Roman unserer Kindheit - Georg Klein - E-Book

Roman unserer Kindheit E-Book

Georg Klein

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Beschreibung

«Die Menschen sind tollkühne Tiere», so begann sein letzter Roman. Dieser nun handelt von unseren tollsten, kühnsten und womöglich gefährlichsten Artgenossen: den Kindern. Georg Klein versetzt uns zurück in das Licht der frühen sechziger Jahre, an den Rand einer süddeutschen Stadt. Ein scheinbar ewiger Sommer umfängt Neubaublöcke, amerikanische Kasernen, eine Laubenkolonie, ein verlassenes Wirtshaus unter uralten Kastanien. Doch dann kommen die Boten: der Mann ohne Gesicht, der Fehlharmoniker, der mysteriöse Kommandant Silber. Und als der taube Sittichzüchter die Ermordung eines der Siedlungskinder voraussagt, müssen der Ältere Bruder und seine Freunde auf die Nachtseite des Sommers überwechseln. Dort gilt es, das Böse durch einen großen magischen Tauschhandel zu bannen. Georg Klein erzählt vom Kindsein, von dessen Abenteuern, übergroßen Aufregungen und Gefahren; «Roman unserer Kindheit» ist zugleich ein radikal autobiographisches und dämonisch-phantastisches Buch. Und erneut gelingt das Besondere: «Bei aller versierten Artistik auch einen Weg in die Herzen der Menschen zu finden; sie nicht nur zu verblüffen, sondern sie zu rühren, diese insgesamt doch recht wählerische, schwer zu erschütternde Spezies.» (Harald Jähner, Berliner Zeitung)

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Georg Klein

Roman unserer Kindheit

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

«Die Menschen sind tollkühne Tiere», so begann sein letzter Roman. Dieser nun handelt von unseren tollsten, kühnsten und womöglich gefährlichsten Artgenossen: den Kindern. Georg Klein versetzt uns zurück in das Licht der frühen sechziger Jahre, an den Rand einer süddeutschen Stadt. Ein scheinbar ewiger Sommer umfängt Neubaublöcke, amerikanische Kasernen, eine Laubenkolonie, ein verlassenes Wirtshaus unter uralten Kastanien.

Doch dann kommen die Boten: der Mann ohne Gesicht, der Fehlharmoniker, der mysteriöse Kommandant Silber. Und als der taube Sittichzüchter die Ermordung eines der Siedlungskinder voraussagt, müssen der Ältere Bruder und seine Freunde auf die Nachtseite des Sommers überwechseln. Dort gilt es, das Böse durch einen großen magischen Tauschhandel zu bannen.

Georg Klein erzählt vom Kindsein, von dessen Abenteuern, übergroßen Aufregungen und Gefahren; «Roman unserer Kindheit» ist zugleich ein radikal autobiographisches und dämonisch-phantastisches Buch. Und erneut gelingt das Besondere: «Bei aller versierten Artistik auch einen Weg in die Herzen der Menschen zu finden; sie nicht nur zu verblüffen, sondern sie zu rühren, diese insgesamt doch recht wählerische, schwer zu erschütternde Spezies.» (Harald Jähner, Berliner Zeitung)

Vita

Georg Klein, 1953 in Augsburg geboren, veröffentlichte die Romane «Libidissi», «Barbar Rosa» und «Die Sonne scheint uns» sowie die Erzählungsbände «Anrufung des blinden Fisches» und «Von den Deutschen». Für seine Prosa wurden ihm der Brüder-Grimm-Preis und der Bachmann-Preis verliehen; für «Roman unserer Kindheit» erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse 2010. Zuletzt erschien sein Roman «Sünde Güte Blitz».

Georg Klein lebt mit seiner Frau, der Schriftstellerin Katrin de Vries, und zwei Söhnen in Ostfriesland.

www.devries-klein.de

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2010

Copyright © 2010 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Lektorat Katja Sämann

Covergestaltung Anzinger Wüschner Rasp, München

Coverabbildung Anke Feuchtenberger

ISBN 978-3-644-00651-5

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

«Glaubt ihr, so bin ich euch,

was ihr nur wollt; recht nach der Lust Gottes.

Schrecklich und lustig und weich.

Zweiflern versink ich zu nichts.»

Heinrich von Kleist

Sonnentag

Es blutet und blutet. Und weil diese Kinder – da mitten in meinem Sommer! – noch allesamt mit starken Augen geschlagen sind, so lange, bis ihnen die aufstrebenden Götter, bis ihnen der kleine Schrecken des Sex und das Schwarzweiß des Fernsehens den Blick lindern werden, sieht der Ältere Bruder das Blut von der Ferse auf den Asphalt tropfen, als liefe ihm eine Wabe seiner Seele aus. Noch tut es nicht weh. Unter der Saugglocke des Schocks spürt er nicht einmal, wie heiß der Granit des Bordsteins an seinen Ellenbogen bereits ist. Weicher als Bärendreck, weicher als die Lakritze, die er allen anderen Süßigkeiten vorzieht, wird der Teer der Fugen in den nächsten Stunden werden. Am Glanz kann man ihm dieses Erweichen schon ansehen. Bald lässt er sich ganz leicht aus seiner Rille heben und schwärzt die Hornhaut der Sohlen auf eine besonders nachhaltige Weise, wenn man barfuß in ihn tritt. Zwischen zwei Lidschlägen stellt sich der Ältere Bruder beides vor, das Herauspulen wie die klebrigen Flecken, kippt dann auf den Rücken, staunt ohne Eile über das Knallblau des Himmels, bis er den Oberkörper wieder aufrichtet, um sich die blutige Angelegenheit erneut genau anzuschauen, als ein Ganzes und in allen Einzelheiten: seinen rechten Fuß, der noch immer nicht schmerzt, obwohl ihn die rostigen Drähte so gründlich aufgefleischt haben.

Den Anhub des Missgeschicks hatte er in einem merkwürdigen Zusammenkrampfen im Bauch gespürt, tief unten, wo es sonst eigentlich nie etwas zu spüren gibt. Aber es blieb ihm keine Zeit, sich darüber zu wundern, denn er rannte schon neben dem anrollenden Wolfskopf her, eine Hand an der brüchigen Sattelkante, stieß nur noch einmal die Luft aus, bevor er auf den Gepäckträger des alten Damenfahrrads sprang, um mit Wolfskopf den drei anderen hinterherzujagen. Das erste Stück den Kreuztöterweg hinunter ist sein Ritt auf dem wackeligen Geiger von Wolfskopfs Mutter, die Finger unter den stramm gespannten Lederhosenträgern des Freundes, dann halb prickelig, halb mulmig in der Schwebe geblieben. Erst hinter dem Schaufenster von Tabak-Geistmann, genau dort, wo Lebensmittel-Vetterle und die Sparkasse aneinanderstoßen, gerade als der Wolfskopf den Hintern vom Sattel hob, um mit seinem ganzen Gewicht in die Pedale zu steigen, zog es unserem großen Bruder die rechte Ferse hinein in die sausenden Speichen.

Auch für den Wolfskopf kam ihr Sturz in Wahrheit nicht überraschend. Gleich sechs frische Bieruntersetzer hatte der schon früh am Morgen hinter die rostroten Stahldrähte des Hinter- und des Vorderrades geklemmt, weil er ein Unheil, irgendein Mordspech herannahen spürte. Alle sechs Pappdeckel waren, wie man den Gegenzauber machen muss, dreimal bespuckt worden, und jedes Mal hatte Wolfskopf den Speichel sorgfältig zu einem Kreuz mit vier gleich langen Balken verschmiert. Nun hat es doch nicht geholfen. Am Abend wird sich sein Vater, der unten am Rosenhang im Gaswerk arbeitet, das lädierte Hinterrad kopfschüttelnd anschauen und seinem Wolfgang noch eine zweite, nicht mehr allzu kräftige Ohrfeige geben, wird dann die zwei sauber gebliebenen und die eine blutig braune Scheibe aus den verbogenen Speichen rupfen und sich zusammen mit seinem durch die doppelte Bestrafung hinreichend entschuldeten Sohn sogleich an die Reparatur des Vehikels machen.

Jetzt im Mittagslicht tragen der Wolfskopf, der Schniefer, der Ami-Michi und die Schicke Sybille den Älteren Bruder schräg über die Einkaufsstraße der Neuen Siedlung. Der starke Wolfskopf hat die Hände unter die Kniekehlen des Verletzten geschoben. Der ist für sein Alter nicht gerade groß und ein rechtes Leichtgewicht. Dennoch kämen seine Freunde nie auf die Idee, ihn für zu klein oder für zu dünn zu halten. Nun, da das Blut aus ihm heraustropft und etwas Anderes, etwas Unsichtbares und Dichteres in ihn hineinströmt, tragen sie so schwer an ihm, dass sie keuchen. Aber weil auch das momentane Missgeschick, wie all das kommende Unglück meines Sommers, mit dem Gold des Günstigen verunreinigt ist, haben sie es nicht weit. Schon ruckt ihnen das weiße Emaille des Praxisschildes mit jedem Schritt ein mutmachendes Stückchen entgegen.

Morgen, am zweiten Tag der großen Ferien, wird der Schniefer keck auftrumpfend behaupten, der Ältere Bruder habe absichtlich erst vor der Sparkasse den Fuß in die Fahrradspeichen gefädelt, weil am nächsten Eck der einzige Arzt der Siedlung, der alte Doktor Junghanns, seine Praxis betreibe. Zu diesem Scherz wird er sein extradoofes Grinsen aufsetzen und ausnahmsweise komplett hochschniefen, was ihm sonst als ein mehr oder minder erstarrter, perlmuttartig glänzender Tropfen unter dem linken Nasenloch zu hängen pflegt. So lustig darf es dann schon wieder, nach einer einzigen Nacht im Räderwerk der Traummühle, zwischen den Freunden zugehen. Noch aber klemmt der Arm des Schniefers unter der linken Achsel des Blutenden. Noch fällt weder ihm noch dem Ami-Michi, der auf der anderen Seite zugepackt hat, ein ulkiger Spruch ein, noch kreist den Spielgefährten unseres großen Bruders das blecherne Scheppern im Ohr und dazu ein Schleifgeräusch, dessen ungute Obertöne, dessen sekundenkurz aufschrillende Bosheit nun als Erstes vergessen werden muss.

