Die Logik der Süße - Georg Klein - E-Book

Die Logik der Süße E-Book

Georg Klein

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Beschreibung

«Verzeihen Sie mir bitte, dass ich von Vergangenem erzähle: Für Sie, die Bewohner einer monumentalen Gegenwart, muss es eine Belästigung bedeuten, wenn ein alter Fremder es mit einem einzigen längst verflossenen Tag peinlich genau nimmt.» Die Kinder wissen nicht, was einmal war. Die Insel, die einsam aus dem Meer ragt, ist ihnen eine Welt eigener Zeitordnung. Als Überlebende einer Naturkatastrophe hausen sie in seltsamer Symbiose mit zwölf greisen Lehrern. Keiner der alten Päd­agogen ahnt, wie bald ihnen die kostbaren Kleinen entgleiten werden. Zwei geheimnisvolle Reisende beziehen Quartier in einem Prager Bürgerhaus. Seit fast einem Jahrhundert verfolgen sie einen Feind, mit dem sie so innig verbunden sind, dass sich die letzte, die entscheidende Begegnung in ein anrührendes Schauspiel der Liebe verwandelt. Ein professioneller Dieb landet auf dem letzten Zipfel der nach Westen entschlüpfenden Nacht. Man hat ihn nach Novosibirsk geschickt, um nach Deutschland zu entführen, was dort im Schutt der Historie, unter kaputten Uhren, Orden und Gedenkmedaillen, unter verschrammtem Modeschmuck, bunten Matrioschkas und rostigen Militaria verborgen liegt. All diese eigensinnigen Gestalten durchbrechen die starre Chronologie unseres Daseins. Sie jagen, forschen, finden – und stoßen in Bereiche vor, in denen sie Verunsicherung und Gefahr, aber auch die Erfahrung einer besonderen existenziellen Süße erwartet.

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Georg Klein

Die Logik der Süße

Erzählungen

 

 

 

Über dieses Buch

«Verzeihen Sie mir bitte, dass ich von Vergangenem erzähle: Für Sie, die Bewohner einer monumentalen Gegenwart, muss es eine Belästigung bedeuten, wenn ein alter Fremder es mit einem einzigen längst verflossenen Tag peinlich genau nimmt.»

Die Kinder wissen nicht, was einmal war. Die Insel, die einsam aus dem Meer ragt, ist ihnen eine Welt eigener Zeitordnung. Als Überlebende einer Naturkatastrophe hausen sie in seltsamer Symbiose mit zwölf greisen Lehrern. Keiner der alten Pädagogen ahnt, wie bald ihnen die kostbaren Kleinen entgleiten werden.

Zwei geheimnisvolle Reisende beziehen Quartier in einem Prager Bürgerhaus. Seit fast einem Jahrhundert verfolgen sie einen Feind, mit dem sie so innig verbunden sind, dass sich die letzte, die entscheidende Begegnung in ein anrührendes Schauspiel der Liebe verwandelt.

Ein professioneller Dieb landet auf dem letzten Zipfel der nach Westen entschlüpfenden Nacht. Man hat ihn nach Novosibirsk geschickt, um nach Deutschland zu entführen, was dort im Schutt der Historie, unter kaputten Uhren, Orden und Gedenkmedaillen, unter verschrammtem Modeschmuck, bunten Matrioschkas und rostigen Militaria verborgen liegt.

All diese eigensinnigen Gestalten durchbrechen die starre Chronologie unseres Daseins. Sie jagen, forschen, finden – und stoßen in Bereiche vor, in denen sie Verunsicherung und Gefahr, aber auch die Erfahrung einer besonderen existenziellen Süße erwartet.

Vita

Georg Klein, 1953 in Augsburg geboren, veröffentlichte unter anderem die Romane «Libidissi», «Barbar Rosa» und «Sünde Güte Blitz» sowie die Erzählungsbände «Anrufung des Blinden Fisches» und «Von den Deutschen». Für seine Prosa wurden ihm der Brüder-Grimm-Preis und der Bachmann-Preis verliehen; für den 2010 erschienenen «Roman unserer Kindheit» erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse.

Georg Klein lebt mit seiner Frau, der Schriftstellerin Katrin de Vries, und zwei Söhnen in Ostfriesland. www.devries-klein.de

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2010

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Der Abdruck der Erzählung «Nacht mit dem Schandwerker» erfolgt mit freundlicher Genehmigung

des Suhrkamp Verlags. Sie ist der von Johannes Ullmaier herausgegebenen Anthologie

«Schicht! – Arbeitsreportagen für die Endzeit» entnommen. Copyright © Suhrkamp Verlag,

Frankfurt am Main 2007.

