Angehörige in der Palliative Care - Angelika Feichtner - E-Book

Angehörige in der Palliative Care E-Book

Angelika Feichtner

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Beschreibung

Die An- und Zugehörigen sind die wichtigsten Begleiter:innen und engsten Vertrauten schwerkranker und sterbender Patient:innen. Im Bewusstsein, dass die gemeinsame Zeit begrenzt ist, wollen Angehörige einen Beitrag leisten und die Patient:innen in der oft leidvollen letzten Lebensphase begleiten. Dann liegt es an den Pflegenden und dem professionellen Betreuungssystem, sie in Achtung ihrer individuellen Bewältigungsstrategien dabei zu unterstützen. Dieses Buch bietet Anregungen für Pflegende, wie die Zusammenarbeit mit Angehörigen in der palliativen Betreuungssituation gelingen kann, ist aber auch ein hilfreicher Leitfaden für Angehörige in dieser schwierigen Zeit. Mit vielen Tipps und Hinweisen zu Pflege- und Krankengeld, Pflegekarenz, Unterstützungsfonds u.a.

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Seitenzahl: 269

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Angelika Feichtner, Bettina Pußwald

Angehörige in der Palliative Care

Unterstützung, Begleitung und Beratung

Angelika Feichtner, MSc

Diplom in Palliative Care der International School of Cancer Care in Oxford, langjährige Pflege- und Lehrpraxis im Bereich von Palliative Care und Hospizarbeit.

Bettina Pußwald, DSA, MSM

Master of Social Management, Diplomsozialarbeiterin im mobilen Palliativteam Fürstenfeld/Feldbach. Im Vorstand der Österreichischen Palliativgesellschaft, Vorsitzende der AG Palliativsozialarbeit. Lehrtätigkeit im Bereich von Palliative Care.

Eine geschlechtergerechte Schreibweise wird in diesem Buch vorwiegend durch die Verwendung der Schreibung mit Stern * realisiert. Ist eine korrekte, alle Endungen berücksichtigende Schreibung auf diese Weise nicht möglich oder erfordert sie Ergänzungen, die den Lesefluss hemmen, so wird – stellvertretend für alle Geschlechter – die weibliche und männliche Form abgewechselt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Alle Angaben in diesem Fachbuch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr, eine Haftung der Autorinnen oder des Verlages ist ausgeschlossen.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung sowie der Übersetzung, sind vorbehalten.

3. Auflage 2024

Copyright © 2017 Facultas Verlags- und Buchhandels AG

facultas Verlag, 1050 Wien, Österreich

Umschlagfoto: nerudal, istockphoto.com

Satz: Florian Spielauer, Wien

Lektorat: Laura Hödl Druck: finidr, Tschechien

Printed in the E. U.

ISBN 978-3-7089-2436-6

E-ISBN 978-4-99111-839-8

Inhalt

Vorwort

TEIL I

Angehörigenunterstützung in der Pflege

Die Situation der Angehörigen von schwerkranken und sterbenden Menschen

Die Bedeutung einer sicheren Bindung in der Unterstützung Angehöriger

Unterstützung durch ein sicheres Bindungsangebot

Notrufklingel als Bindungssignal

Lösen von Bindungen

Angehörige in der häuslichen Pflege

Motivation zur Übernahme häuslicher Pflege

Pflegende Angehörige als Leistungserbringer*innen für das Sozial- und Gesundheitssystem

Vorteile häuslicher Betreuung für die Angehörigen

Angehörige in der stationären Betreuung

TEIL II

Angehörigenbetreuung aus der Sicht der Palliativsozialarbeit

Pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen

Exkurs Sozialarbeit

Palliativsozialarbeit

TEIL III

Beratung, Unterstützung und Information in sozialrechtlichen Fragen sowie über finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten

Von Angehörigenbonus bis Witwenpension

TEIL IV

Spezielle pflegerische Aspekte

Wenn Essen und Trinken zum Problem werden

Kinder als Angehörige

Unterstützung der Angehörigen in der Zeit des Sterbens

Mögliche Symptome im Sterbeprozess

Sterben zu Hause

Eintritt des Todes

Pflege des Verstorbenen und Abschied

Wenn ein Abschied nicht möglich ist

Schlusswort

Literaturverzeichnis

Anhang

Hilfreiche Internet-Links

Krisen- und Notfallplan

Register

Vorwort

Laut Statistik Austria (2023) sterben in Österreich pro Jahr über 90.000 Menschen (2022 waren es 93.332) – die meisten von ihnen nach einer mehr oder weniger langen chronischen oder terminalen Erkrankung, verbunden mit Pflegebedürftigkeit, mit Einschränkungen der Lebensqualität und mit Leiderfahrungen. Die Diagnose einer lebensbegrenzenden Erkrankung bedeutet immer eine Zäsur, eine dramatische Veränderung des Lebens. Dies trifft nicht nur auf die Patient*innen zu, sondern auch auf die ihnen nahestehenden Personen. Derzeit betreuen weit mehr als 800.000 Personen ein Familienmitglied bzw. einen ihnen nahestehenden Menschen zu Hause (Nagl-Cupal, 2018).

Pflegende Angehörige sehen sich mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert. Eine schwere Erkrankung und das Sterben eines Menschen betreffen damit nicht nur ihn selbst, sondern immer auch seine An- und Zugehörigen. Sie erleben den Prozess mit, er löst auch bei ihnen Trauer, Verzweiflung und Ängste aus. Sie kommen mit existenzieller Bedrohung in Berührung, sie erleben das Leid eines geliebten Menschen und sie erleben Hilflosigkeit und Trennungsängste. Angehörige sind damit stets auch Mitbetroffene: Sie werden von der Erkrankung und ihren Folgen existenziell miterfasst und bedürfen meist, ähnlich wie die Patient*innen, der Fürsorge und Betreuung. Das Ziel palliativer Betreuung ist daher auch, nicht nur die Kranken, sondern ebenso auch deren Angehörige zu betreuen und zu begleiten, ihnen beizustehen in der doppelten Aufgabe, das eigene Leid zu bewältigen und zugleich die Patientin zu unterstützen.

