Im Bienenlicht - Georg Klein - E-Book

Im Bienenlicht E-Book

Georg Klein

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Beschreibung

Nicht weniger als Heimat bedeutet den Heldinnen und Helden dieser Geschichten ihre Arbeit. Sie betreiben hochbetagt eine Dorfschmiede, restaurieren versehrte moderne Gemälde oder gestalten einen Volksmusikabend im Festsaal einer ostdeutschen Gaststätte. Die Künste, die niedrigen wie die höheren, wirken mit an einem anrührend heimeligen Zuhause. Aber in der Kunst liegt nicht nur Heimat, sondern auch der Keim des Abenteuers. Und so geraten wir auf Geisterjagd in eine ehemalige Papierfabrik, zwischen die hölzernen Säulen der ersten Autobahnkirche Deutschlands und unter das Blätterdach eines geheimnisvoll fruchtbaren Walnussbaums: ins Zwischenreich von Kunst und belebter Natur. «Umberto Eco hat einmal gesagt: Man kann ein Leben lang Kartoffeln essen und damit glücklich und zufrieden sein, aber man sollte an den Trüffeln zumindest mal gerochen haben. Die Bücher von Georg Klein sind die exquisitesten Trüffel der deutschen Gegenwartsliteratur.» Thomas Böhm, RADIOEINS

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Seitenzahl: 252

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Georg Klein

Im Bienenlicht

Erzählungen

 

 

 

Über dieses Buch

Georg Kleins Geschichten zehren von den Orten, in denen ihr Geschehen wurzelt: Einige beanspruchen Anteil an der Aura der großen Welt, wie die Pforte des Berliner Kanzleramts oder ein spektakulär schöner Strand Kaliforniens. Andere setzen auf räumliche Beschränkung und wählen als Spielraum die fensterlose Nasszelle im Keller eines Reihenhäuschens.

Nicht weniger als Heimat bedeutet ihren Heldinnen und Helden die Arbeit. Sie betreiben hochbetagt eine Dorfschmiede, restaurieren versehrte moderne Gemälde oder gestalten einen Volksmusikabend im Festsaal einer ostdeutschen Gaststätte. Die Künste, die niedrigen wie die höheren, wirken mit an einem anrührend heimeligen Zuhause. Aber in der Kunst liegt nicht nur Heimat, sondern auch der Keim des Abenteuers. Und so geraten wir auf Geisterjagd in eine ehemalige Papierfabrik, zwischen die hölzernen Säulen der ersten Autobahnkirche Deutschlands und unter das Blätterdach eines geheimnisreich fruchtbaren Walnussbaums: ins «Bienenlicht» zwischen Heimat und Abenteuer.

Vita

Georg Klein, 1953 in Augsburg geboren, veröffentlichte die Romane «Libidissi», «Barbar Rosa», «Die Sonne scheint uns», «Sünde Güte Blitz», «Die Zukunft des Mars» und «Miakro» sowie die Erzählungsbände «Anrufung des Blinden Fisches», «Die Logik der Süße» und «Von den Deutschen». Für sein Werk wurden ihm der Niedersächsische Staatspreis, der Brüder-Grimm-Preis und der Bachmann-Preis verliehen; für «Roman unserer Kindheit» erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse 2010. Zuletzt erschien der Roman «Bruder aller Bilder» (2021). 

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2023

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Lektorat Katja Sämann

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Anke Feuchtenberger, LWL-Museum für Kunst und Kultur, Westfälisches Landesmuseum, Münster/Christoph Steinweg

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01383-4

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

«So those who create things do not need adventure but they do need romance …»

Gertrude Stein

Wachs

David zu Ehren

1. Mittelsmann

Es ist ein stilles Geschäft, gebettet in viele Stunden untätigen Wartens, diskret sogar in seinen raren spektakulären Momenten. Keith und ich hausen, so unauffällig dergleichen möglich ist, auf einem jener Schrebergartengelände, von denen es rund um unsere bauwütige Hauptstadt noch immer Dutzende gibt. David, unser Lehrmeister, der nicht mehr bei uns ist, hat vor Jahr und Tag eine Doppelparzelle gepachtet. Dort waren irgendwann vor unserer Zeit zwei bescheidene Leichtbaulauben durch einen dünnwandigen, fensterlosen Holztrakt zu einem einzigen Gehäuse verbunden worden.

Als wir noch zu dritt sein durften, als Davids feste Hand uns führte, bewohnte er das kleinere, ziegelrot gestrichene Häuschen, während Keith und ich uns das nur ein wenig größere, ockerfarbene teilten. Aber im zurückliegenden Herbst, nach einem Jahr stetig schwindender Hoffnung, war mir und Keith klar geworden, dass es in Zukunft zu zweit weitergehen musste, und als der Ältere von uns beiden zog Keith hinüber in Davids einstige Behausung.

