Palliative Wundversorgung in der Praxis - Angelika Feichtner - E-Book

Palliative Wundversorgung in der Praxis E-Book

Angelika Feichtner

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Beschreibung

Bei nicht heilenden, persistierenden Wunden bei Patientinnen und Patienten in palliativer Situation besteht trotz optimaler Versorgung oft kaum eine realistische Hoffnung auf eine Besserung der Wundsituation. Für professionell Betreuende kann die Versorgung dieser Wunden eine Herausforderung darstellen, auch weil sich Standardtherapien meist als unzureichend erweisen. Es braucht eine an den individuellen Bedarf angepasste und oft auch kreative Wundversorgung, um die Lebensqualität und auch die Selbstachtung der Patientinnen und Patienten bestmöglich zu erhalten. Dieses Buch bietet nicht nur komprimierte Informationen zur palliativen Wundversorgung, sondern auch zahlreiche, praktische Hinweise.

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Angelika Feichtner, Hilde Kössler

Palliative Wundversorgung in der Praxis

Angelika Feichtner, MSc

Diplom in Palliative Care der International School of Cancer Care in Oxford, langjährige Pflege- und Lehrpraxis im Bereich von Palliative Care und Hospizarbeit.

Hilde Kössler, MMSc

DGKP, MSc palliative care, MSc advanced nursing education, langjährige Pflegepraxis im Bereich von Palliative Care und Hospizarbeit, Lektorin im Hochschulbereich und Weiterbildungssektor.

Trotz größter Bemühungen ist es nicht gelungen, alle Abbildungsquellen zu eruieren. Sollten Ansprüche gestellt werden, bitten wir darum, sie dem Verlag mitzuteilen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Angaben in diesem Buch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr, eine Haftung der Autorinnen oder des Verlages ist ausgeschlossen.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung sowie der Übersetzung, sind vorbehalten.

1. Auflage 2020

Copyright © 2020 Facultas Verlags- und Buchhandels AG

facultas Verlag, Stolberggasse 26, 1050 Wien, Österreich

Lektorat: Sabine Schlüter

Umschlagbild: © Maya23K, istockphoto.com

Satz: Wandl Multimedia-Agentur

Druck und Bindung: finidr, Tschechien

Printed in the EU

ISBN 978-3-7089-1996-6

e-ISBN 978-3-99030-998-8

Vorwort

„Krankenpflege ist eine Kunst und sie fordert, wenn sie Kunst werden soll,

eine ebenso große Hingabe, eine ebenso große Vorbereitung,

wie das Werk eines Malers oder eines Bildhauers […]

Pflege ist eine der schönen Künste, fast hätte ich gesagt,

sie ist die schönste der schönen Künste.“

Florence Nightingale, 1859

Krankenpflege als Handwerk und Kunst – auf das Spezialgebiet der Palliativpflege trifft dies in besonderer Weise zu. Menschen in palliativen Situationen einer Erkrankung sind mit verschiedenen, oft sehr belastenden Symptomen konfrontiert, mit zahlreichen Verlusten, mit existenziellen Leiderfahrungen und letztlich auch mit ihrem Lebensende.

Patient*innen mit nichtheilenden Wunden, wie Dekubitus oder Tumorwunden, erleben eine oft dramatische Veränderung ihres Körperbildes mit schwerwiegenden Folgen. Da diese Wunden häufig nicht nur mit Schmerzen, sondern auch mit äußerst unangenehmen Gerüchen und starker Sekretbildung verbunden sind, lösen sie bei den Betroffenen Gefühle von Scham und Abneigung oder gar Ekel dem eigenen Körper gegenüber aus. Aus Scham und um weitere Beschämung zu vermeiden, ziehen sich die Patient*innen zurück. Dieser Rückzug in einer Situation, in der Zuwendung und Nähe von besonderer Bedeutung sind, erweist sich oft als fatal, besonders für die Patient*innen selbst.

Angehörige können so überfordert und hilflos sein, dass sie sich in ihrer Verzweiflung ihrerseits vom Patienten bzw. von der Patientin distanzieren. Dieser Rückzug der Angehörigen wird von den Patient*innen als zusätzliche Belastung erlebt, denn es bestätigt häufig ihre Ansicht, dass sie niemandem mehr zumutbar sind. So erleben sowohl die Patient*innen als auch ihre Angehörigen auf ihre jeweils eigene Art und Weise eine persönliche Isolation.

Für Pflegepersonen stellt die Betreuung von Patient*innen mit komplexen Wundsituationen oft eine beträchtliche Herausforderung dar, die pflegerische Routine nur begrenzt zulässt. Zu den pflegerischen Zielen gehören die bestmögliche Linderung der Symptome sowie die psychosoziale Unterstützung der Patient*innen und auch ihrer Angehörigen.

Das Bemühen gilt der Erhaltung der Lebensqualität und der personalen Würde der Patient*innen. Die Auswirkungen exulzerierender Wunden tangieren die Würde der Patient*innen in besonderer Weise. Wie Chochinov et al. (2002, S. 2028) belegen konnten, besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen verletzter Würde, Depression und Hoffnungslosigkeit. Menschen, die sich in ihrer Würde verletzt fühlen, äußern besonders häufig einen Sterbewunsch. Eine Pflege, die Würde bewahrt, ist daher oberstes Gebot. Dabei ist der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Patient*in und Pflegeperson von besonderer Bedeutung. Die oft zeitaufwändige Wundversorgung bietet die Möglichkeit intensiver Zuwendung, und sie kann, wenn sie entsprechend gestaltet wird, dazu beitragen, die Vertrauensbasis zu stärken.

In der Wundversorgung müssen Pflegepersonen mitunter eigene Grenzen überwinden und Ekelgefühle unterdrücken. Im Bestreben, eine evidenzbasierte, fachgerechte Versorgung der Wunde und einen ästhetisch akzeptablen Verband zu gewährleisten, setzen Pflegende nicht nur ihr Wissen und Können ein, sondern auch ihre Kreativität und ihr Mitgefühl.

Ist die Heilung einer Wunde unrealistisch geworden, liegt die Hauptverantwortung der Versorgung bei den Pflegenden. Sie bleiben an der Seite der Patient*innen, und sie bieten ihnen Unterstützung und Beistand in ihren Leiderfahrungen.

Professionelle Pflege ist Handwerk, Wissenschaft und Kunst zugleich, und palliative Pflege stellt darüber hinaus das bedeutsamste würdebewahrende Element für Menschen mit nichtheilenden Wunden dar.

Angelika Feichtner und Hilde Kössler

Dank

Unser Dank gilt Frau Mag.a Cornelia Russ vom Facultas-Verlag für die Idee zu diesem Buch und für die sehr erfreuliche Zusammenarbeit sowie Frau Mag.a Sabine Schlüter für das sorgfältige Lektorat.

Zum Buch

Die Entscheidung, welche Aspekte palliativer Wundversorgung in dieses Buch aufgenommen werden und auf welche verzichtet werden muss, erwies sich als schwierig.

Alle nichtheilenden Wunden erschienen uns gleich wichtig, trotzdem musste eine Auswahl getroffen werden. Daher haben wir uns im Wesentlichen auf die in palliativen Situationen am häufigsten auftretenden Wunden beschränkt.

Da dieses Buch auch als kleines Nachschlagewerk dienen soll, wiederholen sich einzelne Aspekte in verschiedenen Kapiteln. So wird z. B. „Geruch“ nicht nur im entsprechenden Kapitel thematisiert, sondern auch im Kapitel über Ekel und bei den Möglichkeiten einer geruchsreduzierenden Verbandtechnik.