Lektorat Katja Sämann

Covergestaltung ANZINGER WÜSCHNER RASP, München

Coverabbildung Umschlagabbildung: (c) Michael Jordan

ISBN 978-3-644-00851-9

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

FUTUR EINS

Die Pferde der Kinder

Die Kinder wissen es nicht. Unsere Kinder ahnen nicht einmal, wo sie ihr Leben verbringen. Letzte Nacht erreichte der fremd gewordene Mond erneut seinen Tiefstand. Nach drei Wochen lotrechten Aufstiegs, nach vierwöchigem, ebenso senkrechtem Sinken klebt seine gewaltig nahe Kugel wieder auf dem nördlichen Horizont. Dort, am unteren Wendepunkt seiner für mich noch immer schaurig neuen Bahn, ist seine Leuchtkraft am größten. Keinen von uns Altweltlern lässt das blaustichige Strahlen zur Ruhe kommen. Niedrigmondlicht nennen wir es, um zumindest den Trost eines Namens zu haben. Schlaflosigkeit treibt uns bei Niedrigmond zusammen, und palavernd rettet sich unsere dreizehnköpfige Runde in den Morgen. Auch zurückliegende Nacht blieb es, während die Kleinen schlummerten, nach langem Hin und Her dabei, dass ihnen das Wesentliche weiterhin verschwiegen werden soll.

Das muntere Häufchen, die vier Knaben und unsere drei kostbaren Mädchen, scheint das Fehlen von Vergangenheit nicht zu bekümmern. Der Wurmberg, der einmal die höchste Erhebung eines stolzen Territoriums war, den Orts-, Fluss- und Flurnamen als ein Dickicht eigener Art umschlangen, für die Kinder ist er schlicht ihr Zuhause. Jetzt, bei Niedrigmond, zieht sich das Wasser weit zurück, und unsere Restwelt erreicht ihre größte Ausdehnung. Die Kleinen spielen schon den ganzen Tag unten am Ufer. Nur die stärksten Böen des Sommerwinds tragen ihr fröhliches Geschrei den Hang hinauf an den Bunkereingang. Aus irgendeinem dummen Grund ist es mir und den alten Männern nicht gelungen, die wuchtigen Stahlflügel beizeiten in Bergtor oder Bergtür umzutaufen.

Die Kinder vergnügen sich an der Grünen Rutsche. Nur bei Niedrigmond liegt die feucht glänzende Rampe gut hundert Schritt lang frei. Dann steigt sie aus dem Wasser auf, um an ihrem oberen Rand schwarzzackig abzubrechen. Die Gleitschicht besteht aus festen, kurzfaserigen, an der Luft schmierig werdenden Algen. Es würde nichts ändern, den Kleinen zu sagen, dass ihre geliebte Grüne Rutsche ein Stück Fahrbahn darstellt. Sie wissen ja nicht, was eine Straße war. Der alte Kirchhoff behauptet, es handle sich um ein monumentales Fragment der Bundesstraße. Rund um den Wurmberg sei einzig sie derart breit gewesen, und erst jetzt, wo ihr Asphaltband untergegangen sei, klinge ihre Nummer wirklich wie ein Name. Uns Altweltlern, den anderen Greisen und mir, malt Kirchhoff gern aus, wie das imposante Bruchstück gleich einem riesigen Surfbrett am Berg zu liegen kam. Kirchhoff ist unser Romantiker, der Einzige, der dem schaurigen Pendelhub des Mondes die Schönheit des Neuen abzugewinnen vermag.

Da kommt er, als hätte er gespürt, dass ich an ihn denke. In einer guten halben Stunde sollen wir den nervösen Schmidt und den tattrigen Buhr als Kinderwache ablösen. Obwohl Kirchhoff an die achtzig sein muss, hat sein Schritt etwas Federndes, fast Hüpfendes. Seine Kameraden schwören, erst unter den hiesigen Umständen habe er sich diese späte Munterkeit erworben. Zuvor sei er ein träger, übellauniger Pedant gewesen, einer, der zehn Jahre nach der Pensionierung noch immer – zur Sicherheit! – nicht nur Füller und Bleistift, sondern auch drei Stück Tafelkreide in einem speziellen Etui bei sich trug. Dazu so hypochondrisch, dass man zuletzt sogar erwogen habe, ihn nicht mehr zur jährlichen Harz-Tour einzuladen. Der Herrenwanderclub «Gut Fuß, Saxonia!», zwanzig Gymnasiallehrer im Ruhestand, hatte den Wurmberg am letzten Morgen der Altzeit in Angriff genommen. Auf halbem Weg teilte sich die Gruppe. Ausgerechnet Kirchhoff, bislang als miesepetriger Schlurfer verschrien, habe damals die Leistungsfähigeren zu ungewohnt forschem Marschieren angespornt. Nur diese Vorhut, Kirchhoff und elf weitere pensionierte Pädagogen, konnte sich rechtzeitig an meine Arbeitsstelle, zu mir in den Bunker, retten.

Kirchhoff raucht. Die Lehrer waren ohne Ausnahme Nichtraucher, sind alle erst hier oben den Zigaretten anheimgefallen. Kirchhoff treibt es am schlimmsten und ist wirklich nie ohne eine Kippe zwischen den Lippen anzutreffen. Weil er das Extremrauchen erst als alter Mann aufgenommen hat, wirkt es komisch geziert. Kirchhoff nennt sich selbst einen Kunstpaffer, und tatsächlich entzückt er unsere Kleinen damit, dass er verschieden große Kringel aus dem Mund pusten kann. Das mag so weitergehen. Unser Vorrat an Tabakwaren ist ungeheuer. Auch die Kinder, die, von unserem schlechten Vorbild verleitet, diesem Laster gewiss früh genug huldigen werden, könnten die vielen tausend Glimmstängel nicht verbrauchen, die hier oben, die im Landeswehrdepot Südost eingelagert wurden.