Dort pochte es vorgestern Vormittag an die Tür. Keith war mit den Zimmerpflanzen beschäftigt, die uns Master David hinterlassen hat. Wächsern glatt und stocksteif, jedes der stängellosen Blätter wie die Klinge eines Messers aus der Erde gereckt, ähneln sie mehr Skulpturen denn Lebewesen, aber auch jetzt im Winter brauchen sie Helligkeit und ein wenig Wasser, um zu gedeihen. Keith stellte das Gießkännchen ab und öffnete die Tür. Die Code-Frage, die Nicht-Eingeweihte für einen kurios ehrerbietigen Gruß halten müssen, wurde mit der Code-Antwort bedacht, die aus den gleichen, nur anders gereihten Wörtern besteht. Keith rief nach mir, und wir setzten uns unter dem Plexiglasoberlicht des Verbindungstrakts mit unserem Gast zusammen.

Es ist ausnahmslos die Regel, dass man sich über einen Mittelsmann an uns wendet, und wir sind sicher, dass diese Mittelsmänner Juristen sind. Seit David mich anlernte, habe ich mehr als ein halbes Dutzend von ihnen kennengelernt. Klischeehaft ausgekocht wirkende Kerle waren darunter, schmierige alte Advokaten, wie einem Film entsprungen, aber auch flinkäugige, nervös fit wirkende Jünglinge. Nur die Kundigkeit in den sachlich wie rechtlich maßgeblichen Fragen machte sie einander ähnlich.

Das ist nun anders geworden. Seit vorgestern wissen wir, dass unsere früheren Besucher ein weiteres Merkmal verband. Denn erstmalig hörten Keith und ich uns an, was ein weibliches Wesen über den kommenden Einsatzort zu erzählen hatte. Ja, eine Frau, eine gutaussehende Juristin mittleren Alters, machte uns mit dem anstehenden Gebäude, mit der ehemaligen Papierfabrik bekannt.

2. Papierfabrik

Kaum dass wir wieder zu zweit waren, wir hörten noch ihre Schritte auf dem gefrorenen Kies verklingen, meinte Keith, wir sollten unserer ersten Mittelsfrau für die Spanne der anstehenden Arbeit einen Namen geben. Als zöge er die nötige Lautung aus dem Nichts, schlug er «L.» vor. Und obwohl mich die unangenehm abergläubische Ahnung bedrängte, Master David wäre mit dieser Neuerung womöglich nicht einverstanden gewesen, nickte ich, und wir begannen damit, die Einzelheiten des Auftrags, alles, was uns L. über die Historie, über die gegenwärtige und über die geplante Nutzung des fraglichen Industriegeländes berichtet hatte, in Hinblick auf die anstehende Bereinigung durchzusprechen.

Von David haben wir gelernt, wie viel sich ein Mensch mit dem ersten Hören oder Anschauen zu merken vermag. Gleich dem einen oder anderen ihrer Vorgänger hatte sich wohl auch L. gewundert, dass wir nie nachfragten. Mehrmals hielt sie inne, immer wenn ihre Darlegung besonders üppig mit Namen und Zahlen gespickt gewesen war. Und als wir den Bauplan der Papierfabrik mit den Aufrissen aller Geschosse nach kurzem, stillem Studium zurückreichten, verzogen sich ihre Augenbrauen zu einem Ausdruck misstrauischen Zweifels.

Wäre ihre schön gewölbte Stirn dabei nicht völlig faltenfrei geblieben, man hätte L. sogar für verärgert halten können. Keith meinte, als wir wieder allein waren, die makellose Glätte sei gewiss einer bekannten kosmetischen Manipulation geschuldet. Aber ich will lieber glauben, dass sich eine solche Straffheit gleich einem guten Gedächtnis trainieren lässt.

L. hatte uns damit überrascht, dass das Gelände, auf dem wir tätig werden sollten, nur einen Katzensprung entfernt am nördlichen Rand unserer Datschensiedlung liegt. Dennoch kam für Keith und mich nicht in Frage, zu Fuß dorthin aufzubrechen. Schon bei der ersten Erkundung muss, so hat David es uns eingeschärft, unsere technische Ausrüstung vor dem fraglichen Objekt im Kofferraum bereitliegen. Am frühen Nachmittag fuhren wir los.

Angekommen, erwies es sich als schwierig, einen freien Parkplatz in der Nähe des Eingangstors zu finden. Dreimal kurvten wir um das Areal, bis sich durch einen abfahrenden Wagen eine Lücke auftat. L. hatte uns mitgeteilt, dass die Unternehmungen, die sich, ausnahmslos illegal, nach und nach in der einstigen Papierfabrik niedergelassen hatten, den zwanzigsten Jahrestag der Erstbesetzung mit einem Wochenende der offenen Tür begingen. Aber dass bereits in den ersten Stunden ein derart großer Besucherandrang herrschen würde, hatte unsere Mittelsfrau nicht vorhersagen können. Keith und mir kam das Gedränge gerade recht. Wir mischten uns unter die, deren Aufmerksamkeit handgeschöpftem Briefpapier, Smartphone-Schutzhüllen aus Ziegenwollfilz, rückenfreundlichen Hanfmatratzen und biologisch geöltem Buchenholzspielzeug galt. Wir ließen uns treiben und hielten unauffällig Ausschau nach dem, was von David, der ein Faible für in sich widersprüchliche Wendungen gehabt hatte, «der Trockenschweiß» getauft worden war.