„Palliative Care ist ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patient*innen und ihren Familien, die mit jenen Problemen konfrontiert sind, welche mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen (…)“ (WHO, 2002). Diese Definition der Weltgesundheitsorganisation macht deutlich, dass die Patient*innen und ihre Angehörigen gleichsam als eine „Unit of Care“ (Davies, 2001, S. 363) zu betrachten sind, als eine Behandlungseinheit. Und es wird kaum gelingen, eine Patientin umfassend zu betreuen, wenn die Bedürfnisse der Angehörigen nicht ebenso im Fokus des multiprofessionellen Betreuungsteams stehen wie jene der Kranken. Angehörige zu stärken und zu unterstützen ist daher eine zentrale Aufgabe der häuslichen Palliativversorgung (Kreyer, Strauß-Maier, 2021).

Neben der Pflege leistet auch die Palliativ-Sozialarbeit einen wesentlichen Beitrag zur Entlastung der An- und Zugehörigen von schwerkranken und sterbenden Menschen. Daher darf in einem Buch über die Unterstützung der Angehörigen in Palliative Care die palliativsozialarbeiterische Sicht nicht fehlen. Bettina Pußwald, als ausgewiesene Expertin, bietet wichtige Informationen, wertvolle Tipps und praktische Hinweise für Angehörige. Ganz im Sinne interprofessioneller Zusammenarbeit zeigt sich auch bei unserer Co-Autorenschaft: gemeinsam wissen wir mehr. Und nur gemeinsam kann es gelingen, den Patient*innen und ihren Angehörigen die Unterstützung zu bieten, die sie brauchen.

Das Wohlbefinden der Patient*innen und das ihrer Angehörigen sind eng miteinander verbunden. Und oft stabilisiert sich die Situation der Patient*innen, sobald es gelingt, ihren Bezugspersonen die erforderliche Unterstützung und den nötigen Beistand zu bieten. Daher stehen die Angehörigen der Kranken ganz im Zentrum des Bemühens, zugleich sind sie wichtige Partner*innen in der Betreuung der Patientin. Angehörige können ganz entscheidend zu einer gelingenden Betreuung beitragen. Sie können die Interessen der Patient*innen vertreten, wenn diese nicht mehr in der Lage sind, ihre Wünsche zu artikulieren, und nicht zuletzt kennen sie die Patientin sehr viel besser als die professionell Betreuenden.

Die An- und Zugehörigen sind die wichtigsten Begleiter*innen, die bedeutsamsten Bezugspersonen und die engsten Vertrauten schwerkranker und sterbender Menschen. Im Bewusstsein, dass die gemeinsame Zeit begrenzt ist, wollen Angehörige diese wertvolle Zeit mitgestalten können, und sie möchten – trotz eigener Belastung – die Patient*innen in der oft leidvollen letzten Lebensphase unterstützen. Mit Respekt vor den individuellen Bewältigungsstrategien der Angehörigen und mit grundsätzlicher Achtung vor ihrem Bemühen, ihren Beitrag zur Betreuung der Patient*innen zu leisten, liegt es am professionellen Betreuungssystem, sie bestmöglich darin zu unterstützen.

Wir alle sind Angehörige und aus eigener Erfahrung weiß ich, wie rasch wir in die Rolle pflegender Angehöriger kommen können. Ich erlebe die Belastungen bis hin zur Überforderung, trotz aller beruflichen Erfahrung und pflegerischen Fachwissens. Als betreuende Angehörige erfahre ich aber auch die wertvolle Entlastung durch unterstützende Pflegepersonen in besonderer Weise.

Dieses Büchlein soll Pflegenden Anregungen für eine gelingende Zusammenarbeit mit Angehörigen von Patient*innen in palliativen Betreuungssituationen bieten. Die besonderen Bedürfnisse Angehöriger in der häuslichen Betreuung werden darin ebenso berücksichtigt wie jene der Angehörigen im Kontext stationärer Betreuung.

Für eine Betreuung, die sich an den Bedürfnissen der Kranken orientiert, ist nicht nur die Zusammenarbeit zwischen Angehörigen und Pflegenden entscheidend, sondern auch das gemeinsame Bemühen aller beteiligten Professionen.

Der Wert einer engen Zusammenarbeit zwischen Pflege und Sozialarbeit zeigt sich in der täglichen Praxis und auch in der gemeinsamen Arbeit mit Bettina Pußwald an diesem Buch. Wie schon bei früheren Auflagen dieses Buches erwies sich unsere Kooperation auch diesmal wieder als sehr förderlich und bereichernd.

Angelika Feichtner

TEIL I

Angehörigenunterstützung in der Pflege

Die Situation der Angehörigen von schwerkranken und sterbenden Menschen

Die Diagnose einer unheilbaren, lebensbedrohenden Erkrankung bedeutet eine tiefe Erschütterung, nicht nur für die Patient*innen selbst, sondern auch für ihre An- und Zugehörigen. Auch wenn zunächst noch die Hoffnung auf Heilung oder zumindest auf eine Stabilisierung der Erkrankung aufrecht bleibt, ist die Tatsache der Diagnose bereits mit zahlreichen schmerzhaften Verlusten für die Betroffenen verbunden.

Als Angehörige oder Zugehörige im Sinne von „zum Patienten gehörend“ gelten all jene Personen, die sich in einer vertrauten, häufig auch verpflichtenden Nähe zum Patienten befinden und somit neben Familienangehörigen auch Freund*innen, Lebensgefährt*innen, Nachbar*innen oder Kollege*innen sein können (George, George, 2003, S. 16). Entscheidend dabei ist nicht die Art der Beziehung – ob Ehe, Partnerschaft, Freundschaft oder Verwandtschaft –, sondern die individuelle Nähe und die Vertrautheit. Daher werden im weiteren Text die Begriffe Angehörige, An- und Zugehörige und Bezugspersonen synonym verwendet. Sie umfassen all jene Personen, die mit dem Patienten verwandt oder familiär verbunden sind oder sich ihm in anderer Weise verbunden fühlen.