Soweit verfügbar, haben wir uns auf evidenzbasierte Empfehlungen wie z. B. die aktuellen S3-Leitlinien gestützt. Aber auch einige in der Palliativpflege-Praxis bewährte Strategien zur Symptomlinderung haben wir trotz noch fehlender Evidenz miteinbezogen. Wir hoffen, damit allen Professionen, die an der Betreuung von Menschen mit nichtheilenden Wunden beteiligt sind, Impulse und Unterstützung zu bieten.

Inhalt

Vorwort

Teil 1: Der Mensch und die Wunde

Einleitung

Die Bedeutung von nichtheilenden Wunden

Bedeutung für Patient*innen

Bedeutung für Angehörige

Bedeutung für Pflegepersonen

Spezielle Herausforderungen in der palliativen Wundversorgung

Ekel

Ekel und die Bedeutung von Empathie und Mitgefühl

Hilfreiche Strategien zur Bewältigung von Ekelgefühlen

Selbstekel der Patient*innen

Ekelgefühle der Angehörigen

Scham

Körperscham

Scham-Angst

Maskierung und Abwehr der Scham

Strategien zur Bewältigung der Scham

Körperbildveränderung

Belastung durch Zerstörung des Körperbildes

Situation der Angehörigen

Pflegerische Unterstützung bei Körperbildveränderungen

Teil 2: Die Wunde und ihre Behandlung

Ziele palliativer Wundbehandlung

Lebensqualität vor Heilungsanspruch

Wunddokumentation

Wundanamnese

Wundassessment

Assessment wundassoziierter Symptome

Schmerz

Pruritus (Juckreiz)

Exsudat

Geruch

Blutungen

Bildgebende Dokumentation

Ausgewählte Wunddokumentationsinstrumente und -modelle

Der Verbandwechsel

Grundprinzipien des Verbandwechsels

Schonendes Ablösen des Verbandes und Reinigung der Wunde

Nass-trocken-Phase

Spüllösungen

Antibiotika

Komplementäre Spüllösungen

Débridement

Wundrandschutz

Auswahl geeigneter Verbandmaterialien

Wunddistanzgitter

Schaumverbände

Superabsorber

Kollagen-Wundauflagen

Hydrophobe Wundauflagen

Hydrokolloide, Hydrogele

Alginate

Hämostyptisches Verbandmaterial

Folienverbände

Hautschutzfilme

Fixierungen und Wundrandschutz

Beschichtungen und Zusätze

Wundauflagen für besondere Wundsituationen

Lokale Unterdrucktherapie

Die Zeit des Verbandwechsels gestalten

Schmerz

Arten von Schmerz

Nozizeptiver Schmerz

Neuropathischer Schmerz

Psychogener Schmerz

Akuter chronischer Grund- und Durchbruchschmerz

Prozeduraler Schmerz

Wind-up-Phänomen

Schmerztoleranz

Schmerz als multidimensionales Geschehen – das bio-psycho-sozial-spirituelle Schmerzkonzept

Physische Ebene

Psychosoziale Ebene

Spirituelle Ebene

Schmerzgedächtnis

Ursachen von Schmerz bei chronischen und nichtheilenden Wunden

Schmerzauslösende Faktoren beim Verbandwechsel

Schmerztherapie

Schmerzreduktion beim Verbandwechsel

Lokale Maßnahmen zur Schmerzlinderung

Nichtpharmakologische und komplementäre Maßnahmen

Exsudat

Mazeration und Hautschutz

Auffangen von Sekret

Verband bei starker Exsudation

Wundreinigung bei Exsudation

Geruch

Ursachen von Wundgeruch

Maßnahmen zur Geruchsreduktion

Pruritus

Problematik des Pruritus

Linderung von Pruritus

Blutungen

Kleine, lokale Blutungen

Stärkere Blutungen

Terminale Blutung

Vorausschauende Krisen- und Notfallplanung

Debriefing

Teil 3: Wundarten

Benigne Wunden – Dekubitus

Definitionen

Entstehung eines Dekubitus

Lokalisation

Risikofaktoren für das Entstehen eines Dekubitus

Intrinsische Risikofaktoren

Extrinsische Risikofaktoren

Durch Pflege verursachtes Dekubitusrisiko

Einschätzung des Dekubitusrisikos

Beurteilung der Hautsituation

Einschätzung durch Dekubitusrisiko-Skalen

Dekubitusprävention und -früherkennung mittels smarter Technologie

Dekubitus-Früherkennung durch alternative forensische Lichtquellen

Dekubitus-Kategorien

Dokumentation eines Dekubitus

Dekubitusprävention

Grundsätze der Dekubitusprävention

Dekubitusprävention durch technische Innovationen

Sinn und Unsinn von Positionierungsplänen

Dekubitusprophylaxe als Belastung für die Patient*innen

Besonderheiten der Positionierung bei Patient*innen in der Sterbephase

Dekubitus am Ende des Lebens (Kennedy Terminal Ulcer) und Versagen der Haut

Charakteristika eines Kennedy-Geschwürs

Trombley-Brennan-Gewebeschädigung

Druckverteilende und entlastende Hilfsmittel

Übersichtstabelle Anti-Dekubitus-Systeme

Ungeeignete Hilfsmittel

Dekubitusprophylaxe in der häuslichen Betreuung

Symptome im Zusammenhang mit Dekubitus

Unterscheidung zwischen Dekubitus und anderen Haut- und Gewebedefekten

Behandlung eines Dekubitus

Maligne und exulzerierende Wunden

Wunden im Urogenital- oder HNO-Bereich

Fisteln

Infizierte Wunden

Gangrän

Trockenes Gangrän

Feuchtes Gangrän

Gasgangrän oder Gasbrand

Strahlenschäden der Haut

Hautschäden durch Lymphabflussstörungen

Teil 4: Allgemeines und Spezielles zu Therapie, Umfeld, Lebensphase

Medizinische Begleit- und Substitutionstherapien

Chemo- und Radiotherapie

Antibiose

Blutersatztherapie

Chirurgisches Wundmanagement

Spezielle Therapien

Lasertherapie

LED-Lichttherapie

Elektrostimulation

Ultraschallassistierte Wundreinigung (UAW)

Therapielarven (biologisches Débridement)

Komplementäre und alternative Therapien (CAM)

Begriffsdefinitionen

Anthroposophische Heilkunst

Aromatherapie

Homöopathie

Pflanzenheilkunde

Weitere komplementäre Therapien

Palliative Wundversorgung in der häuslichen Pflege

Wundversorgung in der Terminalphase

Literatur

Anhang

Teil 1

Der Mensch und die Wunde

Einleitung

Zu allen Zeiten haben Menschen verschiedene Strategien zur Behandlung und Heilung von Wunden eingesetzt. So beschreibt ein altägyptisches Papyrus-Dokument aus dem Jahr 1400 v. Chr. die Verwendung einer Paste aus Honig und Fett auf Gaze aufgetragen, um offene Wunden zu behandeln (Henry/Garner, 2003, S. 483). Das nachweisliche Wissen, dass eine Wunde sauber zu halten ist und verbunden werden muss, reicht bis 2100 v. Chr. zurück. In einer sumerischen Tontafel sind die „drei heilenden Gesten“ der Wundversorgung festgehalten: Reinigen der Wunde mit Bier und heißem Wasser, das Auftragen von Mischungen aus Kräutern, Salben und Ölen und das Verbinden der Wunde (Broughton et al., 2006, S. 8).