3. Trockenschweiß

Keith und ich wurden fündig, weil wir eine Weile mit anhörten, wie in eine fernöstliche Meditationstechnik eingeführt wurde. Wir hatten zwei der in Halbkreisen angeordneten Sitzkissen ergattert. Neugierige kamen und gingen. Ein weißgekleidetes junges Paar schilderte in einer Wechselrede, die geschickt voraussetzungslos blieb und immer wieder neu im verständlich Allgemeinen Fuß fasste, die Stufen spiritueller Versenkung.

Keith hat, so gut haben wir uns mit der Zeit kennengelernt, eine Schwäche für solche Systeme. Aber als zum dritten Mal ein schwereloses Schweben beschrieben wurde, welches durch geduldiges Üben und demutsvolle Hingabe als letzter Grad der meditativen Läuterung erreicht werden könne, stand Keith auf, um zu gehen. Ich wollte ihm folgen. Aber mir war im ungewohnten Schneidersitz ein Fuß eingeschlafen. Ich stolperte, musste mit der flachen Hand Halt an der Wand suchen. Keith drehte sich um und bemerkte sofort, dass ich die Fußleiste fixierte.

Zu Davids Zeiten war eine Spur schlicht eine Spur. Aber seit wir ohne ihn auskommen müssen, neigen wir in Sachen Trockenschweiß fast schon ein wenig zwanghaft zum Vergleichen und Unterscheiden. Trockenschweißlinien sind meist kaum mehr als fingerlang und in der Regel so schmal wie ein Bleistift. Auch die Körnung ist stets ähnlich: Die Krümel gleichen dem groben Salz, das man zurzeit wieder allerorten gegen die winterliche Glätte streut.

Über die Oberkante der Fußleiste zog sich eine Spur, wie wir sie so noch nie gesehen hatten. Ohne Unterbrechung war sie fast unterarmlang, und ihre Farbe schwankte nicht wie gewohnt zwischen Beige und einem matten Curry, sondern stach uns als ein fast schwefelig aggressives Gelb entgegen. Dem stand der Duft nicht nach. Keith und ich mussten nur ein wenig näher treten, um den unverwechselbaren, jeden möglichen Zweifel beseitigenden, leicht süßlichen und zugleich ammoniakscharfen Geruch aufzunehmen.

Wir ließen uns Zeit. Wir trieben uns beinahe acht Stunden auf dem Gelände herum. Wir entdeckten zwei weitere, nicht weniger spektakuläre Spuren. Die dritte und längste fand sich in einer Toilettenkabine, was uns erlaubte, die für das Kommende erforderliche Menge unbeobachtet in ein Plastiktütchen zu füllen.

Unsere Auftraggeber ahnen nicht, aus welchen Handlungen sich unsere Praxis zusammensetzt. David hat uns, als sehe er voraus, dass wir eines Tages ohne ihn auskommen müssen, immer wieder davor gewarnt, den Mittelsmännern auch nur das kleinste Detail unseres Vorgehens preiszugeben. Das «Wie» sei unser exklusives Kapital und seine Geheimhaltung die einzige Garantie künftiger Beschäftigung.

Wir aßen vegetarische Buletten und Dinkelkekse, wir tranken Kaffee, dessen Bohnen in einem afrikanischen Regenwaldreservat von wildwachsenden Stauden gepflückt worden waren. Im hinteren Hof ließ ich zwei Originalbacksteine in den extra weiten Innentaschen meiner Jacke verschwinden. Keith entriegelte ein Kellerfenster für den anstehenden Einstieg. Wir lauschten dem musikalischen Abendprogramm, raffiniert polyrhythmisch trommelnden Großmüttern und einem virtuosen Tango-Trio schwuler Akkordeonisten. Dass die Fabrik in der Nacht nach dem Wochenende menschenleer sein würde, hatte uns L. mit hoher Wahrscheinlichkeit garantieren können. Und auch der Kalender schien es gut mit uns zu meinen: Ab morgen war Vollmond. Master David, dem es gefallen hatte, für ein Wort, für eine Wendung, manchmal sogar für ein, zwei Sätze in seine Muttersprache zu fallen, hatte die talgig leuchtende Scheibe des Öfteren unseren «industrial moon» genannt.

4. Industriemond

Wir wissen wohl, wie unvorteilhaft wir bei Tageslicht in voller Rüstung aussehen würden. Die Pressluftflasche sitzt mittig auf der Brust und reicht uns vom Gürtel bis ans Kinn. Der quaderförmige Staubtank ruht auf der oberen Hälfte des Rückens. Die Schläuche unter den Achseln zwingen uns, die Arme anzuwinkeln. Schon von vorne ähneln wir watschelnden Pinguinen, von der Seite betrachtet, müssen wir, den gekrümmten Schnorchel der Atemmaske vor dem Gesicht, vollends wie flugunfähige Vögel wirken. Allein der Firnis des Industriemondscheins mildert unsere Missgestalt. Eine Nacht und einen Tag nach der Vorbesichtigung kletterten wir in voller Montur durch das Kellerfenster. Unser Atem rasselte in der Kunststoffmuschel der Maske, während wir die erste, arg enge Treppe hintereinander nach oben pirschten.

