Queer - Benno Gammerl - E-Book

Queer E-Book

Benno Gammerl

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Beschreibung

Das Standardwerk zur queeren Geschichte Deutschlands von 1871 bis heute

Deutschlands queere Geschichte ist lange vernachlässigt worden. Und so scheint queeres Leben erst in den letzten Jahrzehnten zum Thema geworden zu sein – dabei kämpften Homosexuellenbewegungen bereits im Kaiserreich gegen Ausgrenzung und Diskriminierung. Wie lässt sich die Geschichte gleichgeschlechtlich liebender und gender-nonkonformer Menschen erzählen? Wie stellt sich deutsche Geschichte aus queerer Perspektive dar? Und was ist dran an der Vorstellung einer geradlinigen Emanzipation hin zur Ehe für alle und zur Abschaffung des Transsexuellengesetzes, zu der es hoffentlich bald kommen wird? „Queer“ ist das erste populäre Sachbuch, das sich diesen Fragen in einem spannenden historischen Überblick widmet. Eine unverzichtbare Grundlage für die Debatten unserer Zeit.

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Das ist das Cover des Buches »Queer« von Benno Gammerl

Über das Buch

Das Standardwerk zur queeren Geschichte Deutschlands von 1871 bis heuteDeutschlands queere Geschichte ist lange vernachlässigt worden. Und so scheint queeres Leben erst in den letzten Jahrzehnten zum Thema geworden zu sein — dabei kämpften Homosexuellenbewegungen bereits im Kaiserreich gegen Ausgrenzung und Diskriminierung. Wie lässt sich die Geschichte gleichgeschlechtlich liebender und gender-nonkonformer Menschen erzählen? Wie stellt sich deutsche Geschichte aus queerer Perspektive dar? Und was ist dran an der Vorstellung einer geradlinigen Emanzipation hin zur Ehe für alle und zur Abschaffung des Transsexuellengesetzes, zu der es hoffentlich bald kommen wird? »Queer« ist das erste populäre Sachbuch, das sich diesen Fragen in einem spannenden historischen Überblick widmet. Eine unverzichtbare Grundlage für die Debatten unserer Zeit.

Benno Gammerl

Queer

Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute

Hanser

Einleitung

Queer schon wieder. Sind die Zeiten heute ERNEUT so golden, die Subkulturen so wild wie in den 1920er-Jahren?

Oft ist gegenwärtig von den neuen Zwanzigerjahren die Rede. Gemeint ist dann die Dekade, auf deren Mitte wir uns gerade zubewegen. Inwiefern ähnelt sie ihrer berühmten Schwester aus dem letzten Jahrhundert, jenen oft als golden bezeichneten 1920er-Jahren, als Deutschland zwischen rosigen Aussichten und dunklen Ahnungen schwankte? Sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht lassen sich Parallelen ausmachen: Um wichtige Zukunftsfragen wird heftig gerungen, das politische Feld ist in Bewegung, und popkulturelle Szenen experimentieren — auch im queeren Sinn — mit neuen Möglichkeiten. Gleichzeitig geht die Inflationsangst um, manche beschwören den Geist von Rapallo, angesichts der Nähe zwischen einigen deutschen und russischen aka sowjetischen Politiker*innen, und rechte Terrorist*innen ermorden ihre Feinde.

Auch die Ampelregierung sprach Ende 2021 in ihrem Koalitionsvertrag viel vom Aufbruch in die Zwanzigerjahre und legte nicht zuletzt queerpolitisch die Latte ganz schön hoch: das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung für alle, ein Aktionsplan gegen Diskriminierung und für Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt sowie die Abschaffung des Transsexuellengesetzes. Mal sehen, was aus den Vorhaben werden wird. In jedem Fall gibt es breite und auch streitfreudige queere Szenen, die den Lauf jener Dinge nicht nur beobachten, sondern auch mit vorantreiben werden. Diese lebendigen Subkulturen stellen die dominierende zweigeschlechtliche und heteronormative Ordnung infrage. Sie wollen neben maskulinen und femininen auch anderen geschlechtlichen Varianten Anerkennung verschaffen. Und Sex kann für sie beileibe nicht nur zwischen einem Mann und einer Frau stattfinden. Solche queeren Anregungen stoßen auf die Ablehnung rechter Kräfte, die sich mit aller Gewalt gegen die Auflösung althergebrachter und neu erfundener Hierarchien und Vorschriften sträuben. Der Streit prägt die Gegenwart. Also tatsächlich alles wie in den 1920er-Jahren schon gehabt?

Queere Zeitläufe

Dieses kleine Buch bietet einen Überblick über die queere Geschichte Deutschlands seit dem späten 19. Jahrhundert und fragt zugleich, wie sie sich am besten erzählen lässt. Ein geradliniges Erfolgsnarrativ wäre wenig überzeugend. Zwar formierte sich bereits im Kaiserreich die erste Homosexuellenbewegung und erlebten die Subkulturen in den Zwanzigerjahren tatsächlich eine Blüte, aber seitdem wurde keineswegs alles immer besser. Stattdessen verfolgten die Nationalsozialisten gleichgeschlechtlich liebende und gender-nonkonforme Menschen mit unnachgiebiger Grausamkeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das queere Leben allenfalls ein bisschen weniger gefährlich. Vor allem in der Bundesrepublik drohten nach wie vor harte Strafen und gesellschaftliche Ächtung. Erst in den 1970er-Jahren konnten Emanzipationsbewegungen wieder Erfolge erringen.

Mit Blick auf queere Geschichte im modernen Deutschland schrieb Peter Weissenburger im September 2021 in seiner taz-Kolumne »Unisex«, dass die »Freiheit« bereits zweimal »in greifbarer Nähe« gewesen sei und dass beide Male ein tiefer Sturz in die drohende »Auslöschung« folgte. Eine solche Katastrophe erkennt er im Übergang von der Weimarer zur NS-Zeit. Und eine andere in dem Moment, als der emanzipatorische Aufbruch der langen 1970er-Jahre unterging im Sterben der Aids-Epidemie. Dieser Gedanke stiftet einen historischen Zusammenhang zwischen zeitlich weit auseinanderliegenden Episoden. So wie das obige Bild aus dem Film von Yael Bartana, den das Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen seit 2018 zeigt. Im Hintergrund sehen wir links einen vermutlich aus den 1980er-Jahren stammenden Button mit dem Slogan »heterosexism can be cured!«, Heterosexismus ist heilbar. Daneben das 1901 vom wissenschaftlich-humanitären Komitee herausgegebene Heft »Was muss das Volk vom dritten Geschlecht wissen!«. Rechts davon ein mit »Victor Victoria« beschriftetes Foto, das vielleicht einen Damen-Imitator der Weimarer Zeit zeigt. Inwiefern die Aufschrift auf die UFA-Komödie Viktor und Viktoria anspielt, die Ende 1933 in die Kinos kam, ist unklar. In dem Film geht es um eine Frau, die vorgibt, ein männlicher Damen-Imitator zu sein. 1982 brachte Blake Edwards in Hollywood ein Remake heraus. Vor dem Hintergrund all dieser Bilder und Anklänge küsst sich ein queeres Paar. Und davor können wir uns wiederum uns selbst vorstellen, als zeitgenössische Besucher*innen des Denkmals, deren Gesichter sich in der Glasscheibe spiegeln, hinter welcher der Film läuft.