Im Verlauf der Erkrankung werden jene Menschen, die den Patient*innen nahestehen, mit zahlreichen Verlusten konfrontiert; sie erleben ein schrittweises Abschiednehmen, Trauer und oft auch verschiedene Krisensituationen. Eine terminale Erkrankung wird insgesamt als existenzielle Krise erlebt, sie stürzt nicht nur den Patienten in eine tiefe, existenzielle Krise, sie bedroht auch das Gleichgewicht des ganzen Familiensystems. Damit wird die Krise kollektiv erlebt. Die Bezugspersonen von terminal Kranken haben, ebenso wie die Patient*innen selbst, meist bereits einen langen und leidvollen Weg hinter sich, wenn eine Änderung des Therapieziels im Sinne einer palliativen Betreuung erfolgt. Von der Diagnosestellung an bangen und hoffen sie mit dem Patienten. Sie erleben die Hoffnung, die Enttäuschung, die belastenden Therapien und das angstvolle Warten auf Befunde mit. Wiederholte Krankenhausaufenthalte, die verzweifelte Hoffnung auf Besserung und die Enttäuschung, wenn die Erkrankung weiter fortschreitet, bedeuten eine enorme emotionale Belastung, auch für die Angehörigen.

Eine lebensbedrohende Erkrankung erschüttert die Stabilität einer Familie und anderer sozialer Beziehungen, macht sie verletzlich und gefährdet ihre Funktion. Durch die Behandlungserfordernisse kann die Erfüllung der Alltagspflichten so stark beeinträchtigt sein, dass das gesamte System aus dem Gleichgewicht gerät. Im Vordergrund stehen die Sorge um den erkrankten Menschen und die Angst vor den Folgen der Krankheit. Nicht nur die Patient*innen werden auf diese Weise mit einer ungewohnten und bedrohlichen Situation konfrontiert, sondern auch ihre Bezugspersonen.

Anders als eine kurz andauernde Krankheitsperiode, an deren Ende die Heilung steht, löst eine chronische und ganz besonders eine terminale Erkrankung einen radikalen Rollenwechsel innerhalb des sozialen Systems aus. Das Gleichgewicht der gesamten Familie ist bedroht. Die Angehörigen müssen „sich als Familie oder nahe stehende Person mit den (...) Herausforderungen auseinandersetzen und diese mittragen helfen“ (Kesselring, Panchaud, 1999, S. 17). Die lebensbedrohende Erkrankung eines Angehörigen mitzuerleben, bedeutet für die Angehörigen immer eine Grenzerfahrung. Auch Yalom (1980) beschreibt, dass die Konfrontation mit dem (drohenden) Tod eines Familienmitgliedes eine Zeit existenzieller Verzweiflung für die Angehörigen bedeuten kann. Die Furcht vor dem drohenden Verlust und das Gefühl von Hilflosigkeit können alle bisher tragenden Strukturen zusammenbrechen lassen.

Durch die schwerwiegende Erkrankung eines nahestenden Menschen ergeben sich zusätzlich zur bisherigen Grundbelastung durch Beruf und Alltagsroutine vielfältige Aufgaben, die übernommen werden müssen. Häufig verändern sich die bisherigen Rollenverteilungen innerhalb der Familie und des sozialen Umfeldes. Langerprobte und eingespielte Rollen und Beziehungen verändern sich. Die Bezugspersonen sehen sich auf diese Weise mit der Erfordernis einer Neukonstruktion ihrer Rolle und Identität konfrontiert. Diese zusätzliche Belastung wirkt sich erschwerend auf bestehende Verpflichtungen aus, und Rollenfunktionen, die der/die Erkrankte ausübte, müssen von anderen teilweise oder ganz übernommen werden. Damit entsteht eine Asymmetrie in den Verantwortungsbereichen, und je mehr sich die Rollen mit dem Fortschreiten der Erkrankung verändern, umso belastender werden sie für die gesunden Familienmitglieder (Meuret, 2008, S. 42).

Die reduzierte Belastbarkeit der Patient*innen zwingt die Bezugspersonen, zusätzliche Aufgaben und vermehrt Verantwortung zu übernehmen. Durch die Mehrfachbelastung besteht die Gefahr, dass Angehörige Erschöpfungszustände erleben und an ihre Belastungsgrenze geraten. Die An- und Zugehörigen leisten, vor allem im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung, meist einen Balanceakt zwischen Da-Sein für den Patienten und den eigenen Lebensaufgaben. Eigene Bedürfnisse bleiben oft unberücksichtigt. Verschiedene Untersuchungen belegen, dass An- und Zugehörige schwerkranker Patient*innen hohe Belastungswerte erfahren, die mit jenen der Erkrankten vergleichbar sind (Funk et al., 2010).

Dabei können die emotionalen und psychischen Belastungen für die Bezugspersonen durchaus auch stärker sein als für die Patient*innen selbst.

Wenn im Verlauf des Krankheitsprozesses die Hoffnung auf Heilung zunehmend schwindet, löst dies bei den An- und Zugehörigen der Patient*innen Gefühle von tiefer Trauer, von Enttäuschung, von Verzweiflung, Resignation, Wut und der Angst vor Überforderung aus. Angehörige berichten, dass sie in manchen Momenten von derartigen, oft auch widersprüchlichen Gefühlen regelrecht überschwemmt werden. Von einer schweren Erkrankung ist damit die gesamte Familie betroffen, und die damit verbundenen Belastungen werden ebenfalls vom gesamten sozialen System getragen.

Die häusliche Pflege und Betreuung sind oft körperlich, psychisch und emotional sehr belastend, insbesondere dann, wenn es sich dabei um eine palliative Situation handelt. Die Belastung von Angehörigen von Patient*innen in palliativen Betreuungssituationen wurde in zahlreichen Studien untersucht. So weist Bausewein mehrfach auf die bei Bezugspersonen häufigen Symptome der Erschöpfung, der Angst und der Depression hin (Bausewein, 2005, S. 67).

