kenntnisse über das tatsächliche, reale Funktionieren der Gesellschaft immer besser werden. Aber dieselben Untersuchungsmethoden über die Motive können auch verheerende Wirkungen haben, wenn sie dazu eingesetzt werden, herauszufinden, wie man beispielsweise am besten Zigaretten an junge Leute verkauft. Dazu engagieren Konzerne Soziologen, die durch wissenschaftliche Forschung zu ermitteln versuchen, mit welchem »Image« die Zigaretten am besten bei den Befragten, bei einer bestimmten Altersgruppe, Einkommensschicht und so weiter ankommen.

Wenn das »Image« einmal festgelegt ist, bringen die Marketingleute des Konzerns die unbewussten motivierenden Bilder der ausgewählten Gruppe »in Form« (so reden sie). Ergebnis: Die Mauern unserer Städte werden vollgeklebt mit bunten Plakaten, auf denen halbnackte junge Mädchen, athletische Cowboys oder Discobesucher vor einem Hintergrund sonnenbeschienener Landschaften oder wilder Partys Zigaretten anbieten, die – wie erwiesen ist – daran schuld sind, dass Jahre später Hunderttausende an Lungenkrebs sterben.

Ich gebe noch ein weiteres Beispiel, wie die Forschungsmethoden über die unbewussten kollektiven Motive auf verhängnisvolle Weise genutzt werden. 1946 finanzierte die Republikanische Partei von Südkalifornien eine derartige Untersuchung, um herauszufinden, welches »Image« der ideale Kandidat für die Kongresswahl im 12. Bezirk haben musste. Ausgehend von den Ergebnissen dieser Untersuchung, entwarf die Partei ein Phantombild des idealen Kandidaten und machte sich dann auf die Suche nach einem Mann, der diesem Bild entsprach. In der Presse und bei den Fernsehsendern in Südkalifornien wurden Anzeigen geschaltet. Schließlich blieb nur ein Kandidat übrig, ein Quäker von 33 Jahren, der fromme Sohn einer bescheidenen Witwe aus Whittier, von Beruf Anwalt, bekannt als Kommunistenfeind. Sein Name war Richard Nixon. 1946 wurde er zum Abgeordneten gewählt, 1950 zum Senator, 1952 wurde er Vizepräsident der Vereinigten Staaten und 1968 Präsident. Zu den zahlreichen Verbrechen, die während seiner Präsidentschaft begangen wurden, zählen die schweren Bombardierungen von Wohnvierteln in Hanoi und Haiphong an Weihnachten 1972, bei denen viele zehntausend Männer, Frauen und Kinder schwere Verbrennungen erlitten oder starben.

Was kann der Intellektuelle, der Wissenschaftler gegen die Usurpierung und Zweckentfremdung seiner Methoden durch andere tun, die sie in den Dienst ihrer mörderischen Sache stellen wollen? Auf den ersten Blick nichts. Das soziologische Wissen ist wie alle wissenschaftlichen Erkenntnisse ein öffentliches Gut14. Der Soziologe kann allenfalls seine Forschungen abbrechen, seine Aufzeichnungen verbrennen und sich weigern, eine Untersuchung fortzusetzen, deren wahrscheinliche Ergebnisse in den Händen zynischer Machthaber verhängnisvolle Folgen für die Menschheit haben könnten.15

