Anrufung des Blinden Fisches - Georg Klein - E-Book

Anrufung des Blinden Fisches E-Book

Georg Klein

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Beschreibung

Die Figuren, von denen die Erzählungen Georg Kleins berichten, sind in der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte ohne Beispiel. Ob sie ihr Leben im «Untergrund» führen, in Laubenhäuschen und Wohnwagen oder in der nie erlöschenden Helligkeit des Mediengeschäfts, immer überredet ein unbekanntes Etwas sie, mit ihrem Leben aufs Ganze zu gehen, immer zieht es sie zum Kontrollverlust. Was finden sie dort? Schrecken und Hoffnung, denen sie noch nie begegnet sind: eine andere Art zu leben. «Hier geht die Lust, die der Schreibende empfunden haben muss, unmittelbar in den Lesenden über.» (Burkhard Müller, Frankfurter Allgemeine Zeitung) «Betörende Geschichten.» (Hajo Steinert, Focus) «Georg Klein ist einer der seltenen wirklich originellen Erzähler der deutschen Gegenwartsliteratur.» (Katharina Döbler, Die Zeit) «Zärtlich und grausam zugleich.» (Kolja Mensing, die tageszeitung) «Ein Leseglück.» (Katrin Hillgruber, Süddeutsche Zeitung) «A simply wonderful literary quality throughout.» (Robert Schwarz, World Literature Today)

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Georg Klein

Anrufung des Blinden Fisches

Erzählungen

 

 

 

Über dieses Buch

Die Figuren, von denen die Erzählungen Georg Kleins berichten, sind in der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte ohne Beispiel. Ob sie ihr Leben im «Untergrund» führen, in Laubenhäuschen und Wohnwagen oder in der nie erlöschenden Helligkeit des Mediengeschäfts, immer überredet ein unbekanntes Etwas sie, mit ihrem Leben aufs Ganze zu gehen, immer zieht es sie zum Kontrollverlust. Was finden sie dort? Schrecken und Hoffnung, denen sie noch nie begegnet sind: eine andere Art zu leben.

 

«Hier geht die Lust, die der Schreibende empfunden haben muss, unmittelbar in den Lesenden über.» (Burkhard Müller, Frankfurter Allgemeine Zeitung)

 

«Betörende Geschichten.» (Hajo Steinert, Focus)

 

«Georg Klein ist einer der seltenen wirklich originellen Erzähler der deutschen Gegenwartsliteratur.» (Katharina Döbler, Die Zeit)

 

«Zärtlich und grausam zugleich.» (Kolja Mensing, die tageszeitung)

 

«Ein Leseglück.» (Katrin Hillgruber, Süddeutsche Zeitung)

 

«A simply wonderful literary quality throughout.» (Robert Schwarz, World Literature Today)

Vita

Georg Klein, 1953 in Augsburg geboren, veröffentlichte Romane und Erzählungen. Für seine Prosa wurden ihm der Brüder-Grimm-Preis und der Bachmann-Preis verliehen. Sein «Roman unserer Kindheit» wurde 2010 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Georg Klein lebt mit seiner Frau, der Schriftstellerin Katrin de Vries, und zwei Söhnen in Ostfriesland.

www.devries-klein.de

 

Weitere Veröffentlichungen:

Libidissi

Barbar Rosa

Von den Deutschen

Die Sonne scheint uns

Sünde Güte Blitz

Roman unserer Kindheit

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2010

Copyright © 1999 by Alexander Fest Verlag, Berlin

Lektorat Alexander Fest

Covergestaltung any.way, Hamburg, nach einem Entwurf von Ott + Stein

Coverabbildung Mike Jordan

ISBN 978-3-644-00741-3

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Membran

Schiem

Endlich allein. Endlich im Flugzeug. Endlich auf Nachtflug zwischen den Städten. Die Alterstollheit des Großen Schiem, des ungekrönten Königs der Branche, hat uns fünf Tage in der Hauptstadt zusammengezwungen gehalten. Aus allen vier deutschen Himmelsrichtungen, aus allen vier Dependancen der Agentur hatte Schiem uns für eine erste Arbeitswoche zu sich ins Zentralbüro kommandiert. Wir, die Elite der Texter, saßen mit knirschenden Kiefern, mit zitternder Schreibhand vor der Videoprojektionswand, auf der Schiems neues Vorhaben erschien. Der Große Schiem, den auch die Älteren unter uns nur als den Alten kennen, hat unsere Erwartungen, die stets das denkbar Schlimmste imaginieren, erneut übertroffen. Immer übertrumpft er, der Firmeninhaber, uns, seine hochbezahlten Spezialisten. Wir, die Fixesten unter den Zungenfertigen der Branche, stehen, lallend um das erste Wort ringend, vor der kühnen Vorgabe Schiems. Geblendet von seinem jüngsten Projekt, wagen wir nicht, es einen hellen Wahnsinn zu nennen.

