anders fühlen - Benno Gammerl - E-Book

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Benno Gammerl

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Beschreibung

„Eine Geschichte von Alltag und Aktivismus, von Verfolgung und Strafe, von Befreiung, Freundschaft und Liebe, eine Geschichte gelebten, queeren Lebens, über die sich ein Schleier des Vergessens zu legen droht. Man muss dieses Buch lesen!“ Daniel Schreiber

Von heimlichen Begegnungen bis zum Christopher Street Day, vom §175 bis zur Ehe für alle – die Wege schwulen und lesbischen Lebens in Deutschland waren steinig, und sie sind bis heute weniger geradlinig, als unsere Vorstellung von Liberalisierung vermuten lässt. Benno Gammerl legt die erste umfassende Geschichte der Homosexualität in der Bundesrepublik vor. Eindringlich beschreibt er die Lebens- und Gefühlswelten von gleichgeschlechtlich liebenden Menschen seit den 1950er Jahren und lässt Männer und Frauen verschiedener Generationen zu Wort kommen. Ein lebensnaher und einsichtsreicher Blick auf eine spannende Geschichte, der Historikerinnen und Historiker bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben.

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Pride Paraden ziehen durch deutsche Innenstädte, die großen Parteien beschäftigen queerpolitische Sprecher*innen und Homophobie ist gesellschaftlich weitgehend geächtet. Der Weg hierher war lang, und bis heute ist die Lebensrealität schwuler und lesbischer Menschen in Deutschland komplexer, als unsere Vorstellung von Liberalisierung vermuten lässt. Mit anders fühlen legt der Historiker Benno Gammerl die erste umfassende Geschichte der Homosexualität in der Bundesrepublik vor – und eröffnet neue Perspektiven auf die Nachkriegsgeschichte.

Präzise und eindringlich beschreibt anders fühlen die Lebens- und Gefühlswelten von gleichgeschlechtlich liebenden Menschen seit den 1950er Jahren und lässt zahlreiche Männer und Frauen verschiedener Generationen selbst zu Wort kommen. Mit Hilfe der Oral History gelingt so ein atmosphärisch dichtes Bild, das Gammerl mit einer originellen historischen Analyse verbindet. Ein lebensnaher und einsichtsreicher Blick auf eine spannende Geschichte, der Historiker*innen bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben.

BENNO GAMMERL

anders fühlen

Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik. Eine Emotionsgeschichte

Carl Hanser Verlag

INHALT

Vorwort

ERSTER O-TON: FRAU SCHMIDT UND HERR MEYER

Einleitung: Verschlungene Pfade

TEIL 1  NACHKRIEGSDEKADEN: AUSWEICHEN.

ZWEITER O-TON: HERR MEYER UND FRAU SCHMIDT

Stigmatisierung und Selbstbehauptung

Nischen, Fluchten und andere Räume

Kultivierung der Gefühle oder unwillkürliche Natürlichkeit

TEIL 2  1970ER-JAHRE: AUFBRECHEN!

DRITTER O-TON: FRAU SCHMIDT UND HERR MEYER

Schwule und lesbische Bewegungen

Öffnungen und Grenzverschiebungen

Den Gefühlen ihren Lauf lassen?

TEIL 3  1980ER-JAHRE: ANKOMMEN?

VIERTER O-TON: HERR MEYER UND FRAU SCHMIDT

Die Ambivalenzen der Normalität

Die Entdeckung der Zwischenräume

Die Bewältigung emotionaler Probleme: Angst vorm Scheitern?

FÜNFTER O-TON: FRAU SCHMIDT UND HERR MEYER

Schluss: Neue Perspektiven auf die Zeitgeschichte der Homosexualitäten

Dank

Anmerkungen

Quellen

Literatur

Register

VORWORT

Fühlen Lesben und Schwule wirklich anders als heterosexuelle Menschen? Oder bisexuelle? Natürlich nicht, werden viele ganz intuitiv antworten. Personen jederlei Geschlechts lieben einander, zweifeln aneinander, begehren einander, streiten sich, versöhnen sich, trennen sich. Der gefühlsgeschichtliche Blick legt jedoch die gegenteilige Antwort nahe: Selbstverständlich fühlen und fühlten Lesben anders als Schwule anders als Heterosexuelle anders als Bisexuelle anders als Pansexuelle anders als Asexuelle und so weiter. Unser Fühlen ist untrennbar verflochten mit der Position, die wir in der Gesellschaft einnehmen. Wenn sich mein Empfinden in einem zentralen Punkt von dem der großen Mehrheit unterscheidet, auf deren Wünsche alles ausgerichtet ist, von den Schulbüchern bis zu den Figurenpaaren für Hochzeitstorten, dann prägt das auch meine Gefühle, wie ich mit ihnen umgehe und wie ich sie zum Ausdruck bringe.

Und für die Organisation der gegenwärtigen Gesellschaft spielen sexuelle und geschlechtliche Differenzen nach wie vor eine wichtige Rolle. Akzeptanz und Gleichberechtigung bleiben Ziele, für die es sich zu streiten lohnt. Das gilt nicht nur, aber besonders für Trans- und Interpersonen sowie alle, die sich jenseits der zweigeschlechtlichen Ordnung bewegen. Allerdings, und das wird allzu oft vergessen: Auch wenn rechtliche Gleichheit irgendwann errungen sein sollte, bleiben die Unterschiede bedeutsam. Nicht als Hierarchien, eher als Variationen. In diesem Sinn kann man Diskriminierung bekämpfen, ohne auf Alterität zu verzichten, Gleichberechtigung fordern und Verschiedenheit leben. Das ist ein wichtiges Anliegen dieses Buches. Denn gerade das Gefühlsleben bietet Raum für ein solches Besonders-Sein, das sich nicht abgrenzen oder abheben will. Nicht besser oder spannender, nicht schlechter oder verwerflicher, sondern schlicht anders. Diese unaufgeregte Aufmerksamkeit für das Differente und Minoritäre spiegelt sich im kleingeschriebenen Titel dieses Buchs, der sich denjenigen offen zuwendet, die anders fühlen.

Genau das tut auch der historische Blick auf die Gefühlswelten früherer Zeiten. In den 1950er-Jahren, als viele Jugendliche noch freudig erregt den Berührungen entgegenfieberten, die ihnen ihr erster Tanzkurs ermöglichte, haben sich die Menschen anders ineinander verliebt als heute, wo so mancher intime Wunsch in den sozialen Medien ausführlich besprochen wird, lange bevor es zu ersten Körperkontakten kommt. Es gibt mehr Gelegenheiten, zärtliche Nähe zu suchen. Ob amouröse Annäherungen dadurch einfacher geworden sind, ist eine andere Frage. Für Lesben und Schwule hat sich die Lage besonders rasant gewandelt: Früher hatten sie große Angst, dass ›es‹ rauskommen könnte. Heute ist das Schwul- oder Lesbischsein meist kein Grund mehr für allzu große Aufregung. Dadurch veränderte sich auch das Fühlen. Emotionen sind nicht nur natürlich, nicht bloß genetisch festgeschriebene Reaktionsprogramme, die über Jahrhunderte immer dem gleichen Schema folgen. Emotionen sind auch von den sozialen und kulturellen Kontexten geprägt, in denen sie empfunden und gezeigt werden. Das ist der Reiz der Gefühlsgeschichte: Sie verknüpft diese beiden Dimensionen, überbrückt den vermeintlichen Gegensatz von Natur und Kultur, der das westliche Denken und Handeln schon seit geraumer Zeit in ein allzu festgefügtes Raster zwängt.

Sexuelle und geschlechtliche Identitäten bewegen sich auch im Spannungsfeld zwischen Naturen und Kulturen. Homosexuelle, Heterosexuelle, Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transpersonen und intergeschlechtliche Menschen, LSBTI* und Queers: Solche Leute hat es ›natürlich‹ immer schon gegeben, und gleichzeitig gibt es sie erst, seit in diesen sprachlich-kulturellen Mustern von ihnen die Rede ist. Wie sinnvoll ist es, das vielfältige Gelände von Sex und Geschlecht mit zahllosen Kategorien immer penibler zu kartografieren? Müssen ambisexuelle, gender-non-konforme Cis-Männer und alle weiteren denkbaren Menschen wirklich genau wissen, wo ihr Platz ist und wo die Grenzen zu den anderen Gruppen verlaufen? anders fühlen berührt diese aktuellen Debatten, indem es die Zeitgeschichte der Homosexualitäten betrachtet, über die bisher nur wenig bekannt ist. Und das Buch erzählt diese Geschichte neu. Es handelt nicht nur von Verfolgung und Aktivismus, sondern vor allem vom Gefühls- und Alltagsleben. Diese dichte Beschreibung konzentriert sich auf die Bundesrepublik. Die Geschichte von Lesben und Schwulen in der DDR verdient ihr eigenes Buch. Denn man muss die Diversifizierung und Normalisierung dessen, was einst verpönt war, genau begreifen, um die Gegenwart besser zu verstehen. Immer wieder wurde um identitätspolitische Grenzen gerungen und wurden über alte Gräben hinweg neue Allianzen geschmiedet. Zwischen Sich-Auflehnen und Sich-Einfügen gab es verschiedene Strategien. Angesichts dieses Spektrums muss sich jede*r selbst für die eine, die andere oder eine Kombination unterschiedlicher Herangehensweisen entscheiden.

Das gilt auch für die Frage der Selbst- und Fremdbezeichnungen: schwul, lesbisch, homosexuell, anders, besonders … Im Buch ist auch oft von gleichgeschlechtlich liebenden und begehrenden Menschen die Rede. Aber schon der Unterschied zwischen Begehren und Liebe macht deutlich, dass es keine neutrale Formulierung gibt, mit der man über Intimität zwischen Männern oder zwischen Frauen sprechen könnte. Deswegen ist es wichtig, darauf zu achten, welche Ausdrücke meine 32 Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner selbst verwenden. 2008 und 2009 haben sie mir ihre Lebensgeschichten erzählt und damit dieses Buch ermöglicht. Um einen Eindruck von der Vielschichtigkeit ihrer Selbstentwürfe und Biografien zu vermitteln, kommen zwei Erzählpersonen, Frau Schmidt und Herr Meyer, in fünf O-Tönen ausführlich zu Wort. Diese Zwischenkapitel entsprechen dem Originalton der Interviews.