Während er sich zum dritten Mal an diesem Sprechstundenvormittag die Hände wäscht, beobachtet Ernst Junghanns, Arzt für Allgemeinmedizin, durch das Fenster des vorderen Behandlungszimmers drei Buben und ein Mädchen, die einen etwa Zehnjährigen Richtung Praxistür schleppen. Wie der Springteufel aus der Schachtel schnellt ihm ein anderer Sommertag vor dieses Bild. In einem ähnlich gleißenden, in einem vergleichbar mit seiner Reinheit protzenden Sonnenlicht wurde an einem Pariser Augustsonntag ein übel Verletzter quer über den Hof der weit offen stehenden Tür des Militärarztes Junghanns entgegengetragen. Zuvor hatte es von der Straße her mehr gepufft denn gekracht. Die französische Bombe, ein mickriges, dilettantisch zusammengebasteltes Ding, war von einem Motorrad aus auf die Wache am Portal geschleudert worden. Der Verwundete stand unter Schock, brachte keinen Ton heraus, zuckte nur spastisch mit den Gliedern. Einer seiner Kameraden stützte ihm den Kopf, ungefähr so, wie da draußen das Mädchen die Hände unter den Nacken des Knaben geschoben hat, der bloß am linken Fuß eine Sandale trägt.

Das Übereinander der Szenen, ihre historische Transparenz, nimmt den alten Arzt in den Würgegriff der Wehmut. Dieser Krieg, sein zweiter und vermutlich letzter, jene dreieinhalb Jahre in der Hauptstadt der Hauptstädte waren das edelsüße, das marzipangefüllte Stück seines Lebenskuchens. Für einen Moment kapiert Junghanns, dass es an der Zeit wäre, mit dem Praktizieren Schluss zu machen. Aber schon hat er den Gedanken samt der Rührseligkeit, die ihn unterfüttert, abgeschüttelt, versucht stattdessen sich zu entsinnen, wie der eine oder der andere dieser Buben oder zumindest das Mädchen, das nun die Haustür aufzieht, heißt. Bestimmt kennt er sie alle. Er ist der Onkel Doktor der Neuen Siedlung, er hat sie in Oberarm und Gesäßmuskel gepikst, ihre munter rasselnden Bronchien belauscht, ihre Wunden genäht, verbunden oder verpflastert. Doch selbst, als sie dann mit geröteten Gesichtern vor ihm stehen, während er sie ausgiebig für ihr entschlossenes Handeln lobt, sie gute Kameraden nennt und ihnen seine Worte das unübersehbar schlechte Gewissen, die Angst vor dem kommendem Ärger mit den Eltern mindern, fällt ihm kein einziger Name ein. Den mit der glasigen Rotzglocke kennt er am besten, mehrfach hat er ihn bei früheren Begegnungen aufgefordert, sich die Nase zu putzen. Und jedes Mal verblüffte ihn der kleine Schmutzfink damit, dass er bereitwillig ein lupenrein sauberes, hellblaues Taschentuch zückte. An das Blau des Stoffes kann Junghanns sich erinnern, aber den Namen des Bengels zieht ihm die Farbe nun nicht herbei. Nur, wie der hieß, dem er damals unter beschwörendem Gemurmel mit der Pinzette einen französischen Blechsplitter nach dem anderen aus dem Fleisch zupfte, das hätte er sich heute, nach gut zwei Jahrzehnten, vor jedem Gericht, notfalls auch unter Eid, auszusagen getraut.

 

Am späten Nachmittag liegt der Ältere Bruder im Schlafzimmer der Eltern. Die Vorhänge sind zugezogen, die Tür zur Wohnküche ist angelehnt. Drüben strengen sich die Mutter und die Brüder an, ihn nicht zu stören. Sogar das Radio muss flüstern. Die Witzigen Zwillinge dürfen, obwohl sie erneut darum betteln, nicht zu ihm herein. Unser großer Bruder soll ein wenig schlafen, zumindest dösen, solang die zweite Spritze, die er im Krankenhaus bekommen hat, noch wirkt. Aber der Frieden, den das Schmerzmittel gestiftet hat, ist erneut nicht von langer Dauer gewesen. Die selige Taubheit im Fuß und das schummrige Blödsein im Kopf haben kaum über die Heimfahrt mit dem Taxi hinaus angehalten. Längst tobt in seinem Fuß ein Gemetzel. Bei Sybille, deren Eltern sich anstelle des geplanten Campingurlaubs am Anfang dieses Sommers doch den ersten Fernseher geleistet haben, hat der Ältere Bruder gesehen, wie es aussieht, wenn in Südamerika, im Delta des Amazonas, riesige, weiß-schwarz getigerte Wespen das Nest zu erobern versuchen, das sich pelzige, graue Bienchen in einem hohlen Baum gebaut haben. Er, die beiden Böhm-Mädchen und seine kleinen Brüder staunten, mit welchem Heldenmut die unscheinbaren Immen ihr Heim zu verteidigen wussten. Köpfchen an Köpfchen warfen sie sich den furchterregend großen Artverwandten entgegen. So eine Schlacht findet jetzt in seiner Ferse statt, mit Krabbeln und Zappeln und Massakrieren, mit ausgefahrenem Giftstachel und tausendundeinem gemeinen Biss in jenen dünnen Stiel, der bei den Angreiferinnen wie bei den Angegriffenen die Brust mit dem Hinterleib verbindet.

«Dein Fuß, das ist nichts mehr für mich, für meine matten Augen und meine zittrigen Finger», hatte Doktor Junghanns ihm ins Ohr geflüstert, als sollte dies ein Geheimnis zwischen ihnen beiden bleiben, als dürften der Wolfskopf, der Ami-Michi, der Schniefer und die Schicke Sybille, als dürfte keiner seiner Freunde dieses Eingeständnis mitanhören. «Dein Fuß ist mir ein bisschen zu diffizil. Ich gebe dir bloß etwas gegen die Schmerzen und den Wundstarrkrampf. Der Herr Professor Felsenbrecher im Josephinium, unten in Oberhausen, der ist ein Könner auf diesem Gebiet und ein begnadeter Scherzkeks dazu. Glaub mir, der wird seine helle Freude an deiner Ferse haben!»

Also wurde per Telefon ein Krankenwagen herbestellt, Junghanns versorgte noch den Wolfskopf, der sich bei ihrem Sturz die Knie aufgeschlagen hatte, und bevor der Ältere Bruder sich sicher war, ob es ihm lieber wäre, wenn die Sanitäter nun möglichst bald oder möglichst spät kommen würden, sah der Ami-Michi, der am Fenster Position bezogen hatte, schon den cremefarbenen Rotkreuz-Kombi, exakt so einen, wie ihn der Schniefer in seiner Sammlung aus streichholzschachtelkurzen, eisenschweren Modellen hat, vor den Praxiseingang rollen. Eine große Schwester oder ein großer Bruder dürfe mit nach Oberhausen hinunter, sagte der Krankenwagenfahrer, und da hielt der Wolfskopf die Schicke Sybille, die sich vorgedrängelt und sich, ohne mit der Wimper zu zucken, sogleich als ältere Schwester ausgegeben hatte, am Rockbund fest und kletterte als ebenso falscher Bruder durch die weit aufstehenden Flügel der Hecktür, weil er ja in die Pedale getreten hatte und daher der erste aller Mitschuldigen war.

Im Josephinium hieß es, der Herr Professor Felsenbrecher operiere noch. Also begutachteten erst einmal zwei andere Weißkittel den lädierten Fuß, ganz junge Männer mit fast gleichen Brillen, die beide auch schon fertigstudierte Ärzte waren, es aber nicht für nötig hielten, dies dem Älteren Bruder auf die Nase zu binden. Es folgte eine kleine Prozession von Schwestern, die nacheinander ihre gestärkten weißen Hauben über seinem Fuß schüttelten, ihn alle zunächst «Du armer Bub» nannten, sich dann erkundigten, wie er heiße, damit sie ihn mit seinem Vornamen, zu dem sie ihn ausnahmslos beglückwünschten, weiterfragen konnten, wie das denn bloß passiert sei.

Das ganze Wartebrimborium zog sich so lang hin, dass der Ältere Bruder irgendwann aufs Klo musste. Eine von den Ordensschwestern, eine sehr kleine, stramm dicke, hievte ihn, als er sich endlich durchgerungen hatte, damit herauszurücken, in einen uralten schwarzen Rollstuhl und schob das Gefährt, dessen hohe Räder geigenartig quietschten, den Gang hinunter. Auf dem Weg hat sie unserem großen Bruder dann mitten in diese Katzenmusik hinein verraten, wie sie selber heißt. Es ist ein Name wie aus einem Buch. Im Kopf hat er ihn gleich ein paarmal hintereinander aufgesagt, um sich nicht zu blamieren, falls seine Nennung auf dem Krankenhaus-Klo oder später noch einmal nötig sein sollte. Nun wird er das ganze Dreieck, das Quietschen des Rollstuhls, die reißnagelspitzen Schmerzen im Fuß und die fünf katholischen Silben, solang er denken kann, nicht mehr vergessen können. Im übernächsten Sommer, nach dem zweiten Jahr Gymnasium, wird sich unter den vielen lateinischen Vokabeln, die ihm dann bereits hinter die Stirn geknüpft sind, auch diejenige finden, die es braucht, um den Namen der dicken kleinen Schwester an eine Bedeutung zu fesseln. Auf dem Klo des Josephiniums war das katholische Wort indes noch glücklich unübersetzt und machte mit seiner Rätselhaftigkeit, mit seinem haltlosen Schweben über dem Netzwerk der deutschen Wörter ein bisschen weniger peinlich, dass ihn die Schwester während der ganzen, wegen seines Fußes arg umständlichen Pinkelprozedur nicht aus den Augen ließ.

