Die Zukunft des Mars - Georg Klein - E-Book

Die Zukunft des Mars E-Book

Georg Klein

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Beschreibung

Die Mars-Kolonisten brauchen keine Atemgeräte mehr. Der Kontakt zur Mutterzivilisation und zu ihrer einstigen Hochtechnologie ist längst abgerissen. Sie, die Nachfahren der ersten Siedler, leben in einer kargen, analphabetischen Kultur von eigentümlicher Schönheit. Aber ganz ist die Schrift nicht verloren: Ein junger Hilfsarzt studiert die als unlesbar geltenden heiligen Bücher des Sonnenhauses, beginnt gar, die leeren letzten Blätter mit eigenen Beobachtungen zu füllen. Er tut es heimlich, gegen jedes Gebot – während eine rätselhafte Wesenheit aus den Tiefen des Mars-Gesteins heraufdrängt an die Oberfläche des Planeten. Auf der Erde, im Freigebiet Germania, am Westrand der chinesischen Protektorate, hat der alte Spirthoffer sein «Elektronisches Hospital» eröffnet. Er scheint alle Geräte, die den Großen Winter überdauert haben, reparieren zu können. Der freundliche Greis heuert die sibirische Zuwanderin Elussa an, angeblich um seine Russischkenntnisse aufzufrischen. Elussas kleine Tochter Alide schließt den Tüftler sofort ins Herz. Mutter und Tochter ahnen nicht, wie weit der alte Mann tatsächlich in die Zukunft plant. Ein Roman über den Zauber der Zukünftigkeit, der dem Lesen und Schreiben innewohnt, dem Erzählen und der Sprache.

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Georg Klein

Die Zukunft des Mars

Roman

Informationen zum Buch

Die Mars-Kolonisten brauchen keine Atemgeräte mehr. Der Kontakt zur Mutterzivilisation und zu ihrer einstigen Hochtechnologie ist längst abgerissen. Sie, die Nachfahren der ersten Siedler, leben in einer kargen, analphabetischen Kultur von eigentümlicher Schönheit. Aber ganz ist die Schrift nicht verloren: Ein junger Hilfsarzt studiert die als unlesbar geltenden Heiligen Bücher des Sonnenhauses, beginnt gar, die leeren letzten Blätter mit eigenen Beobachtungen zu füllen. Er tut es heimlich, gegen jedes Gebot – während eine rätselhafte Wesenheit aus den Tiefen des Mars-Gesteins heraufdrängt an die Oberfläche des Planeten.

Auf der Erde, im Freigebiet Germania, am Westrand der chinesischen Protektorate, hat der alte Spirthoffer sein «Elektronisches Hospital» eröffnet. Er scheint alle Geräte, die den Großen Winter überdauert haben, reparieren zu können. Der freundliche Greis heuert die sibirische Zuwanderin Elussa an, angeblich um seine Russischkenntnisse aufzufrischen. Elussas kleine Tochter Alide schließt den Tüftler sofort ins Herz. Mutter und Tochter ahnen nicht, wie weit der alte Mann tatsächlich in die Zukunft plant.

Ein Roman über den Zauber der Zukünftigkeit, der dem Lesen und Schreiben innewohnt, dem Erzählen und der Sprache.

Informationen zum Autor

Georg Klein, 1953 in Augsburg geboren, veröffentlichte unter anderem die Romane «Libidissi», «Barbar Rosa» und «Sünde Güte Blitz» sowie die Erzählungsbände «Anrufung des Blinden Fisches», «Von den Deutschen» und zuletzt «Die Logik der Süße». Für seine Prosa wurden ihm der Brüder-Grimm-Preis und der Bachmann-Preis verliehen; für den 2010 erschienenen «Roman unserer Kindheit» erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse.

