Bruder aller Bilder - Georg Klein - E-Book

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Georg Klein

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Beschreibung

Irgendetwas führt Sportreporter Addi Schmuck im Schilde, als er arrangiert, dass seine junge Kollegin Moni Gottlieb für ihn von allen redaktionellen Pflichten freigestellt wird. Ebenso zwingend selbstverständlich scheint, dass sie ihr Smartphone zu Hause lassen muss, bevor sie die Arena des Bundesliga-Clubs am Südrand der Stadt ansteuern. Der dortige Greenkeeper hat mit einem rätselhaften Naturphänomen zu kämpfen und erhofft sich von Schmuck einen rettenden Rat. Allerdings ist Schmuck in dieser Frage selbst des Beistands bedürftig. Er macht seine Kollegin mit einem brüderlichen Freund bekannt, der ein merkwürdig verwachsenes Refugium bewohnt und nur «der Auskenner» genannt wird. Ein Spiel zu dritt beginnt. Und Moni Gottlieb, die ebenso vorsichtig wie hellsichtig ist, darf erfahren, wie sich Diesseits und Jenseits verflechten können. Kaum ein Schriftsteller unserer Zeit handhabt die Mittel der erzählenden Literatur subtiler als Georg Klein, kaum einer treibt das Spiel mit größerem Vergnügen und Eigensinn voran. Sein neuer Roman führt uns in die Redaktion einer traditionsreichen süddeutschen Regionalzeitung – und in das Zwischenreich von Medialität und belebter Natur. Eine dunkle Komödie in leuchtender Prosa.

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Georg Klein

Bruder aller Bilder

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Irgendetwas führt Sportreporter Addi Schmuck im Schilde, als er arrangiert, dass seine junge Kollegin Moni Gottlieb für ihn von allen redaktionellen Pflichten freigestellt wird. Ebenso zwingend selbstverständlich scheint, dass sie ihr Smartphone zuhause lassen muss, bevor sie die Arena des Bundesliga-Clubs am Südrand der Stadt ansteuern. Der dortige Greenkeeper hat mit einem rätselhaften Naturphänomen zu kämpfen und erhofft sich von Schmuck einen rettenden Rat. Allerdings ist Schmuck in dieser Frage selbst des Beistands bedürftig. Er macht seine Kollegin mit einem brüderlichen Freund bekannt, der ein merkwürdig verwachsenes Refugium bewohnt und nur «der Auskenner» genannt wird. Ein Spiel zu dritt beginnt. Und Moni Gottlieb, die ebenso vorsichtig wie hellsichtig ist, darf erfahren, wie sich Diesseits und Jenseits verflechten können.

 

Kaum ein Schriftsteller unserer Zeit handhabt die Mittel der erzählenden Literatur subtiler als Georg Klein, kaum einer treibt das Spiel mit größerem Vergnügen und Eigensinn voran. Sein neuer Roman führt uns in die Redaktion einer traditionsreichen süddeutschen Regionalzeitung – und in das Zwischenreich von Medialität und belebter Natur. Eine dunkle Komödie in leuchtender Prosa.

Vita

Georg Klein, 1953 in Augsburg geboren, veröffentlichte die Romane «Libidissi», «Barbar Rosa», «Die Sonne scheint uns» und «Sünde Güte Blitz» sowie die Erzählungsbände «Anrufung des Blinden Fisches», «Die Logik der Süße» und «Von den Deutschen». Für seine Prosa wurden ihm der Brüder-Grimm-Preis und der Bachmann-Preis verliehen; für «Roman unserer Kindheit» erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse. 2013 erschien sein Roman «Die Zukunft des Mars». Mit «Miakro» war er 2018 für den Preis der Leipziger Buchmesse und für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis nominiert.

«Die Bäume auf der Heimfahrt schamlos grün»

Heiner Müller

1.Sanddorn

Den zweiten Becher Kaffee, den sie zum halbwegs Wachwerden notwendig brauchte, trank MoGo, die Schulter ans Fenster gelehnt, schon im Stehen. Über dem Plastikklappstuhl, der einzigen Sitzgelegenheit in ihrer winzigen Küche, hing griffbereit ihre Wildlederjacke. Portemonnaie, Schlüssel und die obligatorischen drei Päckchen Papiertaschentücher waren auf die gewohnten Taschen verteilt. Morgendumm bis in die Fingerspitzen, wie sie um diese Tageszeit unausweichlich war, hätte sie beinahe auch das Smartphone eingesteckt, obwohl ihr gestern ausdrücklich hiervon abgeraten worden war. Und synchron zu einem letzten Schlürfen und Schlucken hielt unten, vor dem Eingang des Appartementblocks, der Wagen, bei dessen Fahrer es sich um einen von ihr mit einiger Neugier erwarteten Kollegen, den in Stadt und Region über die Grenzen seines Metiers hinaus bekannten und beliebten Sportreporter Addi Schmuck, handeln musste.

Schmucks Tisch in der Redaktion der Allgemeinen war, seit MoGo ihren auf ein Jahr befristeten Arbeitsvertrag angetreten hatte, stets unverändert leergeräumt gewesen. Außer dem Bildschirm und der Tastatur stand da als ein drittes solitäres Objekt nur ein mechanischer Aschenbecher, ein Modell, wie es ihr seit Unzeiten nicht mehr vor Augen gekommen war. Und als sie während der nervös beflissenen Stunden ihres ersten regulären Arbeitstags auf dem Rückweg von der Toilette im Zickzack durch das Großraumbüro erneut an Schmucks verwaistem Platz wie an einer Leerstelle im Text der generellen Geschäftigkeit vorübergekommen war, hatte sie innehalten müssen. Sie drückte auf den konisch geformten Kunststoffknopf. Mit einem Klicken sank das verchromte Stäbchen nach unten in den schwarz lackierten Blechzylinder, die braunfleckigen Blechdeckelchen schwenkten zur Seite, eine unsichtbare Feder wurde gelöst, und mit einem bewusstlos bereitwilligen Schnurren hatte das Maschinchen einen imaginären Zigarettenstummel in seinem Hohlraum verschwinden lassen – exakt so, wie dies einst, in seiner dinglichen Vorzeit, als das Rauchen in MoGos und in Schmucks Profession allerorten Usus gewesen war, mit ungezählten krummgedrückten Kippen vonstattengegangen war.