Dann kam der Herr Professor zum Zug. Groß und massig und achtunggebietend rauschte er herein und erwies sich, Doktor Junghanns hatte nicht übertrieben, sogleich als ein wahrer Witzbold. Während seine fleischige Nase die blutverkrustete Ferse, den geschwollenen Knöchel und den garstig aufgerissenen Spann so dicht umkreiste, als ginge es darum, ihnen den Grad ihrer Versehrtheit abzuschnüffeln, meinte er zu den jungen Ärzten, da habe wohl einer versucht, mit einer Stacheldrahtkugel Fußball zu spielen. Brav lachten die Bebrillten über den Scherz ihres Chefs. Seinen Patienten fragte er, ob er die Geschichte kenne, in der die Mäuse-Elf bei strömendem Regen zu einem Match gegen eine Auswahl der Elefanten antrete. Und obwohl unser großer Bruder nickte, obwohl er noch dazu in unwillkürlicher Abwehr die Hand bis vors Gesicht hob, wurde das ungleiche Fußballspiel sogleich angepfiffen, der klitschnasse Ball flog in den Strafraum der Mäuse, der Mittelstürmer der Dickhäuter stampfte den beherzt heraushechtenden Hüter des Mäusetors vollständig ins aufgeweichte Erdreich, zog ihn aber sofort wieder mit dem Rüssel hervor, um sich bei dem wundersam heil Gebliebenen zu entschuldigen, damit dieser, die schlammtriefende Mütze gerade rückend, sagen konnte, alles sei halb so schlimm, ihm hätte, bei diesen außerordentlich schwierigen Platzverhältnissen, das Gleiche genauso gut passieren können.

Witz auf Witz feuerte Professor Felsenbrecher auf den Älteren Bruder ab, Elefanten-und-Mäuse-Witze, Cowboy-und-Indianer-Witze, Neger-im-Urwald-Witze, Irre-im-Irrenhaus-Witze, Lehrer-und-Pfarrer-Witze. Und als irgendwann der erste Witz-mit-dem-lieben-Gott in einer provokanten Pointe zündete, bekam die kleine dicke Schwester einen tütenspitzen Mund und Grübchen in den Backen, weil sie mit Macht gegen ein Loskichern ankämpfte, das sich nicht mit der Bedeutung ihres Namens vertragen hätte. Unserem großen Bruder war bereits beim zweiten Witz das Wasser in die Augen geschossen, und weil er auf keinen Fall wirklich losweinen wollte, stellte er sich vor, er weine bereits. Mit aller Kraft presste er die Lider zusammen und hielt die Tränen zurück, indem er sich selbst als einen Anderen hemmungslos heulen sah. Diesem anderen Älteren Bruder kullerte es in einem fort über die Backen. Die Tränen umkurvten seine Nase, sickerten zwischen seine Lippen und tropften ihm vom Kinn. Ein Glück, dass dieser andere so ausgiebig weinen konnte. Denn was der witzelnde Professor da unten mit dem verunglückten Fuß anstellte, tat so arg weh, tat weh, wie nie zuvor gespürt, und hörte nicht auf, unerhört schrill wehzutun, so weh, dass er und der tränenüberströmte Andere lieber kein einziges Mal dorthin blickten, wo ein kleiner Teil ihres Inneren, ein Kostpröbchen nur, in Fetzen nach außen gerissen worden war.

Der Wolfskopf aber, den der Professor vor die Tür zu schicken vergessen hatte, hat alles, das ganze blutige Geschäft, bis in den kleinsten Handgriff für immer und ewig gesehen. Als die Mutter kam und ihn an der Wand, in der Lücke zwischen zwei weißen Blechschränken, entdeckte, erwiderte er ihren Gruß nicht, machte nicht den geringsten Mucks, als wollte er weiterhin unbemerkt bleiben. Der Mutter flößte diese Stummheit Angst ein. Und deshalb hat sie am Abend dem Vater genau beschrieben, wie starr, wie schocksteif dem Nachbarsjungen die dicken, aschblonden Haare, die er so lange wie keiner seiner Freunde vor dem Friseur zu retten versteht, vom Kopf weggestanden seien. Gleich einem in eine Ecke getriebenen Tier, still und panisch zugleich, sei der Wolfgang an der hellgrün glänzenden Wand gestanden, und zum ersten Mal habe er seinen Spitznamen für sie zu Recht getragen.

Nun im Bett der Eltern, den verschwitzten Schopf im Kopfkissen der Mutter, versucht der Ältere Bruder sich an möglichst viele der Felsenbrecher’schen Witze zu erinnern. Seine kleinen Brüder, die Zwillinge, sind nämlich wie der Professor große Witzeliebhaber. Sie sammeln sie in ihrem gemeinsamen Gedächtnis, und sie behaupten, unendlich viele hintereinander erzählen zu können. Gelegentlich versucht ein Erwachsener, die beiden der Prahlerei zu überführen, doch bis jetzt hat noch jeder den Kürzeren gezogen und musste das Witzehören ermattet aufgeben, bevor die Zwillinge mit ihrem Vermögen an ein Ende gelangt wären. Gewiss würden sich die beiden über eine Handvoll neuer Witze freuen und sie bei nächster Gelegenheit auf ihre besondere Art zum Vortrag bringen. Aber obwohl er sich sein ganzes Josephinium genau gemerkt hat, vom schwimmbeckenblauen Ölfarbenanstrich der Notaufnahme bis zum Geruch der Lederliege, auf der das Fleisch seines Fußes gereinigt und wieder richtig zusammengenäht worden ist, wollen unserem großen Bruder die Eröffnungen der meisten Witze, in denen ja die ganze folgende Lustigkeit schon wie in einem Keim enthalten ist, partout nicht mehr in den Sinn kommen.

Im Fuß tobt die südamerikanische Schlacht. Und weil er endlich sicher herauszuspüren glaubt, dass die wollig runden Bienchen die Brutkammern ihres Zuhauses samt der süßen Fülle ihrer Vorräte erfolgreich gegen die kalte Gier der getigerten Hornissen verteidigen werden, weil er erleichtert ahnt, dass ihre furchtbaren Verluste zuletzt mit dem erlösenden Allglanz des Sieges abgeglichen werden können, wird der Ältere Bruder nun trotz der Schmerzen schläfrig. Die Augen gehen ihm zu, sofort hört er besser, und schließlich sieht er ganz klar, wie sich das Gesäusel des Küchenradios vor dem Türschlitz schlankmacht und sich als ein honiggelbes Band zu ihm hereinschlängelt. Dem Klang entgegenschlüpfend, hat er im Nu auch das Gerät selbst vor Augen. Heute, am Tag des Unfalls, ist sein Furnier frisch mit Möbelpflege eingerieben worden. Unser großer Bruder erkennt den Geruch: Es ist die dunkle, die zuckerrübensirupfarbene Politur, die die Mutter außer für ihr kleines Frisiertischchen im Schlafzimmer nur für das Radio nimmt. Gegen dessen Lautsprecherbespannung, gegen den schwarzen, mit goldenen Fäden durchwirkten Stoff, presst sich nun von innen, aus der Tiefe des Apparats, das Gesicht von Professor Felsenbrecher. Denn wenn er Feierabend hat, das leuchtet dem Älteren Bruder sogleich ein, erzählt der Herr Professor seine Witze im Rundfunk. Ungeheuer lustig sieht es aus, wie Felsenbrechers Nase ein Zelt macht, wie dessen Spitze weit über die perlmuttfarbenen Tasten für Ultrakurz-, Kurz-, Mittel- und Langwelle hinausragt, wie der Trichter, den die Lippen aus der Lautsprecherbespannung herausstülpen, beständig Tiefe und Form verändert. Es ist ein Neger-im-Urwald-Witz, den der Professor gerade zum Besten gibt: Kannibalen haben den alten Doktor Junghanns aus seinem Urwaldhospital entführt und kochen ihn in einem großen eisernen Topf über offenem Feuer. «An mir ist leider nicht mehr viel dran!», gibt der Arzt zu bedenken und hebt entschuldigend die großen, schaurig knochigen Hände. «Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, mein Lieber!», tröstet ihn der Kannibalenkoch und taucht einen riesigen Löffel ins dampfende Wasser. «Als Fleischeinlage, als alter Suppenhahn bist du uns fett genug!»

 

Und ich? Mir reicht die Stärke meines Süppchens gleichfalls aus! Wohltemperiert schwappt es um mich herum. Ich plustere meine Winzigkeit, denke mir schöne volle Lippen, stülpe sie wie ein Fisch ins warme Nass und imitiere auf meine altkluge Manier nacheinander das Lachen der Freunde unseres großen Bruders, zuletzt das Glucksen, das aus dem Körper der Schicken Sybille tönt, wenn sie den Schlussknall eines Witzes nahen fühlt. Sybille gluckst im Voraus, weil sie tief in der Kehle spürt, dass es erzkomisch werden wird. Sie spürt es, schon bevor die Zwillinge sich noch einmal im Weitererzählen abwechseln, um alles mit einem letzten, langgezogenen Bogen und dann mit einem allerletzten, scharf geschlagenen Haken auf den Punkt zu bringen. Sybille gluckst so gut. Sybille hat einen schönen Klang am Leibe. Als der Wolfskopf sie heute Morgen zwischen den Heckklappen des Krankenwagens festhielt, um sie am Einsteigen zu hindern, bekam er nicht nur ihren Rockbund, sondern auch den Gummi ihres Schlüpfersaums zu fassen. Kurz haben Wolfskopf, der Ami-Michi und der Schniefer nicht nur das sonnengebräunte Hohlkreuz, sondern auch die blitzweißen Pobacken ihrer Freundin sehen dürfen.