 

Endlich allein. Endlich im Flugzeug. Freitagnacht auf Heimflug Richtung Süden. Für zwei Tage der Fuchtel Schiems entkommen. Zum Schein nur. Denn Montag früh werden wir alle, die am Wochenende ergrübelten Ideen spruchreif in den Kehlen, wieder zur Teambesprechung Platz nehmen. Dann ist, wie jeden Montagmorgen, Schiems Platz leer. Aber in der Mitte des Konferenztisches steht auf einem Kautschuktellerchen das winzige Mikrophon, über das er unsere Besprechung mithören kann. Hoch über uns, im aufgestockten Penthouse, beginnt der Große Schiem eine neue Woche weltüberspannender Geschäfte. Nur selten beliebt es ihm, sich in die Montagmorgenkonferenz der Texter einzuschalten, dann wispert der Flüssigkristallbildschirm an der fensterlosen Ostwand, Schiems Brustbild erscheint oder auch nur der leere Chefsessel, auf den die Kamera seit Jahr und Tag unbewegt gerichtet ist. Elektronisch bis zur Überdeutlichkeit verstärkt, erreicht uns ein geraunztes Schimpfwort, meist eine vulgäre Bezeichnung der Sexualorgane, oder Schiems unverwechselbares Stöhnen, laut und anhaltend, ehe sein Bild oder das Bild seines Sessels wieder erlischt. Wir, das Team der Texter, ballen wie ein Mann die Faust unter dem Konferenztisch und wissen, dass wir schnell, dass wir sehr schnell, dass wir sofort brauchbares Material auswerfen müssen.

 

Endlich allein. Endlich im Flugzeug. Mein Platz in dieser Maschine ist für die nächsten Wochen reserviert. Der heutige Flug scheint ausgebucht. Mein Nebenmann schiebt sich an mir vorbei auf den Fensterplatz. Seine Brille, seine Krawatte, das Gesicht kommen mir bekannt vor, als hätten wir im Verlauf der letzten, der furchtbaren Woche einmal gemeinsam vor einem der Aufzüge oder an der Kasse der Cafeteria gestanden. Schiem erwartet, dass wir das Gebäude von Montag bis Freitag nicht verlassen. Für die Kasernierung der Projekttexter gibt es ein firmeninternes Scherzwort, eine plumpe, vermutlich von Schiem persönlich geprägte Obszönität. Schiem hat seine eigenen Begriffe, und wer mit ihm arbeiten will, lernt, sie über die Lippen zu bringen. Nur zum äußerst zeitigen Frühstück dürfen wir in der allgemeinen Betriebscafeteria Platz nehmen. Den Mittags- und den Nachmittagsimbiss bringt uns die aschblonde von Schiems Töchtern in die Projekträume. Die Aschblonde bewacht auch den Nachtkühlschrank. Sie sitzt in einem winzigen Kämmerchen, nicht größer als unsere Zimmer, die eigentlich nur Schlafkabinen sind. Wenn einer von uns in den Stunden nach Mitternacht zum Gemeinschaftsklo schlurft, sieht er bei der Aschblonden das Licht brennen, und falls er noch ein Bier braucht, klopft oder kratzt er an ihrer angelehnten Tür.