Es gäbe auch noch Hochprozentiges. Noch birgt der Bunker acht Kisten, voll mit einem regionalen Getreidekorn, dessen Name in meiner Kindheit durch einen holprig einprägsamen Werbeslogan sprichwörtlich geworden war. Ganz Deutschland hat einmal gewusst, was sich in doppeltem Gleichklang auf Kornsaat reimte. Ich habe den Schnaps hinter den Konserven mit der geräucherten Blutwurst, die keinem der alten Knacker mundet, versteckt. Es geschah in der weisen Voraussicht der Anfangszeit, als ich mich als Einziger im System der Lagerhaltung auskannte. Während des schlimmen ersten Winters haben sich die Greise dann nach und nach bis in den hintersten Stollen umgetan, und nicht einmal der medizinische Alkohol der Feldapotheken war vor ihnen sicher.

Kirchhoff will, dass ich mir vor unserem Abstieg an die Grüne Rutsche noch schnell etwas ansehe, drüben am Osthang warte eine Überraschung auf mich. Wahrscheinlich hat er bloß wieder irgendein Grünzeug entdeckt, und ich soll ihm bei der Namensfindung behilflich sein. Wie der Zufall es wollte, verfügt keiner von uns Altweltlern über solide botanische und zoologische Kenntnisse. Das Getier der Neuwelt krabbelte, brummte und gaukelte uns weitgehend namenlos entgegen, kaum ein Drittel der Blumen- und Baumarten des Wurmberggipfels konnten wir bestimmen. Schließlich hat sich der wackere Kirchhoff des Notstands angenommen. Er macht unentwegt Skizzen und zeichnet nun schon im dritten Jahr Blätter, Blütenstände und Schmetterlingsflügel auf den Rückseiten meiner alten Dienstformulare ins Reine, so gut dies mit den leider nicht gerade hochwertigen Kugelschreibern unserer Bestände eben geht.

Alles, was Kirchhoff so blau auf weiß abbildet, bekommt einen Namen verliehen, und weil ich angeblich über besonders viel Phantasie verfüge, fragt er mich regelmäßig, wie irgendein Pflänzchen oder Tierlein in Zukunft heißen soll. Ich grübele mit und gebe mein Bestes. Aber wenn ich, wie neulich, lange über der passenden Bezeichnung für eine winzige, nicht unschöne grausilbrige Motte brüte, befällt mich jählings eine spezifische Traurigkeit. Das Kroppzeug bekümmert mich. Es schmerzt mich, dass die schwarzpelzigen Maulwürfe, die so eifrig wie eh und je die Erde des Wurmbergs aufwerfen, nach uns die größten Säuger der neuen Welt darstellen sollen.

 

«Was hältst du davon?» Kirchhoff stupst mich ungeduldig an, und wieder zucke ich nur mit den Achseln. Er ist der Pädagoge, soll er sich doch mit seinen ehemaligen Kollegen beraten, wenn ihm seine Entdeckung so großes Kopfzerbrechen bereitet. Ich bin froh über jeden Gedanken, in dem unsere Kinder nicht vorkommen. Mir, dem einzigen noch nicht greisen Mann, laufen sie oft genug hinterher und wollen bei den Arbeiten mittun, die ich notgedrungen übernommen habe. Es war wichtig, dass sie im letzten mörderisch strengen Winter erstmals beim Schneeräumen geholfen haben. Allein die Luftansaugstutzen am Ostfels frei zu halten war eine Heidenschufterei. Gleich zwei der Alten hatten sich damals beim Herumklettern auf dem vereisten Gestein die Knöchel gebrochen. Und einer, ausgerechnet der großtönende Schröder, humpelt bis heute an den Krücken, die Kirchhoff und ich ihm gebastelt haben.

Jetzt, im Frühsommer, haben die Kinder fast nichts zu tun, und ihr siebenköpfiges Rudel schweift auf eigene Faust über den Berg. Ich sollte sie mehr beschäftigen, und mir fiele auch das eine oder andere ein. So steht in der Geräte- und Ersatzteilkammer ein Karton mit merkwürdig zierlichen Macheten. Vermutlich waren sie für einen humanitären Einsatz unserer einstigen Bundeswehr irgendwo in den Dschungeln des früheren Afrika gedacht. Die beiden größten Jungen, wirklich kräftige Bengel, könnten damit schon Treibholzbretter spalten oder Wege in das undurchdringlich gewordene Brombeerdickicht des Südhangs hauen. Aber als ich dies in der nächtlichen Versammlung vorbrachte, unterstützte nur Kirchhoff meinen Antrag. Angeblich sei die Verletzungsgefahr zu groß. Messer, Scher’ und Licht sollen weiterhin von unseren kleinen Zukunftsträgern ferngehalten werden. Die Frage, wovor sich die alten Herren, wovor wir alle uns in Wahrheit fürchteten, lag mir auf der Zunge, doch ich war klug genug, sie nicht in die Runde, sie nicht ins Licht des Niedrigmonds zu stellen.