Neben der zunehmenden körperlichen, psychischen und sozialen Belastung wächst mit fortschreitender Erkrankung die Angst vor einer Gesundheitsverschlechterung der Betreuten. Exazerbationen und Krisen wiederholen sich in immer kürzeren Abständen und die Konfrontation mit Sterben und Tod fordert Angehörige immer stärker heraus. Stress, Überlastung und soziale Isolation sind nicht selten die Folgen. Überlastungen und Überforderungen pflegender Angehöriger ziehen häufig Hospitalisierungen der Patient*innen nach sich (Rizza, Mathis, 2019).

Auch eine Studie von Bijnsdorp (2019) zeigte bei mehr als 75 % der befragten Angehörigen pflege- und betreuungsbedingte Belastungen, bei etwa 20 % bestanden schwere Belastungen. Die hohen Anforderungen durch die häusliche Betreuung bringen Angehörige oft an die Grenzen des Leistbaren und sie sorgen sich, ob ihre vorhandenen Kraftreserven reichen werden, um die Mehrfachbelastungen zu meistern (Kulbe, 2008, S. 92).

Unter den Belastungen durch eine lebensbedrohende Erkrankung verändern sich die Beziehungen und sie werden stark von den unterschiedlichen Bewältigungsstrategien der einzelnen Personen geprägt. In der Konfrontation mit einer terminalen Erkrankung entwickelt jede Familie, jedes soziale System und jede einzelne Person individuelle Strategien der Bewältigung. So kann es durchaus sein, dass innerhalb einer Familie ganz unterschiedliche Umgangsweisen mit der Erkrankung und auch mit dem Kranken entstehen. Allen gemeinsam ist aber die Tatsache, dass die Gespräche innerhalb der Familie und des Freundeskreises an Unbeschwertheit verlieren. Das Einfühlungsvermögen in die Situation des anderen wird durch die eigene emotionale Belastung zusätzlich erschwert. Missverständnisse entstehen durch das Bestreben, die Nächsten zu schonen, durch Gefühlsschwankungen und durch eine ungewohnte Sensibilität für „Zwischentöne“ (Dietrich, 2006). Damit wird aber auch deutlich, dass An- und Zugehörige stets auch Mitbetroffene sind; sie fühlen sich – ähnlich wie die Patient*innen – einer bedrohlichen Situation hilflos ausgeliefert. Der Alltag ist geprägt von der Sorge um den Kranken, von der Angst vor dem nächsten auftretenden Symptom, vor einer weiteren Verschlechterung des Zustandes und vor allem vor dem drohenden Tod.

Die Erkrankung des Patienten betrifft die gesamte Familie und alle ihm nahestehenden Personen, und umgekehrt werden die Patient*innen vom Verhalten der Angehörigen beeinflusst. Das Wohlbefinden der Angehörigen und das der Kranken sind damit aufs Engste verknüpft. Die wichtigste Grundlage für die Betreuung ist die Erkenntnis, dass die Familie die wichtigste Vernetzung für den Patienten bedeutet (Friedemann, Köhlen, 2010).

Die Beziehungen der Patient*innen zu ihren An-und Zugehörigen sind bei einer schweren Erkrankung von ganz besonderer Bedeutung. Die Angehörigen haben einen entscheidenden Anteil an der Lebensqualität, die der Patient erfährt, und letztlich auch an der Bewältigung dieser für Patient und Angehörige oft gleichermaßen schwierigen Zeit. Vielfach ermöglichen es erst die Angehörigen, dass Bedürfnisse des Kranken befriedigt werden können, und je stärker die Selbstständigkeit durch die Krankheit beeinträchtigt wird, desto bedeutsamer und wichtiger wird die Unterstützung der Angehörigen (George, 2005).

Damit befinden sich die Angehörigen jedoch oft in einem Dilemma: Sie sind in der Position, dass sie Unterstützung geben sollen, zugleich sind sie aber selbst belastet und bedürftig. Häufig leiden sie unter der Situation ebenso wie der Patient. Die veränderte Familiensituation, die Sorge um den Kranken und die Angst vor dem drohenden Verlust führen dazu, dass sich die Angehörigen in einer anhaltenden Ausnahmesituation befinden. In angstbesetzten Ausnahmesituationen ist die Amygdala (Corpus amygdaloideum) als Teil des limbischen Systems im Gehirn hochaktiv. In diesem Bereich werden Gefahren analysiert und bei Angstreaktionen kommt es zur Ausschüttung von Stresshormonen wie Adrenalin und Noradrenalin. Das kann dazu führen, dass sich belastete An- und Zugehörige von terminal erkrankten Patient*innen in einem permanenten Stresszustand befinden. Die Sorge um den Kranken und das Erfordernis, den Alltag mit familiären und Anforderungen aufrechtzuerhalten, führen oft zu einem verzweifelten Ringen der Angehörigen um Stabilität und Normalität – in einer Situation, die von Instabilität und oft auch von einer permanenten Veränderung der Anforderungen geprägt ist.

Normalität aufrechtzuerhalten kann schwierig sein, wenn der Alltag durch die oft rasch wechselnden Bedürfnisse des Patienten geprägt ist. Weiters ist die Erfahrung von Normalität für Angehörige nur schwer möglich, wenn sie sich aufgrund der Betreuungausfgaben sozial isoliert fühlen. (Van Roij et al., 2019)

Palliative Care und Palliativpflege im Besonderen müssen daher familienzentriert betreuen, denn es wird kaum gelingen, einen Patienten umfassend zu betreuen, wenn sein soziales Umfeld nicht einbezogen wird. Von einer schweren Erkrankung ist die gesamte Familie betroffen, und diese Erkrankung wird in der Familie bewältigt (Wright et al., 2009). Der Einfluss des primären Bezugssystems der Patient*innen ist nicht zu unterschätzen, und deshalb muss – vor allem im Kontext von Palliative Care – konsequent von einer familienorientierten Pflege ausgegangen werden. Im englischen Sprachraum ist der Begriff „Family Nursing“ gebräuchlich. Dabei handelt es sich um einen systemischen Ansatz von Pflege, der davon ausgeht, dass eine Verschlechterung des Zustands des Kranken sich immer auf das gesamte Familien- und Bezugssystem auswirkt.