In einem weiteren, noch erhaltenen Papyrus aus dem Jahr 1500 v. Chr. sind Anleitungen zur Stillung von Blutungen enthalten. Es enthält die Empfehlung, Blutungen „mit Feuer zu verbrennen“ und damit zum Stillstand zu bringen. In Homers „Ilias“ wird ein Zauberspruch zur Blutstillung empfohlen (Broughton et al., 2006, S. 9). Heute müssen wir uns nicht auf Zaubersprüche verlassen – wir können, dank intensiver Forschung, auf deutlich effektivere Maßnahmen zur Wundversorgung zurückgreifen. Allerdings wurden viele der modernen Praktiken bereits vor Jahrtausenden angewandt; sie erfahren heute aber eine evidenzbasierte Weiterentwicklung. Das deklarierte Ziel liegt in der Heilung einer Wunde bzw. zumindest in einer Verbesserung der Wundsituation, und die betroffenen Patient*innen nehmen Belastungen auf sich, um das Ziel der Wundheilung zu erreichen.

Erweist es sich aber, dass eine Wunde trotz allen Bemühens keine Tendenz zur Heilung zeigt, löst das bei den Patient*innen Trauer, Frustration und Enttäuschung aus. Auch für die Behandelnden stellt eine persistierende, nichtheilende Wunde eine Herausforderung dar. Das erklärt teilweise auch die Tatsache, dass im Handel erhältliche Verbandmaterialien meist mit der Aussicht auf Heilung oder zumindest Besserung der Wundsituation angepriesen werden. Die Tatsache, dass es Wunden gibt, die nicht heilbar sind, sondern sich kontinuierlich ausdehnen und verschlechtern, gerät mitunter aus dem Blickfeld. Umso mehr sind Patient*innen in palliativen Situationen einer Erkrankung darauf angewiesen, dass ihre Pflegepersonen nicht nur über die fachliche Kompetenz in der Versorgung dieser Wunden verfügen, sondern auch über die erforderliche Kreativität, um mit dem verfügbaren Verbandmaterial eine zufriedenstellende Symptomlinderung zu erreichen.

Bei nichtheilenden Wunden bei Patient*innen in der palliativen Situation einer Erkrankung handelt es sich meist um Dekubitus oder um Tumorwunden aufgrund von Hautmetastasen oder Exulzerationen. Im Folgenden wird die Bedeutung nichtheilender Wunden daher am Beispiel dieser beiden Wundtypen beschrieben.

Obwohl persistierende, nichtheilende Wunden unterschiedliche Ursachen haben können, so ist ihnen doch gemein, dass sie fast immer eine verheerende Auswirkung auf die Lebensqualität der Patient*innen haben. Anders als bei potenziell heilbaren Wunden besteht bei diesen Wunden trotz optimaler Versorgung kaum eine realistische Hoffnung auf Besserung der Wundsituation. Im Gegenteil, die Wunden tendieren zum Wachstum. Wundbedingte Symptome wie Schmerzen, starke Exsudation, Geruchsbildung und die hohe Blutungsneigung stellen eine große Belastung für die betroffenen Patient*innen dar.

Die Bedeutung von nichtheilenden Wunden

Bedeutung für Patient*innen

Maligne Wunden beginnen häufig unscheinbar, mit Hautveränderungen, die zunächst wie Krusten aussehen und von den Patient*innen oft als harmlose, lokale Hautveränderung fehlinterpretiert werden. Die ursprünglich kleinen Wunden werden rasch größer und tiefer, sie können Krater und Fisteln bilden und zunehmend schmerzhaft sein. Durch starke Exsudatbildung sind häufige und für die Patient*innen belastende Verbandwechsel erforderlich. Die hohe Blutungsneigung der Wunde und ein äußerst unangenehmer Wundgeruch führen bei den betroffenen Patient*innen häufig zu einem diffusen Gefühl der Bedrohung. Mit der Unberechenbarkeit der Wunde kann das Vertrauen in den eigenen Körper verlorengehen und es kann die Empfindung von Kontrollverlust, Abhängigkeit und Ausgeliefertsein entstehen (siehe auch den Abschnitt über die Körperbild-Veränderung, S. 44-50).

Exulzerierende maligne Wunden treten bei 5-10 % aller Tumorpatient*innen im fortgeschrittenen Stadium der Tumorerkrankung auf. Am häufigsten sind Brust, Kopf und Hals betroffen (Witte, 2018, S. 115). Eine immer größer werdende maligne Wunde wird von den Betroffenen als sichtbares Zeichen der fortschreitenden Tumorerkrankung und als permanente Erinnerung an die Unheilbarkeit und auch an den sich nähernden Tod wahrgenommen. Auch Maida et al. (2016, S. 12) beschreiben diese Wunden als gefühlte und auch sichtbare Stigmata einer Tumorerkrankung. Wunden im Bereich des Kopfes lassen sich nicht verbergen, und die für alle wahrnehmbare Entstellung führt zu Scham, Rückzug, zur Isolation der Patient*innen und zu tiefen Leiderfahrungen.

„Menschen mit malignen Wunden nehmen die Progression der Wunde oft nicht nur als Zeichen des Fortschreitens der Erkrankung wahr, sondern auch als Chiffre des sich nähernden Lebensendes. Damit ist eine persistierende maligne Wunde auch Ausdruck einer doppelten Bedrohung, und sie ist mit Angst, Frustration und Leid verbunden“ (Bird, 2000, o. A.).

Eine sich permanent ausdehnende maligne Wunde mit üblem Wundgeruch und starker Exsudation kann zur Erfahrung eines entgrenzten Körpers (unbounded body) führen, eines Körpers, dem man nicht mehr vertrauen kann. Damit sind oft ungeheure Scham und Ekel verbunden (Lawton, 1998, S. 128). Manche Patient*innen reagieren auf diese für sie unerträgliche Situation nicht nur mit Rückzug und Verzweiflung, sondern auch mit einem Sterbewunsch. Daher bedarf es neben der optimalen Wundversorgung auch einer intensiven, interprofessionellen psychosozial-spirituellen Unterstützung der Patient*innen.

In einer dänischen Studie erhoben Lund-Nielsen et al. (2005, S. 60) die Befürchtungen und Ängste von Patientinnen mit exulzerierenden Mamma-Karzinomen. Die Patientinnen berichteten, wie belastend sie es empfanden, dass aufgrund des unkontrolliert auslaufenden Exsudates und des üblen Wundgeruchs soziale Kontakte kaum mehr möglich waren. Ihr Bedürfnis nach partnerschaftlicher Intimität, Sexualität und körperlicher Nähe erlebten sie aufgrund dieser Symptome als unerfüllbar. Weiters beklagten die befragten Frauen ihr geringes Selbstwertgefühl, ihren Verlust an Weiblichkeit, an Würde und den negativen Einfluss der Wunde auf ihre Sexualität und ihre sozialen Beziehungen.

In der sehr verletzlichen Situation einer terminalen Erkrankung haben Menschen ein besonderes Bedürfnis nach Nähe, nach Beziehung und nach Körperkontakt. Wenn all dies aufgrund von Wundsymptomen nicht mehr möglich ist, erleiden die Patient*innen neben all dem, was sie ohnehin bereits verloren haben, einen weiteren schmerzlichen Verlust. Daher haben eine effektive Symptomlinderung, psychosoziale Unterstützung der Patient*innen und eine optimale Versorgung der Wunden oberste pflegerische Priorität.

Dekubitus wird oft als typische Wunde am Lebensende beschrieben (Woo et al., 2015, S. 131). Der reduzierte Allgemein- und Ernährungszustand – bei fortgeschrittener Erkrankung –, die zunehmende Immobilität, die verringerte Durchblutung und die reduzierte Verfügbarkeit von Sauerstoff tragen zur Entstehung eines Dekubitus bei. Trotz bester Prophylaxe kann eine Druckschädigung im Sinne eines Dekubitus mitunter, vor allem bei Patient*innen am Ende ihres Lebens, unvermeidlich sein. Ein Dekubitus bedeutet für die Betroffenen Schmerzen, ein hohes Infektionsrisiko, häufige belastende Verbandwechsel und Einschränkung in der Wahl ihrer Liegeposition. Ein Dekubitus führt daher immer zu einer enorm verringerten Qualität der ohnehin begrenzten verbleibenden Lebenszeit (siehe auch das Kapitel Dekubitus, S. 161 ff.).