Den Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern gilt mein größter Dank, für die Offenheit und die Bereitschaft, ihre Erinnerungen mit anderen zu teilen. Einige von ihnen sind mittlerweile verstorben. Ihrem Andenken ist dieses Buch gewidmet. Und dem Lebensmut all jener, die ihr eigenes Erleben in den folgenden Geschichten wiedererkennen.

ERSTER O-TON:

FRAU SCHMIDT & HERR MEYER

Ich als Lesbe bin was Besonderes. Lesbischsein bedeutet für mich, ich zu sein. Es bedeutet, hat für mich bedeutet, politisch sehr aktiv zu sein. Lesbischsein bedeutet auch, ganz anders sein zu können. Als Lesbe fühle ich mich in der normalen Gesellschaft ganz fremd, das ist für mich ’ne Zwangsheterosexualität. Ich empfinde mein Lesbischsein nicht als unnormal, aber das Leben von heterosexuellen Menschen ist mir fremd. Ganz simples Beispiel. Ich bin mit meiner Freundin im Theater. Neben mir sitzt ’ne Heterotante. Ich halt es kaum aus, weil die riecht nach einem Parfum, entsetzlich. Fühl ich mich belästigt. Das erleb ich in lesbischen Kreisen nicht. Ich geh jetzt seltener, aber schon mal ins Lesbencafé und da fühl ich mich sofort wohl, da fühl ich mich unter meinesgleichen, und da hab ich keine fremden Gerüche um mich herum.

Ich werd jetzt 65. Ich bin, war sehr engagiert auch in der Szene und hab ganz viel aufgebaut in E. Ich bin ’ne Politlesbe, sag ich jetzt mal so salopp. Also ich hatte auch so ’nen Ruf, dass ich ’ne Mackerfrau wär, weil ich mich gegenüber Männern sehr energisch durchsetzen konnte. Ich hab auch ein sehr ausgeprägtes Rechtsbewusstsein. Wenn mir Unrecht geschieht, dann kann ich ziemlich wütend werden. Ich bin impulsiv. Und ich finde, Wut ist ’n befreiendes Gefühl.

Die Freundin-Liebe ist für mich gleichwertig mit der Partnerin-Liebe. Meine Freundinnen sind mir ganz wichtig. Da tue ich auch ganz viel für, und ich bin da eigentlich ganz treu. Für mich zählen Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, keine Show. Wenn ich ’ne Beziehung eingehe, will ich doch wissen, was in der anderen vorgeht. Sexualität hat dabei für mich nicht so ’n Stellenwert. Das gehört dazu einfach. Das ist gut und richtig und wichtig, aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich anderen Frauen nahe sein will. Bei mir spielt Verliebtheit und Anziehung immer ’ne Rolle. Manchmal sagen die Leute zu mir, du hast ja auch zwei Ehen hinter dir und bist dann auf Lesben gekommen, weil du sexuell mit den Männern nicht klargekommen bist. Dann sag ich immer, wie kommt ihr denn auf so ’nen Blödsinn? Ich hab mich damals einfach für Frauen, für diese Lebensweise entschieden.

Ich kann ganz schnell rausfinden, was mir in einer Beziehung guttut. Und wenn es mir nicht mehr guttut, also ob das nun die Sexualität betrifft oder das Emotionale, dann bin ich diejenige, die ’ne Änderung will, die dann auch anfängt, zu reden, Dinge zu benennen. Da bin ich sehr intuitiv, ich kann manchmal auch Dinge vorhersehen. Meine Mutter hatte auch so Fähigkeiten. Ich weiß es nicht, aber wenn ich spüre, dass etwas schiefläuft, dann sage ich das. Und ich zeige meine Gefühle. Als mir meine damalige Lebensgefährtin erzählt hat, dass eine Studienfreundin sich das Leben genommen hat, da bin ich weinend durch Berlin gelaufen. Da war es mir völlig egal, was andere denken. Es war mir schon immer gleich, was die Leute über mich reden oder denken. Ich zeig meine Gefühle, ich zeig auch der anderen, was ich von ihr halte, was ich von ihr will. Das geht manchen zu nahe.

Inzwischen bin ich überlegter geworden, lasse mich nicht mehr so von meinen Gefühlen leiten. Ich setze, je älter ich werde, mehr auch meinen Verstand ein. Und trotzdem find ich das gut, dass ich so bin, wie ich bin. Ich hätte auch, also heute hier beim Interview, ich hätte mich nicht von einem heterosexuellen Mann interviewen lassen. Als ich von dem Projekt gelesen hab, da hab ich schon ’nen Moment gedacht, och, schön wär’s auch, wenn’s ’ne Frau ist, die mich hier interviewt. Und ich hab sofort zu meiner Partnerin gesagt, der das macht, ist ein schwuler Typ, Punktum. Und wenn das keiner ist, dann merk ich das ganz schnell und dann geh ich raus aus der Situation. So bin ich nun mal.

Ich leb mittlerweile jetzt 14 Jahre mit meiner derzeitigen Lebenspartnerin, mit der ich auch auf dem Standesamt war. Also ich halt eigentlich nichts von Ehe und diesen Geschichten, aber das haben wir aus pragmatischen Gründen gemacht. Ich will sie beerben, wenn sie vor mir geht, und sie soll mich beerben. Das ist der einzige Grund. Eigentlich mag ich solche Rituale nicht. Das ist für mich ja gerade der Unterschied zu heterosexuellen Beziehungen, dass da mehr auf Konventionen geachtet wird. Das leb ich schon lange nicht mehr, und ich will das auch nicht mehr leben. Also zum Beispiel beim Tischdecken: Das Messer muss so, und die Gabel muss so und der Löffel so. Das ist mir pupegal, Hauptsache, das Essen schmeckt. Oder auch mit der Religion. Ich bin zwar evangelisch, immer noch, und ich bin auch keine ungläubige Person, aber ich muss nicht in die Kirche rennen, um da irgendwas zu zeigen. Das ist doch gerade der Vorteil von lesbischen Beziehungen, dass es nicht so ’n Druck gibt, weil sich das jetzt gehört, müssen wir jetzt zusammen die oder die besuchen oder ins Theater gehen oder Weihnachten zusammen feiern mit der ganzen Familie, weil das macht man so.

Lesbischsein bedeutet für mich, mich aus Konventionen zu befreien. Diese schrecklichen heterosexuellen Rollenklischees. Manchmal ist es ja in schwulen und lesbischen Beziehungen nicht anders. Manchmal denk ich, meine Güte, wir spielen hier Rollen, wie Männer und Frauen das miteinander machen. Da hat sich auch bei uns so manches eingespielt, im Negativen wie im Positiven natürlich. Und oft gibt es auch Rollenzuschreibungen von außen: Da ist dann meine Partnerin die große starke Kluge, und ich bin die Emotionale und die Sozialtante. Ich bin ja auch so ’ne kleine nette Niedliche. Also jetzt ein bisschen ironisch. Das ging mir in der Heterozeit auch schon so. Ich musste immer beschützt werden. Also wenn man in Klischees denkt, dann wird mir eher der weibliche Part zugeschrieben und ihr der männliche. Das ärgert mich. Für mich ist das immer wieder ’n Aushandeln. Mir ist es ganz wichtig, dass wir ein Wir sind in der Partnerschaft. Aber auch, dass ich weiterhin mein Ich da behalte und meine Autonomie.

Familie wird jetzt mit zunehmendem Alter wieder wichtiger für mich. Also meine eine Schwester zum Beispiel, meine Mutter, die jetzt 90 geworden ist und im Altenheim lebt, meine beiden Töchter und ihre Partner und mein Enkelsohn. Dem ist es aber manchmal peinlich, mit mir ins Kino zu gehen, weil ich dann lache an Stellen, wo sonst niemand lacht, und dann sagt er: »Oma, lass das mal.« Aber Familie ist auch meine Wahlverwandtschaft. Morgen treffe ich hier in Berlin zum Beispiel meine frühere Lebensgefährtin, die meine jüngere Tochter mit großgezogen hat. Meine Familie war auch sehr stolz, dass ich als Volksschülerin und Einzelhandelskauffrau es bis an die Uni geschafft habe. Trotz meines Diploms in Pädagogik und obwohl Lesen ein Hobby von mir ist, bin ich aber keine Theoretikerin. Ich kann gut ackern. Ich bin sehr zielstrebig und kann gut im Team arbeiten. Ich hab auch immer gerne gearbeitet. Immer wenn ich erwerbslos war, ist mir das überhaupt nicht bekommen.

Übers Studium bin ich vor über 30 Jahren in E. gelandet, meiner Wahlheimatstadt. Das ist ’ne Kleinstadt und trotzdem ’ne Großstadt, und du hast da alles, was du dir wünschst. Das ist kulturell toll, und die Uni ist auch da. Ich hab meine Vertrautheit, meine sozialen Kontakte. Ich geh da übern Markt, und dann treff ich da Bekannte oder frühere Kolleginnen. Das ist einfach so ’n schönes Heimatgefühl. Früher gab’s auch mal die Überlegung, in Berlin zu leben, aber das kann ich mir jetzt gar nicht mehr vorstellen. Das wär mir einfach zu unruhig, zu anstrengend. Ich bin eigentlich gar nicht ängstlich, aber durch meine Krankheit bin ich ängstlich geworden.