Auch in der familien- und umweltbezogenen Pflege nach der Theorie des systemischen Gleichgewichts von Friedemann und Köhlen (2010) stehen die Familie (im weitesten Sinne) und die verschiedenen Formen des Zusammenlebens im Vordergrund. Im systemischen Ansatz von Friedemann wird der einzelne Mensch nicht nur als Individuum, sondern immer auch in Beziehung zu seinem Umfeld gesehen. Familienorientierte Pflege betrachtet daher nicht nur die Patient*innen sondern das gesamte Familiensystem als Bezugspunkt der Pflege.

In Friedemanns Theorie des systemischen Gleichgewichts ist die Kongruenz, das Systemgleichgewicht, die Basis für Gesundheit. Diese „Gesundheit“ ist auch bei schwerer Krankheit und selbst im Sterben möglich. Gesundheit basiert laut Friedemann auf Systemkongruenz, auf dem vom Individuum definierten Gleichgewicht der Ziele, und zeigt sich durch ein „allgemeines Wohlgefühl“, das Kraft und Motivation gibt, sowie durch die Reduktion bzw. Abwesenheit von Angst.

Abb. 1: Das Systemgleichgewicht (Friedemann, Köhlen, 2010)

Befindet sich das (Familien-)System im Ungleichgewicht (Inkongruenz), entsteht Angst. Daher gilt das Bestreben eines Familiensystems stets dem Erhalt des Gleichgewichtes und damit auch der Reduktion von Angst. Es werden vier Ziele angestrebt:

► Stabilität

► Regulation/Kontrolle

► Wachstum

► Spiritualität

Wie der einzelne Mensch, so verfolgt auch das Familiensystem diese Ziele durch verschiedene Verhaltensweisen zur Systemerhaltung, Systemänderung, Kohärenz und Individuation. Eine detailliertere Darstellung der Theorie des systemischen Gleichgewichtes nach Friedemann würde den Rahmen dieses Büchleins sprengen, daher sei an dieser Stelle nur darauf hingewiesen, dass alle Verhaltensweisen der Angehörigen diese Ziele anstreben. Es geht also stets um das oft verzweifelte Bemühen, das systemische Gleichgewicht zu erhalten oder wiederherzustellen.

Für Pflegepersonen kann die Begegnung mit belasteten, vielleicht auch fordernden Angehörigen eine Herausforderung darstellen. Dabei ist jedoch stets zu bedenken, dass An- und Zugehörige oft im selben Maße von der Erkrankung betroffen sind wie der Patient. Sie bedürfen oft ebenso der Unterstützung wie die Patient*innen. Nach Friedemann tragen Pflegende die Verantwortung für die professionelle Gestaltung der pflegerischen Beziehung. Dabei ist es wichtig, die Stärken der Familie bzw. des sozialen Systems zu betonen und den Einzelnen und die Familie als Expert*innen anzuerkennen (Friedemann, Köhlen, 2010).

Die Bezugspersonen der Patient*innen stellen eine bedeutsame Ressource für die palliative Pflege dar. Sie sind tatsächlich Expert*innen, sie kennen den Patienten meist sehr gut und sie können ganz entscheidend zum Wohlbefinden der Erkrankten beitragen. Dabei spielt nicht nur die Nähe der Beziehung eine wesentliche Rolle, sondern auch die Art der Verbundenheit zwischen Patient und An- und Zugehörigen. Die Unterstützung durch die Bezugspersonen wird auch durch die Qualität der jeweiligen Beziehung beeinflusst. Die jeweilige Bindung und die verschiedenen Bindungsstile haben ebenfalls einen wesentlichen Einfluss auf die Beziehung zwischen den Angehörigen und Patient*innen.

Die Bedeutung einer sicheren Bindung in der Unterstützung Angehöriger

Bei der Bindung handelt es sich um ein biologisch determiniertes Grundbedürfnis, das über die gesamte Lebenszeit hinweg von zentraler Bedeutung für die Bewältigung von Herausforderungen und Krisen ist (Mauer et al., 2014). Das Bindungssystem entwickelt sich im Laufe des ersten Lebensjahres, es bleibt jedoch auch im Erwachsenenalter aktiv. In Situationen, die als bedrohlich erlebt werden, wird die Nähe zu anderen Personen gesucht, die Hilfe und emotionale Unterstützung bieten können. Daher sind für die Palliativbetreuung und insbesondere für die Unterstützung der Angehörigen die jeweiligen Bindungsmuster von Bedeutung, denn die Bedrohlichkeit der Situation triggert das Bindungssystem und frühkindliche Bindungserfahrungen werden wieder aktiviert. Darüber hinaus hat die Art des Bindungsmusters auch einen wesentlichen Einfluss auf das Fürsorgeverhalten der Angehörigen und auch auf ihre Fähigkeit, Hilfe zu suchen und anzunehmen.

Ausgehend von der Angewiesenheit eines Neugeborenen und der Beziehung zwischen dem Kind und seiner Mutter entwickelten John Bowlby und Mary Ainsworth (1973) ihre Bindungstheorie. Sie beschreibt die besondere Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen, die von den frühkindlichen Erfahrungen ausgeht: die Neigung, in Situationen hoher Belastung, Hilflosigkeit oder Angst Schutz und das Gefühl von Sicherheit bei einem fürsorglichen Gegenüber zu suchen (Mikulincer et al., 2002, S. 882). Bei den Bindungsmustern bzw. Bindungsrepräsentationen1 handelt es sich also um Sedimente früherer Beziehungserfahrungen, die späteres Beziehungsverhalten und -erwartungen in belastenden Situationen maßgeblich beeinflussen und entsprechend der individuellen Ausformung seelisches oder spirituelles Leiden lindern oder verstärken können (Müller, 2018, S. 17). Daher sind die bindungstheoretischen Konzepte nicht nur für die Gestaltung der Beziehungen zwischen Patient*innen, Angehörigen und Pflegepersonen relevant, sondern auch für die psycho-soziale Unterstützung in der Palliativbetreuung. Dabei ist zu betonen, dass der jeweilige Bindungsstil keinesfalls ein Persönlichkeitsmerkmal darstellt, sondern das Resultat der bindungsspezifischen Entwicklung ist.