Zehn Stunden zuvor war L. wider Erwarten ein zweites Mal bei uns erschienen, gerade als wir mit dem Mischen des Pulvers beginnen wollten. Das Rezept ist einfach, aber die Anteile müssen, um extinktive Wirkung zu erzielen, aufs Gramm genau stimmen. Ich hatte den Trockenschweiß in einem Apothekermörser zu puderfeinem Staub zerstoßen. Die beiden entwendeten Altziegel waren mit dem Hammer zertrümmert, die Brocken in einer fleischwolfähnlichen Mühle, die David eigenhändig gebaut hat, zu sandigen Krümeln gemahlen worden. Das gleiche Schicksal ereilte die zwölf Backsteine aus dem Baumarkt, die Keith und ich, Davids Diktion folgend, die «Jungfräulichen» nennen. Als L. an die Tür klopfte, warfen wir eine Plane über den Tisch.

Wir kennen die Risiken. Am Anfang meiner Zeit, bevor ich von David und Keith in meine erste nächtliche Fabrik, in eine ehemalige Brauerei nahe der polnischen Grenze, mitgenommen worden war, hatte mir David offenbart, dass mein Vorgänger einen Arbeitsunfall erlitten hatte und trotz physischer Wiederherstellung nicht mehr für weitere Einsätze in Frage kam.

Zu den Vereinbarungen, die wir mit den Mittelsmännern bei jeder Auftragsannahme erneuern, gehört, dass ein derart Verunglückter lebenslangen Anspruch auf eine monatliche Versorgungszahlung durch den Investor erwirbt, in dessen Auftrag wir das betreffende Objekt bereinigt haben. Auch L. hatte dies bei ihrem ersten Besuch, ungefragt und in aller wünschenswerten Deutlichkeit, zur Sprache gebracht. Aber nun war sie gekommen, um uns über eine Änderung des fraglichen Vertragspunkts zu informieren: Der neue Eigentümer der Papierfabrik, dem es erstaunlich schnell gelungen war, einvernehmliche Absprachen mit allen illegalen Nutzern zu treffen, sei im Falle einer Invalidität – L. entschuldigte sich, faltenarm lächelnd, für die Nachträglichkeit der Mitteilung – nur zu einer Einmalzahlung bereit.

Vielleicht bestach uns die Höhe der Summe. Aber rückblickend fürchte ich, dass auch L., genauer gesagt ihr neues Outfit, ein wenig zu unserem schnellen Einlenken beitrug. Tags zuvor war sie in einem dezenten dunkelgrauen Business-Kostüm erschienen, knielang, die Bluse bis zum obersten Knöpfchen geschlossen. Nun zeigte ein schwarzledernes Röckchen die halben Schenkel, ein offenherziges Oberteil mehr als den Ansatz des Busens, und ihre Absätze waren genau das Gegenteil von fußfreundlich flach.

Nicht bloß ihre veränderte Aufmachung, sondern auch der Tonfall ihres Sprechens und ihr übriges Gehabe, vor allem ihre Manier, den kurzen Rock im Stehen gegen die Tischkante zu drücken und mit den gelblackierten Nägeln über dessen Leder zu schaben, standen in aufreizendem Widerspruch zu ihrem ersten Auftreten und stellten unsere professionelle Keuschheit auf eine unnötig peinliche Probe.

5. Keuschheit

Ich kann mich gut erinnern, wie wunderbar knapp und trocken mir Master David vor Jahr und Tag mitgeteilt hat, dass zu den unabdingbaren Voraussetzungen unserer Arbeit geschlechtliche Enthaltsamkeit gehöre. Zugegeben: In den Wochen und Monaten des Müßiggangs ist hiermit ab und an eine gewisse Beschwernis verbunden. Aber spätestens wenn wir gerüstet sind, sobald wir uns über rußigen Beton, über stumpfen Klinker, über die vom Dreck der Zeit versiegelten Fußbodenkacheln einer ehemaligen Fabrik auf die Suche machen, sobald eine Auslöschung ansteht, spüre ich, gewiss geht es Keith nicht anders, bis in die Zehenspitzen, welch besondere Kraft, welch feste Fokussierung des Willens allein Keuschheit verleiht.

In der erdgeborgenen Tiefe der jeweiligen Keller ist eine Stunde nach Mondaufgang eigentlich wenig zu befürchten. Aber David hat uns immer wieder eingeschärft, dass Ausnahmen möglich seien. Auch unter denen, die wir dingfest machen müssen, könne es Fehl-Erscheiner geben. Als Keith die eiserne Tür ins Erdgeschoss mit dem Lauf seiner Waffe aufschob, waren wir auf der Hut.