Bedeutung für Angehörige

Wenn Patient*innen in der häuslichen Pflege und Betreuung einen Dekubitus entwickeln, kann das bei den pflegenden Angehörigen zu Schuldgefühlen führen. Es ist daher sehr wichtig, dass Fachpflegepersonen nicht nur auf die Bedeutung einer entsprechenden Prophylaxe hinweisen, sondern auch wiederholt betonen, dass ein Dekubitus manchmal nicht zu vermeiden ist. Angehörige haben kaum Erfahrungen mit derartigen Wunden und schon allein ihr Anblick kann Entsetzen und Berührungsängste bei ihnen auslösen. Das Leid der Patient*innen mitzuerleben und hilflos zusehen zu müssen, wie sich die Wunde vergrößert, lässt Angehörige oft verzweifeln.

Ähnliches gilt auch für maligne Wunden, die meist mit Schmerzen, unangenehmem Geruch, auslaufendem Exsudat, Juckreiz, wiederholten Blutungen und Infektionen verbunden sind.

Diese äußerst belastenden Wundsymptome führen zu Veränderungen des Körperbildes, zu Depressionen und sozialer Isolation der Patient*innen, sie stellen aber auch eine vielfältige Belastung für deren Angehörige dar. Die Auswirkungen auf die Angehörigen und Bezugspersonen der Patient*innen sind ein häufig unterschätzter Aspekt maligner Wunden. In ähnlicher Weise wie die betroffenen Patient*innen erleben sie extreme physische und psychische Belastungen (Probst et al., 2012, S. 3065).

Der Anblick einer malignen Wunde scheint für die Angehörigen mitunter belastender zu sein als für die Betroffenen selbst (Young, 2005, S. 10). Während die Aufmerksamkeit der Patient*innen mehr auf die Bewältigung der wundbedingten Symptome gerichtet ist, können es Angehörige oft kaum ertragen, die Wunde zu sehen. Wenn Angehörige in der häuslichen Betreuung die Wundversorgung übernehmen, scheint sich das Bild der Wunde unauslöschlich und für immer in ihr Gedächtnis einzuprägen. Ist die Wunde zusätzlich mit üblem Geruch verbunden, prägt sich nicht nur das Bild der Wunde, sondern noch stärker auch der mit ihr verbundene Geruch ein.

Oft bleibt der Wundgeruch auch Jahre nach dem Tod des Patienten bzw. der Patientin in der Erinnerung der Angehörigen präsent. Um den Kontakt zwischen Patient*innen und Angehörigen aufrechtzuerhalten, ist daher für eine möglichst frühzeitige und effektive Reduktion des Geruchs zu sorgen.

Der Wundgeruch und das abfließende Exsudat lösen bei den meisten Angehörigen Gefühle von Abscheu und Ekel aus. Angesichts der absehbaren Begrenztheit der gemeinsamen Zeit werden diese belastenden Emotionen von den Angehörigen und auch von den Patient*innen oft als bedrohlich empfunden, denn sie verhindern Nähe, Zuwendung und häufig auch die praktische Unterstützung der Patient*innen. Das kann zu einem schwer zu ertragenden Spannungsfeld für die Angehörigen führen. Sie nehmen die Bedürftigkeit des Patienten bzw. der Patientin wahr, den Wunsch nach Nähe und Zuwendung. Angehörige möchten diese Zuwendung auch bieten können, sie wollen fürsorglich für den Patienten bzw. die Patientin da sein, aber starke, unüberwindliche Ekelgefühle machen die Zuwendung oft unmöglich. Es entstehen das ambivalente Bedürfnis, sich zu distanzieren, und zugleich der Wunsch, für den Patienten bzw. die Patientin da sein zu können. Aufgrund ihrer Bindung zum Patienten, zur Patientin führt das Bedürfnis nach Distanzierung bei Angehörigen oft zu Schuldgefühlen, und anders als Fachpersonen verfügen sie kaum über Strategien, die mit der Wunde verbundenen Belastungen zu bewältigen.

Es bedarf daher einer sorgfältigen Abwägung, ob Angehörigen in der häuslichen Betreuung die Versorgung einer malignen Wunde zugemutet werden darf. Sehr oft sind sie aufgrund der Wunde und der Wundsymptome nicht mehr in der Lage, Zuwendung und Nähe zu bieten. Damit kann die letzte gemeinsame Zeit mit dem Patienten bzw. mit der Patientin von Scham- und Schuldgefühlen der Angehörigen und oft auch der Patient*innen überschattet sein. In der häuslichen Betreuung sind Angehörige generell enormen Belastungen ausgesetzt, sie sind mit dem Leid des Patienten, der Patientin konfrontiert, mit ihrer eigenen Hilflosigkeit, ihrer Trauer und mit ihren Ängsten vor dem drohenden Verlust.

Viele pflegende Angehörige leiden unter tiefer Erschöpfung, und die Unberechenbarkeit maligner Wunden (Exsudatfluss, Blutungen, Geruchsbildung) machen häufige, oft spontane zusätzliche Verbandwechsel – unter Umständen auch nachts – erforderlich. Angehörige berichten, dass die gesamte Tagesgestaltung von den Erfordernissen der Wundversorgung bestimmt wird. Der mehrmals täglich notwendige Wechsel von Kleidung und Bettwäsche des Patienten bzw. der Patientin bedeutet für die betreuenden Angehörigen eine weitere, häufig unterschätzte Belastung.

Bedeutung für Pflegepersonen

Anders als bei heilbaren Wunden sind Pflegepersonen hier trotz aller Bemühungen mit einer sich ständig verschlechternden Wundsituation und begrenzten Behandlungsoptionen konfrontiert. Bei der Versorgung dieser Wunden müssen sie immer wieder eigene Ekelgrenzen überschreiten, und zugleich müssen Pflegepersonen in der Lage sein, den Patient*innen die bestmögliche Unterstützung zu bieten. Maligne Wunden sind komplex, sie verändern sich laufend, und daher müssen Pflegeziele immer wieder neu definiert werden.

Die Wundversorgung ist meist sehr zeitaufwändig, und oft sind Standardtherapien ausgeschlossen. Daher braucht es individuelle, an die Bedürfnisse des jeweiligen Patienten bzw. der Patientin angepasste und mitunter auch kreative Verbandtechniken. Für die bedürfnisorientierte Versorgung einer nichtheilenden Wunde ist ein fachgerechtes Assessment erforderlich, und es ist auch wichtig, zu wissen, mit welchen konkreten Belastungen die Wunde verbunden ist (siehe die Kapitel Wundanamnese und Wundassessment, S. 59-61 und 61-63).

Eine fachlich kompetente, empathische und auch kreative Pflege ist für die Erhaltung der Selbstachtung der Patient*innen von größter Bedeutung. Patient*innen empfinden eine Kombination aus fachgerechter Wundversorgung, Beratung und Unterstützung zur Selbstpflege als ganz wesentlich, um ihr Selbstvertrauen zu erhalten bzw. wiederzuerlangen (Lo et al., 2008, S. 2705).

Spezielle Herausforderungen in der palliativen Wundversorgung

Ekel

Zuallererst ist Ekel ein universeller Affekt mit wichtiger Schutzfunktion. Ekel gilt als einer der stärksten Affekte des menschlichen Wahrnehmungssystems, und Kant, einer der ersten Ekel-Theoretiker, nannte den Ekel eine „starke vitale Sensation“ (Menninghaus, 2003, S. 1). Ekel bedeutet eine intensive Abneigung, Abscheu oder heftigen Widerwillen mit dem Wunsch, sich von der ekelerregenden Situation zu distanzieren. In der Pflege ist das jedoch selten möglich, und daher ist die individuelle Auseinandersetzung mit dieser belastenden Emotion für ein professionelles Handeln wichtig.