Das Bindungsverhalten, wie es Bowlby (2010) beschreibt, ist die Absicht von Menschen, in angsteinflößenden und bedrohlichen Situationen die Nähe und Unterstützung von (vermeintlich) kompetenteren Personen zu suchen. Angehörige von schwerkranken Patient*innen sehen sich mit zahlreichen beängstigenden und bedrohlichen Situationen konfrontiert, die zu einer Aktivierung früh in der Kindheit entwickelter Bindungsmuster führen können.

Die Bindungstheorie unterscheidet zwischen sicheren und unsicheren Bindungsmustern. Bei einem sicheren Bindungstyp kann sich das Kind auf die schützende Präsenz der Mutter verlassen, die Mutter (oder eine andere Bezugsperson) reagiert mitfühlend und liebevoll auf die Bedürfnisse des Kindes. Ein zentrales Konzept der Bindungstheorie ist die „sichere Basis“. Der zuverlässige Kontakt zu einer Bindungsperson (meist zu den Eltern) gewährleistet eine sichere Basis für das Kind, die ihm in bedrohlich erscheinenden Situationen Schutz und Unterstützung gewährt.

Exkurs: Bis vor wenigen Jahrzehnten galt die Empfehlung, dass ein Säugling keinesfalls „verwöhnt“ werden dürfe und dass es sogar „gesund“ sei, den Bedürfnissen des Kindes nicht gleich nachzukommen. Eltern wurde geraten, das Kind schreien/weinen zu lassen, um es nicht zu „verwöhnen“. Es ist leicht nachvollziehbar, dass ein Säugling, dessen einzige Ausdrucksmöglichkeit das Weinen ist, in diesem Fall erlebt, dass er sich auf seine Bezugspersonen nicht verlassen kann und dass seine Bedürfnisse nicht zuverlässig erfüllt werden. Das Kind wird kaum eine sichere Basis erfahren können und mit hoher Wahrscheinlichkeit ein unsicheres Bindungsmuster entwickeln. Dieser frühkindliche Bindungsstil wird sich im Laufe des Lebens weiterentwickeln und verändern, allerdings werden diese ersten, frühkindlichen Bindungserfahrungen in späteren, krisenhaften Situationen wieder aktiviert. Daher besteht die Vermutung, dass viele der heute alten Menschen in ihren ersten Lebensjahren aufgrund der damaligen pädagogischen Empfehlungen nur schwer eine sichere Bindung entwickeln konnten.

Das biologisch angelegte Bindungssystem entwickelt sich aber nicht nur in Eltern-Kind-Beziehungen, wie ursprünglich von Bowlby (1973) erforscht, auch die Behandlungsbeziehungen im Gesundheitssystem weisen Merkmale einer Bindungsbeziehung auf (Hloucal et al., 2012, S. 143). Es ist davon auszugehen, dass eine schwere und/oder terminale Erkrankung und Pflegebedürftigkeit als bedrohlich und krisenhaft erlebt wird, nicht nur von den betroffenen Patient*innen, sondern auch von ihren Bezugspersonen. Daher ist die palliative Situation, besonders auch durch die Auseinandersetzung mit der drohenden endgültigen Trennung, potenziell eine bindungsrelevante Situation für Patient*innen und Angehörige (Peterson, 2005, S. 277–292).

Die jeweiligen Bindungsmuster haben Einfluss auf die Gestaltung von (Pflege-)Beziehungen und auf das Mobilisieren von Unterstützung. Die Beziehung zwischen den Patient*innen, ihren Angehörigen und den Pflegepersonen stellt daher eine bindungsrelevante Beziehung dar, in der auch die Pflegenden als Bindungspersonen fungieren. Sie haben grundsätzlich die Möglichkeit, nicht nur den Patient*innen, sondern vor allem auch deren Angehörigen eine sichere Basis zu bieten (Spetz et al., 2008). Wie gut es gelingt, den Angehörigen Sicherheit zu vermitteln, wird jedoch unter anderem auch von den jeweiligen früheren Bindungserfahrungen und dem Bindungsstil der Angehörigen abhängen.

Bei einer sicheren Bindung reagiert die Bindungsperson (z. B. die Mutter bzw. die Pflegeperson) zuverlässig und ihr Verhalten ist (für das Kind bzw. für die Patient*innen/für die Angehörigen) vorhersehbar und unterstützend. Das Angebot einer sicheren Basis bzw. einer sicheren Bindung trägt entscheidend dazu bei, dass sich Patient*innen und auch deren Angehörige sicher fühlen können. In Anlehnung an die Bedürfnispyramide nach Maslow (Zalenski, Raspa, 2006) kann das Erleben von Sicherheit als wesentlicher Faktor, vor allem auch in der häuslichen Palliativbetreuung, gelten. Zugleich hängt auch die erlebte Lebensqualität betreuender Angehöriger ganz entscheidend vom Ausmaß ihrer Sicherheit ab (Axelsson, Sjoden, 1998).

In der Gewährleistung einer sicheren Basis für pflegende Angehörige sind die Erreichbarkeit und die Kontinuität des Versorgungsteams, das Gefühl, über ihre Handlungen informiert zu sein und die Art der Kommunikation mit dem Team wichtige Faktoren. Die Erfahrung einer sicheren Basis durch das betreuende Team bedeutet für die Angehörigen eine ganz wesentliche Unterstützung; sie vermittelt ihnen ein Gefühl von Kontrolle über die oft als bedrohlich empfundene Situation. Darüber hinaus ermöglicht diese sichere Basis den Angehörigen und Patient*innen auch entspannte Phasen, in denen Sorgen und die Angst vor der Zukunft in den Hintergrund treten können.