Die Schicke Sybille ist gerade so dick, dass sich alles an ihr gleich angenehm, gleich gefällig rundet. Auf den Fotos, die ihre Mutter erst kürzlich, an ihrem elftem Geburtstag, im Hof zwischen dem erbsengrünen und dem kanariengelben Block von ihr geschossen hat, spannt sich ihr schönstes, das weiße, feingeblümte Kleid über den Hüften und über dem nach vorn gedrückten Bäuchlein. Auf diesen Bildern, die noch in der Drogerie Schümer ihre Abholung erwarten, ist das Kleid zum letzten Mal in Weiß und Grau zu sehen. Im Herbst wird Annabett Böhm für alle siebenundzwanzig Filme, die ihr noch zum Verknipsen bleiben, also für den Rest ihrer Ewigkeit, zum Farbfilm übergehen. Dann wird das Blassgeblümte ihrer Sybille bereits endgültig zu eng geworden sein. Obwohl es noch so gut wie neu ist, wird sich Sybilles kleine Schwester im kommenden Sommer weigern, auch nur zur Probe hineinzuschlüpfen. Ihr Sträuben wird sie damit begründen, dass der Stoff nach Sybille rieche. Die schöne und energische Annabett Böhm wird ihrer jüngeren Tochter erst freundlich zureden, dann mit ihr schimpfen und es schließlich mit dem kochend heiß gewaschenen und perfekt gebügelten Baumwollkleid ein weiteres Mal, erneut ohne Erfolg, probieren.

Ich sehe dieses Kleid, ich sehe sämtliche Blümchen in Farbe so gut wie in Schwarzweiß. Dergleichen bis in den kleinsten Fitzelkram, bis in die zarteste Schattierung oder ins feinste Farbenspiel hinein zu erkennen und wiederzuerkennen, fällt mir babyleicht. Ich weiß, dass die Schwester unserer Schicken Sybille im Recht sein wird. Ich weiß, wonach die aufgedruckten Blüten auch doppelt ausgelaugt noch riechen werden. Schon jetzt, in den Sonnen- und Regentagen meines Sommers, kann man es erschnuppern. Wer seine Nase in die Falten des geblümten Kleides drückt und sich dann wie ein Tier, wie Hund, Katz, Marder oder Bär, dem Schnüffeln überlässt, darf riechen, dass der Schicken Sybille unter dem festen Kleinmädchenspeck nichts Geringeres als ein Busen schwillt.

Sonnentag

Geschickt und geschwind, ohne ein einziges Mal auch nur anzustupsen, hat die Mutter das geschiente Bein durch die vier unumgänglichen Türrahmen hinausbugsiert. Der Ältere Bruder hätte nicht gedacht, dass sie ihn noch immer ruckzuck hochheben und wie ein kleines Kind auf ihren Armen durch die Wohnung und durch das Treppenhaus ins Freie tragen kann. Draußen hat sie ihn vor dem Küchenfenster mitten auf der Wiese abgesetzt, direkt neben der niedrigen, breiten Karre, die so wuchtig dasteht, als würde sie sein Gebrachtwerden bereits erwarten. Jetzt kitzeln ihn die Grashalme, die im Schatten des Wohnblocks länger morgenfeucht bleiben, in der nackten linken Kniekehle, und während er beobachtet, wie eine schwarze Ameise, die Fühler schlenkernd, über den glatten cremefarbenen Vollgummi des rechten Hinterrades irrt, schämt sich unser großer Bruder für beides, für seine Leichtigkeit und für die Fehleinschätzung der mütterlichen Stärke.

Natürlich hat er den kugeligen, aus weißgebeizter Weide geflochtenen Korpus des alten Kinderwagens sogleich erkannt, hat auch sofort gesehen, dass ihm sein Dach abhandengekommen ist, aber noch immer begreift er nicht, wozu das enthauptete Gefährt nun gut sein soll. Der Schraubenzieher und die rostige Zange, die die Mutter zusammen mit einem kleinen Hammer und einer Schachtel Nägel als ihr Hausfrauenwerkzeug sonst in der Küchentischschublade verwahrt, liegen zwischen den Gänseblümchen. Und auch das Blechkännchen mit dem Nähmaschinenöl war offenbar im Einsatz. Vergeblich versucht der Ältere Bruder sich vorzustellen, wie sie in aller Frühe damit zugange war, während er und die Zwillinge drinnen in den Betten lagen. Nach einer unruhigen, an blutigen Träumen reichen Nacht hat er zuletzt bloß noch dösend phantasiert, hat sich mühsam vom Rücken auf die Seite gewälzt, sich wegen der dann heftig lospulsenden Schmerzen wieder zurückgedreht und den Gedanken, dass er es wie im Josephinium auch zu Hause nicht allein aufs Klo schaffen würde, erneut im Dämmer des Halbschlafs versenkt.

Der Kinderwagen hat, mit einer alten Tischdecke vor Staub geschützt, die letzten Jahre auf dem Dachboden gestanden. Unser großer Bruder weiß, das extrabreite Modell mit den dickbereiften Rädern wurde gebraucht erstanden, nachdem Doktor Junghanns der Mutter offenbart hatte, dass aus ihrem Bauch mit unbezweifelbarer Sicherheit ein doppelter Herzschlag herauszuhören sei. Monate später soll sie dann mit dem letzten Kraftquäntchen, das ihr die Arbeit des Gebärens gelassen hatte, «Oje, noch so ein Zipfelchen!» gerufen haben, als die Hebamme den zweiten der Witzigen Zwillinge vor ihren Augen in die Höhe stemmte. So hat sie es immer wieder neu erzählt und den Brüdern, dem großen wie den beiden kleinen, jedes Mal verschwiegen, welch schweren Seufzer dieser tapfer scherzhafte Ausruf nach sich zog. Denn schon damals, die Zwillinge an den Brüsten, musste sie sich mutterseelenallein entschließen, irgendwann, auf keinen Fall bald, aber auch nicht zu spät, einen weiteren, einen allerletzten Anlauf zur Zeugung der ersehnten Tochter zu unternehmen.

Wäre der Zwillingskinderwagen inzwischen weiterverkauft oder verschenkt gewesen, hätte die Mutter versucht, einen Rollstuhl aus dem Josephinium auszuleihen. Denn davor, ihren Großen die angekündigten vier Wochen lang, also fast die ganzen Sommerferien hindurch, in der kleinen Wohnung herumliegen zu haben, hat es ihr sofort gegraust. «Ich kann den Fuß auch ambulant versorgen, wenn Sie mir Ihren Knaben zweimal die Woche zum Verbandswechsel in die Klinik bringen», schlug ihr Felsenbrecher vor, nachdem sie, spät verständigt, mit dem Fahrrad im Krankenhaus eingetroffen war, just in dem Moment, als das Bein fertig eingewickelt war und ihr Ältester die längst überfällige zweite Schmerzspritze in den Pomuskel bekommen hatte. Und dann raunte der Professor ihrem Sohn noch recht geheimnistuerisch ins Ohr: «Wir sind nämlich komplett belegt. Alles ist bombenvoll! Bloß im Keller, in der geschlossenen Abteilung, wo unsere armen Verrückten sich gegenseitig auf die Nerven gehen, da wäre noch ein Bettchen für dich frei.» Das war natürlich kein ernstgemeinter Vorschlag, sondern eine Überleitung à la Felsenbrecher. Sogleich folgte ein allerletzter Witz, die Geschichte von den zwei verrückten Männern, die glauben, miteinander verheiratet zu sein, aber sich nie einig werden können, wer von ihnen den Ehemann geben darf und wer die Ehefrau sein muss. Jetzt, im wasserklaren Vormittagslicht, kommt dem Älteren Bruder und der Mutter gleichzeitig, ohne dass sie dies jeweils vom anderen ahnen, der Witz samt seiner Pointe erneut in den Sinn. Beide hat der Kinderwagen draufgebracht. Denn im Witz geht es um das Kind, das sich die eingesperrten Männer in steiler Sehnsucht voneinander wünschen. Der Ältere Bruder versteht immer noch nicht genau, was daran lustig ist. Es muss eine dieser speziellen Erwachsenensachen sein, so viel war ihm bereits im Josephinium klar, denn die Mutter warf dem Arzt, als der dröhnend loslachte, einen jener Blicke zu, von denen sie regelmäßig sagt, dass sie, wenn es auf dieser Welt gerecht zuginge, ruckzuck töten müssten.

Nun klappt sie das Fußteil des Zwillingskinderwagens nach unten und legt eine Decke auf die verlängerte Liegefläche. Aber erst, als sie noch zwei Sofakissen aus der Wohnung herausgeholt hat und diese unter den Augen der herbeigelaufenen Hofkinder sorgsam als Lehne in den Wagen stopft, begreift unser großer Bruder endlich, was sie vorhat. Die Mutter bittet den Wolfskopf und den Schniefer, die Schiebestange festzuhalten, während sie ihn hineinhebt. Es wurmt ihn bis ins Mark, dass nun alle vollends erfassen, wie hilflos er ist, mit dieser Schiene, die übers Knie reicht, damit er das Bein möglichst ruhig hält, und dem mumiendicken Verband, unter dem es wild zu puckern anfängt, sobald der Fuß auch nur ein bisschen gehoben oder gesenkt wird.