Queere Geschichte soll hier also auch nicht als das Durchschreiten eines tiefen Tals erzählt werden, so als ob man nach ungefähr hundert Jahren endlich wieder dieselben Höhen vielfältiger Buntheit erklimmen würde, die in den 1920er-Jahren bereits schon einmal erreicht waren. Diese Geschichte vom Auf, Ab und Auf ist nur geringfügig überzeugender als das Narrativ vom geradlinigen Erfolg. Frei nach Kurt Schwitters’ i-Gedicht: rauf, runter, rauf, aber das Pünktchen können wir nicht draufsetzen, weil es geht noch mal runter und wieder rauf, und wer weiß, was als Nächstes kommt? Deswegen erscheint es vielversprechender, die Gegenwart — unter Missachtung des chronologischen Vergehens der Zeit — immer wieder neu mit verschiedenen Momenten der queeren Vergangenheit zu verknüpfen und dann zu sehen, welche Funken der Einsicht sich aus diesem Übereinanderlegen der Zeiten schlagen lassen.

Ein Versuch: Die Zwanziger finden nicht nur in der Gegenwart ein Echo, sondern stießen bereits in den 1970er-Jahren auf Resonanz. 1972 kam Cabaret in die Kinos. Liza Minnelli spielt darin die Tänzerin Sally Bowles, die sich in den letzten Jahren der Weimarer Republik zu behaupten versucht. Der Film beruht auf einem Roman von Christopher Isherwood, der um 1930 selbst in Berlin lebte. Auch heute kommen einem unweigerlich die Bilder aus Cabaret in den Sinn, wenn man an die queere Subkultur und die aufkommende Nazi-Bewegung in den späten 1920er-Jahren denkt. Die 2010er-Jahre haben mit Babylon Berlin, basierend auf Kriminalromanen von Volker Kutscher, ihre eigene televisionäre Vorstellung vom Berlin der Weimarer Zeit geschaffen. Zeigt sich hier eine historische Nähe zwischen zeitlich voneinander getrennten Momenten, die 1920er-, 1970er- und 2010er-Jahre, in denen sich die Feier errungener Erfolge mit der Angst vor drohenden Rückschlägen mischt? Charakterisiert diese Melange unsere Gegenwart?

Weil es derlei Fragen aufwirft, ist das vielschichtige Übereinanderlegen verschiedener Zeiten aufschlussreich. Die bloß nostalgische Rückbesinnung auf die Zwanziger als eine goldene Zeit, in die man zurückzukehren hofft, eröffnet dagegen keine erhellenden Perspektiven. Daher fragte Peter von Becker bereits Anfang 2020 im Tagesspiegel ironisch: »Hätten wir’s denn gerne wieder so? Berlin Babylon, aber bitte mit Smartphone.« Dieser Mythos der Weimarer Jahre vernebelt den Blick auf die queere Geschichte. Wie ein glitzernder Schleier verbirgt die Vorstellung von den damals prallen Subkulturen die wirkliche Komplexität der 1920er- wie der 2020er-Jahre. Heraus kommt eine Art weichgespülte Version von Cabaret, in der die Nazis nicht auftauchen, oder eine Website für queer-freundliche Urlaubsresorts, auf der alle Ängste und Selbstzweifel strahlend weiß überlächelt werden. Auch heute ist nicht alles eitel Sonnenschein. Nach wie vor sind homosexuelle Menschen mit gewalttätigen Angriffen konfrontiert. Und trans* Personen müssen sich durch viele Seiten mit schwuler Werbung klicken, bevor sie auf ein halbwegs überzeugendes Reiseangebot stoßen, das für sie bestimmt ist.

Urlaubspensionen für Transvestiten wurden bereits in den frühen 1930er-Jahren in der Zeitschrift Das 3. Geschlecht beworben. Als Transvestiten bezeichneten sich damals meist Männer, die gerne Frauenkleider trugen und zugleich ihre bürgerlich-heterosexuelle Anständigkeit betonten. Mit Homosexuellen und den vermeintlich verdorbenen Unterschichten wollten sie nichts zu tun haben. Sie waren vielmehr brave Familienväter, die einfach ab und zu ein Korsett anlegten. Hier zeigt sich, dass das wachsende Selbstbewusstsein und die zunehmende Sichtbarkeit einer Minderheit nicht nur positive, sondern auch negative Effekte zeitigen können. Einerseits war es für Menschen, die sich als Transvestiten identifizierten, erfreulich, dass es Zeitschriften und Organisationen gab, in denen sie sich für ihre Belange einsetzen konnten. Andererseits bestand dieses Engagement teilweise darin, sich von anderen Minderheiten abzugrenzen und damit deren gesellschaftliche Ächtung zu verstärken. Die Überwindung von Schwierigkeiten konnte mit der Schaffung neuer Probleme einhergehen.

Auch deswegen ist ein queerhistorisches Narrativ unzulänglich, das sich schlicht zwischen den Abgründen der Diskriminierung und den Höhepunkten der Anerkennung bewegt. Die Situation gleichgeschlechtlich begehrender und gender-nonkonformer Menschen war zwar sicherlich in einigen Phasen der modernen deutschen Geschichte besser oder schlechter als in anderen. Aber Verbesserungen in einem Bereich konnten jederzeit mit Verschlechterungen in einem anderen einhergehen. Oft stieß ein Teil des queeren Spektrums auf mehr gesellschaftliche Anerkennung, während ein anderer mit zunehmender Ablehnung konfrontiert war. Klassismus war da häufig im Spiel, auch Sexismus, Rassismus und Diskriminierungen aufgrund von Alter oder Behinderung. Queere Migrant*innen waren in schwul-lesbischen Szenen häufig mit Ressentiments konfrontiert. Auch heute wird Muslim*innen mitunter in islamophober Manier pauschal unterstellt, dass sie Homosexuelle hassen würden. Diese Verknüpfung des Kampfes um die Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt mit dem Ausschluss von religiös, kulturell oder ethnisch definierten Minderheiten wird auch als Homonationalismus bezeichnet.