In der Praxis erweist sich die Betreuung von Patient*innen und Angehörigen mit sicherem Bindungsmuster meist als unkompliziert. Die Angehörigen sind zuverlässig und präsent und sowohl die Patient*innen als auch ihre Angehörigen können offen über die Situation sprechen und auch ihre Gefühle ausdrücken. Wünsche und Bedürfnisse können geäußert und angebotene Unterstützung kann angenommen werden. Die Beziehung zwischen den Patient*innen und ihren Angehörigen ist von Empathie und Zuneigung geprägt. Die An- und Zugehörigen zeigen sich offen und kooperativ und sie erweisen sich als sehr unterstützend für die Patient*innen. Ängste und Sorgen können besprochen und auftretende Probleme können gemeinsam gelöst werden (Petersen, 2007). Angehörige mit sicherem Bindungsstil benötigen meist nur wenig Unterstützung, die Angebote des Teams können gut angenommen werden und die Betreuung gestaltet sich problemlos.

Einem unsicheren Bindungsmuster liegt die Erfahrung zugrunde, dass selbst in Notsituationen Hilfe nicht zuverlässig verfügbar ist. Ein kleines Kind, das sich naturgemäß in völliger Angewiesenheit auf die Zuwendung seiner Bezugspersonen befindet, wird in derartigen Situationen Strategien entwickeln müssen, um mit diesem existenziell bedrohlichen Mangel zurechtzukommen. Diese Strategien können bis ins Erwachsenenalter wirksam bleiben und die in der frühen Kindheit entwickelten Muster werden besonders in Krisensituationen reaktiviert.

Vereinfacht dargestellt, kann unsicheres Bindungsverhalten in drei Kategorien unterteilt werden:

► unsicher-distanziert/vermeidend

► unsicher-ambivalent/verstrickt

► unsicher-desorganisiert/desorientiert

Unsicher-distanziert/vermeidende Bindung: Menschen mit unsicher-distanziertem oder vermeidendem Bindungsverhalten erleben Beziehungen, in denen sie von anderen abhängig sind, mit großer Unsicherheit oder sehr angstvoll, weshalb sie alle Situationen, in denen sie auf fremde Hilfe angewiesen sind, zu vermeiden suchen (Müller, 2018, S. 36). Die eigene Bedürftigkeit wird abgewehrt und nicht bewusst wahrgenommen, zugleich besteht jedoch eine besondere Fähigkeit, unbekannte und belastende Situationen zu bewältigen. Diese Fähigkeit kann jedoch nur aufrechterhalten werden, solange keine Angewiesenheit auf die Hilfe anderer besteht. Und da diese Personen sich grundsätzlich scheuen, Schwäche und Hilfebedürftigkeit zu zeigen, wird die Not in der sie sich befinden von den Betreuenden häufig übersehen.

In der Betreuung von Menschen mit unsicher-vermeidendem Bindungsstil scheint oft eine deutliche Distanz zu herrschen und es findet relativ wenig Austausch zwischen Angehörigen und dem Team statt. In den Gesprächen mit den Angehörigen geht es oft um Administratives, um das Pflegegeld oder um die Beschaffung von Pflegehilfsmitteln. Auch der Kontakt zwischen Angehörigen und Patient*innen wirkt emotionslos, eher distanziert, funktional und neutral. Es gibt kaum körperliche Berührungen, Angehörige stehen oft am Ende des Bettes oder sie setzen sich in einigem Abstand zum Bett (Petersen, 2007, S. 5).

Von den Patient*innen und besonders auch von ihren Angehörigen wird die Schwere der Erkrankung oft verleugnet und Gefühle wie Trauer oder Angst werden selten gezeigt. Wenn überhaupt, so finden Angst und Unruhe nur im Mimischen Ausdruck, wie Petersen (2007) beschreibt. Auch das familiäre Umfeld erscheint distanziert und passiv. Die Betreuungspersonen werden auf Abstand gehalten und müssen Widerstände überwinden, um eine angemessene Betreuung leisten zu können. Aussagen wie „Das müssen wir alleine schaffen“ oder „Nur nie auf andere angewiesen sein!“ sind typisch für ein unsicher-distanziertes oder vermeidendes Bindungsverhalten.

Unsicher-ambivalent/verstrickte Bindung: Aufgrund früherer instabiler und unsicherer Beziehungserfahrungen bleiben diese Menschen stets auf die äußere Versicherung anderer angewiesen, von denen sie sich auch abhängig fühlen (Müller, 2018, S. 39). Anders als bei einem unsicher-distanzierten oder vermeidenden Bindungsverhalten sind diese Patient*innen/Angehörigen durch ihren oft überhöhten Anspruch auf Aufmerksamkeit kaum zu übersehen.

Personen mit unsicher-ambivalenten/verstrickten Bindungsrepräsentationen fällt es außerordentlich schwer, mit Trennungen und Verlusten umzugehen. Auch können sie Situationen, in denen sie alleine und auf autonome Entscheidungen angewiesen sind, nur schwer bewältigen (Müller, 2018, S. 41). Sie verfügen jedoch über die ausgeprägte Fähigkeit, in derartigen Situationen die Unterstützung anderer Menschen zu mobilisieren.

In der Betreuung von Personen mit unsicher-ambivalentem Bindungsmuster lässt sich zwischen den Patient*innen und ihren Angehörigen oft eine überbetonte Nähe mit übertrieben scheinenden Gefühlsäußerungen beobachten. Die Patient*innen kommen oft kaum dazu, sich zu artikulieren, weil die Angehörigen sie rasch unterbrechen. Wird zum Beispiel die Patientin gefragt, wie sie sich heute fühlt, antworten die Angehörigen an ihrer Stelle.