Zwischen Wissenschaft und Ideologie besteht eine dialektische Beziehung. Um dieses Problem geht es im vierten Kapitel des vorliegenden Buchs. An dieser Stelle lasse ich es mit der Feststellung bewenden, dass es manchmal schon ausreicht, wenn eine drangsalierte Gesellschaft oder Kultur in den Rang eines »Forschungsobjekts« erhoben wird, weil dadurch ihre Überlebenschancen steigen. Ich erinnere mich an eine heiße Nacht in den Tropen, in einem südlichen Viertel von Rio de Janeiro. Edison Carneiro, ein schwarzer Anthropologe, Pionier der Bewegung für die afrikanische Renaissance in Brasilien, erzählte mir in seiner kleinen Wohnung im Stadtteil Leblon, wenige Schritte vom Atlantik entfernt, von seinem langen Kampf.16 Ein ironisches Lächeln huschte über sein von Schmerz und Erschöpfung gezeichnetes Gesicht: »Zwei Franzosen haben uns gerettet, zwei Soziologen, uns Crioulos do Brasil!« Carneiro sprach von Claude Lévi-Strauss und Roger Bastide. Vor allem von Bastide, dem Nachfolger von Lévi-Strauss als Direktor der Mission universitaire française und Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie an der Universität von São Paulo. Er wirkte dort von 1938 bis 1957. Wie vor ihm schon Lévi-Strauss unternahm auch Bastide ausgedehnte Reisen durch Brasilien. Und wie Lévi-Strauss stieß er auf bedeutende Gesellschaften, reiche Kulturen nicht-europäischen Ursprungs, die Lehre und Forschung der Weißen nahezu vollständig ignoriert hatten. Die Regierung setzte sie anhaltender und gewaltsamer Unterdrückung aus. Lévi-Strauss legte in Brasilien die Grundlagen für eine systematische Erforschung der Indianergesellschaften. Bastide entdeckte den gewaltigen menschlichen, kulturellen und symbolischen Reichtum der aus Verschleppung und Versklavung hervorgegangenen afrikanischen Gemeinschaften. Er begründete eine neue Wissenschaft an der Universität von São Paulo: die Soziologie der afrikanischen Diaspora in Nord- und Südamerika. Bedeutende Forscher – Ottavio Ianni, Florestan Fernandes, Maria Isaura Pereira de Queiróz, Juana Elbein dos Santos, Pierre Verger, Vivaldo Castro-Lima, Fernando Henrique Cardoso und seine Frau Ruth Cardoso, Guilherme und Yara Castro, Zaíde Machado und andere – waren Schüler von Roger Bastide. Vor ihm hatten sich hauptsächlich Gerichtsmediziner wie Arturo Ramos, Fernandez und andere mit der afrikanischen Diaspora befasst. Sie behandelten die politischen Systeme und sozialen Verhaltensweisen der Afrikaner aus einer fast ausschließlich eurozentrischen Sicht: Die Trance, ein zentraler Bestandteil des candomblé, einer afro-brasilianischen Religion, wurde mit Hysterie gleichgesetzt. Die medizinische und therapeutische Verwendung von Säften bei den Nagô galt als Giftmischerei, ausgeführt von schwarzen Hausangestellten und darum gefährlich für die weißen Herren! Auf Drängen der Kirche und der weißen Machthaber verfolgte die Polizei systematisch die yawalorixa und die babalao (die Priester und Priesterinnen) von Bahia, Rio und São Luis. Die wenigen terreiros (Kultorte), wo die Eingeweihten und Priester nicht arretiert und die Hütten nicht geplündert wurden, mussten eine halb versteckte Existenz am Rand der Städte oder im Busch fristen, wie etwa auf Itaparica, einer Insel in der Allerheiligenbucht.17 Ich fragte Edison Carneiro: »Wie kommt es, dass Roger Bastide, ein kleiner, schüchterner, zurückhaltender und distinguierter Mann, der so gar nichts von einem charismatischen Anführer hatte – weder in seinem Aussehen noch in seiner sehr traditionalistischen und bürgerlichen Auffassung von der gesellschaftlichen Rolle des Professors –, in der Lage war, den weißen Mächtigen die Stirn zu bieten und ihre Vorurteile aufzubrechen? Wie konnte er eine ganze soziale und historische Strömung, die mit Mitteln der Kultur und der Polizeigewalt praktizierte rassistische Verachtung, die Ausbeutung und Diskriminierung der Afrikaner in Brasilien, überwinden?«

Carneiro lachte: »Ich sehe, du hast keine Ahnung von den Verhältnissen in Brasilien in den 1940er- und 1950er-Jahren! Wir waren eine Kolonialgesellschaft. Wir sind es immer noch. Es herrschten die Oligarchie der Großgrundbesitzer aus dem Norden und die Oligarchie der Banker aus dem Süden. Diese Leute und damit auch ihre Kinder hatten nichts anderes im Sinn, als abzustreiten, dass es eine brasilianische Identität gibt. Sie wollten Europäer sein, am liebsten Franzosen. In geradezu absurder Weise äfften sie den Lebensstil, die Ideen, Verhaltensweisen und die Kleidung der Pariser nach. Die Damen der feinen Gesellschaft in Rio trugen Pelzmäntel, in den Tropen!

Und da hielt ein professor francês in geschliffenem Französisch Vorlesungen, zu denen die gesamte feine Gesellschaft von São Paulo strömte. Bastide erzählte ihnen, dass wir, die Neger, Träger einiger der sagenhaftesten Kulturen auf der Erde waren und dass der künftige Reichtum der brasilianischen Kultur gerade im Synkretismus liegen werde oder wenigstens in der Achtung und der wechselseitigen Kenntnis vom Wissen aller Gemeinschaften, der weißen, schwarzen, der indianischen und der caboclos, die auf dem Boden unseres Vaterlands leben!«

Die Fakten sind eindeutig: Bastides Wirken über 19 Jahre als Wissenschaftler, Aktivist und Lehrer in Brasilien, seine grundlegenden Werke, die beachtlichen Werke seiner Schüler – all das hat die Lebensbedingungen der 80 Millionen schwarzen Brasilianer nicht radikal verändert. In bestimmten Regionen hat sich die wirtschaftliche Ausbeutung der Mehrheit der Schwarzen durch die herrschenden Klassen der compradores oder weißen Brasilianer noch verschlimmert. Auch die politische Diskriminierung und Repression ist schlimmer geworden. Aber die Rückeroberung der kulturellen Identität dieser Gemeinschaften, deren Existenz heute anerkannt wird, war ein erster Schritt. Ihr Wissen wird verbreitet, weiße Kinder, indianische, schwarze und Mischlinge erfahren in der Schule von der schrecklichen Geschichte der Sklaverei, aber auch von der Bedeutung der Rituale, Symbole, Feste und kollektiven Trancen des candomblé. Wenn nachts in Casa Branca (Salvador da Bahia), in Casa Grande das Minas (São Luis, Maragnan) oder in Gomeia (Rio de Janeiro) die Trommeln ertönen, strömen die Menschen in Scharen herbei. Viele Brasilianer, aus ganz verschiedenen sozialen Schichten und mit unterschiedlichem ethnischem Hintergrund, lassen sich heute, wenn sie eine Entscheidung treffen müssen, von den yawalorixas und babalaos der Yoruba, Jêjê und Kongo weissagen.18