Ein anderes Problem, das mit der Verbesserung der Situation queerer Menschen einhergehen kann, ist das der Homonormativität. Damit ist gemeint, dass ganz bestimmte Formen queeren Lebens zur Norm erhoben oder als Ideal betrachtet werden. Schwule Ehepaare oder Singles mit einem beneidenswerten Sexualleben, lesbische Regenbogenfamilien oder selbstbewusste Transmänner werden wohlwollend betrachtet oder gar gefeiert. Einsame, depressive, beruflich oder anderweitig gescheiterte LSBTI* Personen passen nicht in dieses Hochglanzbild und werden sowohl von queeren Szenen als auch der Gesellschaft insgesamt oft übersehen und ausgegrenzt. Angesichts der zunehmenden Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt können sie nicht einmal mehr eine durch und durch homo- und transphobe Gesellschaft für ihr vermeintliches Versagen verantwortlich machen. Sie müssen den Fehler bei sich selbst suchen. Daraus resultieren ein mitunter enormer Optimierungsdruck und eine gewaltige Angst vorm Scheitern. Man möchte es immer besser machen, strebt nach dem perfekten Look, dem perfekten queeren Leben. Es liegt in der Natur der Sache, dass das letztlich niemandem gelingt.

Gleichzeitigkeit von Stigmatisierung, Emanzipation und Normalisierung

Wenn die Sonne aufgeht, wachsen Schatten. Um der Komplexität queerer Zeitläufte gerecht zu werden, wird hier betont, dass Stigmatisierung, Emanzipation und Normalisierung von LSBTI* Lebensentwürfen in widersprüchlicher Gleichzeitigkeit existieren. Auch die Gegenwart ist kein queeres Eldorado. Es wäre gefährlich, die Augen vor dem Hass auf Homosexuelle und trans* Personen zu verschließen, den religiöse, muslimisch, jüdisch oder christlich geprägte Gruppen heute ebenso ventilieren wie alt-neue rechtsextreme Kreise und einige gutbürgerlich-konservative Milieus. Die Proteste gegen den Bildungsplan der grün-roten Regierung Baden-Württembergs Mitte der 2010er-Jahre sind ein gutes Beispiel. Damals sollte fächerübergreifend die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt gefördert werden und in mathematischen Textaufgaben auch mal eine queere Familie auftauchen: Peter war 35 und Simon 32, als sie geheiratet haben. Zwei Jahre später haben sie die dreijährige Jenny adoptiert. Wie alt wird Jenny sein, wenn …?

Der Widerstand gegen das Vorhaben war heftig und führte letztlich zum Scheitern des Projekts. Der Protest begann 2013, und später entwickelten sich daraus die sogenannten Demos für Alle. Dort wetterte man gegen Regenbogenfamilien und ein non-binäres Verständnis von Geschlecht, angeblich weil es gelte, die Kinder vor solchen gefährlichen Experimenten zu schützen. »Ehe bleibt Ehe! Stoppt die Gender-Agenda und die Sexualisierung unserer Kinder«, war 2015 auf einem Transparent in Stuttgart zu lesen. Wenn gleichgeschlechtliches Begehren und gender-nonkonformes Auftreten als sündhaft, krank oder unnatürlich abgelehnt werden, kann man mit Erving Goffman von der Stigmatisierung einer sozialen Gruppe sprechen. LSBTI* Personen wird ein Stigma, ein Schandfleck auferlegt, und sie werden aus der Gesellschaft der Anständigen verbannt. Lange galten queere Menschen auch als Kriminelle. Der 1871 geschaffene Paragraf 175, der Sex zwischen Männern unter Strafe stellte, galt in der Bundesrepublik in abgeschwächter Form bis 1994. In der DDR hatte die letzte unfrei gewählte Volkskammer die strafrechtliche Diskriminierung gleichgeschlechtlich begehrender Menschen bereits 1989 abgeschafft. Dennoch haben LSBTI* Personen auch heute nach wie vor mit Stigmatisierung zu kämpfen.

Der Kampf gegen solche Unterdrückung und für eine von heteronormativen Zwängen befreite Gesellschaft wird hier als Emanzipation bezeichnet. In den 1970er-Jahren taten sich Lesben und Schwule zu besonders energischen Emanzipationsbewegungen zusammen. Das zeigt der wütende Protest gegen den sogenannten Hexenprozess von Itzehoe. Das dortige Landgericht verurteilte 1974 zwei Frauen zu lebenslanger Haft, weil sie den Ehemann der einen hatten umbringen lassen. Parallel zum Prozess veröffentlichte die Bild-Zeitung eine Artikel-Serie über die »Verbrechen der lesbischen Frauen«, die frauenliebende Frauen generell als kriminell und gewalttätig abstempelte. Dagegen wehrten sich Feministinnen. Der männerdominierten Justiz und Öffentlichkeit warfen sie vor, das gleichgeschlechtliche Begehren zu dämonisieren. »Gegen geile Presse — für lesbische Liebe« war auf den T-Shirts zu lesen, mit denen Aktivistinnen im Gerichtssaal protestierten. Mit solchen Aktionen, mit Frauenbuchläden, mit Zeitschriften, mit Selbsterfahrungsgruppen, mit Demonstrationen sowie mit Info-Ständen in Fußgängerzonen wollten Lesben und Schwule sich selbst und der ganzen Gesellschaft zeigen, wie wichtig und lohnend es ist, offen mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt umzugehen. Emanzipation eben.

Wie erfolgreich diese Bemühungen waren, dazu gibt es unterschiedliche Meinungen. Aber ohne Zweifel generierten sie jede Menge Sichtbarkeit von und Diskussionen mit queeren Menschen. Dadurch beschleunigte sich eine Dynamik, die hier als Normalisierung beschrieben wird. Das, was zunächst als pervers und verwerflich gegolten hatte, wurde für immer mehr Leute zum normalen Teil eines sich verbreiternden Spektrums sexueller und geschlechtlicher Möglichkeiten. Diese Haltung war mancherorts schon in der Weimarer Republik geläufig, ab den 1980er-Jahren teilten sie immer mehr Menschen. Aus queerer Perspektive kann man die Normalisierung als großen Fortschritt feiern oder als Anpassung an die gesellschaftliche Mehrheit kritisieren. So oder so, ihre Effekte sind heutzutage unübersehbar. Queen of Drags ist eine von Heidi Klum moderierte Show auf ProSieben, eine Art müder Abklatsch von RuPaul’s Drag Race. Menschen in prachtvollen Frauengewändern ringen um die Trophäe. Die Gewinnerin der ersten Staffel, Yoncé Banks, wird auf der Website des Senders mit den Worten zitiert: »Ich finde es deshalb auch ganz toll, dass es ins Fernsehen kommt und dass auch mal Eltern sehen: ›Das sind Vögel, aber es sind ja auch nur Menschen. Es ist egal, wie mein Kind wird.‹« Das ist Normalisierung.