Angehörige mit unsicher-ambivalentem Bindungsmuster betonen oft den engen Familienzusammenhalt. In ihren Schilderungen wird aber auch die Abhängigkeit von der Bindungsperson, die keine gesunde Ablösung zulässt, deutlich. („Ich habe bewusst nicht geheiratet, um ganz für meine kranke Mutter da sein zu können“). Die Angehörigen wechseln zwischen dem Bedürfnis, sich aufzuopfern, und dem Gefühl der Überforderung. Häufig signalisieren sie ihre Erschöpfung, lehnen zugleich jedoch alle Angebote zur Entlastung ab. Auch bemühen sich pflegende Angehörige mit einem unsicher-ambivalenten Bindungsstil um eine konstante Präsenz und nicht nur um eine bestmögliche, sondern eine geradezu ideale Betreuung der Patientin.

In der Pflege und Betreuung von Patient*innen und Angehörigen mit unsicher-ambivalentem Bindungsmuster ist es von besonderer Bedeutung, ihre Wünsche und Bedürfnisse achtsam wahrzunehmen und deutlichen Respekt vor dem Recht der Patient*innen auf Selbstbestimmung zu zeigen. Gleichzeitig sollten aber auch die Angehörigen entsprechende Unterstützung erfahren. Die Bindungspersonen (Pflegepersonen) sollten Sicherheit ausstrahlen und dabei stets den Respekt vor der Eigenständigkeit der Patient*innen bzw. der Angehörigen wahren. So können diese zu emotionaler Beruhigung gelangen (Petersen, 2007).

Familiengespräche, in denen klare Strategien vereinbart werden, aber auch das hohe Engagement der Angehörigen gewürdigt wird, werden von Angehörigen mit unsicher-ambivalentem Bindungsstil als besonders hilfreich wahrgenommen.

Unsicher-desorganisiert/desorientierte Bindung: Dieses Bindungsmuster tritt bei Personen auf, die in ihrer frühen Kindheit nicht auf die fürsorgliche Zuwendung einer verlässlichen Bindungsperson vertrauen konnten. Eltern mit Alkohol- oder Drogenproblemen sind zum Beispiel oft nicht in der Lage, den Bedürfnissen des Kindes zuverlässig und vorhersehbar zu begegnen. Das Kind macht die Erfahrung, dass es keine „sichere Basis“ gibt.

Reagieren die Bindungspersonen mit körperlicher oder seelischer Gewalt auf die Bedürfnisse, ergibt sich ein Dilemma für das schutzbedürftige Kind, denn Bezugspersonen, die eigentlich ihre Zuflucht sein sollten, sind gleichzeitig Quelle der Bedrohung und großer Angst (Müller, 2018, S. 42). In wissenschaftlichen Untersuchungen wird immer wieder ein Zusammenhang zwischen Misshandlung bzw. Missbrauch und einer desorganisierten/desorientierten Form von Bindung festgestellt (Rygaard, 2006, S. 4). Derartige traumatische Erfahrungen zerstören die Bindungssicherheit und der Säugling oder das Kleinkind kann keinerlei Bindungsstrategien entwickeln. Es kommt zu einem desorganisierten Bindungsverhalten (Petersen, 2007).

Auch traumatische Kriegserfahrungen können zu diesem Bindungsmuster führen. Petersen weist jedoch ausdrücklich darauf hin, dass ein diesbezügliches Nachfragen nur mit größter Behutsamkeit und Feinfühligkeit erfolgen darf, weil dadurch die erlebten Ängste erneut ausgelöst werden können. Das kann zu psychoseähnlichen Angst- und Panikreaktionen führen (Petersen, 2007).

Charakteristisch bei Angehörigen und Patient*innen mit einem desorganisierten Bindungsverhalten ist das Fehlen von adäquaten Bewältigungsmechanismen (Müller, 2018, S. 41). Bei Menschen mit desorganisiertem Bindungsmuster, bei Patient*innen wie auch bei ihren Angehörigen, muss mit unangemessenen, mitunter auch bizarren Verhaltensweisen gerechnet werden, schwankend zwischen Panik, Angst und Aggression. Das Verhalten ist kaum voraussagbar. Hier sind die Pflegepersonen gefordert, den vielleicht nur schwer verständlichen Verhaltensweisen mit Mitgefühl und dem gebotenen Respekt zu begegnen und jegliche Form der Abwertung zu vermeiden.

In den Gesprächen mit den Angehörigen fallen häufig das große Ausmaß von Angst bis hin zur Panik und auch eine ausgesprochene Labilität auf.

Für das betreuende Team stellt die Unterstützung dieser Familien eine beträchtliche Herausforderung dar. Es bedarf einer guten Absprache innerhalb des Teams und oft auch supervisorischer Begleitung.

Die Angehörigen wie auch die Patient*innen brauchen klare, verlässliche Abmachungen und Strukturen, absolut klare Grenzen und bestmögliche Kontinuität in der Betreuung. Konstante Pflegebeziehungen sind von besonderer Bedeutung, wie auch das Mit-Aushalten starker emotionaler Schwankungen. Für Menschen mit desorganisiertem Bindungsverhalten ist ein sicheres Bindungsangebot von besonderer Bedeutung. Mit einem sicheren Bindungsangebot können die Betreuenden zu einer korrigierenden Bindungserfahrung verhelfen, indem sie auf die Bedürfnisse, nicht nur der Patient*innen, sondern auch der Angehörigen aufmerksam und liebevoll, aber auch klar strukturiert und Grenzen aufzeigend reagieren (Petersen, 2007).

Unterstützung durch ein sicheres Bindungsangebot

Um Patient*innen und Angehörige durch ein sicheres Bindungsangebot zu unterstützen, empfiehlt es sich, auf folgende Aspekte besonders zu achten:

► Zuverlässige Präsenz, vereinbarte Zeiten einhalten;

► Mitgefühl und feinfühlige Haltung der Pflegeperson;

► Angehörige als Partner*innen in der Betreuung respektieren;

► Achtung vor der Kompetenz der Angehörigen;

►proaktiv Information bieten und wiederholte Ermutigung, Fragen zu stellen;

► den Emotionen der Angehörigen wertschätzend und respektvoll begegnen;

► Respekt vor den individuellen Bewältigungsstrategien zeigen;