 

Endlich allein. Endlich allein in einem Dämmern, das nicht der Agentur gehört. Nur meinen Platz hat Schiem gechartert, die anderen Passagiere fliegen auf Kosten anderer Firmen. Einen hat mein Blick im Vorübergehen erkannt. Ein Informatiker, vor Jahren hat er mit mir in Südwest angefangen, aber schon bald fiel er einer von Schiems Säuberungen zum Opfer. Entschlackung nennt es der Große Schiem. Statistisch ist jede Niederlassung zweimal im Jahr davon betroffen. Doch zu einem abschätzbaren Rhythmus lässt Schiem es nie kommen. Bei uns passierte fast ein Jahr nichts, dann, diesen Frühling, zwei radikale Säuberungen im Abstand von knapp vier Wochen, und schon war Südwest auf mich, den Texter, und einen blutjungen Graphiker zusammengeschmolzen. Die für dergleichen Extremfälle zuständige Tochter Schiems, die kastanienbraune, kam aus der Hauptstadt eingeflogen. Ohne viel fragen zu müssen, übernahm sie Telefondienst und Korrespondenz. Alle regionalen Kunden, auch die neusten, sind der Kastanienbraunen auf gespenstische Weise vertraut. Vielleicht ist im Verlauf der letzten Woche wieder jemand für Südwest eingestellt worden. Mich hat keine Nachricht erreicht. Während der Projektwochen sind wir nach außen abgeschottet, Telefongespräche sind nur zwischen Arbeitsende und Mitternacht erlaubt und müssen an einem Apparat im Zimmerchen der Aschblonden abgewickelt werden. Der altertümliche Münzfernsprecher ist über dem Kühlschrank angebracht und auf einen hinterhältig kostspieligen Zeittakt geschaltet. Auf Zehenspitzen steht man, wirft in einem fort Münzen nach, die das Gerät willkürlich annimmt oder durchfallen lässt. Man brüllt gegen das Geklacker der Geldstücke an, verkrampft sich, halb auf dem Kühlschrank hängend, immer mehr und glaubt zuletzt, das laute Schnaufen der aschblonden Schiemtochter, die den Raum nie verlässt, als stieße es aus der Hörmuschel, im Gehörgang zu spüren.

 

Endlich im Flugzeug. Endlich nimmt die Entfernung zu. Der Mann neben mir hat sich ein Getränk bringen lassen. Es ist etwas Dunkles, vielleicht Rotes. Ich weise mit dem Finger auf sein Glas und verlange mit einem Kopfnicken das Gleiche. Mein Nebenmann grunzt leise. Vielleicht schmeichelt ihm, dass ich mich ihm anschließe. Aber ich lasse mich nicht auf ein Gespräch ein. Zwei Tage lang will ich selbst nur unartikulierte Laute von mir geben. Jedem im Team muss es so gehen. Schiem hat uns bis auf die letzte sinntragende Silbe ausgesaugt. Er, der magere Greis, der nie in unserer Anwesenheit trinkt oder isst, nimmt unsere frischgeborenen Einfälle mit vernichtender Gier zu sich. Sogar der Pole vom Fahrdienst, der wirklich nichts von unserer Arbeit versteht, hieß ihn heute einen Blutsauger. Das und noch Schlimmeres hat der radebrechende Kerl, als er den Kleinbus mit uns Textern zum Flughafen steuerte, den Großen Schiem genannt, und er braucht deswegen keine Konsequenzen zu fürchten. Schiem liebt es, beschimpft zu werden. Als er mich einstellte, forderte er mich, den branchenunerfahrenen Geisteswissenschaftler, auf, ihn, den angestrebten Arbeitgeber, mit Schmutzwörtern zu schmähen. Er öffnete die Tür zum Vorzimmer, damit seine Tochter, die Kastanienbraune, mithören konnte. Ich gab ihm, was meine Not mir eingab, und bestand die Probe. Längst weiß ich, dass diese erzwungene Beschimpfung noch eine der gnädigen Zumutungen des Alten war. Schiem schont seine Texter nicht. Wir, die Elite der Branche, sind Übriggebliebene, und das laufende Projekt wird unsere Reihen noch einmal lichten. Darüber sind sich alle im Klaren, und jeder muss fürchten, dass es dieses Mal auch ihm die Sprache verschlagen wird.