1

An die Erde

Ich fühle luft von anderem planeten

Stefan George: entrückung

Erste Schreibnacht

Alle mussten sterben. Bis auf den heutigen Tag ist noch ein jeder von Euch gestorben, kaum dass er bei uns eintraf. Fast allen, die Ihr geschickt habt, erlosch das Dasein gleich nach der Auffindung, als bliese ihnen unser freudig erregter Atem das Lebenslicht aus. So hat es Smosmo mir, den er zum Nothelfer gemacht hat, gefragt und ungefragt, wieder und wieder erzählt. Smosmo, mein verehrter Lehrer und Vorleser, war das letzte Mal, voll Sehnsucht, voller Sorge, erfüllt vom Weh der aufflammenden Hoffnung, am Ort des Geschehens. Keuchend inhalierte er die damals noch schmerzhaft arme Luft des freien Geländes. Smosmos bloße Hände lagen auf den knittrigen Schulterpolstern des Raumanzugs. Der Helm fehlte. Jener Helm, hinter dessen bläulich getöntem Sichtfenster dem vorletzten Angekommenen, Smosmos ältester Kollege hatte es mitangesehen, der in unseren Himmel gerichtete, noch ein knappes Weilchen kindlich staunende Blick zerbrochen war.

Allein das letzte Mal gelang es dem herbeigeeilten Bergungstrupp, den aus den Wolken Gefallenen lebend bis ins Sonnenhaus zu schaffen. Von der Transportkarre hob man ihn auf den Altar. Angeleitet von der damaligen Barmherzigen Schwester begannen die Nothelfer, Euren Abgesandten aus seinen irdischen Hüllen zu schälen. Zwei unserer Allesmacher hatten ihn nahe der Grabungsstelle für orangen Warmstein im Sand gefunden. Auf dem Kopf trug er eine enge Haube aus einem unserem Mockmockgummi ähnlichen, allerdings silbrig hellen Material. Als sie ihm vorsichtig vom Schädel geschnitten wurde, überraschte Smosmo die geringe Länge des grauen Haars. Er, der Heimlichleser, der Buchkundige, schloss daraus für sich, dass dieser Schädel vor dem Abschied aus Eurer Welt glatt rasiert worden war. Und weil wir, nicht anders als Ihr, einen Grund, der uns derart aus dem Augenschein entgegenstürzt, ins Herz schließen müssen wie ein neugeborenes Kind, dachte mein zukünftiger Lehrer in allermenschlichstem Kurzschluss, just diese Rasur habe dem Reisenden das Schicksal seiner Vorgänger erspart.

Schon wenig später war auch der an seinem letzten Erdentag glatzköpfig Gewesene tot. Gerne schriebe ich für Euch und für mich als Trost auf diese Seite, auf die erste der drei Leerseiten, die jedes Heilige Buch beschließen, Smosmo hätte mir von einem leichten Hinscheiden berichtet. Die Barmherzige Schwester und die Nothelfer taten, was sie vermochten. Die beängstigend kühle, von feinem Schweiß bedeckte Haut wurde mit einem heißen Brei aus zerriebener Mockmockschale und Blausteinpulver bestrichen. Bei uns gibt es keinen Schmerz, den eine solche Paste nicht zumindest lindern, keinen Krampf, den ihre schnell eindringende Wärme nicht bis in seine Wurzel lösen könnte. Aber dem grauhaarigen Erdling war es offenbar bestimmt, noch einmal jeden einzelnen seiner Muskeln zucken zu lassen. Wenn es einen Tanz im Liegen gibt, dann gehorchte er dessen Regeln. Zu sechst mussten sie seinen Körper festhalten, sonst hätte es ihn wie eine losschnellende Feder vom orangen Warmstein der Altarplatte auf den Boden geschleudert.

Smosmo kam es zu, die trotz ihrer Größe wohlgeformten Ohren in den Handtellern zu bergen. Seine Fingerspitzen spürten das Vibrieren der Kiefermuskeln. Lange schlug dem Krampfenden das Kinn so heftig auf die Brust, als gelte es irgendeine Aussage oder Einsicht mit fortwährendem Nicken zu bestätigen. Und kaum dass sein Nacken erschlafft und die Lider mit einem letzten Zittern halb über die Augäpfel gesunken waren, floss ein Lächeln in seine Züge, das Smosmo an eine besondere Zufriedenheit denken ließ, an das Glück, das man bei uns wie bei Euch empfindet, wenn eine äußerst verzwickte, bis zuletzt von Scheitern bedrohte Arbeit doch noch einen befriedigenden Abschluss findet.