Aber obwohl immer mehr Eltern sich wenig Sorgen darüber machen, ob ihr Kind nun so oder anders werden wird, gibt es zugleich auch Leute, die sich über vermeintliche Propaganda für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt wortreich ereifern und »unsere« Kinder vor solchen Zumutungen schützen wollen. Deswegen hat sich auch das emanzipatorische Projekt nach wie vor alles andere als erübrigt, setzen sich queere Aktivist*innen weiterhin gegen Diskriminierung und für Anerkennung ein. Genau diese Gleichzeitigkeit von Normalisierung, Stigmatisierung und Emanzipation prägt das Leben gleichgeschlechtlich begehrender und gender-nonkonformer Menschen, nicht nur heute, sondern auch schon früher. Die Geschichte fügt sich keinem übersichtlichen Handlungsbogen, dem zufolge die Stigmatisierung von der Emanzipation überwunden wurde und schlussendlich alles in Normalisierung mündete. Stattdessen: weder Ende noch ein glückliches. Vielmehr prägt die widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Stigmatisierung, Emanzipation und Normalisierung queere Politik und queeren Alltag bis heute.

Queere Geschichte, deutsche Geschichte

Bisher gibt es kein Buch, das die historische Entwicklung von LSBTI* Subkulturen und Bewegungen in Deutschland vom Kaiserreich bis heute in übersichtlicher Form darstellt. So gesehen versucht dieses schlanke Werk, eine breite Lücke zu füllen. Allerdings geht es um mehr, als die existierenden Geschichten des modernen Deutschland einfach um einen queeren Aspekt zu bereichern. Es geht um mehr als ein reizvolles Dekor am Rande, das man hinzufügt, ohne dass sich am Gesamtbild etwas Wesentliches ändert. Der Blick auf LSBTI* Erfahrungen und Erinnerungen ermöglicht es, deutsche Geschichte besser zu verstehen. Anders formuliert: Ohne die Inklusion queerer Perspektiven bleibt jede Betrachtung der deutschen Vergangenheit nicht nur unvollständig, sondern auch unzulänglich. Das Gleiche gilt für Arbeitslose, Afro-Deutsche, Wohnungslose, Migrant*innen, Psychiatriepatient*innen und andere Gruppen von Menschen, deren Erfahrungen und Erinnerungen bisher allzu oft als irrelevant erachtet wurden für historische Gesamtdarstellungen. In mehrerlei Hinsicht gilt es, die deutsche Geschichte zu diversifizieren. Ein möglicher Anfang soll hier gemacht werden.

Gleichzeitig wird diese andere Geschichte Deutschlands seit dem Kaiserreich, wo möglich, über den nationalen Tellerrand hinausschauen und transnationale Bezüge diskutieren. Einflüsse aus Frankreich, den Niederlanden, Skandinavien oder den USA waren ab 1945 entscheidend für die Entwicklungen in Deutschland. Vor 1933 entfaltete umgekehrt die deutschsprachige Szene globale Strahlkraft. Um 1900 entwickelte sich um Figuren wie Magnus Hirschfeld und Adolf Brand die weltweit erste homosexuelle Emanzipationsbewegung. Und in den 1920er-Jahren war Berlin berühmt für seine zahlreichen, von Aktivistinnen wie Lotte Hahm organisierten lesbischen Tanzveranstaltungen. Aus diesen Glanzpunkten wird hier aber keine Erfolgsgeschichte deutschen Vorangehens fabriziert. Schon allein deswegen, weil das Buch neben Berlin auch andere Städte und die Situation auf dem Land berücksichtigt, wo die Lesbenlokale meist weniger zahlreich waren. Außerdem geht es nicht nur um LSBTI* Aktivismus und Subkulturen, sondern auch um die lange Zeit feindseligen Einstellungen der gesellschaftlichen Mehrheit. Der Wandel der Medienlandschaft kommt ebenso in den Blick wie das Alltagsleben gleichgeschlechtlich liebender und gender-nonkonformer Menschen.

So vielschichtig betrachtet, war die queere Vergangenheit nie eindeutig nur von Repressionen oder nur von Freiheiten geprägt. Das Buch erzählt vom widersprüchlichen Nebeneinander unterschiedlicher Dynamiken. Dabei rücken vermeintlich Veraltetes und vermeintlich Modernes mitunter sehr nah zueinander. Das gilt auch für die Begriffe, wenn hier von queeren Menschen oder LSBTI* Personen die Rede ist. Diese Formulierungen finden im Deutschen erst seit einigen Jahren breitere Verwendung. Ob sie sich als Sammelbezeichnungen für nicht hetero-normative sexuelle und geschlechtliche Praktiken und Subjektivitäten durchsetzen werden, bleibt abzuwarten. Früher wurden schwule Männer als Urninge bezeichnet, als besonders, verzaubert oder homophil. Diese Ausdrücke sind schon lange nicht mehr geläufig.

Ähnlich kompliziert verhält es sich mit trans*, non-binären oder gender-nonkonformen Menschen, die sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde, oder die sich nicht eindeutig als männlich oder als weiblich begreifen. Transvestiten, Transsexuelle, Transgender, intergeschlechtliche Personen — das sind einige der Ausdrücke, die gängig waren oder sind. Meist verwendet das Buch die jeweils zeitgenössischen Begriffe und die, mit denen sich die Akteur*innen selbst beschrieben. Oder trans* und inter* als Sammelbegriffe, die ein Spektrum von Positionierungen jenseits der zweigeschlechtlichen und cis-normativen Ordnung umfassen. Das lateinische cis bedeutet diesseits und meint Menschen, die sich anders als trans* Personen mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde.

Neben ihrer Funktion als Sammelbegriffe verbinden sich mit queer und trans* auch theoretische und politische Ansätze, die Cis- und Heteronormalität kritisch herausfordern, den performativen Charakter von Geschlecht betonen und allzu festgefügte Vorstellungen von sexueller Identität hinterfragen. So gesehen ist Geschlecht nicht einfach ein biologisch gegebenes Faktum, sondern ein Phänomen, das von Machtstrukturen ebenso mitgeprägt wird wie vom Denken und Handeln der Einzelnen. Und die Grenze zwischen Homo- und Heterosexualität ist weniger trennscharf, als sie manche gerne ziehen würden. Diese Kritiken an allzu eindeutigen Vorstellungen von geschlechtlicher und sexueller Identität sind eng miteinander verknüpft. Denn zwischen gleich- und andersgeschlechtlichem Begehren kann man nur dann klar unterscheiden, wenn zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht eine klare Grenze verläuft. Bisexuelle verwirren diese Ordnung ebenso wie intergeschlechtliche Menschen, die sich seit 2018 nach dem deutschen Personenstandsrecht als divers bezeichnen können. Eine queere Geschichte geht also nicht unbedingt davon aus, dass sich das Begehren eines jeden Menschen exklusiv entweder auf Personen des gleichen oder des anderen Geschlechts richtet, auch wenn nach wie vor viele Menschen ihre Sexualität auf genau diese Weise begreifen und leben.