Die Papierfabrik ist dreistöckig, und die Besonderheiten der ehemaligen Produktion hatten es verlangt, dass zwischen den Etagen, zwischen den imposant hohen und weiten Werkhallen, große Durchbrüche klafften. Dort, wo früher – unsere Mittelsfrau hatte es fast poetisch geschildert – allmählich trocknende Zellstoffbahnen ihren Weg durch aufwendige Walzwerke genommen hatten, ließ nun der Industriemond seinen transparenten Film über die Stahlträger fließen. Grau erschien mir nicht zum ersten Mal als die schönste und reichste aller Farben. Aber bereits am Fuß der Treppe, die ins mittlere Geschoss führte, leuchtete wie eine obszön willkürliche Nachkolorierung, wie frisch erstarrter Nagellack auf Zelluloid, eine schwefelgelb glänzende Trockenschweißspur.

Die nächste Treppe war breit genug, um auf gleicher Höhe zu bleiben. Keith und ich wissen, wie wichtig es ist, den anderen, sobald es ernst wird, im Blickfeld der Schutzbrille zu behalten. Die Läufe unserer Waffen sind fast armlang, die Düse, die sich im Präzisionskugellager der Laufmündung dreht, hat drei pfefferkorngroße Öffnungen und verwirbelt die von der Druckluft beschleunigte Mischung zu einem fast lautlos austretenden Strahl. Dessen Homogenität lässt über gut zwölf Schritt hinweg nichts zu wünschen übrig. Dann aber greifen widrige Kräfte: Wie durch einen Duschkopf gestoßen, siebt es den Staubstrom auseinander. Sogar abrupte Ablenkungen um bis zu neunzig Grad sind möglich, falls der Abstand zum Ziel zu groß ist. Mein Vorgänger war, übereifrig nach vorne gesprungen, in eine derart abknickende Schusslinie geraten und wurde statt der anvisierten Erscheinung, statt des Wanderers, von Keith an Hals und Kopf getroffen.

6. Wanderer

Vermutlich bedeutet es eine Verharmlosung, dasjenige, dessen Erscheinen wir ein Ende setzen, schlicht einen Wanderer zu nennen. David sprach die Bezeichnung stets amerikanisch aus, aber sobald mir und Keith, der immerhin einen schottischen Vater hat, das Gleiche unterlief, verzog David unwillig das Gesicht, drückte den Zeigefinger an die Lippen und machte mit einem scharf durch die Zähne gestoßenen «Tsch!» klar, dass wir beide uns gefälligst an die deutsche Artikulation zu halten hätten.

Ich denke nicht, dass L. den Begriff kennt. Sie nannte die fragliche Emanation wie ihre Vorgänger nur «das Problem», zwei-, dreimal auch juristisch umständlich «das Vollnutzungshindernis». Allein bei ihrem zweiten Besuch kam ihr, sie stand schon in der Tür, ein unschön vulgäres «dieser Scheißspuk» über die feuchtglänzend geschminkten Lippen.

Schon bevor ich meinen ersten Wanderer in einer von Mondlicht durchfluteten Fabrik vor einer Mauer aus unverputzten Ziegeln aus Schmutz und Nichts aufleuchten sah, hatte mir David, um dem kommenden Schreck die Spitze zu nehmen, die Art seines Schreitens beschrieben. Die Erscheinung hebt die Knie recht hoch, bis in Hüfthöhe, die Arme schwingen mit wie bei einem militärisch eingeübten Marschieren. Verwirrend ist dabei stets aufs Neue, dass der Wanderer trotz dieser protzend forschen Bewegungen so gut wie nicht von der Stelle kommt. Unweigerlich verfällt man auf den Gedanken, die Lichtgestalt würde technisch auf die fragliche Wand geworfen, und gerät in Gefahr, sich umzudrehen, nach einem Projektor Ausschau zu halten und so den fraglichen Moment zu verpassen.

Wir schießen, sobald uns der Wanderer bemerkt. Dass er uns gleich wahrnehmen wird, kündigt sich stets auf die gleiche Weise an: Das linke Knie verharrt in höchster Position, der linke Oberschenkel und der rechte Arm erstarren parallel, die rechte Fußsohle schwebt nahe dem Boden, meist auf Höhe der Mörtelrille, die sich zwischen der zweiten und dritten Backsteinreihe hinzieht. Auch wenn es mit dem Vorankommen des Wanderers nicht weit her ist, daran, dass er sich vom Boden gelöst hat, kann nie ein Zweifel bestehen.

Zeitgleich mit ihrem Stillstehen beginnt sich die Transparenz der Erscheinung zu steigern. Ihr Leuchten gleicht sich dabei vollends der jeweiligen Tönung der alten Steine an, jenem Rot, Braun oder Schmutziggelb, das wir schon von unserem vorbereitenden Tagwerk, von der Arbeit an der Steinmühle, her kennen. Der dünne, aber stets auffällig lange Penis, dessen Spitze über das linke Bein hochgeschwungen ist, beginnt in die Ziegel hinein zu verschwimmen. Die projektive Zweidimensionalität der Erscheinung erreicht mit ihrem Innehalten einen trügerischen Gipfel, aber dann dreht sich als der wahre Höhepunkt, bestürzend jäh und schockierend eiförmig gewölbt, der Kopf des Wanderers, unbezweifelbar dreidimensional, aus der Wand, um uns augenlos anzuschauen.