«Schmuck holt dich morgen früh um neun bei dir ab. Du bist ab sofort für ihn freigestellt. Volle fünf Tage will er dich haben. Weiß Gott, wozu. Wie dem auch sei: Schmuck kriegt bei uns alles, was er will. Na, fast alles! Fünf Tage, das heißt, das Wochenende mitgezählt, bis kommenden Dienstag, also den 20. September eingeschlossen. Alles Weitere von ihm. Nein, eine Handynummer gibt’s nicht. Und dein eigenes Smartphone lässt du bitte zuhause. Unser Addi kann die Dinger auf den Tod nicht ausstehen. Ich schreibe dir für den Fall der Fälle seine Festnetznummer auf. Allerdings erreichst du damit bloß seinen verrauschten Anrufbeantworter. Du wirst schon sehen, Schätzchen: Addi Schmuck ist, wie er ist.»

So hatte es gestern aus dem rosa geschminkten Mund der Redaktionssekretärin geklungen. Frau Küppers nannte sie seit dem ersten Tag notorisch «Süße», «Kleines» oder «Schätzchen». Mit etwas Glück war dies mütterlich warmbusig, zumindest tantenhaft nett gemeint. Aber nach MoGos bisherigen Erfahrungen mit mittelalten Vertreterinnen ihres Geschlechts konnte die Küppers ebenso gut eine mit allen Wassern der Intrige gewaschene, eine jeden einzelnen Satz taktisch kalkulierende Klapperschlange sein.

«Schau zu, dass du morgen früh absprungbereit bist. Schmuck fährt einen auffälligen Amischlitten, ein oranges Cabrio, einen echten Oldtimer, bestimmt doppelt so alt wie du, Süße.»

MoGo nahm wie immer das Treppenhaus. Draußen war es noch kühl, der Himmel dunstfrei und stählern blau. Die ersten beiden Septemberwochen hatten mit einem Licht verwöhnt, das jeden, dessen Gemüt für Wetter mehr als bloß beiläufig empfänglich war, euphorisch wehmütig stimmen musste, da das Glänzen allzu vieler Oberflächen das Verenden dieses ausnahmsherrlichen Herbstes bereits wie eine Drohung in sich trug.

Das schwarze Kunstlederverdeck von Addi Schmucks Cabriolet war fleckig verblichen. Das Orange des Lacks erinnerte MoGo an die Beeren von Sanddorn. Autos hatten ihr nie etwas bedeutet. Aber mit Hilfe des silbernen Wildpferds, das da mit wehender Mähne im Kühlergrill des Wagens auf der Stelle galoppierte, erriet sie dennoch, erstaunt über die eigene Kenntnis, um welches US-amerikanische Modell es sich handelte. Und vielleicht weil ihr eigenes Vehikel, ihr gebraucht gekaufter schwarzer Motorroller, mit einem Platten und einigen arg hässlichen, sturzbedingten Schrammen in der Tiefgarage stand, fiel ihr auf, wie stimmig das kalkig grelle Weiß des Rings, der den Reifen von Schmucks Wagen aufgeprägt war, mit dem stumpfen Dunkel des Gummis und dem glänzenden Sanddornton der Radkappen zusammenschwang.

Schmuck stand neben der Beifahrertür. In einem spontanen Fehlschluss glaubte MoGo, dies bedeute nun, sie solle sich statt seiner hinters Lenkrad setzen. Aber schon mit dem nächsten Gedanken erfasste sie aus der Art, wie seine Hand an die Tür griff, dass der hagere alte Kerl ihr die nun aufhalten und sie, sobald sie Platz genommen hätte, ins Schloss schlenzen würde.

In seinem Wagen roch es dann, anders als erwartet, nicht nach kaltem Zigarettenrauch, sondern nach einem zitronig parfümierten Rasierwasser. Ganz ähnlich hatte es in manchen Männerzimmern des Seniorenstifts geduftet, in dem sie, noch unmittelbar vor ihrer Einstellung bei der Allgemeinen, als Nachtwache gejobbt hatte. Und weil dies dort, in den finalen Daseinsgehäusen der betuchten greisen Herrschaften, oft genug ein notdürftiger Deckduft gewesen war, forschte MoGo, während Schmuck um das Heck seines Wagens auf die Fahrerseite hinüberging, vorsichtig schnuppernd nach etwas Untergründigem, war erleichtert, bloß die Ausdünstung der Ledersitze, vermutlich das Pflegemittel, mit dem sie seit Jahr und Tag eingerieben wurden, in die Nase zu bekommen, und musste heftig niesen.

«Gesundheit, Monique! Geht Monique in Ordnung? Nein? Ich seh’ schon, eher nicht. Wahrscheinlich ist dir Moni lieber. Entschuldige, hätte ich mir eigentlich denken können. Offen gesagt: Mir ist die Todesanzeige für deine Mutter aufgefallen. Respekt, gut gemacht! Ist und bleibt in seiner schwarz gerahmten Kürze ein verflixt schwieriges Genre. Nur Nachruf ist noch ein bisschen heikler. Also, mein kollegiales Beileid! Auch wenn es mittlerweile natürlich schon ein bisschen spät kommt.»

Am offenen Grab ihrer Mutter hatte sich MoGo geschworen, der Verstorbenen abschließend alles, restlos alles, sogar den unsäglichen Vornamen, den diese ihr, ihrem ersten und einzigen Kind, verpasst hatte, zu verzeihen. Wie zu erwarten, war dies nicht gelungen. Dass Addi Schmuck in der heiklen Namensfrage umgehend nachgebessert hatte, sprach für ihn, und während sie beide nun, ohne dass ihr das anvisierte Ziel verraten worden wäre, Richtung Süden, Richtung Stadtrand rollten, versuchte sie, sich aus den Augenwinkeln ein erstes Bild seines schmalen, grau beflaumten Schädels zu machen. Aber die Sonne blendete, und das mit wenigen dünnen Linien gezeichnete Portrait, das seine Wochenendkolumnen schmückte, dominierte vorerst noch künstlich nachhaltig, was sie sich als ein leibhaftiges Gesicht einzuprägen begann.