Je breiter sich das Spektrum der geschlechtlichen und sexuellen Vielfalt auffächert, desto auffälliger wird, wie wenig wir bisher über queere Geschichte in Deutschland wissen. Über viele Jahre haben exzellente Historiker*innen bahnbrechende Studien verfasst. Sie machten diese Arbeit oft unter prekären Bedingungen, sozusagen als Nebenerwerbsforscher*innen, weil die universitär verfasste Geschichtswissenschaft queere Themen für irrelevant oder gar für degoutant hielt. Dementsprechend fanden ihre Veröffentlichungen meist nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdienen. Das Gleiche gilt für die entscheidende und herausragende Arbeit, die queere, schwule, lesbische und trans* Archive leisten. Oft entstanden diese Initiativen aus den emanzipatorischen Bewegungen heraus, und allzu oft ringen sie mit Ressourcenknappheit. Es mangelt an öffentlicher und anderweitiger Förderung, sodass Materialien zur queeren Geschichte kaum angemessen gesammelt, aufbewahrt und dem Publikum zur Verfügung gestellt werden können. Ein Teil dieser Archiv- und Forschungslandschaft wird am Ende in den Hinweisen zum Nach- und Weiterlesen vorgestellt. Sie beschränken sich auf das Wichtigste und Aktuellste, aber in den genannten Titeln können interessierte Leser*innen auch Verweise auf weitere lohnende Lektüren finden. Und wenn sich manche sogar entschließen sollten, selbst zu forschen und einige der nach wie vor großen Lücken auf dem Feld der queeren Geschichte zu schließen, dann wäre das großartig.

Letztlich wird davon auch die deutsche Geschichte im Ganzen profitieren, denn die Inklusion queerer Perspektiven ermöglicht insgesamt ein besseres Verstehen der Vergangenheit. An ein paar Punkten wird das besonders deutlich. So erweist sich die Rede vom Mai 1945 als Stunde null, als einem grundlegenden Neuanfang als gänzlich unhaltbar. Männer begehrende Männer kamen seither zwar nicht mehr ins KZ, aber manche wurden kurz nach ihrer Befreiung gleich wieder inhaftiert, um den Rest ihrer Strafe zu verbüßen. Andere standen in der frühen Bundesrepublik vor denselben Richtern, die sie bereits vor 1945 wegen homosexueller Handlungen verurteilt hatten. Die NS-Fassung des Paragrafen 175 wurde 1957 vom Bundesverfassungsgericht als mit dem Grundgesetz vereinbar bestätigt und galt unverändert bis 1969. Danach blieb eine mildere Form bis 1994 in Kraft, zumindest in Westdeutschland. Erst 2017 hob der Bundestag die Verurteilungen rückwirkend auf. Aus queer-historischer Perspektive brauchte die Bundesrepublik also fast siebzig Jahre, um den Menschenrechten in diesem Punkt zur Geltung zu verhelfen.

Die Annahme, dass im Westen mit den Siebzigerjahren alles allmählich besser wurde, quasi nachdem Willy Brandt die Demokratisierung und die 1968er die Liberalisierung der Gesellschaft eingeläutet hatten, ist auch in anderer Hinsicht problematisch. Aids führte in den 1980er-Jahren zu einer heftigen Re-Stigmatisierung homosexueller Menschen, und so mancher Vorschlag zur Bekämpfung der Pandemie klang alles andere als liberal. In dieser Zeit lag Widersprüchliches besonders nah beieinander: Leiden, Sterben, Trauer, Ausgrenzung, aber auch emanzipatorische Verve im Kampf gegen Diskriminierungen und daraus resultierend ein wachsendes Verständnis in der Gesellschaft für die Anliegen queerer Menschen. Diese Einsicht in die Gleichzeitigkeit von Stigmatisierung, Emanzipation und Normalisierung kann helfen, auch die Geschichte anderer sozialer Gruppen, die sich gegen ihre eigene Marginalisierung wehrten und wehren, besser zu verstehen und so das Bild der deutschen Geschichte endlich diverser zu gestalten.

Ein genauerer Blick auf die Achtzigerjahre kann die deutsche Zeitgeschichte zudem aus ihrer Fixierung auf 1968 und das folgende Jahrzehnt befreien. Gerade die erste Hälfte der Regierungszeit von Helmut Kohl gilt oft als eine Phase der Ereignislosigkeit zwischen dem davor liegenden gegenkulturellen Aufbruch und der darauf folgenden Wende- und Transformationszeit. Aber die 1980er-Jahre verdienen mehr Aufmerksamkeit und eine Neubewertung. Nicht nur, aber auch aus queer-historischer Perspektive wird schnell klar, wie grundlegend sich viele Dinge in dieser Zeit verändert haben, wie damals Dynamiken an Fahrt aufnahmen, die noch unsere Gegenwart ganz entscheidend bestimmen.

Diesen und anderen Zeitläufen, die queeres Leben und queeren Aktivismus in Deutschland von der Kaiserzeit bis heute geprägt haben, widmet sich dieses Buch. Dabei kommt es auch immer wieder auf kollektive und individuelle Erinnerungen zu sprechen, die unterschiedliche Zeiten ineinanderfalten. So wie der Film im Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen. Obwohl die queere Geschichte des modernen Deutschland hier in sieben chronologisch aufeinanderfolgenden Kapiteln erzählt wird: Diese Phasen lassen sich nicht fein säuberlich voneinander trennen. Das Bild, das man sich von der Vergangenheit machte, war immer entscheidend. Für die radikalen Schwulen der 1970er-Jahre war es zentral, sich von der vermeintlich veralteten homophilen Subkultur der Nachkriegsdekaden abzugrenzen. Damals hatte man sich, so der Vorwurf, hinter einer Fassade bürgerlicher Wohlanständigkeit und in abgeschirmten Szenelokalen versteckt, während sich die Jüngeren nun erstmals mutig und öffentlich zu ihrem Schwulsein bekannten und auf Demonstrationen selbstbewusst ihre sexuelle Alterität zur Schau stellten. So kultivierten sie das Gefühl eines revolutionären Aufbruchs. Wie umwälzend neu dieser tatsächlich war, das ist eine der Fragen, die das Buch aufwirft.