Dann ist er mit den Freunden allein. Die anderen, die zweitrangigen Kinder, die für sie nur in Betracht kommen, wenn man für ein Spiel recht viele Mittuende braucht, haben sich wieder an den Sandkasten und unter die Teppichstangen verzogen. Durch das offen stehende Küchenfenster hört er die Mutter mit den Witzigen Zwillingen reden. Die würden jetzt, wo die Ferien begonnen haben, bis in den Nachmittag hinein schlafen, wenn man sie ließe. Aber die Mutter hat sie aus ihrem Doppelstockbett gescheucht, und nun werden sie gezwungen, ihre Haferflocken mit Milch und Honig zu essen und ihren Tee zu trinken. Die beiden klagen wie immer darüber, dass ihnen kotzschlecht sei, dass ein besonders wichtiger Traum nicht an sein Ende gefunden habe und dass ihnen die riesigen, groben, nicht richtig plattgepressten Haferkörner im Schlund stecken blieben, ganz oben, wo es in ihren Hälsen eine besonders enge Stelle geben müsse. Aber obwohl die beiden jetzt sogar den Witz erzählen, in dem die Maus den Elefanten zum Essen einlädt, und die Mutter lachen muss, weil sie der neue Schluss, den die Zwilinge aus dem Nichts oder aus der milchweißen Tiefe ihrer Teller ziehen, überrascht und entzückt, wird sie den beiden nicht eine einzige der langsam matschig werdenden Flocken erlassen. Der Ältere Bruder bewundert sie hierfür. Und er denkt, gerade weil ihm seine kleinen Brüder leidtun, dass er, wenn er eine Mutter sein könnte, seine Söhne genauso unerbittlich zu allem zwingen würde, von dessen Richtigkeit er überzeugt ist.

Der Wolfskopf und der Schniefer, der Ami-Michi und die Schicke Sybille sind Schulter an Schulter vor den Doppelkinderwagen getreten und schauen sich stumm das Bein an. Der Ältere Bruder ist nach vorn gerutscht, die untere Kante der Schiene liegt im Gras. Weil es ihm schwerfällt, stillzusitzen, hat er sich schon einen grünen Schmierer in das Weiß des Verbands gerieben. Er sieht, wie tapfer seine Freunde mit der drohenden Erschlaffung ihrer Mienen, mit dem Ausdruck endgültiger Enttäuschung kämpfen. Das ganze ungeheure Imperium der Sommerferien liegt vor ihnen. Sie ahnen alle, nur noch einmal, ein letztes und deshalb besonderes Mal darf sich die Grenze dieses Reichs hinter einem Horizont aus weißgolden gleißendem Sonnenlicht verlieren. Danach, im Herbst, wird einer der großen Gelenk-Omnibusse, die die kleineren Kinder Ziehharmonikabusse nennen und die im Frühjahr die letzten Fahrzeuge mit Anhänger ersetzten, den Älteren Bruder jeden Schultag, also sechsmal die Woche, aus der Siedlung hinein in die Stadt, ins Gymnasium verschleppen. Seine Freunde, die in der Volksschule bleiben dürfen, sorgen sich sehr um ihn. Kein Kind des Hofes ist bisher auf ein Gymnasium gegangen. Obwohl sie allesamt so gut wie nichts über dieses andersartige Unterrichtsgehäuse wissen, rechnet jeder für sich, dem Klang des Wortes folgend, auf eine zwingend dunkle Weise mit dem Schlimmsten.

Er muss jetzt Zeit gewinnen. Also greift er sich in die rechte Kniekehle, schwenkt das steife Bein in die Höhe, legt es auf den Rand des Wagens. Dann weist er den Wolfskopf an, die Bremsen zu lösen. Als der nicht gleich kapiert, was damit gemeint ist, springt ihm Sybille bei und tritt auf die beiden Blechklappen, die bis jetzt die Vorderräder blockiert haben und nun, weil die Mutter sie mit reichlich Nähmaschinenöl geschmiert hat, bereitwillig nach unten schnappen. «Ab zum Spielplatz!», lautet die Parole des Älteren Bruders. Schon sind die drei Jungen hinter ihn getreten, drängeln sich an der Stange und schieben ihn auf den Teer des Zufahrtswegs hinaus. Die Kinder nennen den Weg nur «die Runde», vielleicht, weil er zwischen den beiden Wohnblöcken wie vor den Rängen einer kleinen, aber maximal steilen Arena seine ovale Bahn zieht. Frau Böhm, die gerade ihr Küchenfenster putzt, und die Mutter des Ami-Michi, die vis-à-vis im gelben Block die Federbetten in die Sonne hängt, sind Zeuge, wie der Zwillingskinderwagen Fahrt aufnimmt. «Mit Karacho!», befiehlt der Ältere Bruder, und der Wolfskopf, der Schniefer und der Ami-Michi bringen die frisch geölten Kugellager zum Surren.

Die Schicke Sybille aber bleibt noch ein klitzekleines Momentchen stehen. Sie trägt ihr Drachenkleid, das so heißt, weil sein Himbeerrot mit vielen großen Drachen bedruckt ist, aus deren grinsenden Mäulern orange Flammen züngeln. Durch den dünnen Stoff, durch den Schuppe für Schuppe aufgedruckten Panzer eines großen grünen Drachen kratzt sie sich heftig am Po und presst dabei die Augen zu. Sybilles untere Lider ähneln den prallen Lippen der Negerpuppe, mit der sie nun schon den dritten Sommer nicht mehr spielt, die sie aber dennoch nicht gewillt ist, an ihre kleine Schwester abzugeben. Ein ganzes weiteres Jahr noch wird dieses schwarze Baby mit starrem Blick, mit kreisrund offenem Schnullermund und gespreizten Beinen auf dem Kleiderschrank ausharren müssen. Sybille blinzelt, und unter ihren Wimpern glitzert die Befriedigung darüber, dass weder der gewaltige weiße Verband, noch der blutig vernähte Fuß, der sich darunter verbirgt, unseren großen Bruder daran hindern konnten, den Ton des Tages anzugeben.

Auf dem Weg den Drosselgrund hinunter treffen sie ein halbes Dutzend Mütter und mehr als doppelt so viele Kinder. Der Ältere Bruder schweigt, wenn man ihn nach seinem Bein fragt, weist nur mit dem Daumen über seine Schulter auf den Wolfskopf, der ihren gemeinsamen Unfall so tollpatschig, wie es ihm aus dem Mund kommt, erzählen darf. Bis hinter die Doppeltür des Rotkreuz-Kombis und dann auch noch in die Notaufnahme hinein lässt unser großer Bruder ihn gewähren. Erst den Professor Felsenbrecher übernimmt er selbst. Er macht ihn größer als groß. Er malt die Nase, die an den Wunden schnuppert, fleischwurstfarben und lässt die Wangen des Professors, sobald er über die eigenen Witze lacht, beben wie Wackelpudding, wenn man diesen aus seiner Schüssel auf einen Teller stürzt. Der Ältere Bruder sieht, dass es nicht nur die Kinder, sondern weit mehr noch die mitfühlenden Frauen erquickt und erleichtert, den mächtigen Hautvernäher recht komisch geschildert zu bekommen. Damit die aufgehellten Mienen ungetrübt bleiben, verschweigt er, dass es während des professoralen Gelächters immer besonders scheußlich wehgetan hat, weil die Felsenbrecher-Finger den Faden dann schlimm ruckelig durch seine Ferse zogen.

Als sie an der alten Nagelbuche auf den Kiesweg in den Spielplatz abbiegen, scheint ihm dessen Gelände aus dem von der niederen Karre erzwungenen Blickwinkel groß wie nie zuvor. Hundert, nein tausend Kinder könnten hier auf diesen riesigen Wiesen und im Dickicht der Hecken, die sie säumen, ihre Spiele spielen, viel mehr Buben und Mädchen, als es in der Neuen Siedlung gibt, doch zusammen mit zwei Knirpsen, die schon im vorderen der beiden Sandkästen wühlen, sind er und seine Freunde an diesem Vormittag die Einzigen, die diesen ungeheuren Freiraum nutzen. An den Kettenschaukeln und an den Wippen vorbei lässt sich unser großer Bruder bis zur Turnstangen-Bank kutschieren. Deren grünlich verfärbtes Holz macht zwar Flecken in die Hosen und Kleider, aber von allen Bänken ist sie am schönsten zugewachsen. Schatten ist jetzt wichtig. Während die Jungen den Kinderwagen gut festhalten, schiebt er zunächst das geschiente Bein auf die Bank und schafft es dann, sich ganz hinaufzuziehen. Sybille hat indessen an der mittleren der drei stufenförmig aufsteigenden Querstangen zu turnen angefangen. Kopfüber hängt sie am Eisen, holt mit dem Rücken und den Armen Schwung und schaukelt. Und so wird, verborgen unter ihren dicken braunen Knien, die Stange, auf der sich, befördert vom Tau, ein Hauch von frischem Rost gebildet hat, nach und nach wieder stahlblank gewienert. Ihre Finger ziehen Rillen durch den Sand, der Saum des Drachenkleids hängt bis an ihre Nasenspitze, sie hat die Augen zu, als müsse sie sich ganz auf das Hin und Her, auf das Vor- und Zurückpendeln konzentrieren.