Vor drei Jahren bin ich an Brustkrebs erkrankt. Ich bin aber ganz zuversichtlich. Das ist jetzt erledigt. Das ist operiert und gut. Ich hatte noch mal Glück. Ich bin dadurch sehr aufmerksam geworden, was mein Körpergefühl angeht. Ich konnte wegen der Krankheit vor zwei Jahren in den vorzeitigen Ruhestand gehen und achte seither sehr auf ’n Rhythmus in meinem Leben. Und ich achte noch genauer als früher darauf, mit wem ich Umgang haben möchte. Gruppen kann ich schon gar nicht mehr ab. Ich war sehr aktiv in Lesbengruppen. Das ist nicht mehr meins. Aber ich suche jetzt immer mehr den Austausch mit älteren Lesben. Wenn ich mit älteren Lesben zusammen bin, fühl ich mich sehr aufgehoben. Wie ich jetzt lebe mit meiner Freundin, dieses ›nur wir beide‹, das will ich auf Dauer nicht mehr. Ich möchte gerne so ’nen Kreis haben, die sich das Leben im Alltag ähnlich vorstellen, nämlich in einer Hausgemeinschaft mit Gleichaltrigen, vielleicht auch mit jungen Lesben, oder mit schwulen Männern, also so ’n Mehrgenerationenhaus. So was wünsch ich mir eigentlich.

__________

Ich bin Wolf-Peter Meyer und bin geboren und aufgewachsen in Spertal, einem Dorf in Hessen. Ich beherrsche auch die dortige Mundart noch ein bisschen. Ich komme nicht aus dem Bildungsbürgertum, sondern bin ein Sohn armer kleiner Leute. Meine Eltern waren Kleinstbauern, Fünf-Uhr-Bauern. Tagsüber arbeitete mein Vater im Hüttenwerk, und abends kümmerte sich die ganze Familie um die Landwirtschaft.

Mein Vater war ein nicht-eheliches Kind, die Frucht einer sanften Vergewaltigung, nehme ich an. Er war eigentlich ein Nichts. Und er war auch braun, also der war in der Partei. Da trug man nämlich eine Uniform, und in Uniform war er jemand. Er kam verletzt aus dem Krieg. Diese ewigen Kriegsgeschichten fand ich manchmal zum Kotzen. Tief in meinem Herzen war ich schon immer Pazifist. Die Mutter war jemand, wo man dachte, das ganze Leid der Welt musste sie tragen. Als hätte sie gerade eine Bombennacht in Dresden überlebt. Sie musste als Mädchen ihren Bruder versorgen, der im Dorf als Narr galt. Und sie erzählte immer, wie schlimm das war. Dieses Geklage der Mutter, die sonst ’ne starke Frau war. Nach dem Krieg das Haus zu bauen, was man alles gehungert hat. Ich konnte es nicht mehr hören, diese Opferrolle. Aber es ist natürlich ein Unterschied, ob man etwas selbst erlebt hat oder ob es ein Fremderleben ist.

Das hat mich geprägt, diese ewigen Kriegsgeschichten, die Kleinen-Leut-Geschichten, dieses Nach-unten-Treten und Nach-oben-Katzbuckeln. Das hat mich gehemmt auch später in meiner beruflichen oder persönlichen Entwicklung. Ich trug die Familienkrankheiten in mir, das Leicht-verletzt-Sein und die Ängstlichkeit. Sodass ich heute noch behaupte, ich hab’s zu nichts gebracht vor lauter Angst und Mangel an Durchsetzungsfähigkeit. Diesen Mut, wenn was schiefgeht, dann geht’s halt schief, hab ich nicht. Wenn es Probleme gab in der Schule, wurde nicht getröstet, sondern gedroht. Einmal, da war ich schon sechzehn, hatte ich geschwänzt. Ich war in der Schule permanent überfordert. Und als ich nach Hause kam, hatte mich meine Mutter sofort an den Haaren. Nach dem Motto, übern Kopf darfst du mir wachsen, aber nicht über die Hand. Beim Abendessen sagte sie es meinem Vater, und der stand auf, nahm den Stuhl, und schschitt. Ich konnte grade noch abtauchen. Ich wurde aufs Zimmer verbannt, und es passierte erst mal gewaltmäßig nichts weiter. Aber diese Angst hat mich geprägt.

Nach dem Realschulabschluss, da war ich siebzehn, hab ich mich von zu Hause abgesetzt und ging nach F. Einige Jahre später habe ich dann in O. studiert. Das war verrückt, weil ich ja ein Schulversager war, und dann an der Uni. Ich bin Diplomsozialpädagoge, Therapeut und Berater. Deswegen sind mir Interviews auch nicht fremd. Ich habe allenfalls Sorge, dass ich mich nicht gut und exakt genug ausdrücke. Und dann denk ich: »Mensch, du bist kein Germanist und hast auch kein Philosophiestudium. Sei doch mal zufrieden mit dir.« Aber hier in dieser Situation habe ich schon das Gefühl, dass Sie verstehen, was ich sage. Ich würde meinen, dass ich im Augenblick authentisch bin. Offenheit war mir immer sehr wichtig, auch geistige Beweglichkeit, dass man seine Umgebung wahrnimmt. Da gehört Aufmerksamkeit dazu, aber auch Allgemeinbildung oder politisches Wissen. Ich hab mich immer auch interessiert für Land, Leute, Sprache. Volkstum würde man das wohl nennen, ohne volkszutümeln.

Mein Lebensglück ist, dass ich schwul bin. Die Ängstlichkeit paarte sich mit Aufmüpfigkeit. Da konnte mir nichts Besseres blühen, als schwul zu sein. Ich habe viel gecruist, also massiv Sexualität outdoor erlebt. Dieser leichte Kick von Verbotenem hat mich gereizt. Und mit Männern flirten, das fand ich ja so toll. Allerdings bin ich eher wie die Prinzessin, der man den Hof macht. Bis auf den heutigen Tag habe ich nie jemand angesprochen, da war ich nie mutig genug. Aber ein schlechtes Gewissen hab ich auch nie gehabt. Nur manchmal dachte ich, Mensch, irgendwie geht das nicht, nachts treibst du dich mit ’nem Kerl rum, und am anderen Tag machst du fromme Worte vor deinen Studienkollegen und -kolleginnen. Hier in Berlin wollte ich dieser Tage eigentlich auch gerne mal in ’n Pornokino oder in die schwule Sauna. Aber jetzt habe ich schon so viele andere Verabredungen, dass es dazu gar nicht mehr kommt.

Dass ich sexuell anders empfinde, wird mir von außen als etwas Negatives zugeschrieben. Da wird definiert, du bist ein 175er. Ich selber empfinde mein Schwulsein im positiven Sinn als etwas Besonderes. Wenn ich an Sexualität denke, da denke ich an Mann. Wenn ich an Schönheit denke, denke ich erst mal an Mann. Das ist ein Stück Wesenhaftigkeit von mir. Ich identifiziere mich selbst als jemand, der ganz schwul ist, der aber auch ganz Mann ist, der aber auch ganz Mensch ist, der viele Schwächen hat und viele Stärken. Die Art, wie ich mit anderen umgehe, wie ich mit meinen Händen rede, dass ich zum Barockisieren neige in meiner Sprache, dass ich zum Tagträumen neige, das gehört auch alles zu meinem Wesen.

Deswegen braucht auch nicht jeder zu wissen, dass ich schwul bin. Ich muss mich nicht dauernd mitteilen. Sexualität hat für mich auch nicht diese Bedeutung. Das ist nicht mein Ding, dass Menschen sich allein über Sexualität definieren. Umgekehrt bemesse ich Menschen auch nicht nach ihrer sexuellen Ausrichtung, sondern nach ihrem Verhalten. Wenn es allen irgendwie egal wäre, wenn man sagen würde, dass es einfach Menschen gibt, die unterschiedlich empfinden, und wenn man, wie es das Grundgesetz sagt, nicht diskriminieren würde, dann würde man halt drüber reden, wie andere übers Suppe-Kochen reden. Es wäre das Selbstverständlichste von der Welt.

Für mich war Homosexualität zeitweilig ’ne Belastung. Kein Hetero wird geboren und lebt nur mit schwulen oder lesbischen Menschen. Aber wir haben in der Regel Heteros um uns. Und wir müssen lernen, mit den Schwierigkeiten umzugehen. Da kann ich mich zurückziehen und sagen: »Gott, das braucht ja niemand zu merken.« Oder ich sage: »Nein, das ist mein Leben, und es gibt andere, die denken auch so.« Und die muss man sich suchen. Homosexualität ist dann etwas, wo man kämpfen muss, was zu einer ungeheuerlichen Befreiung führt. Darum gehe ich regelmäßig zum CSD in L. und trage dort vorne zusammen mit anderen die Regenbogenfahne. Es ist mir als Demonstration wichtig, nicht als Karneval. Ich würde nicht nackig auf so ’nen Wagen steigen. Ich bin nicht schrill, ich bin kein Lederkerl. Ich will nicht, dass der Eindruck entsteht, Schwulsein gleich öffentlich Schwanz im Arsch zeigen. Für mich ist das ’ne andere Demonstration. Es geht darum, sich Freiheit zu erkämpfen.

Und man muss Solidarität organisieren. Deshalb besuche ich auch ’ne 40-plus-Gruppe in Z. Als ich da zuerst hinkam, war diese Gruppe relativ ziellos. Inzwischen ist das aber besser organisiert, und es gibt einen Konsens über Themen und Vorhaben. Ich denke mal, das ist sicher auch mein Verdienst. Vorher wurde da vor allem prahlerisch über Fistfuck und so ein Zeugs geredet. Und ich dachte, das kann doch nicht alles sein. Man muss sich und sein sexuelles Verhalten doch auch mal infrage stellen, darüber nachdenken, ohne gleich ein schlechtes Gewissen aufzubauen. Und jetzt sprechen wir darüber, wie man schwul lebt, wenn man alt wird. Was gibt’s da für Fantasien und Träume? Wohnen wir in WGs oder hab ich bis dahin ’n Kerl geheiratet? Wie will ich mit Sexualität umgehen? Ich bild mir immer ein, ich bin kein Opatyp, aber wie geh ich damit um, wenn ich merke, jetzt laufen sie nicht mehr alle hinter mir her.