 

Endlich im Flugzeug. Endlich Zeit und Raum, sich unter Unbekannten zu betrinken. Während der Projektwochen ist gemeinsamer Alkoholgenuss verpönt. Selbst nach dem Ende der Arbeitszeit, spät am Abend, bringt das Team der Texter nicht den Mut auf, um ein paar Flaschen zusammenzusitzen. Jeder holt sich, was er braucht, aus dem Kühlschrank. Manchmal treffen sich zwei von uns dabei auf dem Flur. Der, der vom Kühlschrank kommt, drückt, wenn er Courage hat, dem noch Unversorgten eine Flasche in die Hand. Man verweilt mit unruhigem Blick für zwei, drei hastige Schlucke beieinander. Ein halblautes Wort, ein ungedämpfter Rülpser, das Zischen beim Abhebeln des Kronenkorkens, wenig genügt, um die Aschblonde an die Tür zu locken. Sie schaut dann kurz und scharf in den Gang, gerade lang genug, um die Beieinanderstehenden zu identifizieren. Völlige Unsicherheit herrscht bei uns im Team darüber, bis zu welchem Punkt das gemeinsame Trinken auf dem Flur vielleicht doch noch als zulässig gelten kann. Einig sind wir uns darüber, dass es auf jeden Fall anstößig wäre, im Wechsel aus derselben Flasche zu schlürfen. Und einen Kollegen gar zu gemeinsamem Trunk in die Schlafkabine mitzunehmen liegt so fern unserer Möglichkeiten, dass mich auch jetzt in der Warteschleife des Wochenendes wundert, wie mir der Gedanke daran überhaupt kommen konnte. Nein, wir Texter betrinken uns allein, allerdings sind die Gipskartonwände zwischen unseren Kojen so dünn, dass zwangsweise doch eine wechselseitige Anteilnahme entsteht. Man hört dem Nachbarn die Flasche polternd entfallen. Man erkennt das ungesunde, röchelnde Schnarchen des ersten Schlafes. Man erwacht durch den lallenden Fluch eines anderen Erwachenden, wenn sich die unwillkürlich vom Nachttischchen gestoßene Flasche über dessen Kopfkissen ergossen hat.

 

Endlich allein im Flugzeug. Endlich ein richtiges Glas in Händen. Aber es war ein Fehler, mir das Getränk meines Nebenmannes zu bestellen. Er hat sich längst das zweite Glas bringen lassen, während ich noch immer angewidert dem ersten Schluck nachschmecke. Es handelt sich um einen Long Drink, schwerflüssig, fast sämig. Zugleich registriert die Zunge sirupartige Süße und pfeffrige Schärfe. Mein Nachbar hat sein Leselämpchen eingeschaltet. Das Licht der winzigen Birne genügt, um die Flüssigkeit in unseren Gläsern rötlich aufschimmern zu lassen, und es ist zu meinem Unglück jener Farbton, der Schiems dritte Tochter, die Tizianrote, für uns alle unverwechselbar macht. Ein firmeninternes Gerücht, unverwüstlich gerade wegen seiner Lächerlichkeit, besagt, dass der Große Schiem einst demjenigen die Führung der Geschäfte übergeben will, dem es gelingt, die Tizianrote zum Traualtar zu führen. Wie immer, wenn ich an diesen Unsinn denke, überwältigt mich auch jetzt die utopisch komische Vorstellung, dass diese Großtat einem von uns Textern gelänge. Ich kann ein Kichern nicht völlig unterdrücken, ein Glucksen schüttelt mich so heftig, dass mir das widerliche Mischgetränk in den Schoß, auf die Hose schwappt. Schiems tizianrote Tochter ist, solange ich in der Agentur bin, immer nur in den Abschlussphasen der überregionalen Projekte in Erscheinung getreten. Schiem, der uns ohne Atempause durch die Wochen gejagt hat, bleibt dann für drei Tage verschwunden. Wir, verhetzt und aufgerieben von seinen unberechenbaren Wendungen, von den Finten, Launen und schäbigen Tricks, mit denen er jedes Zwischenergebnis torpediert und unsere Arbeit lächerlich laienhaft dastehen lässt, wir nehmen sein Wegbleiben wie erlöst wahr und fallen der Tizianroten mehr als wehrlos in die Hände. Schon vor der Kastanienbraunen, die anreist, wenn eine Niederlassung nach einer väterlichen Säuberung übermäßig dezimiert ist, schrecken wir zurück. Unsere Scheu wurzelt in dem simplen Umstand, dass sie es ist, die jedem von uns den Einstellungsvertrag ausgedruckt hat. Das Formular trägt den Titel EINHEITSVERTRAG WORTKÜNSTLER. In fünf knappen Paragraphen sind die wenig rühmlichen Konditionen unserer Tätigkeit niedergeschrieben. In Paragraph Sechs tippt die Kastanienbraune jenes Anfangshonorar ein, um das uns alle anderweitig in der Branche beschäftigten Texter beneiden. Paragraph Sieben ist nicht vorformuliert. Auf dem Leuchtschirm der Kastanienbraunen verweilt der zuckende Cursor, bis Schiem selbst zu seiner wartenden Tochter tritt. Von hinten beugt er sich über ihre Schulter und flüstert ihr ins Ohr, was er sich als siebte und letzte Vertragskondition für den Frischangeworbenen ausgedacht hat. Die Schamesröte steigt mir ins Gesicht, wenn ich mir vor Augen halte, dass diese Schiemtochter den Paragraphen Sieben, die intime Vertragsklausel eines jeden Texters, kennt. Kurz schwanke ich, ob die Kastanienbraune nicht durch ihre Mitwisserschaft ihrer tizianroten Schwester an abschreckender Potenz gleichkommt, aber dann entsinne ich mich des letzten großen Projekts und seiner peinigenden Abschlussphase und gebe der Tizianroten wie immer den Vorzug.