«Erzähl schon!», sagt sie schließlich, und es klingt merkwürdig dumpf, vielleicht weil ihr der Magen gegen die Lungen drückt. Dann streicht sie das Drachenkleid nach oben, klemmt es zwischen die Oberschenkel und verschränkt die Arme vor der Brust, als wollte sie die ganze kommende Geschichte so hängen bleiben, obwohl ihr Gesicht schon von der Stirn bis an die Wangen, die die Schwerkraft komisch verbeult, dunkelrot angelaufen ist. Der Wolfskopf und der Schniefer haben sich rechts und links vom Älteren Bruder auf die Außenkanten der Bank gesetzt. Das wehe Bein beansprucht den meisten Platz. Mit gesenkten Lidern, so brav und aufmerksam, wie sie es in der Schule nie und nimmer sein könnten, warten sie, dass er mit einer Geschichte anfängt. Der Ami-Michi hat im Kinderwagen Platz genommen. Jetzt lehnt er sich zurück, wälzt sich auf die Seite, krümmt den Rücken und zieht die nackten Knie bis an den unteren Rand der Kissen. Der Ältere Bruder aber hebt den Kopf und guckt über die Büsche und Baumspitzen in den weißbetupften Himmel.

Er weiß nicht, dass man das gesamte Gehölz erst im Geburtsjahr der Neuen Siedlung, das auch sein Geburtsjahr ist, auf einer weiten Heuwiese und einem breiten Streifen Acker angepflanzt hat. Wild sind seitdem nur ein paar Ahornbäumchen im Unterholz und am Rand des Gebüschs hinzugekommen. Die Eschen ragen am höchsten. Wie die Spitzen von Masten piksen sie ins weiche, noch nicht von der kommenden Hitze ausgehärtete Blau, und damit ist unserem Älteren Bruder offenbar, dass er für seine Freunde heute als Erstes eine Piratengeschichte erfinden wird. Weil ihm der Fuß von der Kletterei auf die Bank wieder schlimm wehtut, fängt er mit einem Kapitän an, der nicht nur auf einem, wie man es aus anderen Geschichten zur Genüge kennt, sondern gleich auf zwei Holzbeinen über die Planken seines Schiffes stakst. Er nennt ihn Kommandant Silber, flicht ihm einen langen Zopf aus seidigem, silbrig grauem Haar, lobt dessen Glanz, fädelt seltene schwarze Perlen und gelochte Münzen in die prächtige Frisur, weil er weiß, dies wird Sybille gefallen, und lässt ihn erst dann in wüsten Flüchen beklagen, dass ihm seine Unterschenkel von einer besonders tückischen, pechschwarzen Kanonenkugel gemeinsam weggeschossen worden seien. Keinen einzigen Tag hätten ihn die ehemaligen unteren Hälften seiner Beine seitdem nicht geschmerzt. Mit gutem Recht! Wer wäre nicht gleich seinen verflossenen Zehen, seinen einstigen Fersen, seinen Waden und Schienbeinknochen auf ewig verbittert, wenn er von einem bösen Moment auf den anderen nicht mehr mit dem lebenslustigen Rest, mit Bauch, Brust, Nase und Haar durch Sonne, Luft und Wind über die Planken der Tage stapfen dürfte.

 

Kanonenkugelschnell zurück, heim in die leibeigene Welt, dorthin, wo alle Schmerzen säuberlich separat, Körper für Körper, auszuhalten sind, befördert unsere Kinder erst wieder das Auftauchen des Kikki-Manns. Der Kikki-Mann kommt nie verkehrt. Auch jetzt nehmen die Freunde sein Gespür für den richtigen Augenblick so sinngläubig hin wie andere Geschenke ihrer Sommer, wie das Loch im Maschendraht, das genau dort klafft, wo man auf die verbotene Seite hinüberschlüpfen will, wie die Münze, die einem fünf Schritte vor dem Kaugummi-Automaten aus dem Straßendreck entgegenglänzt. Blind und stumpf für das Talent des Kikki-Manns sind dagegen fast alle Erwachsenen. Nur die Mutter hat einmal gesagt, sie verstehe nicht, wie es einem Taubstummen gelingen könne, bei Tabak-Geistmann am Freitagabend, im Gedrängel vor der Lotto-Theke, im wirklich rappelvollen Laden, genau dann seine kieksende Stimme zu erheben, wenn das Gemurmel kurz verebbt sei und es einen der raren Momente allgemeinen Stillseins gebe.

Jetzt hüpft der Kikki-Mann, just als der Ältere Bruder das Piraten-Abenteuer abgeschlossen hat, wie ein sehr großer und nervöser Vogel, vom zweiten Sandkasten des Spielplatzes, wo er schon ausgiebig zu den Kleinen gesprochen hat, an ihre Bank herüber. So, wie es sich für eine gute Geschichte gehört, hat das Ganze wieder auf dem Fundament des Anfangs Fuß gefasst. Die Lösung des Geheimnisses, das gesuchte Medaillon mit dem Bild des verschollenen Mädchens, ist die ganze Zeit im linken, hohlen Holzbein des Kapitäns verborgen gewesen. Leider hat unseren großen Bruder unter dem Triumphbogen der Spannung, als der Schniefer mit offenem Mund die Luft anhielt und die Schicke Sybille beide Fäuste zwischen die Oberschenkel presste, wieder einmal die übliche Versuchung, die schlimme, schlimme Sucht gepackt. Außer dem Medaillon, das alle Ungewissheit aufhob und den dinglichen Beweis bedeutete, der noch zum endgültigen Sieg der Guten über die Bösen fehlte, hat er seinen Helden, der, erst jetzt kam es ans Licht, gar kein Schiffsjunge ist, sondern die verkleidete, einst als winziges Kindchen entführte Tochter des Admirals, noch einen merkwürdig geformten und mit uralten Diamanten verzierten Schlüssel in der Höhlung der anderen, der rechten Prothese entdecken lassen.

Prompt hat der Schniefer das frische hellblaue Taschentuch, das ihm seine Mutter jeden Morgen in die Hosentasche steckt, herausgeholt und putzt sich damit noch immer übertrieben gründlich die Nasenlöcher. Dies tut er nur, wenn ihn ein Erwachsener ernstlich dazu ermahnt, wenn irgendeine Angst in Schach gehalten werden muss oder aber, wenn er sich, schnaubend und reibend, aufrafft, einen Erwachsenen um etwas anzugehen. Nun, da er die Geschichte vom Medaillon vollendet hat, gehört der Ältere Bruder für den Schniefer zu denen, die etwas gewähren können, wie ein Lehrer, der die ganze Klasse zehn üppige Minuten früher in die mittagshelle Freiheit abziehen lässt, wie eine Ladenbesitzerin, die mit dem Rückgeld zwei Bonbons über die Theke schiebt, oder wie dieser eine seltsam rare Onkel, den man nur an Omas Geburtstag und an Weihnachten zu sehen bekommt und der einem einfach so, bevor er erneut verschwindet, schnell noch die größte aller Münzen zusteckt, diejenige, die als Einzige so superschwer in der Hand liegt, wie es einst die Dukaten vermochten, von denen eben noch die Rede ging. Gleich wird der Schniefer durch die rotgeputzte Nase schnupfen, und dann wird er unseren großen Bruder auch im Namen der anderen bitten, gleich mit der Geschichte weiterzumachen, die mit all ihren Verwicklungen hinter dem geheimnisvollen Schlüssel und seinen Schnörkeln verborgen liegen muss.

«Dü! Dü! Dü!», jodelt der Kikki-Mann und wedelt mit seinem einmalig langen und dürren Zeigefinger vorwurfsvoll vor der Nase des Älteren Bruders. Alles am Kikki-Mann ist lang und dünn. Die Zwillinge haben Frau Böhm einmal zur Mutter sagen hören, eigentlich sei der Taubstumme ein mehr als passabler, ein sogar ziemlich gut aussehender Vertreter seines Geschlechts, aber durch seine schaurige Magerkeit und durch die schrille Höhe seiner Stimme würde sein Mann-Sein doppelt durchgestrichen. Jetzt denken die Buben, der Kikki-Mann unterstelle dem Älteren Bruder, selbst an der Versehrung seines Fußes schuld zu sein, und tadle ihn dafür. Nur die Schicke Sybille ahnt, dass er den Schlüssel meint, den unser großer Bruder eben im letzten Überschwang in das zweite Holzbein des Piraten hineinerzählt hat. Das «Dü! Dü! Dü!» will wie das Pendeln des nikotingelben Zeigefingernagels sagen: Treib es mir nicht zu weit, mein Lieber!

Dann zündet sich der Kikki-Mann eine Filterzigarette an und erzählt ihnen selbst etwas. Es geht wie meistens, wenn er zu anderen Menschen spricht, um seine Vögel, um die Wellensittiche und Kanarienvögel, die er züchtet. Irgendwann im Verlauf seiner Geschichten beginnt er immer, ihren Gesang nachzumachen, und was er durch spitzen Mund hinausflötet, ähnelt wirklich Kanarienvogelgezwitscher oder Sittichgeschrei, nur dass der Taubstumme wie beim Sprechen die Tonhöhe verfehlt und selbst den schönsten Triller zuletzt ins Quietschige verzieht. Die Freunde nicken und sagen «Ja, ja!», «Ach, was?» und altklug «Schön, sehr schön!», so wie sie es den Erwachsenen abgehorcht haben, die nicht anders als ihre Kinder zumeist nur einen Bruchteil der Erzählungen des Kikki-Manns verstehen. Vorhin allerdings, am Sandkasten, ist ein Knirps aus dem Loch, das er sich zum Hinheinhocken gewühlt hatte, aufgestanden, hat stehend noch ein Weilchen zugehört, dann mit der Spitze seiner Blechschippe an das linke Knie des Kikki-Manns getippt und zu ihm gesagt: «Du musst richtig sprechen, sonst lernen es deine Wellensittiche genauso verkehrt, wie du es ihnen vormachst!»