Ich bin ja ganz verkirchlicht und fromm. Verrückter Protestant, und schwul bis dorthinaus. Dank meiner einfältigen Gläubigkeit haben mich schwere Schicksalsschläge – Syphilis, Hepatitis, HIV, Krebs et cetera – überhaupt nicht aus der Bahn geschmissen. Ich hab mir einfach gesagt: Leben wir, so leben wir dem Herrn, so übersetzt Luther; und sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Und darum, ob wir leben oder sterben, sind wir des Herrn. Also Gott hüllt mich mit seinem Mantel ein. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es Bereiche gibt, wo nicht für mich gesorgt ist. Die Regenbogenfahne hat deswegen für mich einen doppelten Sinn: das alte Bundeszeichen zwischen Gott und den Menschen und Symbol der Schwulenbewegung. Dabei ist es mir sehr wichtig, nicht doppelmoralisch zu sein. Ich bin ein schwuler Mann, der Sex mit anderen Männern macht. Und ich bin ein frommer Mann. Ein schwuler Christ, der in die Kirche geht. Unmögliche Kombination, aber ich stehe dazu.

Und aus dieser persönlichen inneren Freiheit und Gewissheit heraus lebe ich seit 1989 wieder in Spertal, in meinem Elternhaus. Ich habe mich bis zu ihrem Tod um meine Mutter und meinen Vater gekümmert. Mein älterer Bruder und meine ältere Schwester leben in der Nähe. Meine Verwandten wissen offiziell, dass ich schwul bin. Ansonsten denke ich nicht darüber nach, ob man über mich was denkt. Seit 2005 bin ich nicht mehr berufstätig. Ich engagiere mich im diakonischen Bereich, Stichwort Afrika, sammle Spenden für Staudämme und Schulprojekte. Ich schauspielere auch. Bei Erlebnisstadtführungen in I. stellen wir historische Szenen nach. Da wird dann gezeigt, dass der Adel oder hohe Bürgerssöhne zwar Geld, Arbeit und Brot brachten, aber auch Neid, Missgunst und Demütigungen. Außerdem habe ich eine Vorleseausbildung gemacht und lese seit zweieinhalb Jahren in einem Kinderhort in einem sogenannten Problemviertel mit sehr hohem Migrantenanteil. Bildung für bildungsferne Familien hieß das früher. Es geht darum, Neugierde zu wecken. Von der Sinnhaftigkeit dieser Arbeit bin ich voll und ganz überzeugt.

Ich habe einen Mantel von Freunden, der mich warm hält. Aber manchmal fühle ich mich etwas einsam und wünsche mir einen Freund, der mich umarmt. Zu Hause mit jemand zusammenzuleben oder sagen zu können: Das ist mein Freund, mein Mann, mein Partner. Wie in diesem alten Ännchen-von-Tharau-Lied: Ich bin dein und du bist mein, ach, was kann denn schöner sein. Das ist so was Inniges, wie ein Palmbaum, von Regen und Sturm gebeugt, so ähnlich. Manchmal sehne ich mich nach Geborgenheit. Aber dann hab ich auch Haus und Garten zu versorgen. Ich hab ja auch noch Freunde und bin auch integriert da, das füllt dann meine Zeit ganz gut aus.

EINLEITUNG

VERSCHLUNGENE PFADE

Kaum etwas hat sich in den letzten 70 Jahren so fundamental verändert wie die Situation gleichgeschlechtlich liebender Menschen. Damals, in der frühen Bundesrepublik, wurden Homosexuelle verfolgt und verachtet. Heute, in der Berliner Republik, feiert man die Akzeptanz sexueller Vielfalt. Zwei Schlaglichter verdeutlichen, wie rasant dieser Wandel vonstattenging. Am 23. Oktober 1950 begannen in Frankfurt am Main die sogenannten Homosexuellenprozesse. Nach §175 StGB, der einvernehmlichen Sex zwischen erwachsenen Männern unter Strafe stellte, wurde gegen 280 Personen ermittelt, 100 wurden verhaftet und 75 angeklagt. Aus Angst vor Gefängnisstrafen und gesellschaftlicher Ächtung nahmen sich sechs Menschen das Leben.1 Knapp 70 Jahre später, am 17. Mai 2019 – das Datum 17.5. erinnert an den §175 – feierten LSBTI*, also Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans* und intergeschlechtliche Menschen, mit ihren Freund*innen in Frankfurt an der Oder die Queer* Party. »Liebe Sex Respekt« hieß das Motto, unter dem sich »die schönsten Schmetterlinge der Region« tummelten.2 Der Wandel ist unübersehbar. Dem einst Verwerflichen begegnet man heute mit Respekt.

Zumindest meistens. Nur selten und in bestimmten Milieus tritt Homosexuellenfeindlichkeit im heutigen Deutschland offen zutage, möchte man einschränkend hinzufügen und merkt schon, dass das vermeintliche Ende der Geschichte nicht ganz so glücklich ausfällt wie zunächst erhofft. Kein gleichmäßig ansteigender Pfad der »Fundamentalliberalisierung« führt von der Homo-Verfolgung der Adenauer-Ära zur Einführung der Homo-Ehe in den Merkel-Jahren.3 Die Idee eines natürlichen Fortschritts hin zur gesellschaftlichen Inklusion ist historisch unzutreffend und politisch irreführend. Deswegen muss die Geschichte der Bundesrepublik und die der Homosexualitäten anders geschrieben werden. Erstens fallen emanzipatorische Erfolge niemandem in den Schoß, sondern sie werden in gesellschaftlichen Konflikten errungen. Und zweitens haben sich trotz unbestreitbarer Errungenschaften für gleichgeschlechtlich liebende Menschen nicht alle Probleme in Luft aufgelöst, wie der Blick auf das Gefühls- und Alltagsleben zeigt. Während manche nach wie vor mit Ausgrenzung konfrontiert sind, haben andere mit Schwierigkeiten zu kämpfen, die sich aus der neuen Normalität schwulen und lesbischen Lebens ergeben.

STIGMATISIERUNG, EMANZIPATION, NORMALISIERUNG

Diese Mischung widersprüchlicher Befindlichkeiten erkundet das Buch anhand von 32 Oral-History-Interviews. Der Alltag gleichgeschlechtlich begehrender Menschen war in den Nachkriegsdekaden nicht nur von Verfolgung geprägt und in der jüngsten Vergangenheit nicht nur von Anerkennung. Es gibt keine reibungslose Erfolgsgeschichte, die von der Ächtung der Homosexuellen über die schwule und lesbisch-feministische Befreiung der 1970er-Jahre zur gesellschaftlichen Akzeptanz sexueller Vielfalt führt. Stigmatisierung, Emanzipation und Normalisierung lassen sich nicht fein säuberlich auf drei Phasen verteilen. Sie prägten die Gefühls- und Lebenswelten frauenliebender Frauen und männerliebender Männer vielmehr in spannungsreicher Gleichzeitigkeit. Nur wer diese vielschichtige Komplexität ernst nimmt, kann die Zeitgeschichte der Homosexualitäten richtig verstehen. Und passende politische Strategien für die Gegenwart entwickeln.

Stigmatisierung, Emanzipation und Normalisierung sind zentrale analytische und auch umstrittene Begriffe. Stigmatisierung meint gesellschaftliche Ächtung. Wenn eine Mutter im Scheidungsverfahren auf das Sorgerecht für ihr Kind verzichten muss, weil ihr Ehemann droht, andernfalls Freund*innen, Verwandten und Richter*innen gegenüber ihr Lesbischsein zu offenbaren, dann ist das ein Effekt der Stigmatisierung. Diese äußerte sich auch als medizinische oder psychiatrische Pathologisierung und – insbesondere im Fall der männlichen Homosexualität – als juristische Bestrafung und Kriminalisierung. Das gleichgeschlechtliche Begehren galt als Sünde, als Krankheit, als Verbrechen.4 Wie gingen männerliebende Männer und frauenliebende Frauen mit dieser gesellschaftlichen Abwertung um? Akzeptierten sie das Stigma, schämten sich ihrer sexuellen Veranlagung und versuchten diese zu verbergen? Oder widersprachen sie der Verachtung, begriffen ihr gleichgeschlechtliches Begehren als etwas Gutes und zeigten es ohne Scheu? Zwischen diesen beiden Polen, dem verschämten Verstecken und dem selbstsicheren Zeigen, gab es unzählige Möglichkeiten, Homosexualität mehr oder weniger deutlich zu artikulieren.5

Mit dem unzweideutigen und oft provokativen Betonen des Schwul- oder Lesbischseins ist der Begriff der Emanzipation eng verknüpft. Indem sie eigensinnig handelten, setzten sich sogenannte Außenseiter gegen homophobe Ausgrenzung zur Wehr und beharrten selbstbewusst auf ihrem Anderssein. Wenn Demonstrant*innen gegen die Diskriminierung von Lesben und Schwulen und für deren Recht auf ein selbstbestimmtes Leben auf die Straße gingen, obwohl oder gerade weil sie dort mit homophoben Beschimpfungen rechnen mussten, dann zeugt das von emanzipativer Verve. Im Unterschied zur Idee einer Liberalisierung, die von abstrakten Faktoren wie dem Übergang zur Konsumgesellschaft vorangetrieben wurde, unterstreicht der Begriff Emanzipation also das politische Handeln von Einzelnen und von sozialen Bewegungen. Wie radikal oder vorsichtig die Befreiung ins Werk gesetzt werden sollte, war dabei umstritten. Gleiches gilt für die Frage, ob Emanzipation als universales oder partikulares Projekt betrieben werden sollte. Galt es, die gesamte Gesellschaft von sexuellen und anderen Zwängen zu befreien, oder reichte es, Schwulen und Lesben ein angstfreies Leben zu ermöglichen? Unterschiedliche Positionen gab es auch mit Blick auf das richtige Mischungsverhältnis zwischen utopischer Offenheit und pragmatischer Erreichbarkeit der emanzipatorischen Ziele. Diese Spannungen prägen die Debatte über Emanzipation bis heute.6

Nicht weniger umstritten ist der Begriff der Normalisierung.7 Wenn das gleichgeschlechtliche Begehren den Schrecken des Ruchlosen verliert und zu einer Option neben vielen anderen in einem breiten Spektrum sexueller Möglichkeiten wird, wenn also in der RTL-Show Bauer sucht Frau ein schwuler Landwirt seinen zukünftigen Ehemann trifft, dann ist das ein Ausdruck von Normalisierung. Diese Dynamik ist eng mit der Entkriminalisierung und der Entpathologisierung der Homosexualität verknüpft. Letztlich verliert die Homo-Hetero-Unterscheidung dadurch insgesamt an Bedeutung. Während manche das als einen Erfolg betrachten, verfolgen andere diese Entwicklung mit großer Skepsis, weil sie, so die Sorge, die sexuelle Alterität ihres utopischen und politischen Potenzials beraube.8 Jenseits dieses simplifizierenden Gegensatzes zwischen Integration und Widerstand ist bisher jedoch erschreckend wenig darüber bekannt, wie sich Normalisierungsdynamiken tatsächlich auf den Alltag der Einzelnen auswirkten.