 

Endlich allein. Endlich auf Heimflug. Erneut vergeblicher Versuch, den nicht verschütteten Rest des rötlichen Gebräus über die Lippen zu bringen. Leichthin kann mein Nebenmann das dritte oder vierte Glas mit lautem Schlürfen leeren. Er muss die Tizianrote nicht kennen. Ihr Bild ist uns Nährboden immer neuer Angstvorstellungen, und eben erst schwenkten meine Gedanken ins Gelände einer solchen Phantasie. Sie nahm die sämige Konsistenz des Cocktails zum Anlass und leitete die Dickflüssigkeit der Mischung aus wahrhaft widerlichen Komponenten her. Es war, als keimte eine von Schiems Zoten verzögert aus, um mit rötlichem Trieb endgültig in mir Wurzel zu fassen. Alle Texter kennen den Würgegriff dieser Wochenendphantasien. Bei uns Älteren treten sie schon in der Nacht auf Freitag auf, mit gurgelndem Ausruf fahren wir aus unseren Träumen, die, obschon noch immer von Schiems Stimme durchdröhnt, bereits tizianrote Färbung angenommen haben. Pure Angst treibt uns dann aus den schmalen Betten. Die Finger in den Bund unserer Pyjamahosen gekrampft, tippeln wir die kurze Wegstrecke längs unseres Nachtlagers auf und ab. Und schließlich zwingt uns die Schlaflosigkeit sogar hinaus auf den Gang. Im ersten Morgengrauen schaben wir an der Tür der Aschblonden, um die Tizianrote einige nervöse Handgriffe lang zu vergessen.

 