Der Ältere Bruder versteht den Taubstummen am besten, wenn er dessen Lippen fixiert, und noch ein Quäntchen besser, wenn er ihm von unten in den auf- und zuschnappenden Mund hineinlinst. Das geht meist gut, denn der Taubstumme klappt die Kiefer redend weiter auseinander als die, denen ein Gehör geschenkt ist. Günstig wirkt sich auch aus, dass ihm oben der linke der mittleren Schneidezähne fehlt, der offenbar, zumindest täuscht dies die Lücke vor, noch ein wenig breiter gewesen sein muss als der rechte, der erst später, der erst in den letzten Tagen meines Sommers, ausgeschlagen werden wird. Oben am Gaumen des Kikki-Manns glaubt unser großer Bruder jetzt das einsilbige Wörtchen «tot» zu erkennen. «Püsst üüf, sünst üst üünür vün üüch büld tüt!», flötet der Vogelzüchter. Und der Wolfskopf, der nur diesen einen Satz verstanden hat, lacht und schüttelt seine blonde Mähne, weil er das für einen prima Witz hält, weil er heute Nacht von knöcheltiefen Blutpfützen, von abgerissenen Füßen und abgebissenen Händen geträumt hat und weil er sich jetzt, im milden Vormittagslicht, von Herzen darüber freut, dass ihr Fahrradunfall nicht schlimmer ausgegangen ist.

 

Schlimm bin ich auch. Allein schon, weil ich nie wegsehen kann, bin ich ein schlimmes Früchtchen. Zuletzt, am Ende unseres Sommers, gucke ich mir buchstäblich die Augen aus dem Kopf. Und vorgestern, an einem Sonnentag wie heute, habe ich mir breit und bunt angesehen, wie Sybille mit ihrer Mutter, der schönen, schwarzgelockten Annabett Böhm, den Kikki-Mann im vorletzten Wohnblock besuchen ging. Der letzte und der vorletzte, der weiße und der türkise Block bilden den bösen Hof. Auf dessen Rundweg sollten die Braven, also die Mädchen und Jungen der drei vorderen Häuser, sich besser nicht ohne den Begleitschutz eines Erwachsenen, am besten gar nicht blicken lassen. So sieht es auch Sybilles Mutter. Aber ihre jüngere Tochter wünscht sich einen Wellensittich zum Geburtstag, und obwohl sich die beiden Schwestern täglich in die Haare kriegen, zweifelte Frau Böhm nicht daran, dass nur Sybille in der Lage sein würde, den Wellensittich auszugucken, der vom buckligen Schnabel bis in den Glanz der Schwanzfedern der Herzenssehnsucht ihres Schwesterchens entspricht. So kam es zum Besuch beim Kikki-Mann, der nicht bloß im schlimmen türkisen Block wohnt, sondern auch noch im dritten Eingang, wo links und rechts, hinter insgesamt drei Türen, die Huhlenhäusler hausen.

Schon im Hausflur roch es überwürzig aus den Wohnungen heraus, die der Sippe von der Stadt zugewiesen worden sind. Es heißt, die Huhlenhäusler seien seit Generationen Landfahrer gewesen. Wie die Zigeuner, mit denen sie aber auf keinen Fall in einem Satz vorkommen wollen, sollen ihre Familien ohne festen Wohnsitz als Hausierer, Schrotthändler oder Schausteller von Ort zu Ort gezogen sein. Die hiesigen Behörden hätten sie halb zur Sesshaftigkeit verlockt, halb dazu gepresst. Briefträger Wischmann, der ihnen regelmäßig amtliche Schreiben an die Türen bringt, weil er weiß, dass sie ihre Briefkästen, wenn überhaupt, nur selten leeren, behauptet, dass die Huhlenhäusler weiterhin alles, wirklich alles irgendwie Essbare in jener jenischen Suppe versenken, die von morgens bis spätnachts in einer der Wohnungen auf dem Küchenofen brodelt. Abscheulich safrangelb sei dieser Sud, fast schmerzhaft grell für Augen, die ein derart beißendes Gelb nicht von klein auf gesehen hätten. Das Fleisch von Katzen, die die Huhlenhäusler Buben mit Drahtschlingen erwürgten, schwimme in der Brühe und Jungvögel mit milchig geronnenen Augen, welche die üblen Bengel, bevor den armen Piepmätzen die ersten Federn sprießen konnten, aus den Nestern raubten. Dazu gäben die Weiber der Sippe noch eine ungeheure Menge knochenweißer Knoblauchzehen, weil Knoblauch, mit dem die Italiener, die Jugoslawen und angeblich sogar die nach ihren Aromen süchtigen Zigeuner noch halbwegs maßvoll kochten, für die Jenischen etwas Unabdingbares, fast etwas Heiliges, auf jeden Fall das Gemüse aller Gemüse sei.

Als sie an der Hand ihrer Mutter in den bösen Hof gebogen war, hatte es unserer Schicken Sybille vor allem vor diesem dampfenden Topf gegraust. Aber der jenische Suppenduft im Treppenhaus bildete dann bloß den Vorgeruch, die milde Einstimmung auf das Reich des taubstummen Vogelzüchters. Durch die Wohnungstür des Kikki-Manns getreten, musste sich Frau Böhm sogleich, auch wenn es unhöflich wirken mochte, ihr Taschentüchlein gegen die Nase pressen. In weiblicher Voraussicht hatte sie es vor dem Weggehen verschwenderisch mit Kölnisch Wasser beträufelt. Schon aus den Spatzennestern oben auf dem Dachboden, zu denen sie ihre Töchter, als diese klein gewesen waren, nach dem Wäscheaufhängen hinaufgehoben hatte, roch es kalkig scharf, wenn man der nackten, federkielborstigen oder beflaumten, sofort mit orangen Kehlen bettelnden Brut zu nahe kam. Beim Kikki-Mann war dann kein Wegdrehen oder Abstandnehmen möglich. Der Schicken Sybille und ihrer Mutter stieß der Vogelgestank hinauf bis in die Stirn, und als sie versuchten, nur durch den Mund zu schnaufen, brannte es ihnen laugig am Gaumen und den Hals hinunter. Sybille wurde kotzschlecht davon, nach einer eiligen Rundschau zeigte sie auf die richtige Federfarbe, auf das Türkis, das ihre Schwester bestimmt entzücken würde, und rannte schnurstracks hinaus an die frische Luft.

Annabett Böhm jedoch hielt mit tränenden Augen stand. Käfig auf Käfig nahm sie sich vor. Die kleine Wohnung durchschreitend, begriff sie, wie radikal der Kikki-Mann seine Behausung nach dem Auszug seiner Frau den Erfordernissen der Vogelzucht unterworfen hatte. Offenbar schlief er auf der schwarzen Kunstledercouch, die in der Wohnküche hinter dem Tisch stand, denn aus dem ehemaligen Schlafzimmer war jegliches Mobiliar verschwunden. Die Käfige füllten alle vier Wände, sogar das Fenster und damit der Blick zum letzten, zum weißen Block hinüber war mit einem hohen und tiefen Drahtkasten, fast einer Art Voliere, zugestellt.

Wenn es zeitlich noch möglich gewesen wäre, hätte sich Annabett Böhm am liebsten aus den ausgewachsenen türkisen Flatterlingen das Elternpärchen des Geburtstagsvogels zusammengestellt und später aus dem Gelege das größte Ei herausgesucht. Aber dann entdeckte sie auf einer der lichtüberströmten Stangen des Fenstergeheges den offenbar perfekten Piepmatz, ein noch putzig kleines, aber robust und keck wirkendes Kerlchen. Der Kikki-Mann schnupperte ihm am Bürzel, um sicherzugehen, dass der Vogel wirklich ein Männchen war. Dann wurde er in einem eigenen, kaum kinderschuhkartongroßen Käfig separiert und angezahlt. Frau Böhm bekam eine Zigarette angeboten. Sie rauchte sie in tiefen, hastig aufeinanderfolgenden Zügen bis an den Filter auf, während der Kikki-Mann ihr, ebenso geschwind und glücklicherweise zwitschernd unverständlich, zunächst allerlei über seine Frau, die ihn im letzten Sommer Knall auf Fall verlassen hatte, und dann über das Liebesleben seiner Zöglinge erzählte.

Als Annabett Böhm nach draußen kam, standen vor dem Hauseingang gleich drei der Huhlenhäusler Buben, alle in der Schwüle verfrühter Reife, um ihre Sybille herum. Alle drei trugen den gleichen schmeichlerisch werbenden Ausdruck in den ähnlich südländisch hübschen, aber unsommerlich käsigen Gesichtern. Allen fiel braunseidiges Haar schräg in die hohe, über den Augen höckrig zweigeteilte Stirn. Jeder hielt beide Hände mit seltsam gespreizten Fingern vor einen schmalen Brustkorb, der sich tonnenförmig, fast geometrisch exakt, nach vorne wölbte. Zum ersten Mal glaubte sie zu erfassen, wie unheimlich weit die Ähnlichkeit unter den männlichen Huhlenhäuslern ging. Und schwindlig vom ungewohnten Nikotin, schien ihr plötzlich glasklar, dass sich die Sippe auf ihrer langen kreisenden Wanderschaft durch die Täler und über die Höhen des Südwestens bis in diesen türkisen Wohnblock hinein stets nur untereinander zu Paaren zusammengefunden hatte. Die Handleserin schlüpfte unter die Decke des Scherenschleifers, die Kochlöffelschnitzerin gab sich dem Alteisensammler hin. Aber nicht nur aus blanker Not beschränkte man sich so auf seinesgleichen. Man tat es auch, um mit schlafwandlerischer Zielgerichtetheit diesen erstaunlichen Gleichklang maskulinen Ausdrucks zu erzwingen.