«Keine Sonnenbrille dabei? Du hast vielleicht gar keine. Ich übrigens auch nicht. Wenn ich mal eine besaß, habe ich sie in Bälde wieder verloren. Immer interessant, was jemand wider Erwarten nicht besitzt, weil er es nicht in seinem Besitz behalten kann. Du und ich, wir sind, wenn die Sonne tief steht, zum Blinzeln gezwungen. Ist lästig, kann gelegentlich aber auch von Vorteil sein. Beruflich zum Beispiel.

Kommst du mit der Küppers klar? Ich glaube, sie mag dich leiden. Wie findest du ihren Lippenstift? Früher hat sie sich auch die Fingernägel in diesem Babyrosa lackiert. Warum macht sie das mittlerweile nicht mehr? Denk doch bei Gelegenheit für mich drüber nach. Rede ich zu viel? Entschuldige, das bringt das Älterwerden so mit sich. Sag ungeniert, wenn es dir auf die Nerven geht. Du kannst übrigens ruhig die Augen zumachen. Ist noch ein Stückchen hin. Ich glaube, du bist genau das Gegenteil einer Frühaufsteherin. Sag mal, hast du Schnupfen? Deine Nase ist ganz rot gerubbelt.»

Wahrscheinlich war es unhöflich, nicht zumindest hierauf mit ein paar Worten zu antworten. Aber MoGo widerstrebte es, in aller Herrgottsfrüh das leidige Bandwurmwort Feinstaubüberempfindlichkeit in den Mund zu nehmen, und so ließ sie es bei einem deutlichen Nicken bewenden, das als ein Ja auf Schmucks letzte Frage durchgehen mochte.

Sein Wagen hörte sich dann, gleich mit dem Anlassen des Motors, unverschämt gut an, altmodisch laut und unrein sonor wie das Hecheln und Knurren eines sehr großen Hundes, und als hätte er ihre Gedanken mitgelesen, sagte Schmuck etwas über Zylinder und Hubraum, Baujahr und Pferdestärken, irgendwelche Zahlen, die sie vermutlich beeindrucken sollten, die MoGo jedoch im Nu, kaum war ihr Kopf an die Nackenstütze gesunken, vergessen hatte.

Warum sollte sie nicht noch ein bisschen dösen, wenn er es ihr ausdrücklich erlaubt hatte. Addi Schmuck war ab sofort ihr Chef auf Zeit. Und dieses exklusive Vorgesetztsein fußte zudem in einem nicht unpikanten Umstand, falls stimmte, was ihr bereits während des Praktikums, das ihrer Anstellung vorausgegangen war, von der Küppers, vielsagend lächelnd, als ein intern anscheinend offenkundiges Geheimnis verraten worden war.

«Die Gräfin und unser Addi Schmuck, da passt seit Jahr und Tag kein Blatt dazwischen. Kein Blatt Papier und auch kein Laken! Wenn du verstehst, was ich meine, Süße.»

Das hatte ihr die Redaktionssekretärin damals zugeraunt, während sie in der Teeküche ein Weilchen allein gewesen waren und die Küppers die Gelegenheit nutzte, über die eine oder die andere Größe der Allgemeinen zu klatschen. MoGo hatte es so verstanden, dass Addi Schmuck, der anscheinend das Privileg genoss, so gut wie nie in der Redaktion auflaufen zu müssen, und die Eigentümerin der Allgemeinen, die Gräfin Eszerliesl, seit Unzeiten das Bett miteinander teilten.

Hinter der weiß gelackten Empfangstheke, an der jeder vorbeimusste, der die Redaktion betrat, hing ein Foto der Gräfin an der Wand. Ein recht großer Abzug, dessen Farben allerdings unter dem Licht der Jahre gelitten hatten. Die Eszerliesl stand neben ihrem Vater, der die Allgemeine gegründet hatte, beide hielten Sektkelche in den Händen und prosteten in die Kamera.

MoGo versuchte, sich an das Gesicht der Gräfin zu erinnern, bekam aber nur eine schmucklos akkurate Kurzhaarfrisur, wie sie ihre gesamte Kindheit und Jugend hindurch auch mit dem Anblick ihrer Mutter verbunden gewesen war, vors innere Auge.

Eine hochgeschlossene Bluse und ein Perlenhalsband fielen ihr verzögert noch ein, und aus dem Umstand, dass die Rechte der Gräfin in einem hellen Handschuh steckte, der ihr bis an den Ellenbogen reichte, hatte MoGo beim allerersten, frisch neugierigen Betrachten geschlossen, dass das Bild während irgendeines festlichen Anlasses geschossen worden war. Die Küppers könnte vermutlich sagen, ob Addi Schmuck schon damals der Liebhaber der Abgelichteten gewesen war.

Als MoGo die Augen wieder aufschlug, rollte der Mustang, als hätte dies irgendein sportsinniger Zufall gefügt, an der flachen Schüssel des stillgelegten Rosenau-Stadions vorbei. Gleich einem riesigen Ohr, das seit Jahr und Tag für niemanden außer sich selbst in die Himmelskuppel hinauflauschte, klebte es am Rand der Straße.

Dort drinnen, auf der Bahn, deren Oval ein nach dem extrem trockenen Sommer vermutlich restlos gelb verstepptes Spielfeld umfing, hatte sie einst, gerade fünfzehn geworden, den bislang einzigen ersten Platz ihres Lebens erkämpft. Bei den städtischen Leichtathletikschülermeisterschaften war sie auf Wunsch ihrer Sportlehrerin die 800 Meter, die zwei Runden kurze Mittelstrecke, gelaufen. MoGo konnte sich an das grobporige Tomatenrot der Tartanbahn erinnern, an das Vorbeiwischen der fast leeren Ränge, an ihr Keuchen, an das harte Klatschen der Schritte der anderen Läuferinnen und daran, wie sie, an zweiter Stelle liegend, dicht hinter der Favoritin, immerhin einer amtierenden bayerischen B-Jugendmeisterin, auf die Zielgerade eingeschwenkt war.