Endlich im Flugzeug. Endlich zum Schein dem Bannkreis des Großen Schiem entronnen. In böser Voraussicht hat er unsere Heimflüge gebucht, mit Schadenfreude sieht er uns jeden Freitag in den Zubringerkleinbus steigen. Ohne Hoffnung führte ich vorhin das Glas abermals an die Lippen, ließ den von Speichel längst wässrig verdünnten Cocktail bis an die Zungenspitze schwappen. Aber dann wuchs mir unvermutet Beistand zu, von rechts schwenkte die Hand des Nebenmannes in mein Blickfeld. Mit sanftem Nachdruck legten sich seine Fingerspitzen auf den Boden des Glases und erhöhten die Abflussneigung. Zweifellos hatte er meine Not begriffen, mit Gefühl und mit Entschiedenheit verkleinerte er den Winkel. Meine Schlucksperre hat sich gelöst, der Kehlkopf tut seine Pflicht. Meine Lider schließen sich fast ganz. Durch Schlitze sehe ich, wie mir mein Beisitzer das leergetrunkene Glas aus den verkrampften Fingern windet. Jetzt schiebt sich sein Gesicht vom Gestell seiner Brille bis zum Knoten seiner Krawatte dicht vor mich. Ohne Anstrengung wird er mir kenntlich. Natürlich ist er vom Fach. Auch er war einmal und ist vielleicht noch Schiems Texter. Vor Jahren, in der Unschuld der Anfangszeit, saßen wir in derselben Projektgruppe. Ein wahnwitziges Vorhaben, einer von Schiems rücksichtslosesten, nicht nur uns Neulinge restlos überfordernden Einfällen. Schon damals ging es darum, in einen völlig übersättigten Markt einzubrechen. Schiem schaffte es täglich aufs Neue, die schiere Unmöglichkeit des Plans in das Gebot der Stunde umzuformulieren. Wir stöhnten unter seinen höhnischen Paradoxien, es war, als wollte er uns den gesunden Menschenverstand wie ein Fell über die Ohren ziehen. Jetzt, wo mein Nebenmann die Brille abnimmt, schärft sich meine Erinnerung erneut. Die Tizianrote übernahm damals an einem Montag die Leitung der Endphase. Am vorausgegangenen Freitag hatte Schiem all unsere bisherigen Entwürfe vernichtet, und in seiner endlosen, fünf, sechs oder sieben Minuten währenden Schimpftirade war zu meinem Schrecken urplötzlich der Wortlaut meines Siebten Paragraphen aufgetaucht. Erst jetzt dämmert mir, dass damals gewiss auch die anderen Texter ihre persönliche Vertragsklausel auf diese niederschmetternde Weise veröffentlicht bekamen. Am Montag hatte die Tizianrote leichtes Spiel. Wir lechzten nach ihrem Erscheinen. Ohne Gruß nahm sie auf dem freien Stuhl ihres Vaters Platz. Sie schnäuzte sich lang und gründlich, so wie sie es heute noch in unvergleichlicher Weise tut. Dann räusperte sie sich heftig, hustete, wie um etwas auszuwerfen, und kratzte sich ausgiebig, als gäbe es uns nicht, mit einem ihrer langen Fingernägel in beiden Halsbeugen. Ein letzter isolierter Krächzer, ein wortferner, fast mechanischer Reibelaut entfuhr ihrer Kehle. Wir spitzten die Ohren, hielten den Atem an, und nach einem Moment einhelligen Schweigens bekamen wir die erste Vorgabe. Die Spitzen ihrer Schuhe hoben sich, die Hacken begannen zu schlagen. Mit beiden Absätzen, mal gleichzeitig niederstoßend, mal gegeneinander versetzt, trommelte sie uns den gebotenen Rhythmus auf das Parkett. Zunächst in seiner nackten Grundform, fünfmal, ganz langsam wie zum Mitschreiben. Dann folgten zwei elaborierte Varianten: Mit einem scharfen Ruck zwang sie dem Kugellager des Drehstuhls ein Geräusch ab. Dieses Schnarren und, in der letzten Vorgabe, ein außerordentlich lautes, fast metallisch knallendes Zungenschnalzen markierten uns die gewünschte Position der Triebwörter. Wir schluckten. Die Älteren unter uns leckten sich, wie von jeder Scham verlassen, die Lippen. Die Tizianrote erhob sich, ging leichten Schritts an uns vorbei und stellte sich hinter unsere Rücken. Wir starrten den leeren Stuhl an. Jetzt war es an uns, die Vorgabe mit Worten zu füllen. Mein Mitflieger, der barmherzige Cocktailtrinker, war damals derjenige, der in unser aller Namen als Erster antrat. Wieder kommt mir sein Aufstieg vor Augen. Er war jung, wie ich es war, dicklich und ungeschickt. Seine Brille rutschte ihm von der Nase, purzelte auf den Boden, als er langsam und umständlich den freigegebenen Stuhl erklomm. Schwankend kniete er auf der Sitzfläche, streckte uns, den Kollegen, den Hintern entgegen und brauchte drei Anläufe, bis er endlich mit dem Gesicht zu uns auf dem Stuhl stand und seinen Textversuch zum Vortrag bringen konnte.

 

Endlich allein. Endlich auf Nachtflug zwischen den Städten. Mein einstiger Mittexter hat seine Position nicht verändert. Sein süßlich pfeffriger Atem streicht mir über Stirn und Wangen. Gewiss war auch er all die Jahre ununterbrochen in Schiems Diensten. Wer kann wissen, wie viele Projekte seitdem im Namen Schiems das Licht der Welt erblickten. Die rechte Hand des Kollegen legt sich auf die Muschel meines linken Ohrs; fast übermannt mich die Versuchung, die Augen ganz zu schließen. Es wäre wohl erlaubt. Es wäre letztlich im Sinne Schiems. Auch für die Dauer dieses Projekts hat der Große Schiem ein strenges Bilderverbot über uns verhängt. Erneut fand er einen endgültigen, uns in unserem Tun demütigenden Spruch, um den Abgrund zwischen uns und den mit dem bloßen Augenschein operierenden Kollegen zu markieren. Wie beim ersten Mal duckten wir unsere Köpfe verschreckt unter die unumstößliche Wahrheit. Also vertraut auch jetzt, ins kümmerliche Leselicht des Nachtflugs blinzelnd, der Texter gemäß Schiems Gebot aufs Wort – und nichts verrückt sich in der Rangordnung der Sinne, wenn bald, wenn gleich, wenn gleichzeitig die Münder zweier Texter aufeinanderstürzen, wenn die Gebisse klackernd ineinanderschlagen und beide Zungen, am fremden Gaumen schnalzend, um eine Achse kreisen.