Ich will Euch nichts vormachen. Und da ich wie alle in der Kolonie gehalten bin, an den Seligen Tausch zu glauben, bitte ich Euch, auch mir, wenn es sich ergeben sollte, in einem gnädigen Gegenzug nichts vorzuschwindeln. Heuchelt nicht. Lügt mich dann lieber nicht an. Womöglich käme ich Euch auf die Schliche. Ich kenne Euch recht gut. Zumindest kenne ich Eure Welt wie kein Zweiter auf unserem Planeten. Ich weiß über manches Bescheid, denn ich habe all unsere Bücher, jeden der sechsundfünfzig Folianten immer wieder studiert und begrübelt, und ihre mögliche Weisheit wie ihren möglichen Unsinn in mein Gemüt sickern lassen.

Kein Kolonist hat Kenntnis von meiner Lektüre. Niemand bei uns ahnt, dass ich die Mutter unserer kargen Sprache, jenen prächtigen Singsang, in dem die Heiligen Bücher verfasst sind, nicht bloß ablesen und verstehen, sondern auch in eigene Sätze gießen und Wort für Wort, Buchstabe an Buchstabe, Strich an Bogen niederschreiben kann. Der Umfang unserer Büchersammlung muss Euch kümmerlich, ja lachhaft erscheinen. Haltet mir zugute, dass es sechsundfünfzig sehr große und recht dicke Bücher sind. Ihre Blätter sind quadratisch, die Seitenlänge entspricht fast genau der Länge meines Unterarms, vom Ellenbogen bis an die Mittelfingerspitze. Jede der dreihundertfünfzig Seiten, die der absatzlose Text umfasst, ist nahezu randlos beschrieben, in den jüngsten Bänden so winzig, dass auch ein starkes Auge gutes Licht braucht, um die Zeilen zu entziffern. Nur das allerletzte Blatt und die Rückseite des letztbeschrifteten hat der schlaue Verfasser, vielleicht um mich, den Kommenden, den heute Nacht endlich bei seiner Bestimmung Angekommenen, in Versuchung zu führen, weiß und frei gelassen.

Bei uns ist es Brauch, Blatt um Blatt andächtig langsam zu wenden. Keiner meiner Mitweltler würde wagen, an der heiligen Unlesbarkeit des Niedergeschriebenen zu zweifeln. Und so weit das Große Palaver zurückreicht, ziemte es sich für die Unsrigen, beim Besuch des Sonnenhauses die beiden von der Barmherzigen Schwester täglich frisch aufgeschlagenen Seiten still zu betrachten und schließlich behutsam, ohne die glänzenden Blätter zu berühren, die Stirn über die Naht zu neigen, der links die letzten, rechts die ersten Buchstaben gerade so nahe kommen, dass man ihre letzte Rundung, ihren ersten Aufstrich eben noch erkennen kann. Viele Male habe ich meine Mutter ihren Scheitel so auf die Scheitel der Heiligen Bücher senken sehen. Meine lieben Kollegen, die vier anderen Nothelfer, und unsere Vorgesetzte, die Barmherzige Schwester, tun es jeden Tag auf die gleiche Weise. Ich jedoch, der Verräter, muss inzwischen täglich ein Quäntchen mehr an ängstlicher Wachheit darauf verwenden, die Prozedur ohne auffällige Abweichung zu vollziehen. Dennoch sind mir gestern Abend noch in Anwesenheit der anderen erneut die Lippen über den offenen Seiten, über einem Absatz, den ich inzwischen auswendig kann, in ein verräterisches Zucken geraten.