«Kopf hoch, Moni! Und ab die Post!», hatte sie die Mittermeier, die auch noch die verbleibende Gymnasialzeit für ihre sportliche Ertüchtigung zuständig sein sollte, von irgendwoher rufen hören. MoGo war damals barfuß und mit einem Pflaster um den linken großen Zeh angetreten, denn sie hatte sich dummerweise am vorausgegangenen Wochenende in ihren neuen Sandalen eine Blase zugezogen. Und weil sie die Mittermeier, die ihr ihre ganzen Mädchenjahre hindurch besonders am Herzen gelegen hatte, auf keinen Fall enttäuschen wollte, warf sie den Kopf in den Nacken und legte einen allerletzten Zahn zu, obwohl ihre verflixte Nase wieder einmal völlig dicht war und ihr die Lungen, wie nie zuvor empfunden, gleich einem Feuer ohne Flammen brannten.

Die Zeit, mit der sie dann als Erste über die Ziellinie gestürmt war, hatte irgendeine Jahresbestleistung bedeutet. In der Allgemeinen war der Rückblick auf das regionale Sportwochenende von einem Foto geschmückt worden, das mit «Auf nackten Sohlen zum Sieg» übertitelt war. Und so hatte ihr Name damals in der Zeitung gestanden, für die sie nun, erst vor einer guten Woche, den ersten längeren Artikel, mit dem sie restlos zufrieden war, den Bericht über eine Trachtenmodenmesse, mit dem Kürzel «MoGo» gezeichnet hatte.

Angeblich bewahrte das alte Rosenau-Stadion längst nur noch die utopische Höhe der Abrisskosten vor dem Verschwinden. Eben, während sie die Wange an die Seite die Nackenstütze gedreht hielt, um den rostroten Stäben des Südtors einen letzten Blick zu schenken, war sogar ein Streifen der verblichenen Bahn zu sehen gewesen, und etwas in ihrem Kopf hatte einen törichten Moment lang phantasiert, Schmuck werde sie nun gleich auf ihren einstigen Barfußsieg ansprechen. Immerhin galt er als das Sportgedächtnis der Redaktion und schrieb alle vierzehn Tage für die Wochenendbeilage im Wechsel seine beiden enorm beliebten Kolumnen «Tore! Tore! Tore!» und «Addi antwortet». Aber die obsolete Stätte ungezählter Triumphe und Niederlagen war ihm keine nostalgische Reminiszenz aus der Tiefe seines einschlägigen Wissens wert gewesen.

Später, wesentlich später, meinte MoGo, sie habe Addi Schmuck damals, während sie ihrem ersten Ziel entgegenrollten, auf eine vertrackte Weise sowohl über- als auch unterschätzt. Dass er sie mir nichts, dir nichts, ohne das Feigenblatt einer Erklärung, in seine akute Unternehmung hatte abkommandieren lassen, sprach für die Bandbreite seiner Befugnisse. Aber ebendies schien, so wie es nun, während ihrer Fahrt an den südlichen Stadtrand, seinen wortlosen Fortgang nahm, auch auf einen Mangel zu verweisen, auf ein Unvermögen Schmucks – als gebe es tatsächlich etwas, was er nur mit ihrer Unterstützung bewerkstelligen könne, ein Vorhaben, für das ihm vorerst die hinleitenden Sätze fehlten.

2.Gras

Die Süd-Arena kam MoGo dann, während sie über eine wie von einem überirdischen Besen blankgefegte Parkfläche auf den Haupteingang zurollten, zum ersten Mal dinghaft vor Augen, obwohl die Spielstätte des hiesigen Erstligaclubs bereits die fünfte Saison ihre betongrauen Saurierrippen in die Höhe reckte. Sie hatte sich nie ernstlich für Fußball interessiert, war allerdings ihre ganze Schulzeit lang ein überdurchschnittlich sportbegabtes Mädchen gewesen, das, wenn es sich ergab, zwar nicht mit dem unter Buben üblichen Furor, aber immerhin intuitiv geschickt gegen den einen oder anderen Ball gekickt hatte.

Sie wurden erwartet. Und im bahnlos engen Raum der fußballerischen Gegenwart, auf dem penetrant laubfroschgrünen Spielfeld der Arena, wies der für dessen Verfassung zuständige Vereinsangestellte, während er sich im Kreis um die eigene Achse drehte, hoch in die Luft, als ziele sein Zeigefinger motorisch präzis unter die Kante des milchig transparenten Daches, welches rundum dreißigtausend knallrote Plastiksitzschalen gegen Regen schützte.

«Sie sehen ja selbst, Herr Schmuck: So etwas ist doch nicht normal. Wir lassen die Audiodatei jetzt schon in aller Früh auf doppelter Lautstärke laufen. Das ist genau genommen gar nicht zulässig. Aber alles umsonst. Es werden von Tag zu Tag mehr. Von der alten Angst, von der angeblich natürlichen Scheu keine Spur.»

Als sie eingetroffen waren, hatte der Greenkeeper der Arena den Rücken vor Addi Schmuck fast zu einer Art Verbeugung gekrümmt und sich erst nach dessen «Meine Kollegin, Moni Gottlieb!» bemüßigt gefühlt, auch ihr die Rechte entgegenzustrecken. Danach hatte MoGo beobachtet, wie Schmuck es anstellte, ohne eine einzige Frage, bloß durch ein festes Hinschauen und ein gelegentliches Nicken, untermalt von einem virilen Brummen, fast Grunzen, den Spielfeldbevollmächtigten in einem freimütig flüssigen Erzählen zu halten.

«Morgen ist Heimspiel. Mittlerweile bedeutet die Sauberkeit ein Riesenproblem. Weniger auf dem Rasen. Den sprengen wir zweimal am Tag. Das Zeug wäscht sich auch halbwegs ein. Morgen, am Samstagmittag, gehen wir dann noch mal mit dem Saugmäher drüber, der nimmt eine ganze Menge auf. Aber die Sitze! Auf dem roten Kunststoff sieht doch jeder Klacks wie eine kleine Schweinerei aus. Unsere Fans und die Fans der Gastmannschaft können blank gewischte Plätze erwarten. Da gibt es unmissverständlich strenge Auflagen. Der Verband kann sogar ein Bußgeld verhängen.»

Mitten auf dem Grün waren sie zu beiden Toren marschiert. Durch die Schuhsohlen glaubte MoGo die fast künstliche Dichte und die federnde Widerborstigkeit des kurz geschorenen Grases zu spüren. Diesem Grund war alles Wiesenhafte in pedantischer Konsequenz ausgetrieben worden. An beiden Spielfeldenden hatte der Greenkeeper mit den Fingerknöcheln heftig auf das weiß lackierte Aluminium eines Pfostens geklopft, als könnte er so das offensichtlich gefährdete Glücken seiner professionellen Kontrolle beschwören.