Ekel zählt zu den Primäremotionen, und wie alle anderen Emotionen entsteht er im Gehirn. Nach Bradley und Lang (2007, S. 596) wird bei Ekel jedoch nicht eine spezifische Region aktiviert, sondern ein größeres Netzwerk. Dabei stellt der mediale präfrontale Cortex eine wesentliche Struktur dar, ebenso wie auch die Inselrinde, der anteriore Gyrus cinguli, die Amygdala und der Hypothalamus.

Für Pflegepersonen – und noch mehr für pflegende Angehörige – kann die Versorgung von Wunden, wie einem ausgedehnten Dekubitus oder exulzerierenden Tumorwunden, mit intensiven Ekelgefühlen verbunden sein, vor allem dann, wenn starker Wundgeruch vorliegt. Ekel ist nicht nur eine der stärksten Emotionen, er kann sich auch innerhalb von Sekunden entwickeln und lässt sich selbst bei größtem Bemühen nicht unterdrücken. Daher kann es auch kein realistisches Ziel sein, Ekelgefühle in der Pflege zu vermeiden, sondern es gilt vielmehr, eine angemessene Form der Bewältigung zu finden. Ein erster Schritt besteht darin, sich die eigenen Ekelschwellen bewusstzumachen und über das mögliche Erleben von Ekel zu sprechen.

Krey (2015, S. 13) zählt Ekelgefühle in der Pflege zu den tabuisierten Empfindungen, und sie stellt fest, dass es vielfach noch immer als unangemessen gilt, in konstruktiver Weise darüber zu sprechen. Den Grund dafür sieht sie in der Diskrepanz zwischen dem tatsächlich erlebten Gefühl und einer mangelnden gesellschaftlichen Akzeptanz von Ekel.

Bedauerlicherweise wird es (noch immer) als Zeichen mangelnder Professionalität gewertet, wenn Pflegepersonen ihren Ekel zeigen (Muggleton et al., 2015, S. 193). In den letzten Jahren ist jedoch eine auffallende Veränderung im Umgang mit Ekel in der Pflege zu beobachten. Das Thema wird bereits in den Pflegeausbildungen entsprechend bearbeitet, und auch in der Praxis, innerhalb der Pflegeteams, können Ekelgefühle zunehmend thematisiert werden.

„Ekel geht mit körperlichen Reaktionen einher, die ein sich Abwenden beinhalten. Gleichzeitig ist das Individuum gereizt, was sich auf die Hilfsbereitschaft des Betroffenen auswirken kann. In welchem Umfang die vom Ekel Betroffenen diese Reaktionen zeigen, hängt wahrscheinlich davon ab, wie viel sie über das Phänomen Ekel wissen.“ (Krey, 2015, S. 44)

Zu den Ekelreaktionen zählen das dringende Bedürfnis, eine Distanz zur ekelauslösenden Situation zu schaffen, die Vermeidung von Nähe, aber oft auch Abneigung oder gar unreflektierter Ärger gegenüber den Patient*innen, die für diese „Zumutung“ verantwortlich gemacht werden. Zudem kann das häufige Empfinden von Ekel in der beruflichen Praxis zu einer erhöhten Stressbelastung der Pflegepersonen und damit auch zu einer Schwächung ihres Immunsystems führen.

Das Bemühen, den erlebten Ekel nicht zu zeigen, um die Patient*innen emotional nicht zu verletzen, kann den Stress noch weiter verstärken (Krey, 2015, S. 44). Versucht die Pflegeperson in ekelerregenden Situationen, sich ganz auf den Patienten bzw. auf die Patientin zu konzentrieren, kann das aufgrund der empathischen Verbundenheit bedeuten, dass sie ihre eigenen emotionalen Bedürfnisse unterdrückt bzw. unterdrücken muss. Diese Konzentration auf die Patientin, den Patienten erweist sich in diesen Situationen sehr oft als hilfreich. Zugleich kann aber auch jeder Versuch, ein starkes Gefühl wie Ekel zu unterdrücken, dazu führen, dass dieses Gefühl länger andauert und auch häufiger erlebt wird (Ólafsson et al., 2013, S. 158).

Ekelgefühle wirken sich ganz unmittelbar auf das pflegerische Handeln aus. Es kann zu einer Lähmung im Handlungsablauf bis hin zur Handlungsunfähigkeit kommen, weil die Pflegeperson primär von ihrem Fluchtimpuls beherrscht wird (Krey, 2015, S. 45). Auch die kognitiven Funktionen können durch Ekel beeinträchtigt werden, es kann zu vorübergehend reduziertem Wahrnehmungs- und Denkvermögen kommen. Schließlich verringern starke Ekelgefühle echtes Einfühlungsvermögen und können damit auch zu einer reduzierten Bereitschaft der Pflegenden führen, den Patient*innen psychosoziale Unterstützung zukommen zu lassen (Muggleton et al., 2015, S. 193).

Einer Ekelerregung folgt immer ein körperlicher Ausdruck (Krey, 2015, S. 47). Auch wenn die Pflegeperson sich bestmöglich darum bemüht, ihre Ekelgefühle vor den Patient*innen zu verbergen, gelingt das nur selten, denn noch bevor Ekel bewusst wahrgenommen wird, wird er bereits körpersprachlich kommuniziert (Zettl, 2019, S. 120). Hinzu kommt, dass schwerkranke Patient*innen eine besonders feine Wahrnehmung entwickeln und die Körpersprache der Pflegepersonen gleichsam „lesen“ können. Die Patient*innen nehmen schon kleinste, nonverbale Signale wahr, und zu erleben, dass ihre Pflegeperson sich ekelt, kann als zutiefst beschämend und demütigend erfahren werden.

Sind Pflegepersonen durch Ekelgefühle stark belastet, neigen sie dazu, nicht nur die Konfrontation mit der ekelauslösenden Situation, sondern auch den Kontakt zu den betreffenden Patient*innen weitgehend zu reduzieren. Das Zimmer dieser Patient*innen wird nachweislich seltener betreten und notwendige pflegerische Arbeiten werden auch schneller verrichtet (Sowinski, 1991, S. 179) – und es wird vermieden, länger als unbedingt erforderlich bei den Patient*innen zu bleiben. Die Empathiefähigkeit der Pflegenden verringert sich durch erlebten Ekel; es kommt zu einer Distanzierung.

In der Pflege ist ein Kontakt mit potenziell Ekelerregendem jedoch kaum zu vermeiden. Es ist daher unabdingbar, dass sich Pflegepersonen nicht nur bestmöglich schützen, sondern auch, dass sie ihre Ekelgefühle akzeptieren und sich mit ihnen auseinandersetzen. Ein unreflektierter Umgang mit Ekel erschwert nicht nur die tägliche Arbeit, er kann auch zu Geringschätzung, Aggression und schlimmstenfalls zu Gewalt den Patient*innen gegenüber führen. Die Trias der Reaktionen auf Ekel beinhaltet Abwendung, Flucht und Vermeidung.

Kann – wie in der Pflege – unmittelbar keine ausreichende Distanz hergestellt werden, kommen zum Gefühl des Ekels noch Wut und Zorn hinzu. Izard (1999, S. 379) schreibt in diesem Zusammenhang von einer Feindseligkeitstriade, die sich gegen die andere Person, aber auch gegen sich selbst richten kann. Darwin (2009, S. 234) beschrieb schon 1877, dass Gefühle wie Ekel, Abscheu, Widerwille und Verachtung eng miteinander verknüpft sind und mit ähnlichen Verhaltensweisen einhergehen.