Neuma

Wir zwei, wir Brüder im Geiste, wir rauchten und rauchten. Wir rauchten beide, was wir nur konnten, und standen im eisigen Regen. Der Ostwind des hauptstädtischen Winters kasteite den Stirnbalkon unserer Penthouse-Wohnung. Unsere Hemden blähten sich zwangsbeatmet, unsere Krawatten peitschten uns um die Hälse, und wenn einem von uns eine Böe die ganze Glut von der Zigarette riss, gab ihm der andere Windschutz mit Oberkörper und Händen, bis der kaltgeköpfte Stummel von neuem entfacht war.

Wir rauchten um die Wette. Der launige Sturm nahm unseren Balkon von allen drei offenen Seiten. Die nach unten geschnipsten Kippen erreichten in der Regel nicht die Marmorfliesen. Im Fall noch wurden sie durch das Balkongitter hinausgerissen. Ein einziger Filter lag in einer Fugenrille zu unseren Füßen. Wir hatten gewettet, dass der, der zuerst drei auf dem Balkonboden liegen hatte, nicht zur Buckligen Gräfin hinausfahren musste.

Beide lehnten wir mit den Rücken an den Glasschiebetüren unseres Speisezimmers. Längst waren wir so ausgekühlt, dass wir keine Kälte mehr spürten. Beide dachten wir an das Bild, das wir heute Nacht von der Buckligen Gräfin kaufen wollten, und beide schauderten wir vor Unbehagen, wenn uns die unumgänglichen Komplikationen des Ankaufs in den Sinn kamen. Die Bucklige Gräfin war berüchtigt für die Bösartigkeit ihrer Launen. Untrüglich war ihr Gespür für die Gier des Käufers. Roch sie die schwitzende Sorge des Interessenten, seine Angst, das begehrte Gemälde nicht zu bekommen, begann sie ein umständliches Taktieren, und es fielen ihr wahrhaft verblüffende Zumutungen ein, um den Vertragsabschluss in schier endlos währender Vorlust hinauszuzögern.

Um uns wurde es dunkel, doch auch im Dämmerlicht waren unsere Kippen mühelos an den Farben ihrer Filter zu unterscheiden. Der Sturm hatte ein wenig nachgelassen. Unser Wettkampf ging seiner Entscheidung entgegen; schon stand es Zwei zu Zwei. Wir rauchten, so gut wir nur konnten. Wer die Nacht bei der Buckligen Gräfin verbringen musste, war doppelt geschlagen. Er würde, das Gemälde vor Augen und verstrickt in die immer komplizierter werdenden Verhandlungen, stundenlang ohne erlösenden Lungenzug auskommen müssen. Die Bronchien der Buckligen Gräfin reagierten allergisch auf vieles, vor allem aber auf das Partikelgemisch ordinären Zigarettenrauchs. Bereits ein Hauch des erkalteten Dunstes konnte einen ihrer unvergleichlichen asthmatischen Wutanfälle auslösen, und dann war jedem, auch dem zahlungslustigsten Kunden, das Bild verloren.