Die Frage nach der Spannung zwischen Stigmatisierung, Emanzipation und Normalisierung ist für viele Gruppen von Belang, die um gesellschaftliche Partizipation kämpfen: alleinerziehende Eltern, Psychiatriepatient*innen, Deutsche mit sogenanntem Migrationshintergrund – die Reihe ließe sich fortsetzen. Die Stigmata verschwinden allenfalls allmählich, nicht zuletzt dank emanzipatorischer Anstrengungen, während gleichzeitig Normalität entsteht. Für ein besseres Verständnis dieser Dynamiken kann die Geschichte der Homosexualitäten wichtige Anregungen liefern.

DIE VERSCHIEDENHEIT GLEICHGESCHLECHTLICH LIEBENDER MENSCHEN

Die langwierige Beschreibung, gleichgeschlechtlich liebende Menschen, resultiert aus dem Versuch, auf einem umkämpften Begriffsfeld eine möglichst inklusive Formulierung zu finden. Sie umfasst die oft abwertende Fremdbezeichnung »Homosexuelle« ebenso wie die Worte, mit denen meine Interviewpartner*innen über sich selbst sprechen – von »anders« und »verzaubert« bis »schwul« und »lesbisch«. Gleichzeitig schließt die Formulierung bisexuelle Orientierungen nicht aus, denn ein Mann, der Männer liebt, kann auch eine Frau lieben. Der Ausdruck erschwert jedoch die Integration von trans* oder non-binären Personen, die sich jenseits der Zweigeschlechtlichkeit von Mann und Frau verorten.9 Dieses Problem fällt hier nur deswegen weniger ins Gewicht, weil sich unter meinen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern keine Menschen finden, die sich als non-binär begreifen. Dort, wo die Erzählungen feminine Männlichkeiten und maskuline Weiblichkeiten thematisieren, kommt die Überschreitung der zweigeschlechtlichen Grenze aber trotzdem in den Blick. In diesem breiten Sinn spricht das Buch also von gleichgeschlechtlich liebenden oder, wenn der sexuelle Aspekt stärker im Vordergrund steht, begehrenden Menschen.

Diese Gruppe war und ist jedoch alles andere als einheitlich. Schwule befinden sich in einer anderen Situation als Lesben, die als Frauen nach wie vor benachteiligt sind. Auch Differenzen zwischen wohlhabenden und prekären Existenzen, Einheimischen und Migrant*innen zerfurchen die sogenannte Community. Die intersektionalen Verflechtungen zwischen hetero-sexistischen, klassistischen und rassistischen Hierarchisierungen erschweren oder erleichtern es den Einzelnen, ihren Alltag erfolgreich zu meistern. Ein selten bedachter, aber ebenso wichtiger Unterschied ist der zwischen gleichgeschlechtlich liebenden Menschen auf dem Land und in der Stadt.10 Meist wird vermutet, dass die Angehörigen sexueller Minderheiten in der Großstadt Freiräume finden, während sie auf dem Dorf von Unterdrückung betroffen sind. Diese Annahme ist aus zweierlei Gründen problematisch. Zum einen reproduziert sie konservative Darstellungen des Landes als einer Gegend, wo vermeintlich natürliche Werte noch Gültigkeit besäßen und homosexuelles Leben dementsprechend unmöglich sei. Zum anderen läuft die Verknüpfung von Homosexualität und Großstadt Gefahr, homophobe Diskurse über die Stadt als Moloch zu verstärken. Deswegen sollte die Metropole nicht zum Maßstab der Homosexualitätenforschung gemacht werden, gemessen an dem die Provinz sich als defizitär erweist. Auch auf dem Land wurde um Emanzipation gerungen und normalisierten sich die Homosexualitäten. Diese Prozesse liefen hier aber anders ab als in der Stadt. Man muss also die urban geprägte Brille abnehmen, um sie sehen zu können.

Die Vielfalt der Lebenswelten gleichgeschlechtlich liebender Menschen spiegelt sich auch in den verschiedenen Szenen, die sie besuchten: das homophile Lokal, der Frauenbuchladen, die Lederbar, die Lesbenparty, die Schwulensauna und so weiter.11 Jeder dieser Orte hat eine eigene Geschichte, nicht selten geprägt von Reibungen zwischen unterschiedlichen Subkulturen. Ob diese szenische Vielfalt seit den 1970er-Jahren zunahm und, falls ja, wie diese Diversifizierung die Situation gleichgeschlechtlich begehrender Menschen veränderte, diese Fragen sind entscheidend für ein adäquates Verständnis der queeren Gegenwart. Im Unterschied zum Begriff der Pluralisierung betont Diversifizierung den kontroversen Charakter des Prozesses. Anstatt beim schieren Befund einer Vervielfältigung stehen zu bleiben, richtet sich die Aufmerksamkeit dann auf Konflikte und Ausschlüsse.12

Die Entfaltung eines breiten Spektrums queerer Lebensentwürfe zwischen Regenbogenfamilien und Sexpartys kann einerseits die Akzeptanz sexueller Vielfalt befördern, indem sie verdeutlicht, dass sich alle Identitäten, auch die heterosexuelle, mit einer Fülle von Spielarten kombinieren lassen. Andererseits kann Diversifizierung aber auch aus Kämpfen innerhalb der LSBTI*-Community resultieren, wobei sich die vermeintlich anständigen und familienaffinen Lebensstile auf Kosten der angeblich radikalen und sexaffinen Gegenentwürfe um gesellschaftliche Akzeptanz bemühen. Diese Diversifizierungen prägen die Homosexualitätengeschichte vor allem in ihren räumlichen Dimensionen. Zwischen sich verändernden Szeneorten, zwischen dörflichen und großstädtischen Umgebungen sowie zwischen semi-öffentlichen und semi-privaten Situationen entstand im Lauf der Zeit eine Vielzahl von Zwischenräumen, in denen sich verschiedenste schwule, lesbische, queere und andere Lebensentwürfe entfalten konnten.

JENSEITS DER LIBERALISIERUNG: NEUE PERSPEKTIVEN AUF DIE GESCHICHTE DER BUNDESREPUBLIK

So vertrackt wie die Räume und Szenen, in denen sich gleichgeschlechtlich liebende und begehrende Menschen bewegten, sind auch die Dynamiken der Homosexualitätengeschichte. Es führt keine gerade Linie von der Unterdrückung zur Befreiung. Anders als hoffnungsfrohe liberale oder reformerische Narrative es vorsehen, verlief die Entwicklung nicht immer auf- und vorwärts. Es gab Beschleunigungen, Verlangsamungen, Rückschritte, Seitwärtsbewegungen und Sprünge. Deswegen nährt die Homosexualitätengeschichte auch Zweifel an der Liberalisierung als dem zentralen Paradigma bundesrepublikanischer Geschichte insgesamt. Trifft es wirklich zu, dass es in den Nachkriegsdekaden zunächst nur zögerliche Lockerungen gab, bevor das Jahr 1968 einen gesamtgesellschaftlichen Befreiungs- und Demokratisierungsschub einläutete, der schließlich in die freiheitlich-pluralistische Stabilität der Gegenwart mündete?13

Diese Darstellung, so gängig sie auch ist, wird der Komplexität der Zeitgeschichte nicht gerecht und ist auch politisch problematisch. Historiker*innen haben verschiedene Einwände erhoben: Die Konsumgewohnheiten lockerten sich bereits in den frühen 1960er-Jahren. Migrant*innen und andere Gruppen profitierten mitnichten von der Befreiungsdynamik der 1970er-Jahre. Und rechtsextreme Terrorist*innen trieben auch in den 1980er- und 1990er-Jahren nach wie vor ihr Unwesen. Vor allem aber traten nach 1968 mit Umweltschutz, Digitalisierung und kultureller Vielfalt Themen in den Vordergrund, für deren Bearbeitung der emanzipatorische Impetus von damals, der Widerstand gegen das Alte und Etablierte, nicht mehr ausreichte.14 Die 1968er konnten, gerade weil sie alles anders machen wollten als ihre Eltern, der Vergangenheit oder ihrer eigenen Vorstellung davon nicht entkommen. Mit Blick aufs Sexuelle bedeutet das, dass die Revoltierenden der ausgehenden 1960er-Jahre dachten, die Nationalsozialisten hätten mit repressiven Maßnahmen das Triebleben der älteren Generation total gestört. Deswegen müssten sie nun die Libido von allen Zwängen befreien.15 Das wollten auch die schwule und die lesbisch-feministische Emanzipationsbewegung.