Sind Pflegepersonen mit ekelerregenden Situationen konfrontiert, ist zumindest eine gewisse Reizbarkeit häufig zu beobachten; zugleich können die Ekelgefühle aber auch mit Scham- und Schuldgefühlen verbunden sein. Das ist vor allem dann der Fall, wenn die Pflegenden denken, dass mangelnde Professionalität die Ursache der Ekelempfindung ist.

Ekel und die Bedeutung von Empathie und Mitgefühl

„Empathie, die Fähigkeit zu fühlen, was andere fühlen ist, eine entscheidende Voraussetzung für eine therapeutisch-pflegerische Beziehung […] und kann auch als das wichtigste Motiv helfenden Handelns betrachtet werden“ (Bischoff-Wanner, 2002, S. 15). Empathie als pflegerische Grundhaltung gewährleistet, dass die Pflegeperson durch eine Perspektivenübernahme in der Lage ist, sich in die Situation der Patient*innen hineinzuversetzen. Empathie wird bestimmten Gehirnarealen zugeordnet, wie z. B. dem cingulären Cortex, der Inselrinde, dem limbischen System und der Amygdala, die ganz wesentlich an der Verarbeitung von Emotionen beteiligt sind (Lamm/Singer, 2010, S. 582).

Nun zählt Ekel zu den primären, also angeborenen Emotionen, und es ist durchaus denkbar, dass die Intensität der Ekelerregung durch eine empathische Haltung reduziert wird. Damit wird auch deutlich, dass die gelegentlich empfohlene „Ablenkung“ als Entlastungsstrategie in ekelerregenden Situation nicht hilfreich ist. Wenn die Pflegeperson sich nicht empathisch auf die Patientin bzw. auf den Patienten konzentriert, sondern auf Ablenkung fokussiert ist, wird sie weder sich selbst noch den Patient*innen gerecht.

Mitunter wird Pflegenden auch empfohlen, sich in ekelerregenden Situationen vollständig auf die Durchführung einer bestimmten Verband- oder Pflegetechnik zu konzentrieren. Diese Fokussierung auf die technischen Aspekte erweist sich jedoch meist als untauglicher Versuch, aufkommende Ekelgefühle zu verdrängen. Außerdem kann diese Ablenkung von den Patient*innen als verletzend und demütigend wahrgenommen werden. In der Praxis erweist sich vielmehr die Konzentration auf die Person der Patientin bzw. des Patienten als hilfreich, ebenso wie eine bewusste, zugewandte empathische und mitfühlende Haltung.

Bei Empathie und Mitgefühl handelt es sich um verschiedene Emotionen und Haltungen. Empathie kann als Grundlage für Mitgefühl betrachtet werden, und im Gegensatz zur Empathie besteht bei Mitgefühl zusätzlich immer auch eine Handlungsmotivation (Hangartner, 2013, S. 156). Mitfühlende Pflegepersonen sind in der Lage, eine andere Perspektive einzunehmen, ohne das Leid der Patient*innen zu ihrem eigenen Leid werden zu lassen. Mitgefühl ist Ausdruck einer hochkompetenten und qualifizierten Pflege, von der sowohl die Patient*innen als auch die mitfühlenden Pflegenden selbst in höchstem Maße profitieren (Ruppert, 2016, S. 39). Um den Patient*innen mitfühlend begegnen zu können, braucht es viel Achtsamkeit für eigene Bedürfnisse und eine gute Selbstfürsorge, denn nur eine Pflegeperson, die entsprechend für sich selbst sorgen kann, wird langfristig in der Lage sein, sich den Patient*innen fürsorglich zuzuwenden.

„Um echtes Mitgefühl für andere entwickeln zu können, braucht es ein Fundament, auf dem das Mitgefühl kultiviert werden kann. Dieses Fundament ist die Fähigkeit, sich mit den eigenen Gefühlen zu verbinden und sich um sein eigenes Wohlergehen zu kümmern […] Fürsorge für andere bedarf zunächst der Fürsorge für sich selbst.“ (Dalai Lama, 2013, o.A.)

Das bedeutet für Pflegende auch, eigene Grenzen zu respektieren und insbesondere in der Konfrontation mit ekelerregenden Situationen gut für sich zu sorgen und alle verfügbaren Strategien zur Entlastung bewusst einzusetzen.

Hilfreiche Strategien zur Bewältigung von Ekelgefühlen

Um Strategien im Umgang mit den eigenen Ekelgefühlen zu entwickeln, ist es zunächst wichtig, die Ekelgefühle wahrzunehmen und zuzulassen. Erfolgt diese Akzeptanz nicht, werden durch die Abwehrreaktion ständig eigene Bedürfnisse ignoriert. Das kann zu Frustration, zu Aggression und in der Folge auch zu einem Burn-out-Syndrom führen.

Gespräche als Entlastung Ein erster Schritt kann die Enttabuisierung des Themas sein. Gespräche innerhalb des Teams und der Austausch über die verschiedenen Bewältigungsstrategien können hier helfen.

Sich abwechseln Da die Belastung durch Ekelgefühle bei den Mitgliedern innerhalb eines Teams meist unterschiedlich ausgeprägt ist, kann es entlastend sein, sich bei ekelerregenden Tätigkeiten abzuwechseln oder derartige Arbeiten zu zweit durchzuführen.

Geruchsreduktion Vor allem bei Tumorwunden kann sich ein sehr belastender Geruch entwickeln, durch den die Versorgung der Wunde für die Pflegenden und auch für die Patient*innen zu einer großen Herausforderung wird. In der Palliativpflege haben sich verschiedene Strategien zur Geruchsreduktion bewährt – es ist jedoch entscheidend, dass diese Maßnahmen frühzeitig eingesetzt werden (siehe das Kapitel Geruch, S. 133-143).

Konzentration auf die Patient*innen Bei komplexen Wundversorgungen, die aufgrund besonderer Begleitumstände, wie etwa starker Wundgeruch, besonders herausfordernd sind, kann die Konzentration auf die Person des Patienten bzw. der Patientin Ablenkung von der ekelerregenden Situation bieten. Zugleich wird diese intensive Zuwendung von den Patient*innen als wohltuend wahrgenommen.

Pflegehilfsmittel Verschiedene Pflegehilfsmittel wie Nierentassen, Zellstoff, Handschuhe, Einmalschürzen, Pflegeschaum sowie Desinfektionsmittel sind wichtige Utensilien, um ekelerregende Substanzen rasch zu entfernen bzw. sich davor zu schützen. Diese Mittel sollten während der Wundversorgung in Reichweite deponiert sein.

Kurz Abstand schaffen Auch wenn die Vorgabe gilt, dass die Pflegeperson während eines Verbandwechsels den Raum möglichst nicht verlassen sollte, so kann es in besonders schwierigen Situationen eine Notlösung sein, den Raum kurz zu verlassen, um durchzuatmen und in Ruhe die weiteren Schritte zu überlegen.

Ätherische Öle Zu den altbekannten Hilfsmitteln bei starker Geruchsbildung zählt der Einsatz von ätherischen Ölen. Ein Taschentuch, mit 2 oder 3 Tropfen eines solchen Öls benetzt, kann die Wahrnehmung eines üblen Geruchs reduzieren. Auch eine Salbe oder Creme mit einem Duft, der als reinigend empfunden wird, unter die Nase aufzutragen, ist hilfreich. Das Einatmen von z. B. menthol- oder eukalyptushaltigem Duft vermittelt den Eindruck von „reiner“ Luft. Diese Maßnahme eignet sich auch gut für Kinder, vorausgesetzt, sie empfinden diesen Duft als angenehm.