7. Höhepunkt

Als Master David das letzte Mal mit uns losgefahren war, um, wie er es gern begütigend umschrieb, Gleiches durch Gleiches zu erlösen, durften erstmals nur Keith und ich auf den Wanderer feuern. David stand zwischen uns in Bereitschaft, aber wir machten unsere Sache gut und drückten zeitgleich, kein Quäntchen zu früh und kein Quäntchen zu spät, den Abzug.

Danach war David ungewöhnlich rasch an die Wand getreten. Wie er es stets gemacht hatte, zückte er die kleine, kalt und hart strahlende Taschenlampe und untersuchte die Mauer. Wie immer war, abgesehen von einem großen feuchten Fleck, kein Rückstand der Erscheinung zu finden. Und auch die Füllung unserer Tanks, immerhin die Masse von zwölf jungfräulichen Steinen, von zwei speckig alten Ziegeln und reichlich Trockenschweiß, hatte sich, so wie es sich gehört, bis auf einen hauchfeinen, schmierigen Belag des Bodens, in nahezu nichts aufgelöst.

Für die Heimfahrt überließ Master David mir das Steuer, und als wir zum gewohnten Ausklang bei einer Kanne Tee am Küchentisch zusammensaßen, erzählte er uns erstmals und rührend ausführlich von seinen Zimmerpflanzen, von deren Licht- und Mineralstoffbedürfnis, von ihrem langsamen und doch tröstlich verlässlichen Wachstum und davon, wie wichtig es sei, die tönernen Töpfe weder zu viel zu wässern noch zu sehr austrocknen zu lassen. Keith und ich haben dies alles, so wie er uns das Merken beigebracht hat, unwillkürlich im Gedächtnis gespeichert, ohne zu ahnen, dass David am nächsten Morgen verschwunden sein würde.

8. David zu Ehren

L. hat uns überrascht, in gewisser Weise sogar hereingelegt. Bubenhaft einfältig war es gewesen, sie, die erste Mittelsfrau, in seriellem Trott bloß für eine weitere juristisch geschulte, juristisch gewiefte Fachkraft zu halten. Als Keith und ich die übliche Mischung mit acht Bar Überdruck gegen die Erscheinung schleuderten, als es gnädig dunkel zwischen uns und den Ziegeln hätte werden müssen, blitzte hinterrücks ein Licht auf. Wir fuhren herum, ein zweiter Lichtschlag traf uns frontal, geblendet zogen wir noch einmal durch, wir hätten, wären unsere Tanks nicht bereits bis auf den Grund leer gewesen, ohne Bedenken auf die kaltblütig ein drittes Mal abdrückende Fotografin gefeuert.

Dann rannte L. Richtung Treppe. Sie trug einen schwarzen Overall, eine schwarze Kappe war tief in ihre Stirn gezogen. Auch ihre Stiefel hatte sie gewiss mit Bedacht gewählt, aber wie unglaublich glatt jeder Boden wird, wenn sich der hauchfeine Niederschlag der Auslöschung auf ihn senkt, kann man nur aus Erfahrung wissen. Sie rutschte aus, sie ruderte mit den Armen, ihre dunklen Ärmel flatterten, als wollte sie uns fliegend entkommen. Sie stürzte nicht, aber weil sie haltsuchend nach dem Geländer griff, flutschte ihr die kleine Kamera aus den Fingern und klapperte, zwei-, dreimal aufschlagend, in die Tiefe.

Keith und ich haben das Bildmaschinchen gesucht und gefunden. Zuhause hat Keith es mit dem Hammer zertrümmert, ich habe die Bruchstücke in den Trichter von Davids Ziegelsteinmühle gefüllt und Kunststoff und Metall zu feinen, bunt glitzrigen Krümeln zermahlen. Jetzt sind wir am Packen. Was mit uns über die Grenze nach Polen soll, wird in den großen Wagen passen. Die Rücksitzbank ist Davids Pflanzen vorbehalten.

Ich weiß nicht, was Keith gesehen und gehört hat, als das Weib, dem er leichtfertig zu einem Namen verholfen hatte, auf uns und den Wanderer schoss. Ich bilde mir weiterhin ein, meine Ohren hätten, als es hinter uns aufblitzte, jenes «Tsch!» empfangen, mit dem sich David, den Zeigefinger an den Lippen, stets verbat, dass wir den internen Gattungsnamen der Erscheinungen gleich ihm amerikanisch aussprächen. Und weil sich jähe Geräusche und plötzliche Gesichte im Moment zeitgleicher Wahrnehmung zu etwas Neuem, zu einem mirakulös potenzierten Dritten fusionieren, behauptet mein Erinnern, kein anderer als der Wanderer hätte uns ebendies entgegengezischt und in seinem augenlosen, stechend gelben und mehr als straußeneigroßen Schädel sei erstmals – der bildraubenden Attacke geschuldet – ein rührend kleines, kreisrund aufklaffendes Mäulchen zu erkennen gewesen.

Jetzt, auf dem Weg nach Polen, bin ich entschlossen, diese anatomische Beobachtung für mich zu behalten. Noch ist der Eindruck frisch, und Keith würde sich womöglich nicht weniger deutlich an genau das Gleiche erinnern. Wenn wir dies einander platterdings offenbarten, könnte aus dem lippen- und zahnlos zischelnden Mund des Wanderers eine doppelt bezeugte Wirklichkeit, fast eine Art Wahrheit werden. So weit soll man den Fortschritt nicht treiben.