Mit solchen und anderen Überlegungen hoffe ich, Geschichte nicht als überwundene Vorstufe einer glücklicheren oder erfolgreicheren Gegenwart zu schildern; Geschichte nicht als eine nostalgische Retrospektive zu gestalten, Erinnerung an eine Zeit, die man wiederhaben möchte. Geschichte soll uns vielmehr als lebendige Erzählung daran erinnern, dass wir nicht wissen können, wie die Zukunft wird, und uns gerade deswegen darum kümmern müssen.

1

Unterdrückung, Aufklärung und Skandalisierung. Das Kaiserreich

Fünf Frauen, keck schauen sie uns an, respektive in die Kamera. Die Kurzhaarfrisuren fallen weniger ins Auge als die Pose: der Stift am Kinn. Es dürften Stifte sein, denn dazu passen die beiden Papierblöcke. Sie inszenieren sich also als Schreibende und in Denkerinnenpose. Welche Worte sollen wir zu Papier bringen? Diese Frage scheinen sie denjenigen zu stellen, die das Bild betrachten. Als Frauenrechtsaktivistinnen haben sie alle Wichtiges mit Worten geleistet. Die in Freyenstein geborene Minna Cauer, die Zweite von rechts, gründete 1895 die Zeitschrift Die Frauenbewegung und gab diese bis 1919 heraus. Lily von Gizycki, neben Cauer in der Mitte der Reihe, hieß nach ihrer zweiten Heirat Lily Braun und veröffentlichte 1901 das Buch Die Frauenfrage. Und Anita Augspurg, ganz links, publizierte 1905 einen oft als Aufruf zum Eheboykott verstandenen Brief, in dem sie jungen Frauen riet, lieber in staatlich nicht anerkannten Beziehungen zu leben, als der patriarchalen Ehe ihre rechtliche Unabhängigkeit zu opfern.

Zum Thema Schreiben und Lesen passt auch, dass die kleine Puppe auf Marie Stritts Schulter ein Buch zu halten scheint. Man kann sie auch als Anspielung aufs Puppentheater interpretieren, dann unterstreicht sie die theatrale Inszenierung des Bildes. Die Stifte könnten auch Stäbe sein, an denen Masken befestigt sind, die sich die fünf Frauen vors Gesicht halten. So als wollten sie fragen: Sehen wir wirklich so aus, oder haben wir noch andere, angriffslustigere Gesichter? Zwei der Frauen haben als Schauspielerinnen ihre Karrieren begonnen. Anita Augspurg war früher bei den Theatern in Meiningen und Altenburg. Marie Stritt reüssierte auf Bühnen in Karlsruhe, Frankfurt am Main und Hamburg. Als Schauspielerinnen, Schriftstellerinnen, Journalistinnen oder Lehrerinnen konnten manche Frauen damals selbstständig ihren Lebensunterhalt verdienen, sodass sie nicht auf einen Mann angewiesen waren, der sie versorgte. Den Zugang zu anderen Karrieren mussten sie sich mühsam erstreiten. In Zürich schloss Anita Augspurg1897 ihr Jurastudium ab. Sie war die erste promovierte Juristin im Kaiserreich.

Frauenbewegungen, queere Perspektiven und eine andere Geschichte des Kaiserreichs

Die fünf Frauen gehörten zur Avantgarde der Streiterinnen für das Frauenstimmrecht. Sie waren deutsche Suffragetten im bürgerlich-radikalen Flügel der Frauenrechtsbewegung. Später gingen sie getrennte Wege. Manche setzten sich für die Entkriminalisierung der Abtreibung und die Rechte von Prostituierten ein, anderen waren solche Positionen zu radikal. Lily Braun wurde Sozialdemokratin, Marie Stritt eine national-liberal gesinnte Politikerin. Und Anita Augspurg suchte als Pazifistin nach Auswegen aus dem Ersten Weltkrieg. Ebenso modern wie die politischen Haltungen der abgebildeten Frauen war das Medium der Abbildung. Das Foto entstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Münchner Atelier Elvira, das Anita Augspurg und Sophia Goudstikker, auf dem Bild ganz rechts, 1887 gegründet hatten. Die beiden waren wichtige Figuren in der Schwabinger Boheme, im ästhetischen Aufbruch der Jahrhundertwende. Aber nicht nur aufgrund seiner Jugendstilfassade erregte das weiblich geführte Foto-Unternehmen weithin Aufsehen. Anita Augspurg und Sophia Goudstikker waren ein Paar. Sie trennten sich 1899 und lebten danach mit anderen Partnerinnen zusammen.

Damals war es schon anrüchig genug, dass Frauen ihren eigenen Lebensunterhalt verdienten oder sich ohne männliche Begleitung öffentlich zeigten. Der Verdacht einer lesbischen Beziehung, der sapphischen Liebe oder des tribadischen Begehrens — um einige der seinerzeit gängigen Vokabeln für sexuelle Intimität zwischen Frauen zu erwähnen — war dann sozusagen noch eine Skandal-Zulage. Allerdings fiel es vielen Menschen, vor allem Männern, schwer zu glauben, dass Frauen überhaupt andere Frauen ›so richtig‹ lieben, dass sie Lust empfinden könnten, geschweige denn, dass sie dazu in der Lage wären ohne die penetrierende Unterstützung eines Mannes. Dementsprechend kamen viele gar nicht auf die Idee, dass zwei Frauen ein ›richtiges‹ Paar sein könnten. Allerdings war das Wissen um die weibliche Homosexualität zugleich so geläufig, dass frauenliebende Frauen die sexuelle Natur ihrer Beziehungen meist hinter der Fassade schicklicher Freundinnenschaften verbargen.

Gerade Frauenrechtlerinnen achteten sorgsam darauf, dem sexistischen und beleidigend gemeinten Vorwurf des Lesbischseins keine Nahrung zu geben. 1904 war Theo Sprüngli, bekannt unter ihrem Pseudonym Anna Rüling, eine der Ersten, die öffentlich die Lage gleichgeschlechtlich begehrender Frauen thematisierten. Sie sprach von »Urninden« und forderte die Frauenrechtsbewegung auf, sich auch für deren Anliegen einzusetzen. Der Aufruf stieß auf ein ablehnendes Echo. Wegen dieser Distanzierung von der vermeintlich anrüchigen Homosexualität ist es rückblickend oft unmöglich, den Charakter von Frauenbeziehungen genau einzuschätzen. Waren sie ›nur‹ Busenfreundinnen oder hatte ihre Intimität auch sexuelle Aspekte? Man muss ja auch nicht immer alles ganz genau wissen. Sophia Goudstikker und Anita Augspurg waren jedoch zweifelsohne ein Paar. Das stand zwar nicht in der Zeitung, aber in ihrem Umfeld war ›es‹ kein Geheimnis.