Sonnentag

Zweimal die Woche soll er zum Neuverbinden ins Josephinium kommen, und der Ältere Bruder hat sich zumindest auf das Kutschiertwerden gefreut. Die Rückfahrt vom Krankenhaus ist nämlich seine allererste Taxitour gewesen. Im Fond der schwarzen Limousine, die Hände auf dem braunen, mit Rosshaar prallgestopften Leder, das bandagierte Bein im Schoß der Mutter, durfte er spüren, wie die Spritze, die der Professor zuletzt doch noch spendiert hatte, zu wirken anhob, wie dem Schmerz ein kribbeliger Flaum wuchs, wie sich das Stechen, Beißen und Pochen nach und nach in diesem feinen Pelz verlor, bis sich der Fuß allmählich wattig taub, zuletzt fast schwerelos anfühlte. Und als sie dann leider viel zu früh, fast wie im Flug, oben in der Neuen Siedlung angekommen waren, als das Taxi zwischen die Blöcke bog und im Schritttempo zum dritten Aufgang rollte, worauf die Kleinen im Sandkasten aufsprangen und die größeren Jungen von den Wäschestangen, die ihnen als Torpfosten dienten, herbeigerannt kamen, während der Wolfskopf, der neben dem Fahrer saß, das Fenster hinunterkurbelte, um hinauszuwinken, hat unser großer Bruder noch einmal ganz heftig die Taxi-Luft, den Geruch von Lederpflegecreme und kaltem Zigarettenrauch, durch die Nase gezogen und durch den Mund geschlürft, um möglichst viel davon bis in die Wohnung mit hineinzunehmen.

Jetzt jedoch muss er, während er seine Haferflocken von einer Backe in die andere schiebt, erfahren, dass es erst einmal keine weitere Taxi- oder Krankenwagentour geben wird. Gestern hat die Mutter gleich dreimal telefoniert, was zuvor noch an keinem Tag ihres Lebens nötig gewesen war. Zweimal ist sie in der Telefonzelle an der Kirche gestanden, hat zunächst mit der Krankenkasse und dann mit dem Josephinium gesprochen. Das dritte Gespräch, wieder mit der Krankenkasse, hat sie dann bei Frau Böhm geführt. Die Böhms haben sich als erste und bislang einzige Familie im dritten Aufgang einen Anschluss legen lassen, während es in den beiden vorderen Aufgängen schon jeweils drei Parteien gibt, denen das unisone und in allen Wohnungen maximal laut eingestellte Klingeln des Fernsprechapparats die Überraschungen einer erweiterten Welt verspricht.

Der Ältere Bruder hat bemerkt, dass die Mutter Frau Böhm seit einer Weile nur noch ungern um einen Gefallen bittet. Noch ahnt er nicht, warum. Aber er wird den Grund, nach dessen Kenntnis es ihn nicht im Geringsten gelüstet, in Bälde von seinen Brüdern, denen er aus dem Plappermäulchen von Sybilles kleiner Schwester zugeteilt worden ist, weitergereicht bekommen und ihn dann zu anderen garstigen Gründen legen, die ihm bereits offenbar geworden sind. Als die Mutter der Nachbarin im Treppenhaus vom Ärger mit der Krankenkasse berichtet hatte, bot ihr diese sogleich ihr Telefon für einen weiteren Anruf an, gab ihr zudem, wohl wissend, dass die Mutter selbst nicht auf den Mund gefallen ist, noch einen prima Tipp, wie sich am besten in ein Bild bringen lasse, welch blanke Unverschämtheit das ganze Hin und Her um die Fahrten zum Krankenhaus bedeute.

Geholfen hat es nichts. Bei der Krankenkasse bestand man weiterhin auf einer bestimmten Bescheinigung des behandelnden Arztes, die erst geprüft werden müsse, bevor der regelmäßige Transport mit Taxi oder Krankenwagen genehmigt werden könne. Als Frau Böhm der Mutter zuletzt noch den Hörer aus der Hand nahm und dem Kerl am anderen Ende der Leitung auf eine Weise Bescheid gab, wie nur eine erfahrene Frau, also eine, die mehr als nur einen, zwei oder drei Männer im Bett gehabt hat, es zustande kriegt, tat dies der Mutter, die es versäumt hat, eine derart erfahrene Frau zu werden, in der Seele wohl. Aber erreicht wurde auch dadurch nichts. Also hat sie beschlossen, ihren Ältesten, quasi aus Protest, eigenhändig und zu Fuß nach Oberhausen hinunterzuschaffen.

Keines der Kinder stört, dass Oberhausen so heißt, wie es heißt, obschon das Viertel, das die Neue Siedlung mit der eigentlichen Stadt verbindet, wie jeder sehen kann, unten und nicht oben liegt. Die Mutter schiebt die Zwillingskarre den Oberen Kammweg entlang, von dem aus im Winter den langen freien Hang hinabgerodelt wird. Jetzt steht die Wiese hoch, so hoch, dass die Ähren der längsten Grashalme über dem Scheitel unseres großen Bruders schaukeln. Er muss sich im Kinderwagen aufrichten, ja sogar ein bisschen hochstemmen, um den Berg, wie die Kinder den Hang nennen, hinunterschauen zu können. Heftig, als ein seltsam hohles Saugen, überfällt ihn plötzlich die Lust, mit einem leeren Kaffeeglas, in dessen Schraubdeckel die Mutter mit dem Büchsenöffner Luftschlitze gedrückt hat, in diese unausschreitbar weite Wiese einzutauchen wie in ein Wasser, das einem warm um Bauch und Hüften schwappt. Die jähe Gier und die Unmöglichkeit, ihr nachzugeben, lassen ihn kurz vergessen, dass er natürlich längst zu groß zum Käfersammeln ist. Schon im vorigen und im vorvorigen Sommer ist er nicht mehr mitgegangen, wenn die Witzigen Zwillinge mit ihrem gemeinsamen Behälter, mit ihrem extragroßen Gurkenglas auf Käferjagd gezogen sind. Nur noch gönnerhaft lau, ohne die heiß in den Hals hinauf pochende Herzenslust des Sammlers, hat er zuletzt, vor ein paar Wochen erst, begutachtet, was sie als Beute mit nach Hause brachten. Und obwohl der mehr als kleinfingerlange smaragdgrüne Laufkäfer nur der zweitgrößte war, der ihm je vor Augen gekommen ist, überließ er seinen kleinen Brüdern in altkluger Freundlichkeit den Ruhm, den bisher gewaltigsten Sechsbeiner all ihrer Wiesengänge gefangen zu haben. Ja, er erfand, um den beiden eine zusätzliche Freude zu bereiten, den Namen «Schatztruhenkäfer» für die Art, zu der das kapitale Bürschlein, das seine Panikrunden über den gewölbten Boden des Glases drehte, gehören sollte.

Ganz unten, noch nahe der Eisenbahnunterführung, müht sich ein Traktor mit Anhänger den Berg herauf. Jetzt sticht ein hellgrünes Auto aus dem schwarzen Rechteck des kleinen Tunnels, überholt das Gespann, und der Ältere Bruder erkennt das Modell, noch bevor es das erste Viertel des Anstiegs hinter sich gebracht hat. Wenn sie hier oben am Rand des Abhangs Auto-Raten spielen, ist unser großer Bruder nicht zu schlagen, obwohl der Schniefer von allen Kindern im Hof die mit Abstand größte Sammlung Modell-PKWs besitzt, mit seinem Vater, von dem er die Autoleidenschaft gelernt hat, alle vierzehn Tage eine Autozeitschrift liest und dazu regelmäßig die Prospekte studiert, die sich dieser zuschicken lässt. Ein ganzes und ein halbes Jahr werden noch vergehen müssen, bis der Schniefer-Vater endlich sein altes Motorrad mit etwas Vierrädrigem vertauschen kann, aber dann wird er nicht kleinlich kleckern, es muss gerade so ein klotziger, wenngleich gebrauchter Viertürer mit langer, grüner Schnauze sein wie der, der nun schon fast den ganzen Berg bewältigt hat. Und weil am Tag der Abholung die Sonne scheint, wird der Vater des Schniefers mit aufgekurbeltem Schiebedach in den Hof rollen und nicht weniger als viermal hupen, bevor er vor dem mittleren Aufgang hält.

Der Ältere Bruder weiß nicht, dass er dem Schniefer beim Auto-Raten nur zuvorkommt, weil seine Augen in die Weite besser sehen als die seiner Freunde. Die Schicke Sybille, die dieses Spiel nie mitmacht, weil sie es angeblich blöd findet, ist sogar richtig kurzsichtig, was aber noch keiner außer ihr selbst herausbekommen hat. Im nächsten Schuljahr wird sie sich erneut, um der drohenden Brille zu entgehen, ganz vorn in die mittlere Reihe neben die doofe Doris setzen, obwohl die seltsam säuerlich riecht und vom ersten bis zum letzten Stundenklingeln kein Wort herausbringt, sondern bloß einen feuchten Popel nach dem anderen unter die Bank zu den dort hart gewordenen alten schmiert. So bleibt Sybilles Schwäche noch einen Winter und den Frühling unentdeckt.

Die Witzigen Zwillinge hingegen werden schon im Herbst, gleich in den ersten Unterrichtswochen, zur Überraschung aller, die sie zu kennen meinen, mit dem gleichen Missgeschick erwischt. Ihr neuer, überwacher junger Klassenlehrer wird beobachten, dass der linke immer aus dem Heft des rechten abschreibt, was an der Tafel steht. Vergeblich werden sie noch eine Zeitlang durch flugses Umsetzen hinter dem Rücken des aufmerksamen Pädagogen zu verschleiern suchen, welcher von ihnen der Gehandicapte ist. Schließlich müssen sie mit der Mutter zum Augenarzt. Dort werden sie mit einem allerletzten, verzweifelt kühnen Trick probieren, den Mangel auf vier Schultern zu verteilen. Beinah gelingt