Diese Auflehnung verlor jedoch durch die Normalisierung der Homosexualitäten einen Großteil ihrer Wirksamkeit. Wie viel Radikalität ließ eine Welt noch zu, in der offen lebende Schwule und Lesben sich nicht mehr automatisch im gesellschaftlichen Abseits, sondern innerhalb eines Spektrums legitimer Lebensstile bewegten? Manche hielten am radikalen Gestus fest. Aber der erschöpfte sich immer öfter im Vorwurf der Entpolitisierung gegenüber jenen Lesben und Schwulen, die sich über Errungenschaften wie die Homo-Ehe freuten. Diese Freude entspringe, so die Unterstellung, einem Rückzug ins Private, einer Anpassung an bürgerliche Normen und einem Verrat am Projekt der Befreiung.16 In diesem Zwist gerinnt Widerstand zu einem unüberlegten Prinzip, während auf der anderen Seite eine selbstzufriedene Unfähigkeit zu subversivem Verhalten um sich greift. Im Ergebnis geraten queere und andere emanzipatorische Bewegungen in eine orientierungslose Situation, in der sie nicht zwischen erfreulichen und kritikwürdigen neuen Entwicklungen unterscheiden können. Einen Ausweg kann da die Einsicht bieten, dass die Probleme des 21. Jahrhunderts ganz andere sind als die der 1970er und dass es deswegen politischer Strategien bedarf, die der neuen Komplexität gerecht werden.

Aus historischer Sicht sollten die 1970er-Jahre deswegen nicht mehr als Scharnier zwischen den repressiven Nachkriegsdekaden und der Freiheit des ausgehenden 20. Jahrhunderts betrachtet werden. Sie waren vielmehr eine Phase, in der der radikale Widerstand gegen das Überkommene diesem ein letztes Mal zur Geltung verhalf, bevor andere Themen in den Vordergrund traten. Diese oft weniger spektakulären, aber umso fundamentaleren Neuerungen geraten zwischen dem Aplomb der Auflehnung von 1968 und der weltpolitischen Wende von 1989 leicht in Vergessenheit. Die Normalisierung der Homosexualitäten gehört ebenso dazu wie die Erfindung der Umweltpolitik und die Digitalisierung. Die scheinbar von Stagnation geprägten 1980er-Jahre, die erste Hälfte der Regierungszeit von Helmut Kohl, geraten so als Zeit signifikanten Wandels neu in den Blick.17 Damals traten viele Entwicklungen erstmals deutlich in Erscheinung, deren Relevanz für die Geschichte der Gegenwart kaum überschätzt werden kann.

Dieses Buch konzentriert sich auf die Bundesrepublik, weil die Geschichte der Homosexualitäten in der DDR anders verlief und eine eigene Betrachtung verdient.18 Nur davon, wie westdeutsche Schwule und Lesben die Lage ihrer Gefährt*innen jenseits der innerdeutschen Grenze betrachteten, wird hier die Rede sein. Dennoch muss an dieser Stelle betont werden, welche weitreichenden Implikationen die neue Perspektive auf die 1980er-Jahre für die gesamtdeutsche Geschichte hat. Die Annahme, dass sich 1989/90 für die Bürger*innen der DDR alles veränderte, während in der BRD alles beim Alten blieb, ist unzutreffend. Auch im Westen kam es zu einem grundlegenden Wandel, dieser vollzog sich hier jedoch eher allmählich, während er im Osten mit Rasanz vonstattenging. Pornofilme hatten in der Bundesrepublik – nicht zuletzt dank VHS – nach 1980 schrittweise immer mehr Verbreitung gefunden. In der DDR wurden sie mit der Wende dagegen sehr plötzlich verfügbar. Zugleich bot sich die Gelegenheit, große und öffentlich agierende schwul-lesbische Organisationen zu gründen. Aber die Normalisierung der Homosexualitäten hatte auf beiden Seiten der deutsch-deutschen Grenze bereits zuvor begonnen. Zuerst wurde die strafrechtliche Diskriminierung der Homosexuellen 1988 in der DDR abgeschafft. Im Zuge der Vereinheitlichung des gesamtdeutschen Rechts vollzog dann 1994 auch die Bundesrepublik diesen Schritt.

Trotz solcher Erfolge reicht ein simples Liberalisierungsnarrativ nicht aus – weder um die Geschichte der Homosexualitäten noch um die der Bundesrepublik angemessen zu beschreiben. Gerade die Komplexität der 1980er-Jahre fügt sich keiner Erzählung, die teleologisch auf ein Mehr an Freiheit zuläuft. Aids und die panischen Reaktionen darauf passen ebenso wenig in dieses Bild wie die von der konservativ-liberalen Regierung proklamierte geistig-moralische Wende. Zugleich etablierten sich immer klarere Vorstellungen davon, wie Lesben und Schwule als Singles oder in Beziehungen glücklich werden sollten. Dadurch wurden Spielräume gleichzeitig geschaffen und eingeengt. Diese Vielschichtigkeit wird erst durch eine Geschichte sichtbar, die das Gefühls- und Alltagsleben sowie die ambivalenten Effekte von Diversifizierung und Normalisierung ernst nimmt.19 Nur so lassen sich die Widersprüche der Gegenwart begreifen und jenseits von leeren Gesten der Radikalität und behaglicher Inspirationsarmut neue politische Interventionen ermöglichen.

AMBIVALENZEN: GEFÜHLE ALS THEMA UND LEBENSERZÄHLUNGEN ALS QUELLE

Deswegen stehen hier die Gefühle und der Alltag gleichgeschlechtlich liebender Menschen im Zentrum und nicht Strafverfolgung oder Emanzipationsbewegungen. Im Emotionalen spiegeln sich die Widersprüche, die das Leben der einzelnen Akteur*innen prägen. Die simple These, dass man sich früher geschämt habe und heute stolz sei, schwul oder lesbisch zu sein, greift deutlich zu kurz. Ängste verschwinden nicht einfach, sie verändern sich. Schwule und Lesben fürchten sich heute anders und vor anderen Dingen als vor 60 Jahren, und ihre Sorgen mischen sich mit einer neu gewonnenen Selbstsicherheit. Solche widersprüchlichen Gefühlslagen verdeutlichen die Gleichzeitigkeit von Stigmatisierung, Emanzipation und Normalisierung.20

Gleiches gilt für die biografischen Erzählungen. Der Blick auf das eigene Leben verflicht schmerzliche und lieb gewonnene Erinnerungen mit Zukunftshoffnungen und -sorgen.21 Nach einer heftigen Trennung wird man den Beginn einer Beziehung mit anderen Augen sehen als vorher. Das kreative Wechselspiel zwischen einstigem Erleben und aktuellem Selbstentwurf macht die Interpretation von Oral-History-Interviews zu einem ebenso schwierigen wie lohnenden Unterfangen.22 Damit sie ihre verwickelten Lebensgeschichten in Ruhe entfalten können, habe ich mit allen Erzählpersonen zwei ungefähr dreistündige Gespräche geführt. Außerdem wurden die Abschriften pseudonymisiert, sodass die Erzähler*innen nicht identifiziert werden und deswegen sorglos über ihre Beziehungserfahrungen und Familiengeschichten sprechen können. Insgesamt habe ich mich mit 32 Menschen unterhalten. Im quantitativ-statistischen Sinn ist diese Gruppe nicht repräsentativ. Die Gesprächspartner*innen spiegeln aber die Vielfalt schwul-lesbischen Lebens. Die 15 Frauen und 17 Männer sind zwischen 1935 und 1970 geboren und kommen aus unterschiedlichen Milieus und Regionen. Dank ihrer Geschichten und mittels der Lektüre von homophilen, schwulen und lesbischen Zeitschriften der Jahre zwischen 1960 und 1990 konnte ich für bestimmte Zeiten und Gruppen typische emotionale Muster und Praktiken aufspüren. So verfolgt das Buch, wie sich das Gefühlsleben gleichgeschlechtlich begehrender Menschen im Lauf der Zeit verändert hat.

Sich mit der Geschichte der Gefühle zu beschäftigen ist aus zweierlei Gründen besonders spannend. Erstens erschließt sich die historische Betrachtung so Dimensionen vergangener Wirklichkeit, die über politische Debatten, ökonomische Interessen und kulturelle Konventionen hinausreichen. Gefühle werden von diesem gesellschaftlichen Rahmen zwar geformt, lassen sich aber nicht auf ihn reduzieren. Sie changieren vielmehr zwischen unmittelbar körperlichem Empfinden und sozialer Prägung. In der Gefühlsforschung betonen affekttheoretische Ansätze die körperliche Unmittelbarkeit, konstruktionistische Ansätze dagegen die Macht gesellschaftlicher Regeln.23 Letztlich muss man beides zusammendenken, wenn man Gefühle wirklich begreifen will. Das Fühlen der Einzelnen orientiert sich an sozio-kulturellen Vorgaben, ist aber nicht an diese gebunden. Deswegen merkten einige meiner Gesprächspartner*innen selbst in einer Umgebung, in der das Modell der heterosexuellen Kleinfamilie alternativlos war, dass sie sich etwas anderes wünschten. Sie fühlten anders, ohne diese Emotion in Worte fassen zu können. Dieses uneindeutige Fühlen ist für die Geschichte der Homosexualitäten absolut zentral. Manches Paar bester Freundinnen unterlief die Heteronorm, indem sie die Freundschaft mit der heimlichen Liebe mischten. Oft konnten die Beteiligten selbst ihre Gefühle nicht eindeutig beschreiben. Dieses undeutliche Fühlen bringt die Emotionsgeschichte in den Blick, ohne den Anspruch zu erheben, es komplett erklären zu können.

Die zweite spannende Einsicht: Gefühle können den Lauf der Geschichte verändern. Das war einigen homopolitischen Strategen bereits in den 1960er-Jahren bewusst. In der programmatisch betitelten Zeitschrift Der Weg zu Freundschaft und Toleranz hieß es, die Homophilen könnten die »Duldung bei den Normalen« nur erreichen, wenn sie »Ordnung« in ihre »intimen Beziehungen« brächten.24 Und rund 50 Jahre später war die öffentliche Wahrnehmung gleichgeschlechtlicher Beziehungen als stabil, liebevoll und verantwortungsbewusst tatsächlich entscheidend für die Durchsetzung der Eingetragenen Lebenspartnerschaft und der Ehe für alle. Die Möglichkeit der Homo-Ehe veränderte dann wiederum das Gefühlsleben frauenliebender Frauen und männerliebender Männer, weil sie bei ihnen selbst und in ihrem Umfeld bestimmte Hoffnungen oder Befürchtungen weckte.