Im Tunnel, durch den schon morgen die Mannschaften auflaufen würden, schüttelten sie sich zum Abschied noch einmal die Hände. Schmuck versprach Diskretion und dazu, gründlich über die leidige Sache nachzudenken. Er habe da schon einen im Auge, den er vertraulich um Rat fragen wolle.

Wieder draußen auf dem Parkplatz, hielten sie vor der Schnauze des Mustangs noch einmal inne, um gemeinsam zu lauschen. Die Raubvogelschreie schienen MoGo nun, wo sie erfahren hatte, was da über die Lautsprecher eingespielt wurde, lauter und greller als bei ihrer Ankunft. Noch unlängst hatte das in wechselnden Abständen anschwellende Gellen des heimischen Wanderfalken, also ihres natürlichen Todfeinds, hingereicht, um die Tauben aus dem Arena-Inneren fernzuhalten. Doch aus irgendeinem Grund ließen sich die Vögel mittlerweile nicht mehr auf die bewährte Weise technisch überlisten.

«Ich wette, du hast noch nichts außer Kaffee intus, Moni. Stimmt’s, oder hab’ ich recht. Kennst du die Flughafengaststätte? Da kriegen wir jetzt die legendäre Messerschmitt-Brotzeit. Das kleine Stückchen hin kannst du meine Karre schon mal probefahren. Automatik! Kennst du doch, oder? Da gibt es so gut wie nichts Zusätzliches zu lernen. Du musst dir bloß die stupide Schalterei samt dem blöden Gekuppel wegdenken. Im Fluss wird das Weniger dann ganz von allein zu einem Mehr.»

Schmuck behielt recht. Es gefiel ihr, seinen Wagen zu steuern. Fast genierte sie sich ein bisschen dafür, von der rechten Fußspitze auf dem Gaspedal bis hinauf in den Nacken an der Kopfstütze zu spüren, wie viel Kraft dieses alte Ding gleich einem gespeicherten Überschwang für jedweden Chauffeur bereithielt. Schmuck dirigierte sie nicht. Also fuhr MoGo ganz langsam und einfach nach Gefühl im Zickzack wieder stadteinwärts und wunderte sich dabei, wie schlecht sie sich hier, am Südende ihrer Heimatstadt, auskannte. Irgendwo ganz in der Nähe musste das Gelände für die geplante Universität liegen. Und ziemlich genau hier hatten sich einst, noch bis in die Kindheit ihrer Mutter, die grasüberwachsenen Startbahnen eines ehemaligen Militärflughafens befunden, von denen noch in den letzten Tagen des bereits gründlich verlorenen Kriegs ein sagenhaft neuartiges Kampfflugzeug seinen Piloten – erstmals unheimlich propellerlos! – Richtung Wolken getragen hatte.

«Respekt. Kürzer wäre möglich gewesen, aber schöner ging’s wirklich nicht. Man könnte glauben, du kennst hier jeden Schleichpfad. Da vorne noch einmal links. Macht Freude mit dem Mustang, oder? Stell ihn direkt vor diesen Busch mit den orangefarbenen Beeren. Gleich und gleich gesellt sich gern.»

Die ersten Sanddornsträucher, die sie gesehen hatte, waren auf der Nordseeinsel gewachsen, die ihre Mutter für ein paar Jahre zum Ziel ihrer stets auf bescheidene zehn Übernachtungen befristeten Sommerurlaube auserkoren hatte. Hier nun stand ein einzelner Busch, fast ein Bäumchen, auf einem Streifen Kies vor dem Gebäude, welches MoGo, ohne es zu suchen, gefunden hatte, und drückte seine spärlich graugrün belaubten, aber üppig mit Beeren bestückten Zweige gegen eine Fassade aus blau gestrichenen Latten.

Die ganze Flughafengaststätte schien aus Holz zu sein, es handelte sich sichtlich um nicht mehr als eine große Baracke, die ihr gleich, obwohl sie gewiss noch nie hier gewesen war, auf eine kurios heimelige Weise bekannt vorkam. Schmuck ächzte leise, als er sich aus dem Beifahrersitz drehte, und MoGo fiel auf, wie er die linke Hand auf die Oberkante der Tür legte, offenbar kam ihm gelegen, sich daran hochziehen zu können.

«Trink ein Bierchen mit mir, Moni. Nachdenken und Biertrinken, das passt prima zusammen, auch wenn die Gesundheitsapostel heutzutage, auch in unserem Blatt, notorisch das Gegenteil behaupten.»

Bis auf den Wirt, einen Mann in Schmucks Alter, war das Lokal leer und das Bier, das erste Vormittagsbier ihres Lebens, so eisig kalt, dass ihr die Zähne weh taten. Die angekündigte Messerschmitt-Brotzeit erwies sich als ein Wurstteller, den weiße und rote Sülze dominierten. Es wäre wohl ein Fehler gewesen, Addi Schmuck jetzt noch zu verraten, dass sie sich schon eine Weile, so strikt, wie sie dies hinbekam, fleischfrei ernährte und zudem versuchte, ohne Lebensmittel, die Milch und Ei, also etwas zweitrangig Tierhaftes enthielten, auszukommen.

«Du kannst die gurrende Bande nicht leiden, Moni. Nicht bloß wegen deines Schnupfens, sondern vor allem wegen der himmlischen Heerscharen hast du dir vorhin in einer Tour die Nase geputzt. Dabei hat es doch in der Arena überhaupt nicht nach dem Geschäftchen der Tauben gerochen. Oder liegt’s an mir? Vielleicht geht mir da mittlerweile das nötige Vermögen ab. Ich höre auch längst nicht mehr so gut wie früher. Vom Sehen ganz zu schweigen. Hat der Greenkeeper vorhin überhaupt etwas über den Geruch gesagt? Pardon, das ist jetzt zum Essen vielleicht ein bisschen unappetitlich.