«Woher kennen die Kinder das? Sag schon. Du hast doch Phantasie.» Kirchhoff gibt keine Ruhe. Mit einer Haselrute fährt er die Zeichnung nach, die ihn zu Recht beunruhigt und deren unmissverständliche Umrisse den anderen Greisen, allesamt nervenschwächer als er, erst recht Kopfzerbrechen bereiten werden.

«Das war unsere Rike, das kleine Biest.» Kirchhoff spricht aus, was auch ich vermute, aber ich habe keine Lust, ihm ausdrücklich zuzustimmen. Seit dem vergangenen Frühling ist die Betonstele der Punkt, wo sich die Kinder morgens sammeln. Sie nennen das an der Spitze geborstene Artefakt «die Säule». Neulich habe ich Rike, ihre Anführerin, sogar «unsere Säule» sagen hören. Bergab im Gestrüpp liegt ein zweiter dieser Masten, ein etwas längeres Exemplar. Bevor dort alles vollends überwuchert wurde, konnte man sogar noch ein paar Meter Stahlseil und die großen Rollen der Seilführung in der Nähe des umgestürzten Trägers betrachten. Natürlich hat den Kindern niemand verraten, dass ihre Säule der einzige markante Überrest der einstigen Wurmberg-Kabelbahn ist. Und die Erinnerung daran, wie sie selbst als drei- bis fünfjährige Knirpse, als die allerletzten Fahrgäste, in einer der marienkäferroten Kabinen nach oben gondelten, ist – zu ihrem wie zu unserem Glück! – vom Schock der Katastrophe ausgelöscht.

Kirchhoff hat sich vor der Stele ins Gras gesetzt und kopiert mit seinem Kugelschreiber die Zeichnung der Kinder auf den Spiralblock, den er stets bei sich trägt. In der Anfangszeit beklagte er sich regelmäßig darüber, weder einen Bleistift mit Radiergummi noch seinen geliebten alten Korrektur-Füllhalter zur Verfügung zu haben. Schwarz und rot! Damit ließe sich etwas anfangen! Vor seiner Pensionierung hat er Deutsch, Geschichte und Gemeinschaftskunde unterrichtet. In der zurückliegenden Versammlung schlug er erneut vor, endlich einen Lehrplan zu entwickeln und die Kinder in dem zu unterweisen, was wir auch unter den hiesigen Umständen für weitergebenswert erachteten. Schließlich seien inzwischen alle sieben im schulpflichtigen Alter. Höchste Zeit, zumindest mit dem Abc und den Zahlen zu beginnen! Wie üblich mündete die Diskussion in läppische Haarspaltereien, endete in großem Geschrei. Schmidt bekam eine seiner hysterischen Herzattacken, und gleich drei Altpädagogen stürzten nach draußen, um sich ins mondblau glänzende Gras zu übergeben. Seit der Katastrophe, als wir uns wochenlang nicht aus dem Bunker wagten, als schwingende Erdstöße durch den Wurmberg dröhnten, als sich funkensprühende Kriechströme über das Tor und die Stahlstützen der Eingangshalle schlängelten, seit dem pompösen Untergang der Altwelt, haben alle, auch ich, unter einem chronisch nervösen Magen zu leiden.

Nur den Kindern ist damals nicht der Appetit vergangen. Schweigend löffelten die Kleinen in sich hinein, was ich im flackernden Licht der Notbeleuchtung auf ihre sieben Plastiknäpfe verteilte, meist war es der gleiche kalte Brei, Haferflocken in mit Mineralwasser angerührter Trockenmilch. Wie ein Wurf Welpen schliefen sie auf einem provisorischen Lager aus Bundeswehrschlafsäcken. Selbst wenn der Bunkerboden schlimm schwankte, krabbelten sie auf allen vieren zum Klo und verrichteten dort ordentlich ihr Geschäftchen. Kein Junge, kein Mädchen pinkelte sich in den Schlüpfer! Ein Kompliment, das ich rückblickend der Gemeinschaft der alten Knaben von «Gut Fuß, Saxonia!» nicht machen kann.