Ich und Keith, wir nehmen uns nun nichts weiter als eine Auszeit. Irgendwann, vielleicht in einem runden Jahr, werden wir beide mit Davids Pflanzen wieder nachhause kommen. Und wenn es dann eines Tages erneut an unsere Tür klopft, soll – David zu Ehren! – einem «Gelobt sei das Licht» erneut ein fraglos festes «Das Licht ist gelobt» antworten dürfen.

Wie es gemacht wird

Nur keine falsche Scheu. Schauen Sie sich in Ruhe um. Es liegt alles offen. Es gibt keine schwer durchschaubaren Tricks, kein Geheimnis, kein Mysterium. Jedermanns Auge darf sehen, wie es gemacht wird. Sie frösteln? Jetzt, im Frühjahr, ist es in meiner Werkstatthalle natürlich noch ein bisschen kühl. Aber gefroren wird schließlich so gut wie immer, weltweit in jedem Atelier.

Ja, ich heize bloß mit diesem einen Ofen. Ausschließlich Paletten, die ich hier, im Gewerbegebiet, gratis angeliefert bekomme. Man stapelt sie mir einfach neben die Tür. Ich mache mir das Gebrauchtholz mit der Kettensäge draußen passend und fahre die Stücke mit der Schubkarre an meinen Allesbrenner. Wenn ich ihn morgens anschüre, etwa um acht, wird es hier drinnen auch bei Außenfrost in zwei Stunden so warm, dass ich keine Handschuhe brauche und die Farben im richtigen Tempo trocknen.

Das hier ist ein Projektor. Alt und schnattrig laut, der Ventilator der Birnenkühlung eiert ein bisschen, aber das gute Stück ist exakt so lichtstark, so lichtschwach, wie ich es beim freien Nach- und Ausmalen brauche. Mein Projektor vergrößert das Bild der Vorlage und wirft es mir, Ausschnitt für Ausschnitt, auf die weißgrundierten Platten. Blanc splendide. Entwickelt für den Flugzeugbau. Tragflächenlackierung. Ist das Gegenteil von billig, aber ich habe in all den Jahren nichts Gleichwertiges gefunden. Wird mit der Sprühpistole aufgetragen. Geht superfix. Falls man es kann.

Jedes Bild besteht aus drei gleich großen Quadraten. Nebeneinander ergeben sie das erwünschte Querformat. Die beiden Abnehmer, die zwei Lichtspielhäuser, die mir noch geblieben sind, bespielen fast gleich große Fassadenstücke. «Bespielen», das ist so eine Redeweise, die sich irgendwann zwischen den Kunden und mir ergeben hat und schlichtweg passt. Zumindest für mein Empfinden.

Nein, ich kann mich nicht erinnern, dass ich je ohne Vorlage gearbeitet hätte. In der Regel bekomme ich das Plakat, das für den Aushang im Kino gemacht wurde. Das gleiche Hochformat ist meist auch als Poster erhältlich. Effekt pur. Sagenhaft gekonnt. Kunst? Zumindest knapp davor. Kitsch wäre das verkehrte Wort. Genug gesagt. Unsereiner sollte, was die Amis angeht, lieber nicht hochnäsig werden. Nie über den Ersten lästern, wenn man der Zweite ist. Sie wissen, was ich meine.

Meine Hauptarbeit ist der Transfer in die Breite: drei quer auf eins hoch. Verquickt mit der nötigen Vergrößerung. Faustregel: Jedes Detail muss von der anderen Straßenseite aufs erste Hinschauen zu bestimmen sein. Die Halle ist leider nicht so tief, dass sich diese Distanz zurückschreitend einnehmen ließe. Da fehlt doch der eine oder andere Meter. Aber das überbrückt die Routine, Hand in Hand mit ihrem süßen Cousinchen, der Phantasie.

Hier am Tisch mache ich mir eine Skizze. Sie sehen ja: ganz grob und ohne Einzelheiten. Jeder Kopf nur ein Ei. Beachten Sie die beiden horizontalen Linien, die das Rechteck dritteln. Das obere Segment entspricht dem zweiten, dem fernen Hintergrund. Ja, gut gesehen: Das sollen Sternenhaufen sein, galaktische Spiralwirbel! Weltraum ist und bleibt eine Herausforderung. Diese Lichter, dieses magische Gefunkel, unendlich weit, ganz tief im endlosen Dunkel. Damit es bodenlos schwarz aussieht, darf man den hinteren Hintergrund aber auf keinen Fall platterdings schwarz malen. Ein Blau muss es sein! Blau bleibt die finsterste Farbe. Das ist natürlich eine Binsenweisheit. Aber in aller Bescheidenheit: Man muss auch wissen, wie man die kosmische Mischung hinkriegt.