Merkst du, wie der Wirt immer wieder herüberschaut? Deine Nase gefällt ihm, auch wenn sie ziemlich rot gerubbelt ist. Recht hat er: Schöne Nasen sind leider immer noch selten hierzulande. Wo stammt deine Familie her? Mittelmeer? Balkan? Na, wahrscheinlich bloß dein Vater. Warum heißt du nicht nach ihm? Du kannst das natürlich alles für dich behalten. Wie dem auch sei: In puncto Nasen bleibt Addi Schmuck bis an sein Ende, na sagen wir mal: Völkerkundler!»

Sie musste nicht antworten, weil sie den Mund voll hatte, und als sie für einen extralangen Schluck Bier die Augen schloss, sah sie merkwürdig überdeutlich die Farben der fraglichen Tiere auf den Innenseiten der Lider: das glänzende Felsengrau und das bläulich schillernde Purpur des Gefieders, das ungut nackte Mattrosa der Füßchen und sogar die kreidig weiße Verdickung am Ansatz des Schnabels.

In der Grundschule hatte eine Mitschülerin, eine Wiederholerin der dritten Klasse, es binnen weniger Tage hingekriegt, dass sie von allen nur noch «Nasimoni» gerufen worden war. Und als sie die Mistgöre deswegen im Pausenhof aufs Kreuz gelegt und ihr das Stupsnäschen blutig geschlagen hatte, musste ihre Mutter bei der Schulleiterin antanzen, um sich für die vermeintlich grundlos rohe Tat zu entschuldigen.

Egal, ob Addi Schmuck ihre Nase wirklich leiden mochte oder nur auf vorerst schwer durchschaubare Altherrenmanier Süßholz raspelte, sie wollte sich von ihm nicht weiter in die Defensive drängen lassen. Außerdem galt es, das Duzen zu üben. Er, Addi, habe doch auch die Krähen gesehen. Saatkrähen. Bestimmt mehr als fünfzig, wahrscheinlich an die hundert Stück, schön gleichmäßig verteilt unter das kopfnickende Pack – als wären die Vögel ausgerechnet hier, im Kunstraum der Arena, über die Gattungsgrenzen hinweg so etwas wie Freunde geworden.

Schmuck spießte ein großes, knorpeliges Stück weiße Sülze auf seine Gabel, und bevor er es hinter seinen Zähnen verschwinden ließ, hob er den Kopf, nickte und blickte sie an. Nachdenklich, fast grübelnd sah es aus, aber zugleich auch hellsichtig erfreut. MoGo glaubte zu spüren, wie fest und lidschlaglos lang er dabei ihre Nase fixierte, und für einen Moment war sie sich unabweislich sicher, dass ihm diese, warum auch immer, verflucht lang und verflixt spitz, so wie Mutter Natur sie ihr verpasst hatte, allen Ernstes – völkerkundlich oder zwischengeschlechtlich – zu gefallen schien.

3.Lorbeer

Mit einem zweiten Bier in der Hand waren sie dann nach hinten ins Freie gegangen. Ein Dutzend Lorbeerbäumchen in Betonkübeln begrenzte den Biergarten der Gaststätte. Ein wüster Streifen Wiese und ein stacheldrahtgekröntes Mäuerchen schlossen sich an, dahinter erhoben sich die Hallen eines stillgelegten Werksgeländes. Es gab ein paar Bänke, aber weil Schmuck auf und ab gehend rauchte, blieb auch MoGo stehen. Und obwohl sie das Selberdrehen zusammen mit dem Tote-Tiere-Essen aufgegeben hatte, griff sie sich eine der Zigaretten, als ihr Addi Schmuck erneut die flache blaue Schachtel hinhielt.

«Sei so freundlich und nimm dir eine, Moni. Mit denen bin ich als junger Kerl in die Raucherei eingestiegen. Sind aber hierzulande längst nicht mehr zu kriegen. Nicht mal im Tabakwaren-Fachhandel. Angeblich sollen die Teer- und Nikotinwerte der schiere Irrsinn sein. Dagegen ist, was man mittlerweile unter dem gleichen Namen in der Automateneinheitsschachtel verkauft, weniger als ein Witz. Die hier, die echten, bringt mir eine gute Freundin immer aus der Schweiz mit. Schmecken doch, oder?»

Mit dem ersten, unvorsichtig gierigen Inhalieren war MoGo so schwindlig geworden, dass sie sich an einer Stuhllehne hatte festhalten müssen. Jetzt paffte sie sicherheitshalber bloß noch, wälzte den merkwürdig süßlichen Rauch in der Mundhöhle, während ihr Schmuck erzählte, wie er diese Zigaretten über einen älteren Kollegen während seiner kaufmännischen Lehre in einem hiesigen Sportzubehörgeschäft kennengelernt hatte. Dessen Name kam ihr vage bekannt vor, und weil das Nikotin ihre Vorstellungskraft beflügelte, glaubte sie kurz sogar, sie wüsste, wo in der Fußgängerzone dieser Laden gewesen war, begriff aber schon mit dem nächsten, vorsichtig sachten Zug an dem filterlosen, im Querschnitt merkwürdig ovalen Glimmstängel, dass sich an der fraglichen Ecke während ihrer Kindheit in Wirklichkeit ein Spielwarenfachgeschäft befunden hatte.

Regelmäßig hatte ihre Mutter sie, wenn sie zum Einkaufen ins Zentrum gefahren waren, an der Hand durch das Erdgeschoss und dann auch noch durch die zweite Etage geführt. Scheinbar geduldig, scheinbar mit zwangloser Muße, aber in Wirklichkeit in der angestrengt verhohlenen Hoffnung, ihrer Kleinen werde dieses Mal endlich etwas ins Auge stechen, was dann, groß oder klein, aus Plastik oder Holz, auf Kunstfaserpfoten oder Gummirädchen, schnurstracks erworben und nach Hause getragen werden könnte.

Irgendwann hätte sie ihr wahrscheinlich alles gekauft, auch etwas, was zweifellos ausschließlich für Buben gedacht war. Auf der Seite «Gesundheit und Familie» der Allgemeinen hatte sie nämlich zu ihrer großen Erleichterung gelesen, dass es Mädchen gab, die einfach keine Puppen mochten, und dass dies entgegen allen mütterlichen Befürchtungen entwicklungspsychologisch gesehen nichts Schlimmes zu bedeuten habe.