Mundschutz In besonders herausfordernden Situationen kann auch das Tragen eines Mundschutzes hilfreich sein. Allerdings ist dabei zu bedenken, dass eine solche Mundschutz-Maske nicht nur eine Barriere für unangenehme Gerüche darstellt, sie wird von den Patient*innen auch als Barriere zur Pflegeperson wahrgenommen. Der Mundschutz kann als nonverbales Signal einer Distanzierung der Pflegeperson empfunden werden. Es bedarf daher in jedem Fall einer Erklärung vonseiten der Pflegenden, um eine Kränkung und Beschämung der Patient*innen zu verhindern.

Bonbons Das Lutschen eines geschmacksintensiven Bonbons während der Wundversorgung kann aufkommende Ekelgefühle etwas reduzieren.

Vorbereitung Bei der Versorgung von Wunden können erwartbar auftretende Ekelsituationen durch eine gute Vorbereitung reduziert werden. Auch die bewusste Gestaltung der Wundversorgung kann Ekelgefühle reduzieren (siehe Gestaltung des Verbandwechsels, S. 96-98).

Nachbereitung Nicht nur vor, sondern auch nach der Wundversorgung und dem Kontakt mit Ekelerregendem ist eine gründliche hygienische Händedesinfektion selbstverständlich. Wird nach der Desinfektion eine wohlriechende Handcreme verwendet, kann das dazu beitragen, die Ekelgefühle abklingen zu lassen. Das bewusste Beenden der belastenden Situation ist wichtig, bei Bedarf kann auch ein Wechsel der Dienstkleidung hilfreich sein. Sehr zu empfehlen ist eine kleine Auszeit, wenn möglich ein kurzer Rückzug von einigen Minuten, um Distanz zur Situation zu schaffen.

Supervision Sehr unterstützend bei der Bewältigung von Ekelgefühlen und auch zur Entwicklung individueller Strategien damit ist das Angebot einer Supervision. Vor allem Teamsupervision bietet eine sehr gute Möglichkeit, innerhalb des Teams voneinander zu lernen, und oft ergeben sich daraus auch besondere Formen der Unterstützung unter den Kolleg*innen.

In der Pflege ist es grundsätzlich wichtig, sich mit den eigenen Ekelgefühlen auseinanderzusetzen, sich innerhalb des Teams darüber auszutauschen und sich gegenseitig zu unterstützen. Das gemeinsame Wissen um die verschiedenen Bewältigungsstrategien und die Unterstützung des Teams sind ausschlaggebend dafür, ob eine mit Ekelgefühlen verbundene Situation als Belastung oder als Herausforderung wahrgenommen wird. Angesichts der Schutzfunktion der Ekelgefühle kann die Lösung nicht im Abbau dieser Gefühle liegen, sondern in einer Förderung individueller Kompetenzen bei der Bewältigung ekelerregender Pflegesituationen.

Selbstekel der Patient*innen

Ekelgefühle im Zusammenhang mit Körperbildveränderungen und ausgedehnten und/oder exulzerierenden Wunden betreffen jedoch nicht nur die für die Wundversorgung verantwortlichen Pflegepersonen, auch die betroffenen Patient*innen leiden häufig unter Ekelgefühlen dem eigenen Körper gegenüber (siehe auch das Kapitel Scham, S. 35-44).

Das Leben mit einer (malignen) Wunde und der Umgang mit dem veränderten Körperbild bedeuten für die betroffenen Patient*innen immer auch das Erleben von Scham und Beschämung. Wundbedingte Probleme wie auslaufendes Exsudat, Wundgeruch, Wundschmerzen, Blutungen und Juckreiz sind nicht nur physische, sondern auch erhebliche psychische Herausforderungen für die Patient*innen. Sie erleben Verlust, Angst, ein reduziertes Selbstwertgefühl und auch Trauer über ihr verändertes Körperbild (Lo et al., 2008, S. 2706).

Manche Patient*innen äußern, sich „schmutzig“ zu fühlen, und geben der Sorge Ausdruck, von ihren Bezugspersonen abgelehnt zu werden. Zu den körperlichen Belastungen durch die Wunde kommt damit immer auch beträchtliches psychisches Leid hinzu. Die Patient*innen fühlen sich durch die wundbedingte Sichtbarkeit der Erkrankung stigmatisiert und oft auch sozial isoliert. Die Erfahrung, dem eigenen Körper nicht mehr vertrauen zu können, kann zur Selbstablehnung bis hin zu Selbstekel führen. Es stellt eine enorme Belastung dar, wenn Menschen sich vor sich selbst bzw. vor ihrem Körper ekeln müssen. Dieser Selbstekel führt dazu, sich als Zumutung für andere wahrzunehmen, und zusätzlich auch zu Scham und Schuldgefühlen, zu Rückzug, Isolation und Depression (siehe auch das Kapitel Körperbildveränderung, S. 44-50). Daher sind neben einer besonders sorgsamen Körperpflege die bestmögliche Wundversorgung und eine kosmetisch akzeptable Verbandtechnik von größter Bedeutung. Von den Patient*innen wird es meist sehr geschätzt, wenn in der Pflege duftende Hautpflegemittel eingesetzt werden, und noch mehr, wenn die Pflegeperson die intakte Haut während der Körperpflege ohne Handschuhe berührt. Diesen unmittelbaren Kontakt erleben Patient*innen, die unter Selbstekel leiden, oft geradezu als heilsam und als besondere Form der Zuwendung.

Das Leben mit einer nichtheilenden Wunde, die das eigene Körperbild zerstört und die mit Geruch und Selbstekel verbunden ist, bedeutet für die Patient*innen eine unfassbare Belastung. Dabei kann der Wert einer tragfähigen Vertrauensbeziehung zwischen Pflege und Patient bzw. Patientin nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es bedarf einer aktiven und konstruktiven Beziehungsgestaltung vonseiten der Pflegenden, basierend auf Respekt, auf Akzeptanz, die nicht an Bedingungen gebunden ist, und auf Mitgefühl. Nur im Rahmen einer solchen würdebewahrenden Pflegebeziehung kann es gelingen, die Patient*innen bei der Bewältigung dieser überaus schwierigen Situation zu unterstützen.

Da die Patient*innen selbst meist nicht in der Lage sind, von sich aus über das erlebte Selbstekel-Gefühl zu sprechen, braucht es ein behutsames und respektvolles Gesprächsangebot vonseiten der Pflegenden. Es gehört zu einer sorgfältigen Wundanamnese, das subjektive Erleben der Patient*innen zu erfassen. Fragen wie „Was bedeutet diese Wunde für Sie?“ oder „Was belastet Sie im Zusammenhang mit diese Wunde am meisten?“ können den Raum für ein taktvolles Ansprechen vermuteter Ekel- und Schamgefühle öffnen (siehe das Kapitel Wundanamnese, S. 59-61).

Schon die Möglichkeit, über ihre Ekelgefühle dem eigenen Körper gegenüber zu sprechen, wird von den Patient*innen als entlastend wahrgenommen. Eine weitere Form der Unterstützung bietet das Angebot an die Patient*innen, sich aktiv an der Wundversorgung zu beteiligen, sofern sie dazu in der Lage sind. Wie eine Studie von Gaind et al. (2011, S. 346) belegt, erleben Patient*innen, die diese Möglichkeit haben, deutlich weniger Gefühle von Ekel bzw. Selbstekel.