Allein im Traum wimmerten die Kleinen leise nach Mama und Papa, nach größeren Geschwistern und besonders häufig nach ihrer Kindergärtnerin «Tante Ulrike». Mit ihr waren sie in der Seilbahn auf den Wurmberg gekommen. Erst auf dem letzten Stück hatte der ohne Vorwarnung losheulende Sturm die Gondel mit der Kinderhortgruppe wüst hin- und hergeschüttelt. Ich stand an der Station, als die Kabine auf kreischenden Seilrollen hereingeschaukelt kam. Tante Ulrike übergab ihre Zöglinge der Obhut der Senioren, die ich bereits vorsichtshalber in den Bunker gewiesen hatte. Dann versuchten wir draußen mit unseren Handys Verbindung zur Bodenstelle, zur Polizei oder zum Hubschrauberhorst der Bergwacht aufzunehmen. Wir bekamen kein Netz. Wir sahen, wie sich das Personal der Gipfelstation zu Fuß davonmachte. Schließlich stolperte auch Tante Ulrike, in der Hoffnung auf besseren Empfang, im Zickzack den Hang hinab. Ich rief ihr nach, dass dies keinen Sinn habe. Aber sie reagierte nicht, hörte mich wohl genauso wenig, wie sie das Bersten der Fichte hörte, deren Stamm, von einer Böe geknickt, auf sie zustürzte.

Als ich mich einen vollen Monat später, gefolgt vom alten Kirchhoff, zum ersten Mal wieder nach draußen wagte, war fast alles, was ich, der letzte Zeugwart des Landeswehrdepots Südost, am Wurmberg zu sehen gewohnt war, verschwunden. Dicht über uns wogte ein unbekannter Himmel. Schwefelgelbe, orange geäderte Wolken drückten herab auf eine Wüstenei. Dunkler, zähklebriger Schlamm bedeckte den Boden, aus dem die Stümpfe der Bäume ragten. Von der Bergstation der Seilbahn war kaum mehr als das Fundament zu erkennen. Nebelschwaden jagten hinauf in das böse Gewölk. Irgendwo hinter diesem Gebräu musste sich unsere alte Sonne verborgen halten. Kirchhoff begann zu weinen. Auch ich brach in ein jämmerliches Schluchzen aus. Als wir uns wieder beruhigt hatten, lauschten wir in das Heulen des Windes, und schließlich hörten wir heraus, wie nah das Wasser gekommen, wie dicht dem Wurmberg über Geest und Marsch, über Heide und Harz hinweg die Nordsee auf die Pelle gerückt war.

«Das können doch nur Pferde sein!»

Warum sollte ich Kirchhoff widersprechen. Zweimal, einmal in Weiß, einmal in Schwarz, ist ein Pferd auf dem grauen Anstrich der geköpften Seilbahnsäule zu sehen. Beide Gäule bäumen sich auf, beide schlagen mit den Hufen ins Leere, beiden flattert die Mähne. Kirchhoff hat ein Stückchen weiße Kreide im Gras gefunden. Ich kenne die Vorräte des Depots in- und auswendig. Tafelkreide gehört nicht zu den Beständen. Unser Schreibzeug ist streng rationiert. Von den zwölf Kugelschreibern, die wir noch besitzen, halte ich elf unter Verschluss; ein einziger ist dauerhaft an Kirchhoff ausgegeben. Alle Kugelschreiber haben blaue Minen. Womit die Kinder das anthrazitfarbene Pferd gezeichnet haben, bleibt uns schleierhaft. Ich lecke daran. Kohle scheint es nicht zu sein. Schwarz sind auch vier der Gestalten, die um die Pferde hüpfen, weiß gemalt sind die drei anderen. Wir brauchen uns nicht darüber zu verständigen, wen diese sieben Figuren darstellen sollen. Den schwarzen Kerlchen baumeln kleine Zipfel zwischen den Schenkeln, bei den drei weißen Gestalten sind just dort feine Kerben grau belassen.

Wir haben nichts dagegen unternommen, dass die Kinder schon im ersten Sommer nackt umherliefen. Im Juni war endlich die Wolkendecke aufgerissen, der Himmel blieb zart dunstig, aber es wurde herrlich heiß. Gewiss waren die folgenden Wochen unsere glücklichste Zeit. Das Gras brach durch die schlickfarbene Kruste. Jedes Hälmchen ein Held. Wie aus dem Nichts waren die ersten Ameisen da. Die schlammverklebten Büsche schlugen aus, sogar einige der geborstenen Bäume fingen an zu treiben. Die Welt begann neu. Mit großen Augen sahen die Kinder sich um. Lange blieben sie so stumm, wie sie es den ganzen Winter hindurch gewesen waren. Aber als dann der erste Vogel auftauchte, als ein jämmerlich zerzaustes, am Kopf halbkahles Amselmännchen hier auf der Stele den gelben Schnabel aufsperrte, zwitscherten unsere Kleinen mit ihm um die Wette.

«Was hält die Rasselbande da in den Händen?» Kirchhoff lässt nicht locker. Nun gut, ich will helfen, das Bild zu deuten, und hocke mich neben ihn. Wir sind uns einig: Die weißen wie die schwarzen Gestalten scheinen die beiden Pferde zu umtanzen. Jungen und Mädchen halten unterschiedlich lange Gegenstände in den Fäusten, Stöcke oder Stangen. Und bei einem der drei Mädchen könnte es sich sogar um eine Art Bogen handeln.

«Das ist Rike, das freche Luder!», knurrt Kirchhoff. Gut möglich, dass er richtig vermutet. Rike hat sich, obgleich sie die Zweitkleinste der Gruppe ist, zu deren Anführerin aufgeschwungen. Mir gehorcht sie schon eine ganze Weile nicht mehr, und wenn ich ein anderes Kind um etwas bitte, habe ich in letzter Zeit nicht selten zur Antwort bekommen, es müsse erst «Tante Rike» fragen.