MoGo glaubte sich sogar zu erinnern, wie ihre Mutter ihr dereinst ein Stück des Artikels, betulich langsam und den Zeigefinger schwenkend, vorgelesen und ihr anschließend zugesichert hatte, es sei völlig in Ordnung, wenn sie zum Beispiel eine dieser muskelprallen Actionfiguren oder ein ballonrädriges Monster Car, das sich über Stock und Stein fernsteuern ließ, zum Geburtstag haben wolle. Aber obwohl sie damals genau gespürt und sogar ein, zwei Gedanken weit verstanden hatte, wie viel Erleichterung ein simples Habenwollen in dieser leidigen Frage für ihre Mutter bedeuten würde, war sie, stur wunschlos, das einzige Mädchen in den Reihenhäusern rechts und links der verkehrsberuhigten Straße geblieben, das weder die sogenannten Erwachsenen noch die sogenannten anderen Kinder je mit irgendeinem einschlägigen Ding in ein sinnig blödsinniges Spiel versunken sahen.

«Kipp das restliche Bier ruhig in den Kies, Moni. Oder halt: Gib es mir. Ich muss ja nicht mehr fahren. Jetzt geht es weiter zu einem, der über fast alles, was kreucht und fleucht und flattert, Bescheid weiß. Ich nenn’ ihn unter uns erstmal bloß den Auskenner. Man soll ab und an nicht gleich mit dem leidigen Taufnamen ins Haus fallen. Ist nur ein Katzensprung Richtung Südosten. Das gibt es gelegentlich, nicht bloß im Kino oder im Fernsehen, sondern sogar in der fußläufigen Wirklichkeit, dass Orte so wunderbar triftig nah beieinanderliegen.»

Es war dann doch weiter, als sich nach Schmucks Ankündigung erwarten ließ. Zuletzt rollten sie an einem nicht enden wollenden Maisfeld entlang. MoGo wunderte sich, dass es hier überhaupt noch bäuerlich bewirtschaftetes Gelände gab. Schmuck meinte, der ganze Bereich, auch dieses lange Ackerband, sei schon seit ein paar Jahren zur Bebauung ausgewiesen, dürfe aber von seinem früheren Besitzer weiter gepflügt und bepflanzt werden, weil es in Sachen Universität Planungsprobleme gebe und die Grundsteinlegung der Alma Mater vorerst auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben sei. Ob ihr auffalle, wie protzig hoch der Mais stehe. Und das nach diesem mörderisch regenarm gewesenen Sommer.

Mais hatte MoGo, soweit sie zurückzufühlen vermochte, noch nie ausstehen können. Ihre Abneigung war älter als das ihr irgendwann zugefallene Wissen darüber, wie gnadenlos gründlich dieses Weltgetreide angeblich an den hiesigen Böden zehrte. Seit jeher konnte sie sich mit einem räumlichen Unbehagen vorstellen, in einem Feld aus Tausenden dieser entschieden solitären, erst durch den Menschen zu einem monotonen Scheinwald versammelten Pflanzen verloren zu gehen.

«Jetzt langsam! Kurz bevor der Mais aufhört, kommt auf der anderen Seite ein einzelner großer, ein richtig alter Baum und gleich dahinter die Einfahrt in eine Art Wäldchen. Da vorne links. Ist leicht zu verfehlen. Das Sackgassenschild ist ganz verblichen.»

MoGo war froh, als die fahlgelben Schäfte rechter Hand ein Ende nahmen. So brav, wie sie es vor Jahr und Tag in der Fahrschule gelernt hatte, schaute sie in alle drei Spiegel, und als der Blinkerhebel des Mustangs mit einem lauten Knacken zurücksprang, war von ihrem Erinnern selbsttätig abgezählt worden, dass sie in ihrem Leben bislang gerade mal fünf verschiedene Pkw gesteuert hatte. Das nun, dank Schmuck, nicht mehr letzte Fahrzeug dieser Reihe, den koreanischen Kleinwagen ihrer Mutter, hatte sie schnurstracks von deren Beerdigung zu dem Händler gefahren, bei dem dieser erworben worden war. Und dort hatte man ihr für das proper erhaltene Ding eine verdächtig bescheidene, womöglich betrügerisch niedrige Summe bar in die Hand gezählt.

«Wäldchen» erwies sich dann trotz seiner Lauschigkeit als ein gar nicht so falsches Wort. Sie rollten gut hundert Meter in einen schmalen grünen Tunnel aus Buschwerk und schlankem Gehölz, dann musste sie den Mustang vor einem Drahttor zum Stehen bringen. MoGo kannte sich halbwegs mit Bäumen aus. Den wuchtig imposanten Straßenbaum, hinter dem sie abgebogen waren, hatte sie an den brettartigen Wurzelansätzen sogleich als Ulme bestimmen können, und als sie Schmuck nun nach dem Alter der Eschen, Ahorne, Wildkirschen und Pappeln, die sie umgaben, fragte, meinte dieser, vermutlich sei das meiste erst seitdem derjenige, zu dem sie wollten, hier auf dem Gelände hause, ungestört selbsttätig, Stämmchen bei Stämmchen hochgekommen.

Mehr könne er dazu nicht sagen. Denn zuvor, in der Zeit, in der die kleine Werkhalle noch für irgendein Gewerbe genutzt worden war, habe ihn nie etwas, weder beruflich noch privat, in diese Ecke geführt. Aus eigener Anschauung wisse er also nicht, wie es hier einstmals ausgesehen habe. Wahrscheinlich habe man früher zumindest drinnen, auf der anderen Seite des Zauns, jedweden Wildwuchs mit irgendeinem rabiaten Mähgerät ordentlich kurz gehalten.

Der Flügel des Tors wurde von einer Kette und einem Vorhängeschloss gesichert. Rechts wie links schoben sich ungestrichene, mehr als mannshohe eng aneinandergefügte Latten ins dichte Grün.

Sie stiegen aus. Schmuck griff an den linken Pfosten, und MoGo sah, dass dort mit einem langen Stück Schnur ein Witz von Musikinstrument, eine recht große blassgelbe Plastiktröte, befestigt war. Das halbdurchsichtige Ding bildete eine Trompete nach, allerdings waren die Ventile auf den ersten Blick als Attrappe zu erkennen. Als Addi Schmuck sich das primitive Spielzeug an die Lippen setzte und hineinblies, erklang ein recht lauter, penetrant quäkender und zugleich anrührend brüchiger Ton. Dann warteten sie.