Ein anderes geschichtsmächtiges Gefühl war die Wut über homophobe Strukturen, die viele Schwule und Lesben zu Protesten antrieb. Zugleich lernten sie, ihre Ängste offensiv anzugehen, anstatt sich furchtsam zu verstecken. Diese Arbeit an den eigenen Gefühlen war in den 1970er-Jahren Teil einer breiteren Therapeutisierung. Immer mehr Menschen fanden es sinnvoll, sich mit ihrer Scham oder Trauer auseinanderzusetzen. Es galt, offen und bewusst mit den eigenen Gefühlen umzugehen.25 Manche kritisierten diesen Trend als entpolitisierenden »Psycho-Boom«. Die Emanzipationsbewegungen würden, so der Vorwurf, ihre gesellschaftspolitischen Ansprüche aufgeben und sich nur noch mit subjektiven Befindlichkeiten beschäftigen. Diese Sicht ist jedoch einseitig. Denn die nur scheinbar rein persönliche Arbeit an den Gefühlen zog selbst politische Effekte nach sich. So lernten Lesben und Schwule, sich offensiv gegen homophobe oder sexistische Äußerungen zur Wehr zu setzen. Eine Geschichte, die die Ambivalenzen gefühlshistorischer Prozesse und biografischer Erzählungen ernst nimmt, kommt genau solchen Dynamiken auf die Spur.

ANDERS FÜHLEN: EINE GESCHICHTE IN DREI TEILEN

Mit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrachtet das Buch drei prägnante Phasen der westdeutschen Homosexualitätengeschichte. In den Nachkriegsdekaden galt der §175 StGB nach wie vor in seiner 1935 vom nationalsozialistischen Regime verschärften Form. Männerbegehrende Männer wurden verfolgt und zu Haftstrafen verurteilt. Homophile Zeitschriften unterlagen der Zensur, und homophile Lokale waren von der Schließung bedroht, beispielsweise wenn die Polizei bei einer Razzia tanzende Männerpaare antraf. Dennoch warben auch in dieser Zeit verschiedene, behutsam agierende Organisationen für die Entkriminalisierung der Homosexualität und um das Wohlwollen der Mehrheitsgesellschaft. Diese Phase beleuchtet der erste Teil: Ausweichen.

1969 und 1973 kam es dann zu Reformen des Sexualstrafrechts, und für einvernehmlichen Sex mussten erwachsene Männer fortan kein Gefängnis mehr befürchten. Gleichzeitig formierten sich in den 1970er-Jahren die Schwulenbewegung und die lesbisch-feministische Bewegung, die offensiv gegen repressive Moralvorstellungen und für die Belange gleichgeschlechtlich liebender Menschen eintraten. Die Aktionen emanzipationsbewegter Gruppen, die zunehmende mediale Sichtbarkeit von Schwulen und Lesben sowie der allgemeine Wandel gesellschaftlicher Einstellungen zur Sexualität veränderten die Situation gleichgeschlechtlich begehrender Menschen. Diese Phase beleuchtet der zweite Teil: Aufbrechen!

Im Lauf der 1980er-Jahre verkomplizierte sich die Gemengelage zwischen Schwulen, Lesben und der sogenannten Mehrheitsgesellschaft. Aids führte zu verschärften Auseinandersetzungen, aber auch zu neuen Formen der Zusammenarbeit. Angesichts des Regierungswechsels befürchteten viele Schwule und Lesben eine Rückkehr konservativ-homophober Wertewelten. Gleichzeitig lässt sich jedoch eine Normalisierung der Homosexualitäten beobachten. Die Debatte über die Homo-Ehe nahm an Fahrt auf, und in schwul-lesbischen Szenen wurde immer heftiger über das Für und Wider einer Anpassung an heterosexuell geprägte Lebensstile gestritten. Diese Phase beleuchtet der dritte Teil: Ankommen?

Die drei Teile betrachten zunächst generell die homosexualitätenhistorische Entwicklung. Dann beschäftigen sie sich genauer mit den Räumen, in denen sich gleichgeschlechtlich liebende Menschen bewegten: Homolokale und Lesbenkneipen; Dorfstraßen, Kleinstadtmarktplätze und Großstadtbahnhöfe; Wohnzimmer, Toiletten und Beratungszentren. Abschließend widmen sich alle drei Teile den Emotionen und fragen, wie die Einzelnen Angst, Scham, Selbstbewusstsein, Wut, Freude, Liebe und Trauer empfanden, wie sie mit diesen Gefühlen umgingen und wie sie sie zum Ausdruck brachten. So zeigt das Buch, auf welch verschlungenen Pfaden sich die Gefühls- und Lebenswelten frauenliebender Frauen und männerliebender Männer seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts verändert haben. Nur wer die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit dieses Wegs ernst nimmt, kann die gegenwärtigen Herausforderungen für queere Politik und queeres Leben wirklich begreifen, kann Gleichberechtigung fordern und Verschiedenheit leben.

TEIL 1

NACHKRIEGSDEKADEN: AUSWEICHEN.

ZWEITER O-TON:

HERR MEYER & FRAU SCHMIDT

Als Kind hatte ich keine Freunde. Fußball, Buden im Wald bauen, Räuber und Gendarm – das war alles nicht mein Ding. Und der Nachbarsjunge hat häufig gesagt: »Du kannst net mitgehen.« Wenn die anderen Kinder draußen spielten, musste ich auch oft meinen Eltern helfen; da wurde Heu eingefahren oder gemäht und all so ’n Kram. Ich hab viel Zeit für mich alleine verbracht. Meine Mutter hatte aus einem Professorenhaushalt, wo sie Putzfrau war, einen Holzkoffer voller Bücher bekommen: ein Lesebuch mit Ludwig-Richter-Stichen, der Hase und der Igel, aber auch Geschichten aus fernen Ländern und von Indianern in Amerika. Es ging was Geheimnisvolles für mich von diesem Holzkoffer aus. Da kann ich mich gut erinnern. Aber irgendwann war dieser Koffer weg. Wir hatten lange Zeit Flüchtlingsleute im Haus oder Vertriebene oder Mietleute, es wechselte immer, und das kleine Haus war voller Leute, und dann war mir das Liebste, was ich als Kind hatte, genommen, dieser Holzkoffer mit diesen Büchern.

Zu Hause gab es überhaupt keine Informationen über Sexualität. Die Eltern waren unfähig, hatten nicht gelernt, über diesen wichtigen Teil ihres Lebens zu reden. Nur ein kleines Erlebnis gab’s. Als ich 14 war, heiratete mein Bruder, und der hatte so ein Aufklärungsbuch, in dem auch meine Mutter manchmal las, aber es war so geheimnisvoll. Einmal kriegte ich das zu fassen und nahm es auch noch mit in die Schule. Da auf’m Klo haben wir in dem Ding gelesen, und dann kam der Lehrer rein. Ich drohte von der Schule zu fliegen. Wir hatten alle Angst. Das war das einzige Mal, dass das Thema Sexualität gestreift wurde. Ich war so unaufgeklärt, dass ich mit 15 fest und steif behauptet habe, es könne nicht sein, dass die Königin Elisabeth von England ihre Kinder auf dem Weg empfängt wie unsere Kühe daheim. Ich war völlig uninformiert, was auch einen ganz wichtigen Vorteil hatte: Ich wusste nicht, dass man das Empfinden, was ich wohl früh hatte, andersrum, 175er, vom anderen Ufer, dass man das nicht macht. Es gab wohl den Gedanken, dass es Sünde ist, Lust zu empfinden. Und als ich so 14, 15, 16 war, hab ich ganz lange bewusst nicht onaniert. Aber ich hab nie so ’ne Urphobie gehabt, du könntest ja schwul sein. Ich wusste ja damals nicht, dass ich schwul bin.

Die erste Begegnung mit einem Mann, da war ich vielleicht zehn; der sogenannte böse Onkel, dabei tat der gar nichts. Ich war mit dem Nachbarjungen am Fluss. Und vis-à-vis kam jemand mit ’ner Lambretta an, zog sich aus, splitternackt, hatte ordentlich was in der Hose, würde ich heute mal sagen, zog dann ’ne Badehose an und schwamm. Dann kam er rüber, fragte uns kleine Buben, ob wir ihm den Rücken eincremen würden. Was wir dann auch getan haben. Er bedankte sich und schwamm dahin. Gar nichts geschah, war nichts Arges. Ich hab’s nicht zu Hause erzählt. Für mich war das eine prägende Situation. Das fand ich sehr faszinierend, und ich hab mir immer gewünscht: »Mensch, hätte der mich doch mitgenommen.« Im Nachhinein würde ich schon sagen, dieses Erlebnis mit diesem Mann war in meiner Fantasie was sehr Erotisches.

Ich wusste lange nicht, was ich werden wollte. Ich wusste nur, hier willst du weg. Und dann hatte ich mit 16 ein Gespräch mit unserem Pfarrer: »Haste denn net mal Lust, das diakonische Jahr in F. zu machen?« Und ich sagte: »Ja.« Als ich von zu Hause weg war, fing ich an aufzublühen. Durch die Distanz besserte sich auch das Verhältnis zu meiner Familie. Ich hatte nie Heimweh. In dem evangelischen Kinderheim, wo ich arbeitete, erlebte ich das erste schöne Weihnachtsfest. Und ich fing an, die Ängstlichkeit des Vaters zu überwinden, den ich als das Darfmannichtchen bezeichnete. Ich hab gelernt, Lösungen für Probleme zu finden. Ich fand andere Menschen, die ich sehr bewunderte, und eine Form von Freiheit. Von ’63 bis ’65 hab ich dann ein evangelisches Seminar besucht und wurde zu einer Art Gemeindehelfer ausgebildet.