Ich schreibe dies im allerersten, noch trügerisch zögerlichen, in einem wie mit seinem Anheben spielenden Morgengrauen. Gleich vier langdochtige Steinschmalzkerzen habe ich an den oberen Buchrand gerückt. In der zurückliegenden Nacht, zu Beginn meiner neun Nächte dauernden Bereitschaft, habe ich kein Zipfelchen Schlaf zu fassen bekommen. Der nahende Beginn der Niederschrift trieb mich um und zwang mich immer aufs Neue, mich von meiner rechten, der Einschlafschulter, auf die unbequemere linke Schulter zu wälzen. Unser Altar, heilkräftiges Krankenlager und Ruhestätte des Nachtdienst leistenden Nothelfers, ist nur scheinbar hart. Oranger Warmstein besitzt eine eigentümliche Nachgiebigkeit. Von einem lebenden Körper belastet, beginnen sich seine Poren mit unmerklicher Langsamkeit zu dehnen. Nur aus der ebenso sacht zunehmenden Erwärmung kann der Liegende schließen, wie innig sich seine Unterlage bereits an ihn schmiegt. Wohlig warm, unfühlbar weich ruht der wachhabende Nothelfer unter seiner Decke, bis ihm das Pochen des Türklopfers oder das Brummen des neuen, von Twitwi gebauten Fernrufmelders befiehlt, in die Galoschen aus Mockmockgummi zu schlüpfen.

Zuletzt malte ich mir aus, einfach um mich zur nötigen Nüchternheit zu ertüchtigen, was der Panik-Rat mit mir anstellen würde, falls man mir auf die Schliche käme. Smosmo, mein verehrter Lehrer, mein Vorleser in einem doppelten Sinne, hatte wohl bis in seine letzte Sonnenhausstunde Angst davor, dass unsere irdische, unsere erdvernarrte Lektüre auffliegen könnte. Smosmo war der Vorgänger der jetzigen Barmherzigen Schwester, und so weit der Schein des Großen Palavers reicht, ist er der einzige Mann gewesen, der dieses Amt je bekleidet hat. Smosmo fürchtete, der Panik-Rat würde sich, sobald man ihn ertappt hätte, wie aus einem bösen Nichts erleuchtet, jener Folterkünste entsinnen, die Ihr gewiss weiterhin praktiziert. Er rechnete damit, recht scheußlich gemartert zu werden. Wahrscheinlich hat er sich deswegen, wegen dieser lang gehegten und gepflegten Sorge auf eine noch immer anstößig einmalige Weise aus unserer Kolonie und aus seinem Leben davongemacht.

Da ist sie: Endlich erhebt sich unsere Sonne. Euch muss die Mutter unseres Planetensystems, wenn Ihr Abbildungen ihrer hiesigen Erscheinung betrachtet, lächerlich klein und in ihrem schmutzigen Orange recht schäbig vorkommen. Prächtig purpurrot, dann goldgelb, schließlich platinweiß steigt sie, das habe ich aus den Heiligen Büchern gelernt, bei Euch in einen sich nicht weniger großartig wandelnden, nicht selten sogar wolkenlosen Himmel. Smosmo hat als Knäblein auf dem Schoß einer Greisin gesessen, die behauptete, noch aus dem Mund einer alten Siedlerin gehört zu haben, wie auf Erden, mit Donnern und Brausen, in einer Symphonie aus Schrecken und Wohlgefallen, die dort so viel näher liegende Sonne aufgeht.

Klein wird unsere Sonne immer bleiben. Ihr Farbenspiel hat allerdings bereits begonnen, Fortschritte zu machen. Denn die Atmosphäre, in der sich ihr Licht bricht, nimmt allmählich an Dichte zu. Unsere Lungen sind nicht feinfühlig genug, um den genauen Verlauf dieser Veränderung zu registrieren. Doch unsere ehrenwerten Mockmock-Beobachter besitzen einen untrüglichen Maßstab, um die Verbesserung der Luft zu messen. Längst ist erwiesen, dass unser Ernährer, der gute Mockmock, unendlich langsam und doch in steter Beschleunigung auf dem Weg zur Oberfläche des Planeten ist. In den von uns gegrabenen Gängen und in den vulkanischen Gaskaminen haben die Mockmock-Beobachter Markierungen angebracht, aus denen sich auf das Tempo dieses Aufstiegs schließen lässt.