«Rufen hätte keinen Sinn, Moni. Geschrei aller Art kann er längst nicht mehr ausstehen. Ganz früher hab’ ich einfach gehupt: Zweiklangfanfare! Das waren noch Zeiten. Heute würde er mir für das bisschen Mustangmusik vermutlich ein halbes Jahr lang nicht mehr aufmachen.

Wenn er gleich kommt, verrat bitte nicht, dass ich ihn den Auskenner genannt habe. Das trifft es zwar wie die berühmte Faust das berühmte Auge, aber platterdings ausgesprochen, wäre es ihm vor einer jungen Frau bestimmt peinlich. Und sieze ihn bloß nicht.

Ach, weißt du was: Sei so nett und puste du mal in die Tröte. Du hast mehr Luft. Das wird er hören, falls er da ist. Ich glaube, er kann am Ton auch männlich und weiblich unterscheiden. Mach mal, ich vertrete mir ein bisschen die Beine.»

Schmuck drehte sich um und lief den Weg zurück, den sie eben gekommen waren. Zuerst vermutete MoGo, dass ihn von den getrunkenen Bieren die Blase drückte, aber dann sah sie, dass er noch in Sichtweite auf der Zufahrtsschneise stehen blieb, um eine Zigarette anzuzünden. Sie wandte sich zum Zaun und griff nach dem Plastikding. So unauffällig, wie sich dies bewerkstelligen ließ, wischte sie dessen Mundstück mit einem Papiertaschentuch ab. Und während sie es zusammenknäulte und fast wie ein belastendes Beweisstück in ihrer Jackentasche verschwinden ließ, beschlich sie die Vermutung, Schmuck habe sich nur deshalb ein Stück weit entfernt, weil er ihr Gelegenheit zu ebendiesem Reinigungsakt verschaffen wollte.

Was sie dem Kunststoffhorn entlockte, überraschte sie so sehr, dass sie es um ein Haar sogleich mit einem erneuten Hineinblasen versucht hätte. Aber sie hörte Schritte und sah, dass Schmuck in einem erstaunlich flotten Trab zurückgelaufen kam.

«Das war Spitzenklasse, Moni!», flüsterte er und nahm ihr die Tröte aus der Hand, als wollte er sichergehen, dass sie diese kein zweites Mal an die Lippen führte. «Das hat ausgereicht, um Tote aufzuwecken. Jetzt aber leise, er ist vielleicht schon hier. Da vorne links, hinter diesen Büschen mit den glatten, dunkelgrünen Blättern.»

MoGo verstand, welche Stelle er meinte, und hätte ihm sogar sagen können, dass es sich um zwei ineinander verwachsene Stechpalmensträucher handelte, aber sie verkniff sich dieses botanische Bescheidwissen, weil sie sah, wie Schmuck den Zeigefinger an den Mund legte. Vielleicht stand dort drüben wirklich jemand. Und obwohl er sie so eindringlich zum Stillsein aufgefordert hatte, flüsterte Addi Schmuck nun selber unentwegt weiter, fast so, als ließe sich damit die Wahrscheinlichkeit, dass sie bereits beobachtet würden, um einige Grade steigern.

«Er ist ein rechter Sonnenanbeter. Hier im Schatten kann man glatt vergessen, wie warm es mittlerweile geworden sein muss. Mittig zwischen den Giebeln hat er eine schmale Dachterrasse. Da passt gar nicht viel mehr hinauf als seine Campingliege. Mich hat er, obwohl wir uns eine Ewigkeit kennen, keine fünf Mal zum Licht- und Wärmetanken mit auf seinen Sonnenwinkel hochgenommen. Ich hab’ dann immer bloß einen winzigen Hocker zum Dabeisitzen bekommen. Und stell dir vor: Lendenschurz! Er trägt da oben bis weit in den Herbst nichts als einen Lendenschurz. Vorne ein blank gewetzter Lederlatz, um die Hüften, und hinten nichts weiter als eine dicke, grobfasrige Schnur. Das sieht schon arg speziell aus, der Hanfstrang zwischen den mageren Altherrenbacken. Aber unter Kerlen, die sich ewig kennen, geht es in Ordnung. Keine Sorge, falls er dich entdeckt hat, ist er bestimmt schon in seine Hosen gestiegen.

Ist das nicht Haut? Du hast die schärferen Augen. Da schimmert doch was durch. Er ist braun wie ein Indianer. Nicht bloß im Sommer. Das geht auch winters nicht mehr weg. Jung braun und alt braun, das ist ein Riesenunterschied. Er ist ein bisschen jünger als ich. Genau genommen, dreieinhalb Jahre. Aber wenn zwei Männer zusammengerechnet mehr als ein Jahrhundert auf den Buckeln haben, juckt so eine kleine Spanne kein bisschen. Bei Frauen soll das ja völlig anders sein. Da will ich mir kein Urteil erlauben.

Übrigens: Die Küppers wird kommenden Montag fünfzig. Dann müssen wir zwei auf ein Gläschen Sekt in der Redaktion antanzen. Gehört sich so. Kann mir übrigens in etwa vorstellen, was du über mich erzählt bekommen hast und was sie sich mittlerweile über uns beide denkt. Fünf Tage, ist das eigentlich lang? Wenn sie wüsste, dass ich dich hierher – quasi in die Natur! – verschleppt habe.

Aber davon mal abgesehen: Unsere Elvira Küppers sieht doch weiterhin blendend aus. Mir hat sie die ganzen drei Jahrzehnte immer aufs Neue, immer ein bisschen anders gefallen. Umwerfend anmutig ist sie hinter der Schreibmaschine gesessen, ganz früher, in meiner allerersten Zeit, solange es noch allerhand abzutippen gab und sie sich gehörig auf den jeweiligen Text konzentrieren musste. Ob das heute noch genauso klappen könnte? Ich meine, ob sie heute an ihrer alten Elektrischen, nur via Maschine, bloß per Kugelkopf, zusammen mit den aufs Papier geratterten Zeilen, so ab zwei, drei Tippseiten noch mal zu diesem mädchenhaften Liebreiz zurückfände? Jetzt aber wirklich: Psst!»