Ausgedehnte, maligne Wunden und aufwändige Wundversorgungen können dazu führen, dass das Augenmerk der Pflegepersonen ganz auf die Wunde und deren Versorgung gerichtet ist. Bei den Patient*innen kann der Eindruck entstehen, dass sie als Person auf diese Wunde reduziert werden. Ihr erlebtes Leid wird nicht entsprechend wahrgenommen, alles dreht sich um die bestmögliche Versorgung der Wunde. Daher sei hier noch einmal darauf hingewiesen, dass die Zeit des Verbandwechsels eine kostbare Eins-zu-eins-Betreuungszeit mit intensiver Zuwendung ist. Wenn die Pflegeperson sich während dieser Zeit nicht nur auf die Wundversorgung fokussiert, sondern den Menschen in seiner Ganzheit wahrnimmt, bietet der Verbandwechsel besondere Chancen, die Vertrauensbasis zwischen Patient*in und Pflege zu stärken.

Ekel beeinträchtigt die Beziehung der Pflegenden zu den betreffenden Patient*innen. Doch nicht nur die Beziehung der Pflegenden zu den Patient*innen wird durch heftige Ekelgefühle negativ beeinflusst, sondern auch die Pflegequalität insgesamt. Es ist nachvollziehbar, dass es äußerst belastend, verletzend und demütigend für die Patient*innen ist, wenn sie erleben, dass ihre Pflegepersonen – auf deren Hilfe sie angewiesen sind – sich vor ihnen bzw. vor ihrer Wunde ekeln. Wenn aber Ekelgefühle die Pflegebeziehung nachteilig beeinflussen, kann umgekehrt auch eine gute Beziehung zwischen Pflegeperson und Patient*in zu einer deutlichen Reduktion des Ekels aufseiten der Pflegeperson beitragen.

Ekelgefühle der Angehörigen

Die Angehörigen der Patient*innen, insbesondere die pflegenden Angehörigen, sind ebenfalls häufig mit Ekelgefühlen konfrontiert. Die Wunde zu sehen, den Geruch wahrzunehmen und die zunehmend häufiger erforderlichen Verbandwechsel können für die Angehörigen eine so große Belastung darstellen, dass sie sich davon und damit auch vom Patienten bzw. von der Patientin distanzieren müssen. Das kann zu sehr ambivalenten Gefühlen führen, denn einerseits wollen die Angehörigen den Patient*innen Zuwendung und Nähe bieten, andererseits stellt der Ekel vor Wunden, vor Körperausscheidungen und vor Gerüchen eine enorme Hürde dar.

Es ist eine besonders belastende Situation für die Angehörigen, wenn der Patient bzw. die Patientin, die sie liebevoll betreuen möchten, Ekelgefühle bei ihnen auslöst. Es ist dann nur schwer möglich, körperliche Nähe und Zuwendung zuzulassen, denn es besteht das dringende Bedürfnis nach Distanz. In einer Zeit, in der Nähe, Geborgenheit und auch Körperkontakt für die Patienten und Patientinnen besonders wichtig sind, wird diese Distanzierung der Angehörigen oft als zusätzlich beschämend und verletzend erlebt. Die Angehörigen entwickeln aufgrund dieser Distanzierung auch häufig Schuldgefühle, sie möchten für den Kranken da sein, sie oder ihn nach Kräften unterstützen, und zugleich sind da Gefühle von Ekel, die es ihnen unmöglich machen, den Patienten, die Patientin auch nur in den Arm zu nehmen. Das Bedürfnis nach Nähe und die gleichzeitige Unmöglichkeit, diese Nähe bieten zu können, lösen Schuld und Schamgefühle bei den Angehörigen aus, die in der Folge aber auch in Aggression und Verzweiflung münden können.

Der oft verzweifelte Versuch der Angehörigen, sich selbst und vor allem auch den Patienten bzw. die Patientin vor zusätzlicher Belastung durch die Ekelgefühle zu schützen, wird in der englischsprachigen Fachliteratur als „protective buffering“ bezeichnet (Manne at al., 2007, S. 380). Damit ist ein Verhalten Angehöriger gemeint, bei dem Belastungen relativiert oder geleugnet werden, um die Patient*innen zu schonen. Da starke Gefühle wie Ekel aber vor allem nonverbal und ganz unmittelbar kommuniziert werden, ist dieser Versuch, die Patient*innen vor Beschämung zu schützen, fast immer zum Scheitern verurteilt. Denn so sehr sich die Angehörigen auch bemühen, ihre Ekelgefühle zu verbergen, der Patient bzw. die Patientin wird sie wahrnehmen und mit Sicherheit darunter leiden.

Auch verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass dieses „Schützen“ der Patient*innen eher dysfunktional wirkt. Je größer das Bemühen ist, den jeweils anderen zu schonen, desto größer ist auch das Ausmaß der eigenen Belastung bis hin zu depressiven Symptomen.

Angehörige von Patient*innen in palliativen Situationen sind verschiedenen großen Belastungen ausgesetzt, und für pflegende Angehörige trifft dies in besonderem Maß zu. Eine Dauerbelastung kann dazu führen, dass die individuellen Toleranzgrenzen auch für Ekel, sinken und die Grenze zur Überforderung überschritten wird. Es gilt, die Überforderung und Überlastung Angehöriger wahr- und ernstzunehmen, ihre Selbstsorge und Ressourcen zu stärken und angemessene Unterstützung anzubieten (siehe das Kapitel Angehörige, S. 21-23).

Scham

Bei der Pflege von Menschen mit palliativen Wunden sind Ekel- und Schamgefühle häufig miteinander verbunden. Beides sind universelle Affekte, beides sind Tabuthemen, und sie weisen viele weitere Parallelen auf. Scham ist eines der unangenehmsten Gefühle überhaupt; sie behindert den Kontakt zu anderen, und zugleich hat die Scham, ähnlich wie auch der Ekel, eine selbstschützende Funktion (Wurmser et al., 1990, S. 85).

Scham entsteht, wenn die Grundbedürfnisse eines Menschen nach Schutz, Anerkennung, Zugehörigkeit und Integrität verletzt werden, oder auch wenn Menschen ihrem Selbstbild nicht mehr entsprechen können. Sie ist verbunden mit der Angst vor Verachtung durch andere, mit der Angst vor Zurückweisung und mit Selbstentwertung. Scham entwickelt sich in der Beziehung zu anderen Menschen; es ist das quälende, peinliche Gefühl, das dann entsteht, wenn eine wichtige innere oder äußere Grenze verletzt wurde. Scham entwickelt sich aus der Wahrnehmung eigener Mangelhaftigkeit oder Minderwertigkeit, und sie ist mit heftigen kognitiven, emotionalen und körperlichen Reaktionen verbunden. Scham ist aber auch eine Form von Angst, die universell und zugleich immer auch individuell ist, je nach Lebensgeschichte und kultureller Prägung (Immenschuh/Marks, 2017, S. 22). Scham kann in unterschiedlicher Intensität erlebt werden, vom Gefühl der Peinlichkeit und Verlegenheit bis hin zu tiefer Scham, verbunden mit Demütigung und quälendem Zweifel am Selbstwert.

Wer tiefe Scham erlebt, ist in diesem Moment der einsamste Mensch auf der Welt, selbst bei liebevollem Bemühen der anderen; die Scham ist wie eine Glaswand, die die persönliche Kommunikation nach draußen jäh unterbricht. Gerade in Situationen, in denen die mitmenschliche Zuwendung existenziell wichtig wäre, bricht der Kontakt ab (Chu, 2014, S. 11). Damit fällt jemand, der sich schämt, gleichsam aus der Geborgenheit der Gemeinschaft. Nahezu alle Patient*innen mit nichtheilenden und malignen Wunden und mit Körperbildveränderungen erleben zumindest zeitweise Scham. Sie müssen den Blick der Pflegenden auf intime und zutiefst verletzte Körperstellen zulassen. Eine Foto-Dokumentation der Wunde verstärkt das Gefühl der Exposition und wird oft als besonders beschämend erlebt.