Das Große Palaver erzählt uns, wie schwierig es uranfangs, in der Siedlerzeit, gewesen ist, bis zu den Kavernen vorzudringen, in denen Freund Mockmock damals gedieh. Mich und die anderen Kinder meines Jahrgangs hat Smosmo, als er noch lehrender Nothelfer war, auf einer dreitägigen Wanderung vom Kugelturm, dem Unterrichtsgebäude, hinaus in die Südebene und dann hinab in das legendäre erste Stollensystem geführt, das unsere Vorfahren für die Mockmock-Ernte gegraben hatten. Seine Stimme bebte vor Ehrfurcht, während er uns die Mühsal des anfänglichen Bergbaus beschrieb. Noch heute gebe ich ihm ohne Einschränkung recht. Wahrscheinlich sind nur wahre Pioniere fähig, sich mit einer Unermüdlichkeit, für die, wenn ich dies recht verstanden habe, bei Euch die Ameisen berühmt sind, in Gestein hineinzukratzen. Grimmig grinsend stelle ich mir die Gesichter dieser vielbeinigen Winzlinge vor. Und zur ameisenhaften Beharrlichkeit brauchte es hier bei uns noch einen Erfindungsreichtum, wie ihn, vielleicht selbst auf der märchenhaft artenreichen Erde, allein der Mensch im Kampf mit seinen Nöten beweist.

Tief unten angekommen, beguckten wir Kinder uns damals das Wenige, was von der Urzeit zeugte. Wie Smosmo strichen wir über die Kerben und Kratzer, die das erste selbstgebastelte Grabungsgerät in den Wänden hinterlassen hatte. Wie unser Lehrer klopften wir mit den Fingerknöcheln gegen Stützsäulen, die von den Siedlern aus Grausteinblöcken errichtet worden waren, um die Decke dort zu sichern, wo es durch bedenklich sandige Schichten geht. Ganz zuletzt führte uns Smosmo in einen Seitenstollen, so niedrig, dass er seinen damals noch dichten Schopf bis auf die Höhe unserer kindlichen Scheitel senken musste. Der Gang endete in einer kreisrunden Kaverne, gerade groß genug, um uns allen bequem Platz zu bieten.

An der gewölbten Decke und auf den Wänden klebten einige Mockmock-Kugeln im Ruhezustand. Ihre Schalen reflektierten das Licht unserer Steinschmalzlämpchen. Smosmo hieß uns im Kreis antreten, rund um ein großartiges Artefakt, um ein rares, erhebend nobles Überbleibsel. Bis auf wenige Schrauben war es hier unten, an Ort und Stelle, aus uraltem, rötliche Salzkristalle ausscheidendem Mockmock zusammengefügt worden. Von unseren eigenen Schnitzübungen wussten wir, wie schwierig dieses spröde, sehr harte, aber jäh splitternde Material zu bearbeiten ist. Sogar das erstaunlich regelmäßige Rad der niedrigen Schubkarre war aus kunstvoll verkeilten Schalensegmenten gefertigt.

Allein unseren Mockmock-Beobachtern ist erlaubt, Kugeln vom Gestein zu lösen. Nur sie erkennen, wie rissig der Rand des Mockfußes bereits geworden ist, wie leicht sich dieser abdrehen lässt, wie nahe der Augenblick ist, in dem die Kugeln auf dem Höhepunkt ihrer Muße von allein abfallen. Smosmo ließ jeden von uns so viel herabgeplumpsten Mockmock aufladen, wie er sich zutraute. Und ich weiß noch, wie mir die Arme zitterten, nachdem ich mit meiner Fracht, fünf kleinen, gerade mal kinderfaustgroßen Exemplaren, das kurze Stück zum Hauptgang gefahren war, dort unter Verlust einer Kugel in engem Kreis gewendet und mit allerletzter Kraft den Rückweg bewerkstelligt hatte. Unser Stärkster, ein Junge, der gewiss schon ein muskulöser Säugling gewesen war, legte sich mehr als das Doppelte in die Karre. Scheinbar mühelos gingen bei ihm Kraft und Geschick Hand in Hand. Flott und sorglos bewältigte er den kleinen Parcours und ließ sich von uns als würdiger Nachfahr der Pioniere feiern.