 

Gepriesen sei Kirchhoff. Ich lobe Kirchhoff. Egal, was er auf dem Kerbholz hat, er ist wahrlich nicht der Schlechteste. Die anderen elf, alle anderen Überlebenden des Wanderclubs «Gut Fuß, Saxonia!», dürfen von mir aus zügig zum Teufel fahren. Jeden werde ich, ohne eine Träne zu vergeuden, in die Erde des Wurmbergs betten. Aber wenn es einen Gott gibt, bitte ich den allmächtigen Burschen, mir meinen Kirchhoff noch ein langes Weilchen zu erhalten. Es ist gekommen, wie es kommen musste. Und nun, wo die Würfel gefallen sind, will ich zumindest mit meinem Kirchhoff, dem schlauen Greis, noch das eine oder andere Jährchen verplaudern.

Wir sitzen auf dem oberen Rand der Grünen Rutsche. An der allmählich braun werdenden Algenschmiere können wir erkennen, wo das große Schlauchboot ins Wasser geschoben wurde. Der Wind hat sich gelegt. Wir starren in den Dunst über der schwachen Dünung, in die Richtung, in die das Boot verschwunden ist. Dort hinten, im unsauberen Balken des Horizonts, ist um die Mittagszeit ein kleiner dunkler Fleck, vielleicht der Gipfel eines anderen Berges, auszumachen.

Hinter uns hören wir Schmidt asthmatisch schnarchen. Wir fanden ihn und Buhr, die wir als Kinderwache ablösen sollten, ins Gras des Ufers gestreckt. Eventuell hat unser Kommen Schmidt das Leben gerettet. Er lag auf dem Rücken, röchelte erbärmlich, und Kirchhoff erkannte, dass er an seiner in den Rachen geplumpsten Zunge zu ersticken drohte. Zwischen den beiden Ohnmächtigen entdeckten wir eine leere Flasche Korn, eine zweite, knapp halbvolle, hielt der schlummernde Buhr gegen den Bauch gedrückt. Die Kinder wussten, wie sie die beiden Alten schachmatt setzen konnten.

Bei den Betrunkenen steht der Bollerwagen, mit dem unsere Kleinen den Schlauchbootpacken bis hierher geschafft haben. Auf der Schräge der Fahrbahn fand sich dessen Schutzhülle. Die Pressluftflasche, mit der man ein solches Boot wirklich rasant schnell aufblasen kann, haben die sieben offensichtlich mitgenommen, was klug war, denn ihr Inhalt reicht für ein zweites Mal. Leider ist es das einzige im Bunker verbliebene Boot gewesen. Das Landeswehrdepot befand sich in Auflösung, bereits ein Jahr vor der Katastrophe hatte man alles militärisch Relevante abtransportiert. Und nachdem die allerletzte Kiste Munition hinausgetragen worden war, zog man auch die Bewachung ab. Ich, der unbewaffnete Zeugwart, genügte, um die geräucherte Blutwurst, die Haferflocken, das Schwarzbrot in Dosen, hunderttausend Zigaretten und das Objekt selbst zu beaufsichtigen.

Als wir das Ufer erreichten, trieb das Schlauchboot schon im Wasser. Die beiden kräftigsten Knaben hielten die Paddel in Händen, hatten aber Mühe, das große Ding in Fahrt zu bringen. Unsere Ankunft wurde mit bösem Geheul begrüßt; ganz wie auf der Stele dargestellt, hoben die Kinder die Arme. Und über die Grüne Rutsche ins Nasse schlitternd, erkannte ich die schlanken Macheten, über deren Herausgabe ich zurückliegende Nacht vergeblich mit den Pädagogen verhandelt hatte. Ein Junge und ein Mädchen, deren Haumesser an Gerätestielen aus meiner Werkstatt befestigt waren, stießen mit diesen Speeren drohend in die Wellen. Ich kraulte los. Ich bin nur ein mittelmäßiger Schwimmer, aber ich kam zügig näher. Schon konnte ich die schwarzen Doppelstriche erkennen, die sich die Bewaffneten auf die weißgeschminkten Wangen gemalt hatten. Gewiss hätte ich das Schlauchboot noch erreicht, wenn nicht die kleine Rike mit Pfeil und Bogen an dessen Heck getreten wäre.

Inzwischen hat Kirchhoff meine Wunde begutachtet, und er hält sie für nicht weiter schlimm, ein flacher Kratzer nur, der sich von der Stirnmitte zur linken Braue zieht. Als ich, vom ungewohnten Schwimmen völlig erschöpft, zurückkehrte und auf allen vieren die Grüne Rutsche hinaufkroch, tropfte Blut aus der Augenbraue auf die Wange und lief mir, vom Wasser verdünnt, süßsalzig in den Mund. Inzwischen ist der Riss verkrustet und wird zum Verheilen wohl nicht mehr als ein Pflaster brauchen.