Bei genauem Hinsehen erweist sich das Bild der fünf Frauen mithin als ein Panorama seiner Epoche. Da finden sich lesbisches Lieben, der Kampf um Frauenrechte, technische Innovation, künstlerischer Avantgardismus, man könnte auch noch die Auseinandersetzung mit religiöser Vielfalt hinzufügen, wenn man bedenkt, dass Sophia Goudstikker vom Judentum zum Protestantismus konvertierte. Religiöse Spannungen, politische Konflikte zwischen linken, liberalen und rechten Flügeln sowie soziale Reibungen zwischen adligen, bürgerlichen und proletarischen Milieus, diese Dynamiken prägten das Kaiserreich. Das Bild repräsentiert sozusagen die ganze Komplexität der deutschen Geschichte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Und die Fragen der geschlechtlichen und sexuellen Vielfalt gehören mit dazu.

Die Fotografie zeugt auch von einem Wandel, von weiblichem Selbstbewusstsein, von Blicken in eine Zukunft, in der Frauen gleichberechtigt sein würden. So beginnen wir das zweite, das moderne deutsche Kaiserreich anders als üblich zu verstehen, eher von seiner Mitte als von seinem Anfang her. Die queere Perspektive eröffnet genau diesen Blick. Er richtet sich im Folgenden zunächst auf die rechtliche Verfolgung und medienwirksame Skandale. Dann geht es um wissenschaftliche Ansätze, die ein offeneres Reden über verschiedene Spielarten des Sexuellen und Geschlechtlichen ermöglichten. Und abschließend widmet sich das Kapitel den Emanzipationsbewegungen und dem Alltag gleichgeschlechtlich begehrender und gender-nonkonformer Menschen im Kaiserreich.

Zwischen 1871 und 1918 war die deutsche Gesellschaft nicht nur geprägt von Militarismus, kolonialen Machtansprüchen und der Ausbeutung der Arbeiter*innen. Es war auch eine Zeit demokratischer Anfänge, ästhetischer Avantgarden und massenmedialer Aufregungen. Neben bier- und bockwurstseligen Feiern zum Sedans- und Kaisergeburtstag gab es sozialdemokratische Proteste, lebensreformerische Experimente, frauenbewegte Versammlungen, Kämpfe um homosexuelle Emanzipation. Ärzte und Psychiater warben um Verständnis für gleichgeschlechtlich liebende und gender-nonkonforme Menschen; Frauenvereine stritten über Abtreibung und den Schutz lediger Mütter; Else Lasker-Schüler provozierte mit ihren skandalös-erotisierten Selbstinszenierungen; der Sozialdemokrat August Bebel kritisierte die bürgerliche, auf Eigentum beruhende Ehe; und andere begeisterten sich für das Nacktwandern oder entwarfen korsettfreie Reformkleider.

So verschieden diese Strategien waren — und man sollte sich davor hüten, sie alle vorschnell als progressiv zu beklatschen —, so teilten sie doch einen sexualreformerischen Kern. Damit verweisen sie auf einen Aspekt sozusagen aus der Mitte des kaiserzeitlichen Deutschland, der oft übersehen wird. Unser Bild dieser Periode ist eher von ihrem Anfang geprägt, den wir bestens zu kennen meinen: Preußen, militärischer Triumph, der Spiegelsaal in Versailles, viele Männer in Uniformen mit Ordensglitter und hohen Lederstiefeln — Kaiserkrönung.

Verfolgung, Stigmatisierung und Skandale

Aus queer-historischer Sicht war dieser Anfang wenig glanzvoll. Eine Zahl steht für die Verfolgung, die er mit sich brachte: 175. Ab 1872 sah der Paragraf mit dieser Nummer im Reichsstrafgesetzbuch vor, dass man für »widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird«, ins Gefängnis kommen, seiner bürgerlichen Ehrenrechte und akademischen Titel beraubt werden konnte. Zunächst musste der Staatsanwalt nachweisen, dass eine Penetration stattgefunden hatte, um eine Verurteilung zu erreichen. Dieser Beweis war oft nicht einfach zu führen. Aus dem Jahr 1857 ist der Fall des Gärtners Polte aus dem Dorf Tuchheim im preußischen Kreis Genthin überliefert. Mit sechs jungen Männern hatte Polte »Schändliches« getrieben. Dennoch erhob der Staatsanwalt keine Anklage, weil er zwar gegenseitiges Masturbieren, aber keinen Analverkehr nachweisen konnte.

Um solche ›Schwierigkeiten‹ fürderhin zu vermeiden, erweiterte die Rechtsprechung in den 1880er-Jahren den strafbaren Tatbestand auf »beischlafähnliche Handlungen«. Nun konnte einen auch der sogenannte Schenkelverkehr, also das Reiben des Penis zwischen den Beinen des Partners, ins Zuchthaus bringen. Gemeinsames oder gegenseitiges Masturbieren wurde dagegen weiterhin nicht bestraft. Aber selbst ein Freispruch war keine Rettung. Insbesondere für Angehörige der bürgerlichen Schichten führte bereits die Anklage meist zur gesellschaftlichen Ächtung und in vielen Fällen auch zum Verlust der Lebensgrundlage.

In einigen Teilen Deutschlands rekriminalisierte der Paragraf 1872 den Sex zwischen Männern. Beispielsweise das bayrische Strafrecht war zuvor in diesem Punkt deutlich weniger strikt gewesen. Nun setzte sich die preußische Strenge im ganzen Reich durch. Erst 1994 verschwand Paragraf 175 aus den deutschen Gesetzbüchern. Zeit seines Bestehens wurde er immer wieder verändert. Die Bestrafung von Sex mit Tieren schaffte man in den 1960er-Jahren ab. Indem sie die männliche Homosexualität mit der sogenannten Bestialität verknüpften, hatten die Autoren des Reichsstrafgesetzbuchs ihre Verachtung für gleichgeschlechtlich begehrende Menschen besonders deutlich zum Ausdruck gebracht. Die Verbindung verweist aber auch auf die Tradition einer verbietenden christlichen Sexualmoral, die hier Pate stand. Letztlich wollte man alle Formen der Lust untersagen, die außerhalb der Ehe stattfanden und nicht auf das Zeugen von Kindern abzielten. Wie viele Menschen unter diesem Verbot zu leiden hatten, lässt sich nur ungefähr beziffern. Um die 20.000 Personen wurden zwischen 1872 und 1918 nach Paragraf 175RSTGB verurteilt.