In den mittleren Streifen gehört alles, was kreucht und fleucht, was schwebt und rollt. Hab’ ich hier auf dem Papier nur angedeutet. Ist im akuten Fall auf zwei Raumschiffe hinausgelaufen, dazu ein Meteorit, ein putzig kleiner Mond und natürlich der Außerirdische, bei dem ich mich wie immer peinlich penibel an die Vorlage gehalten habe. Wäre ein schlimmer Schnitzer, falls er ein Glubschauge zu wenig oder ein paar Tentakel zu viel hätte. Kann aber passieren, wenn einem der Pinsel mit der Vorstellung durchgeht.

Hier, also im vorderen Hintergrund, landen dann auch die Frau, der Freund und der Bösewicht. Sind quasi obligatorisch, die drei. Ausnahmen bestätigen die Regel. Ist alles in allem, Busen, Tentakel, Kumpel, Komet und Schurke, trotz der Breite wieder tückisch eng geworden. Aber die Verdichtung ist kein Nachteil. Ohne Gedränge keine Bedrängnis, ohne Nähe keine Gefahr. Eins sitzt dem anderen im Nacken. Kein Bild ohne anständig Angst. In meinem Metier wird weiterhin ausnahmslos mit Angst abgeschmeckt. Sogar die Liebe. Vor allem die Liebe! Die Angst ist das Salz im Honigkuchen. Das Süße will scharf gemacht werden. Wie im Leben eben.

Das größte Ei ist der Held. Dabei gilt: Kopf geht vor Rumpf. Das Gesicht erzählt den restlichen Körper. Schon weil das leidige Wiedererkennen garantiert sein muss. Darf aber nie und nimmer wie eine Karikatur aussehen. Der Held ist nicht lustig. Nicht einmal in der sogenannten Komödie. Wenn er lacht, muss er die Zähne blecken, dass es zum Fürchten ist. Hab’ ich das schon gesagt? Kein Bild ohne Angst!

Seine Faust ist wie ein zweiter Kopf und muss dicht beim Schädel auf das mittlere Quadrat. Am besten, als ob sie samt Waffe aus dem Bild drängt. Im akuten Fall eine Laserpistole. Nicht ideal, aber was will ich machen. Laserschwert ist selbstredend besser, tausendmal besser, aber damit wären wir schnurstracks im falschen Film. Wenn ich freie Wahl gehabt hätte: Am besten ist und bleibt die Peitsche, Sie wissen, welche ich meine, die züngelt nach hinten, hinauf in den Himmel, quer durch die Wolken, bis ins All. Die Peitschenspitze tunkt ins kosmische Blau. Freu’ mich jetzt schon drauf, das irgendwann noch einmal malen zu dürfen.

Ja, das Bild ist fertig. Alle drei Teile. Dass ich sie verhängt habe, will so gut wie nichts bedeuten. Bisschen Aberglaube. Bisschen Schrulligkeit. Ganz bisschen Angst. Kein Bild ohne Angst. Wiederhole ich mich? Sei’s drum: Wie wäre es mit folgendem Angebot unter Freunden: Sie dürfen der Erste sein, der sich das Ganze – schon hier in der Werkstatt! – zu Gemüte führt. Wir reißen zusammen die Laken herunter. Aber nur, wenn Sie mir versprechen, anschließend mit anzufassen. Sie haben ja meinen Anhänger stehen sehen. Laden wir alles zusammen auf. Die Platten sind gar nicht so schwer. Aber die leidige Größe. Zwei Hände sind da doch zwei Hände zu wenig. Ein Mann, ein Wort? Na, wer sagt’s denn: Ein Mann, ein Wort! Und keine Sorge, mein Lieber: Die Farben sind trocken, und die Angst, all die feuchtkühle Angst, damit auch.

A. Zett

Gewiss müssen wir, um auf Abwege zu geraten, nicht unbedingt jemandem begegnen, der uns auf einen Abweg bringt. Die Bahn des Lebens ist schon krumm und schief genug. Auf jeder Kreuzung kann es uns in flottem Lauf oder bei einem tollpatschigen Bremsversuch hinaus aus der Spur und hinüber in eine übel beleumundete Querstraße tragen, wo uns die jeweilige Gosse und ihre Geschöpfe erwarten.

Falls jedoch mit Glück ein veritabler Verführer die Hand hebt, wenn schlimme Absicht den Zeigefinger beugt und streckt und beugt, wenn dann der dazugehörige Daumen eindeutig nach links weist, wäre es eine Kraftvergeudung ersten Ranges, ja ein Frevel gegen eine der wenigen männlichen Tugenden, gegen den Wagemut, dem so Lockenden und Lenkenden einen Korb zu geben und unverführt auf den alternativen Irrweg, nach rechts oder halbrechts, hinüberzuschlittern.

Daher gefiel es mir als sechzehnjährigem Gymnasiasten, im Jahr des Herrn 1969 auf einem zentral gelegenen Friedhof meiner Heimatstadt endlich mit einem älteren Drogenfreak bekannt zu werden, über den man mir bereits Merkwürdiges berichtet hatte. Der kalte Oktobernachmittag trübte sich früh, einhellig schlotterte unser Grüppchen in den damals obligatorischen langen Baumwolljacken, den sogenannten Parkas. Der meine war schwarz, hatte ein dunkelrotes Teddyfutter und bot