Freund Kirchhoff hat den Spiralblock aufgeschlagen, um das Geschehene in ein Bild zu bannen. Ich blicke ihm über die Schulter und kann mich nur wundern, wie gut ihm das verfluchte Boot auf Anhieb gelingt. Kirchhoff hat mir erzählt, dass er in seiner Kindheit und Jugend unerhört viel, dass er wahrlich wie ein Verrückter gezeichnet habe. Als Jüngling liebäugelte er sogar mit einer Künstlerkarriere, aber dann wurde das bereits recht weit getriebene Talent doch auf dem Altar eines Lehramtsstudiums geopfert. Erst hier auf dem Wurmberg war es für ihn, nach einem halben Jahrhundert Latenz, wieder mit dem Bildermachen losgegangen. Geschickt strichelt er mir alle sieben Kinder als kleine dunkelgraue Figürchen ins Boot. Fürs Erste habe ich genug gesehen. Ich stehe auf und hole uns die halbvolle Flasche Korn.

Kirchhoff hat umgeblättert. Auf das neue Blatt wirft er mit schnellen, verblüffend sicheren Linien den Kopf der kleine Rike. Soll es mich jetzt wundern, dass er ihre Züge wie aus dem Handgelenk parat hat? Lieber trinke ich und reiche auch ihm die Flasche. Mir fällt auf, dass ihm keine Zigarette zwischen den Lippen klemmt. Stattdessen beißt er immer wieder in das Holz seines mir erstmals vor Augen gekommenen Schreibgeräts. Schwarz auf weiß, mit diesem weichen, fast fettig abschmierenden Stift, hat er das kindlich breite Gesicht, die unkindlich dichten Brauen und den stets ein wenig geöffneten Mund für uns, die Zurückgebliebenen, verewigt.

Just so, die unregelmäßigen oberen Schneidezähne halb entblößt, hatte ich Rike im Heck des Bootes stehen sehen. Dass sie ihre Waffe beherrschte, dass der erste Schuss kein Zufallstreffer war, bewies sogleich ihr zweiter, der mich am Hals streifte. Der dritte Pfeil, der schon auf ihrem Bogen lag, wäre vielleicht erneut in mein Gesicht geschlagen. Und da mir bloß noch zwei Körperlängen bis ans Boot fehlten, hätte seine Wucht wohl ausgereicht, um mir ein Auge zu zerstören. Feig hielt ich inne, trat nur noch Wasser, hob sogar resignierend die Hand und musste hören, wie die Bande, wie die sieben, die wir für unsere Kinder gehalten hatten, mit schrillen Schreien über mein Aufgeben triumphierten. Entmutigt drehte ich ab. Ein letzter scheeler Blick gehörte der Schützin: Sie hatte den Bogen sinken lassen und beugte sich weit über den Gummiwulst in meine Richtung. Ihr Gesicht war kreidig weiß wie das der anderen, auch ihre Wangen waren von schwarzen Strichen geziert. Aber als ob dies für eine Anführerin nicht genüge, prangte ihr eine schmale Zeichnung auf der Stirn.

Noch einmal fragt mich Kirchhoff, aber ich schweige mich aus. Vorhin, als ich ihr maximal nah gewesen war, als mir Rikes dritter Pfeil drohte, als ich japsend auf der Stelle trat, hatten meine Augen Schweif, Mähne und Hufe überscharf erkennen können. Nun, da ich wieder an Land bin, da ich auf dem Trockenen hocke und mir der Korn langsam den Magen beruhigt, erweicht mein Blick. Und obwohl Kirchhoff schon wieder wissen will, wie die Kinder denn genau geschminkt gewesen seien, bekommt er keine Auskunft. Es scheint mir dringend angeraten, nicht in irgendwelche Erörterungen über Pferde einzutreten. Kirchhoff saugt und knabbert an seinem Stift, korrigiert noch ein wenig an Rikes Zähnen, führt das mysteriöse Schreibutensil erneut zum Mund, und ich bekämpfe, gegen Kirchhoffs Rücken gelehnt, die Erinnerung daran, wie säuberlich konturiert, wie unkindlich stilisiert sich der verflixte rote Gaul auf der Stirn des Mädchens bäumte.

Sei’s drum! Freund Kirchhoff gibt Ruhe, und auch ich will Frieden halten. Er klappt den Block zu, er lässt sein Zeichengerät verschwinden und dreht sich um. Er zwinkert. Ich zwinkere so gut ich kann zurück und stehe auf. Kirchhoff streckt mir die Hand entgegen, und es gelingt mir, ihn hochzuziehen. Er hängt sich bei mir ein. So, auf vier Beinen, streben wir dem Bunker entgegen. Gut Fuß, Saxonia! Wurmberg ahoi! Das Neue hat das Weite gesucht. Am Horizont galoppieren die Pferde der Kinder. Hier bei uns gilt es nun, der alten Welt das Zipfelchen ihrer Zukunft zu erklären.