 

 

Ich fuhr Richtung Wannsee, einem aufklarenden Nachthimmel entgegen. Von unserem Balkon hattest du mir noch einmal gewinkt und mir Unverständliches, gewiss gute Wünsche, nachgerufen. Ich zündete mir meine vorletzte Zigarette an. Vor genau zwei Jahren hatten wir unsere Gemäldesammlungen fusioniert und lebten seitdem, gleich unseren Bildern, zusammen. So ließ sich das Praktische mit dem Geistigen verbinden. Schon davor hatten wir, jeder für sich, das Gleiche gesammelt: Männlichen Akt nach 45. Für mich war es nach und nach der Schwerpunkt meiner Sammlung geworden, du erwarbst in kluger Konsequenz längst nichts anderes mehr. Vom Tag unseres Zusammenschlusses an genossen wir beide die Anschauung der bedeutendsten Privatsammlung zu diesem Thema, dem großen geheimen Thema der Nachkriegszeit. Nicht alles, was wir zusammengetragen haben, können wir aufhängen. Aber die wichtigsten Bilder, die bahn- und bannbrechenden, sehen uns von den Wänden unserer Wohnung entgegen. Nur die Feuchträume und der Balkon sind gefliest und in zweckhafter Nacktheit bildlos verblieben. Dort rauchen wir. Das Rauchen ist unsere zweite, unsere stiefmütterliche Leidenschaft. Wir frönen ihr gleichermaßen maßlos. Die asthmatische Gräfin wäre in dieser Nacht nicht einmal zum Verkauf einer Kunstpostkarte bereit gewesen, hätte sie gesehen, wie schlimm wir es den ganzen Abend auf dem windigen Balkon mit unseren Glimmstängeln getrieben hatten.

Eine Schande war es stets gewesen und eine himmelschreiende Ungerechtigkeit dazu, dass unsere Sammlung, dass wir beide keinen Piotr Neuma besaßen. Wie Phönix war das Werk dieses Malers aus der Asche der sowjetischen Staatskunst aufgestiegen. Keiner, auch der ausgefuchsteste Kenner nicht, hatte vorher von Neuma gewusst. In Kisten und Koffern hatten seine Bilder über vierzig Jahre lang weniger als ein Schattendasein geführt. Bis zu seinem mutmaßlichen Tod war Piotr Neuma als Ingenieur für Erdgastechnik im südlichen Sibirien tätig gewesen. Nur einmal im Jahr, immer wenn er im Winter seine Verwandten in Leningrad besuchte, war er vor eine Leinwand getreten, und in einem wahren Furor, in einem gewaltigen Ausatmen, entstand dann sein jährliches Bild. So ist die Chronologie seines Gesamtwerks problemlos überschaubar: vierzig Bilder in vierzig Jahren.

Wie die Hyänen stürzten sich die japanischen Sammler, die amerikanischen Galeristen und, mit schwerfälliger Verzögerung, auch die russischen Museen auf die ins Helle der Anerkennung geratenen Stücke. Innerhalb weniger Jahre waren fast alle der bei Verwandten und Freunden Neumas verstreuten Bilder ausfindig gemacht und aufgekauft. Meist hatten sie halbvergessen auf Dachböden und in Kellern gelegen. Neuma hatte seine Gemälde zu Hochzeiten und Kindstaufen verschenkt, und die ignoranten, im besten Fall feigen Empfänger hatten seinen Werken meist bloß wenige Tage im bescheidenen Licht der privaten Öffentlichkeit gegönnt.

Nur eine Ausnahme war bekannt. Der Leiter eines sibirischen Ambulatoriums hatte dem Künstler im zweiten Nachkriegswinter das aus Leningrad mitgebrachte Bild gegen zwei Dosen Tabak abgetauscht. Es hing, den Blicken der Kranken und der Gesunden offen, fast vier Jahrzehnte auf der Röntgenstation der schäbigen Klinik. Dann nahm es der Arzt in den Ruhestand mit nach Moskau, und dort wurde die frühe Arbeit der Anlass zu Neumas Entdeckung. Wir beide hatten das Bild im zurückliegenden Jahr auf der großen Piotr-Neuma-Gesamtschau in Chicago zum ersten Mal vor Augen. Wie alle Werke der ersten Phase ist es in Rosa und in bläulichen Rottönen gehalten. Man kann es halbgegenständlich nennen. Eine Art Torso, ein nackter Rumpf mit übergroßem, klobigem Kopf, neigt sich einem geäderten Pfahl, der ihm in seinem unteren Teil entwächst, entgegen. Die ganze Konfiguration erinnert in ihrem matten Glänzen an abgehangenes Fleisch, zugleich aber scheint das Körpergebilde von einem gasförmig leuchtenden, fast pulsierenden Leben durchströmt. Den Titel des Werkes hat Neuma wie eine Tätowierung in den Kopf der Figur eingearbeitet: Die Dreizehnte Aufgabe Des Herkules.