Zur strafrechtlichen Verfolgung gesellte sich die gesellschaftliche Stigmatisierung. Noch bis ins späte 20. Jahrhundert wurden schwule Männer verächtlich als »175er« bezeichnet. Schon Gerüchte über gleichgeschlechtliche Neigungen konnten aufgrund der vorherrschenden homophoben Haltung verheerend sein. Deswegen wurde der Vorwurf der Homosexualität oft als Waffe und Drohung eingesetzt. Der damals 42-jährige Straßburger Amtsgerichtsrat Eugen Wilhelm, von dem später noch ausführlicher die Rede sein wird, sah sich 1908 gezwungen, sein Amt niederzulegen, weil eine Voruntersuchung wegen homosexueller Handlungen gegen ihn eingeleitet worden war. Er fiel quasi als Frührentner auf ein vergleichsweise sanftes Polster, aber nur weil es ihm gelang, durch seinen Rücktritt einen öffentlichen Skandal zu vermeiden. Andere fielen weniger weich, verloren Besitz und Stellung oder nahmen sich das Leben, weil sie den Absturz oder die Scham nicht ertragen konnten, die ihre Umgebung ihnen abverlangte.

Wie rasch sich ein Skandal entwickeln konnte, auch wenn es kaum konkrete Anhaltspunkte gab, zeigt der Fall von Georg Albrecht Freiherr von Rechenberg. Er war 1906 während des Krieges der Kolonialmacht gegen die Maji-Maji zum Gouverneur von Deutsch-Ostafrika ernannt worden. 1910 wurde Rechenberg bezichtigt, eine sexuelle Beziehung mit einem seiner Bediensteten zu unterhalten. Daraufhin verklagte er den Herausgeber der Deutsch-Ostafrikanischen Zeitung, Willy von Roy, wegen übler Nachrede. Roy hatte geschrieben, dass sich im ostafrikanischen Dar es Salaam ein Eulenburg-Skandal entwickeln könnte. Philipp zu Eulenburg war ein Vertrauter von Kaiser Wilhelm II. gewesen und 1908 ins gesellschaftliche Abseits gestürzt, weil er Sex mit Männern gehabt hatte. Etwas Ähnliches zeichnete sich auch in Deutsch-Ostafrika ab.

Gleich, ob Streitigkeiten unter hochrangigen Regierungsvertretern der Grund waren oder die Kritik von Siedlern am der afrikanischen Bevölkerung gegenüber vermeintlich zu nachgiebigen Gouverneur: Gerüchte über Rechenbergs gleichgeschlechtliche Neigungen und die des Kolonialbeamten Eberhardt Freiherr von Wächter machten die Runde. Auch von einem Bordell war dabei die Rede, in dem afrikanische und arabische Sexarbeiter ihre Dienste anboten. Einer davon, ein als Frau auftretender Mann namens Mtoro, sollte den Gouverneur bedient haben. Es kam zu mehreren Gerichtsverfahren, die meisten davon wegen Verleumdung. Wächter kam letztlich mit einem blauen Auge davon. Rechenberg trat 1912 als Gouverneur zurück, konnte seine politische Karriere aber nach zwei Jahren fortsetzen. Am schlimmsten traf es den Journalisten Roy. Er wurde wegen Verleumdung verurteilt und musste ins Gefängnis.

Im Einzelfall konnte der Bezichtiger am Ende also schlechter dastehen als die Bezichtigten. Aber die meisten Männer, die sich zu den besseren Kreisen rechneten, wollten dennoch nicht riskieren, dass Gerüchte über sie in Umlauf kamen. Daher hatten Erpresser gute Aussichten auf Erfolg. Nachdem sie sexuelle Dienste verkauft oder ein erotisches Interesse vorgetäuscht und so einen wohlhabenden Mann in eine verfängliche Situation gebracht hatten, ließen sie sich ihr Schweigen teuer bezahlen. Zumindest warfen das bürgerliche Homosexuelle jungen Männern aus den unteren Schichten immer wieder vor. Auch in der politischen Auseinandersetzung wurden Gegner desavouiert, indem man ihnen gleichgeschlechtliche Neigungen unterstellte. Unter dem Titel »Krupp auf Capri« berichtete der sozialdemokratische Vorwärts1902, dass die italienischen Behörden den Industriemagnaten Friedrich Alfred Krupp wegen pädosexueller Übergriffe auf Jungen ausgewiesen hätten. Krupp starb kurze Zeit später. Nicht wenige vermuteten, dass er sich das Leben genommen hatte.

Egal, ob die Vermutungen jeweils zutrafen oder nicht, klar ist, dass der Ruch des Homosexuellen mit gesellschaftlicher Stigmatisierung verknüpft und deswegen gefürchtet war. Das galt auch für frauenliebende Frauen. Vom Strafrecht waren sie nicht direkt bedroht. 1909 erwog man, den Paragrafen 175RSTGB auf weibliche Homosexualität auszudehnen, aber dieses Vorhaben scheiterte, obwohl große Teile der Frauenbewegung es unterstützten. Selbst Frauen, die mit Frauen zusammenlebten, hüteten sich davor, öffentlich für ihre eigenen Belange einzutreten. Sie fürchteten den Vorwurf der Homosexualität. Die vielfältigen Formen der Beleidigung und der Herabwürdigung, mit denen frauenbegehrende Frauen konfrontiert waren, schilderte Emma Trosse1897 in Ein Weib? Psychologisch-biographische Studie über eine Konträrsexuelle.

So schlimm diese Verunglimpfungen waren, sie zeigen auch, wie weitverbreitet das Wissen um die Homosexualität war. Sie benutzten vielleicht nicht unbedingt genau diesen Begriff, aber viele Leute wussten, dass es gleichgeschlechtliches Begehren gab und dass es etwas war, wofür man sich zu schämen hatte, wofür man bestraft werden konnte. Die Kirchen hatten in dieser Hinsicht Schlimmes geleistet. Mit Beichtspiegeln und Bildern vom brennenden Sodom bläute man den Gläubigen ein, wie sie ihre vermeintliche Sündhaftigkeit — in Gedanken, Worten und Werken — erforschen und bekämpfen sollten. Den Rest erledigten das Strafrecht und die medialen Skandale, die das Thema aufs Feld der öffentlichen Auseinandersetzung trugen.

Der prominenteste davon war der Eulenburg-Harden-Skandal. Ab 1906 veröffentlichte der Journalist Maximilian Harden Artikel, die auf die Homosexualität des Generalmajors Kuno von Moltke und des Diplomaten Philipp Prinz zu Eulenburg