Antennen

Kevins kleiner Bruder ist kein Satansjünger. Niemals hat er den Teufel angebetet, Kevins kleiner Bruder bastelt bloß inbrünstig gern. Keiner kennt diesen Hang zum wilden Handwerk länger als Kevin. Stets sind auf den Schreibtischen seines jüngeren Bruders, ob sie nun Schulbücher, Studienunterlagen oder Firmenakten beschwerten, auch die Utensilien von dessen Leidenschaft herumgelegen: das Etui mit den Mini-Schraubenziehern, eigenartig geformte Zänglein und die Elektronik-Lötpistole, deren schwarz verschmortes Näschen Kevin, sobald sein Bruder das Werkzeug ergriff, von jeher und scheinbar grundlos an das Böse denken ließ.

Selig bastelnd hat sich Kevins kleiner Bruder auf seine Begegnung mit den Mächten der Finsternis vorbereitet. Auch ohne etwas zu ahnen, war er auf dem Weg. Und weil ihm einst, vor fast zwanzig Jahren, kein anderer als Kevin erlaubte, in einem ersten waghalsigen Akt den gemeinsam genutzten Walkman auseinanderzubauen, weil Kevin ihm erst neulich sein wirklich sündteures Mobiltelefon zur Reparatur anvertraute, weil Kevin dem Technikfimmel seines jüngeren Bruders nie eine Schranke gesetzt hat, ist er an dem, was er nun ein Verhängnis nennen muss, wahrlich nicht unschuldig.

Es geht auf Mitternacht, gleich schlägt die Stunde. Zu fünft stehen sie auf dem verschneiten Teufelsberg, dem höchsten Punkt Berlins. Mareike, Kevins zukünftige Schwägerin, hat behauptet, dass sie aus magischen Gründen fünf sein müssten. Ach, schon im Kindergarten hatte Kevins Brüderchen eine Schwäche für schlimme Mädchen. Unweigerlich zog es ihn zu denen, die ihm, dem Braven, mitten im schönsten Spiel Sand in die Augen schmissen. Seit er spürt, was die Geschlechter trennt und magnetisch aufeinander ausrichtet, ist Kevins Bruder vernarrt in Gören, denen der Hunger nach der Bosheit des Jenseitigen ins Gesichtlein geschrieben steht.

Mehr als einmal hat er seinem großen Bruder erzählt, wie er auf offener Straße sein Herz an Mareike verlor. Sie stand bewegungslos vor einem Haufen Sperrmüll. Zum kurzen Rock trug sie eine orange-rot geringelte Strumpfhose. Durch ihre dünnen O-Beine sah Kevins Bruder den zu einer langgezogenen Acht gebogenen Empfangsdraht einer Fernseh-Zimmerantenne. Mareikes schwarz umschminkte Augen fixierten das Ding mit hilfloser Gier. Jedem technisch einfühlsamen Mann, jedem sensiblen Bastler musste bei diesem Anblick die Phantasie durchgehen. Kevins kleiner Bruder dachte sofort, gleich ihm sei auch dieser mageren Maid der in ihrem Viertel vorherrschende Kabelempfang ein Gräuel, wie ihn ziehe es dieses fremde Mädchen zu den am Äther saugenden Antennen. Zugleich schien sie in rührender Unbedarftheit zu rätseln, wie sich eine derart obsolet gewordene Apparatur wohl wieder in Betrieb nehmen ließe.

Damals, als sich Mareike bückte und ihr kindlich kurzer Zeigefinger der Innenkrümmung des Empfangsdrahts folgte, kam mit einem schüchternen Hilfsangebot in Gang, was sich jetzt zur Entscheidung rundet. Gleich ist es so weit. Alles, die bizarren Antennen, die sich über den Köpfen der fünf an Stöcken in die eisige Nachtluft recken, die schweren Akkus an ihren Hüften und die Spezialkopfhörer, deren Schaumstoff ihnen die Ohren wärmt, die ganze mobile Lauschanlage hat Kevins kleiner Bruder in den letzten Monaten für seine Liebste zusammengefummelt. In Mareikes Bibel, dem Großen Handbuch des Satanismus, steht, dass man es unbedingt zu fünft tun müsse. Eine fünfköpfige Schar besitze die besten Chancen auf eine gelingende Anrufung.

Wieder schnäuzt sie ihr Näschen in denselben Fetzen Papiertaschentuch. Längst spricht nur noch Enttäuschung aus ihrer mondbleichen Miene. Alle frieren arg; aber Mareike kann man beim Schlottern zusehen. Seit sie bei ihrem Verlobten wohnt, kocht der jeden Abend für sie. Doch es will nicht anschlagen. Kevins Bruder behauptet, ihr Untergewicht sei strahlungsbedingt. Denn vor Mareikes schmalem Becken pendelt der Zeiger des Messgeräts, mit dem er in der Verwandtschaft alle Telefone, jeden Toaster und jede Mikrowelle durchgeprüft hat, weit in den roten Bereich.

Ihre Hilfskräfte, die beiden halbwüchsigen Araber, die sich für jeweils zehn Euro bereit erklärt haben, mit ihnen auf den nächtlichen Teufelsberg zu steigen, grinsen sich