Und da gab es Situationen, die deutlich gemacht haben, dass ich auch sicher schwul bin. Ich hab immer von Männerfreundschaften geträumt, wie in der Biedermeierzeit, wo man sich Gedichte vorliest und so. Und ich hatte damals einen freien Tag auf einer Jugendfreizeit und lernte einen jungen Mann kennen. Dem hab ich relativ schnell einen glühenden, heute würde ich das so sagen, Liebesbrief geschrieben, in dem der Begriff Freundesliebe auftauchte. Später hab ich gedacht, dass sich das irgendwie gar nicht schickt. Aber ich hatte halt diese romantische Sehnsucht nach einem Freund. Das war da sicher noch nicht erotisch geprägt, denke ich. Gut, es gibt so Sachen, die sind verschwommen. Ich denke vielleicht bei Romantik nicht immer gleich an Sexualität.

Daheim hab ich lang als Neutrum gelebt. Später hat es dann auch einen Teil bunte Welt gegeben. Während eines Praktikums, das war im Frühjahr 1964, stieg ich in H. um und musste mal pinkeln. Die Pinkelrinne der Bahnhofstoilette war voll besetzt. Und als ich wieder zurückkam, war immer noch voll. Und auf einmal merke ich, das sind ja dieselben von eben. Es läuft bei mir nichts, wenn jemand danebensteht, aber diese berühmten 10 oder 20 Pfennig für eine Kabine hatte ich auch nicht. Gut, dann hab ich’s halt mal versucht. Dann habe ich halt links und rechts geguckt, und ich war ja derart eher erschrocken, dass die da so fleißig am Rumwichsen waren. Ich war auch fasziniert. Da war ein älterer Mann, der dort bei laufendem Publikumsverkehr ’nem anderen einen abgelutscht hat. Ich war sprachlos, aber doch bewundernd. Also verrückt, bunt, unerhört, bis hin zu: »Gott, so was machen die.« Ich dachte, ich mach mal so was alleine nur. Das war ein Schlüsselmoment.

Ich wollte das wieder erleben, aber diesmal ohne Koffer und Eile. Ich bin dann noch mal hin, und es war dasselbe Schauspiel. Dann dachte ich, dass es das ja auch in F. geben muss, und habe immer häufiger solche Plätze aufgesucht und mich auf Klappen rumgetrieben. Das war damals noch ganz viel üblich, dass auf den öffentlichen Toiletten reihenweise Männer standen, vor allem nach vier, wenn die vom Büro kamen. Ungeniert. Einmal tippte der Toilettenwärter den Einzelnen auf den Rücken: »Du, du, du – raus!« Ich fand das furchtbar entwürdigend. Doch es hatte auch was Freches.

Nach diesem Erlebnis in H. nahm ich rasch das erste Mal jemand mit nach Hause. Das war so ein arg haariger Typ, der nicht viel wusste. Und ich meinte schon immer, ich müsste auch ’n gescheites Gespräch führen. Das törnt ja vielleicht auch ab. Jedenfalls, das war überhaupt gar nichts. Das fand ich noch nicht einmal geil. Also da war das da auf der Klappe, das war spannend; und das andere da halt nicht. Mit nach Hause zu gehen, das waren manchmal auch unglückliche Erlebnisse. Ich hab natürlich auch völlig ungeschützt. Mit 23 hatte ich eine Syphilis. Auf einmal fing da was an zu jucken. Da bin ich zu einem Doktor in F., von dem ich damals wusste, der ist schwul.

Das erste Mal, wo ich mich wiederholt mit jemandem getroffen hab, das war ein sehr viel älterer Typ. Man traf sich im Hotel, und dann machte der mich an und brachte Geld oder irgendwas. Ich hatte ja selber keins. Das kam mir alles seltsam vor. Und mal rief er da an, wo ich arbeitete. Ich hatte mir vorgenommen, mich von ihm zu trennen. Dann hab ich ihn gesiezt. Ich wusste mir nicht anders zu helfen, wollte ’ne Grenze setzen: »Ich möchte dass Sie nicht mehr anrufen.« Mit anderen Leuten, die ich beim Cruisen kennenlernte, entwickelten sich Freundschaften, wo dann das Sexuelle so ausklang, und es blieben dann Freunde wie dieser Alfred zurück, mit dem ich ja über viele Jahre mal mehr und mal weniger zu tun hatte.

Ab 1966 war ich für 18 Monate Zivildienstleistender. Die Unikliniken wimmelten damals von schwulen Krankenpflegern. Einer davon war ein kuhwimpernäugiger und schwarz behaarter Hans, mit dem ich nichts hatte. Der brachte mich zum ersten Mal in eine schwule Kneipe, ganz spontan. Wir fuhren zu einem Lokal, und da musste geklingelt werden. Oh Gott, wie in so einer verruchten Bar. Dann kamen wir in diese etwas plüschige, rötlich wirkende Einrichtung hinein, und ich hatte das Gefühl, alle gucken jetzt nach dir. Glücklicherweise war ich nicht alleine, dieser Hans war dabei. Konnte ich so ganz vorsichtig bisschen rumgucken. Das war Ende der 60er. Ich bin anfangs ganz wenig in Kneipen gegangen, weil ich als Zivi ganze 70 Mark im Monat hatte. Ich hab mich mehr so in Parks rumgetrieben, was den Vorteil hatte, dass es nichts kostete.

Dann lernte ich auch einen ganz schüchternen Arzt kennen. Da war plötzlich ’ne völlig andere Seite. Der war sehr sensibel. Ein verheirateter Mann, der sehr ungeoutet lebte. Dieter Braun war das, Arzt irgendwo. Hatte mir am Anfang auch ’n falschen Namen angegeben. Das war üblich. Manchmal hatte ich den Eindruck, der hatte ’n schlechtes Gewissen, weniger weil er es mit Männern machte, sondern weil er seine Frau betrog. Auf jeden Fall war der unendlich zärtlich. Das waren die endgültigen Erlebnisse, wo mir wirklich klar wurde, dass ich schwul war. So was von Schönheit. Was man vielleicht in billigen Romanen lesen kann, die ich nie las: dass man im siebten Himmel schwebt. Das ganze Ritual, wie man sich gegenseitig auszog und sich jeden Fleck am Körper eroberte; also der brauchte mich nur leicht mit seinem Atem berühren, das fand ich schon märchenhaft; selig, heiß, wild, geil, behutsam. Nach dem hab ich mich verzehrt.

Leider sah ich ihn kaum. Ich glaub, ich hab ihn dreimal – es waren tolle Glücksmomente. Er hat mir ’ne Adresse gegeben, und ich hab ihm geschrieben. Irgendwann ging auf Arbeit das Telefon, und seine Frau war am Apparat. Sagte mir auf den Kopf zu: »Sie kennen doch meinen Mann.« Die muss den Brief gelesen haben. Ich wusste gar nicht, was ich machen sollte. Ich hatte damals auch so Vorstellungen, zwar nicht der Welt Adieu zu sagen, aber doch in eine protestantische Gemeinschaft, eine Art Kloster zu gehen. Das hab ich mir von meinen Eltern ausreden lassen. Ich war natürlich diesen Dieter Braun dann los, was mich lange Zeit sehr betrübt hat.

Danach war ich bis 1970 in F. in einer Gemeinde tätig: Konfirmandenunterricht, Religionslehrer, Frauenhilfe und so was alles. Nachdem ich so erste Männererfahrungen hatte, wurde es wohl irgendwie ruchbar bei meiner Kirche, und da erst habe ich gelernt: Was du tust, schickt sich offensichtlich gar nicht. Da wurde ich zum Chef zitiert. Der fuhr übrigens jahrelang mit dem Rentamtsleiter in den Urlaub und hatte sich erst jenseits der 50 verheiratet. Dieser Pfarrer Hoffmann sagte leicht stotternd, man habe ihm zugetragen, dass ich ein 175er wäre. Ich wusste gar nicht, was das ist. »Sie haben wohl Verhältnisse mit Männern.« Ich war erst mal so gebügelt. Er würde mir gerne helfen, einen anderen Job zu finden. Diese scheinheilige Doppelmoral. Ich bin da nicht sehr lang geblieben, drei Jahre. Das war das erste Donnerwetter. Es gab damals auch noch viele Polizeirazzien, im Schlosspark in F., da lief nachts ganz ordentlich was. Diese Razzien waren sehr entwürdigend, mit aufgeblendetem Licht und so. Dann stob alles auseinander. Oder auch wenn Randale gemacht wurde. Da hat keiner dem anderen geholfen.

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Meine Eltern haben einen sehr unterschiedlichen Bildungsstand. Mein Vater war Bauern- und Arbeitersohn, von Beruf Schlosser und hat als Briefträger gearbeitet. Und meine Mutter war so einzige Tochter und Lyzeum. Ich hab da sehr profitiert von so unterschiedlichen Eltern. Ich hatte die einfachen Großeltern auf dem Land, die hatten ’nen Bauernhof, das war irgendwie ganz exotisch. Da war das deftige Leben. Und ich hatte die anderen Großeltern in der Stadt. Mein Großvater war Gewerkschaftssekretär bei der Post. Der hat dann versucht, alle Familienmitglieder da reinzukriegen, ne. Diese Großeltern hatten auch ein bisschen Geld, und da war dann alles so vornehm. Das weiß ich noch genau: Ich war ’n ganz fröhliches Kind und hab gerne gepfiffen, was man als Mädchen nicht darf. Also kriegt ich dann so Sachen zu hören: Mädchen, die pfeifen, und Hühner, die krähen, denen soll man beizeiten den Hals umdrehen. Ich wurde dann trotzig. Ich war kein Mädchen in dem Sinne. Ich war viel draußen. Ich hab viel Sport gemacht, hab Fußball gespielt. Ich hab mich gerauft und so; also alles, was Mädchen eigentlich nicht dürfen.