Wen wundert es, dass ein erstklassiger Allesmacher aus ihm geworden ist. Im letzten Frühling kam er zu mir in meine Kammer, weil sich auf deren Heizmauer aus gelbem Warmstein ein schmieriger Niederschlag gebildet hatte. Im Nu hatte er die komplette Wand abgebaut, und während wir gemeinsam die Vorder- und Rückseiten der demontierten Platten reinigten und mit speichelbenetzten Lippen den Grad ihrer energetischen Erschöpfung prüften, versuchte ich ein paar Erinnerungen mit ihm aufzufrischen. Aber abgesehen von einem einzigen Vorfall, einer Rauferei mit einem anderen Starken, die er sich halbwegs deutlich zurückrufen konnte, war sein Entsinnen an die gemeinsam durchquerte Zeit, an unsere Kindheit und Jugend, so schwergängig, wie es vor allem bei den Allesmachern, aber nicht nur bei diesen die Regel ist. Auf das meiste, was ich anführte, reagierte er wortkarg, ja unwillig, oft nur mit einem kurzen Kopfschütteln oder gar unhöflich grunzend. Von unserer Exkursion in die Unterwelt der Siedler, von seinem dortigen Triumph, von der Pracht seiner frühreifen Kraft schien ihm nichts, nicht der Schatten eines Bildes, nicht der Hauch einer Empfindung geblieben.

Als die Warmsteinkacheln wieder an Ort und Stelle hingen, machte er sich daran, einige zusätzliche Entlüftungslöcher in die Boden- und in die Deckenleiste zu bohren. Hierzu zog er seinen Kittel aus, und ich durfte beobachten, welche Muskeln die Arbeit mit dem großen Handbohrer an seinen Armen und auf seinem Rücken spielen ließ. Zur Kühlung gab ich ab und zu einen Spritzer Wasser auf das Gewinde des Geräts. Schnitzen und Bohren, Sägen und Schrauben, Verkeilen und das wirklich heikle Kleben mit erhitztem Mockmockgummi habe ich, wie alle, im Kugelturm gelernt. Ich war nicht der Ungeschickteste, bis sich in den fraglichen, in den verwirrten Jahren dann doch herausstellte, dass ich zu wenig Selbstvergessenheit besaß, um zum Allesmacher oder gar zum Neubastler zu taugen. Meine Mutter hatte, wie Mütter es bei uns und womöglich auch bei Euch zwangsläufig tun, noch mehr erhofft und bis zuletzt geglaubt, ich könnte einen guten Mockmock-Beobachter abgeben. Aber dann erkrankte die Barmherzige Schwester schwer, und Smosmo, der Älteste der Nothelfer und damals der einzige Mann im Sonnenhaus, zog zur Überraschung der ganzen Kolonie das Los ihrer Nachfolge. Noch am selben Tag bestellte er mich trotz meiner Jugend auf die frei gewordene Nothelferstelle und begann nur wenig später mit meiner heimlichen Unterrichtung. Er ahnte offenbar, wie viel Zeit ihm hierfür noch bleiben sollte.

Mein Schreibwerkzeug kratzt. Im Eifer des Beginns habe ich es arg heftig beansprucht. Aber eben kam mir eine Idee, wie ich seine Spitze aus Mockmockborsten noch verbessern kann. Die selbstgebraute Tinte hingegen scheint sich ohne Einschränkung zu bewähren. Sie fließt vortrefflich, trocknet schnell, und wenn ich mit der Fingerspitze über das Geschriebene streife, verwischt es kein bisschen. Meine Hand wirft einen schärferen Schatten. Unsere kleine Sonne steht hoch genug. Ich kann die Kerzen löschen. Bald werden die anderen zur Morgenrunde eintreffen. Und da auch diese Dienstnacht ohne Notfall war, habe ich den Ohren meiner lieben Kollegen und den besonders hübschen Öhrchen der verehrten Barmherzigen Schwester, anders als Eurem Auge, das ich mir erdhimmelblau und glänzend vor Neugier wünsche, rein gar nichts mitzuteilen.

Zweite Schreibnacht

Es regnet, und wer von uns wäre nicht entzückt darüber. Noch immer ist Niederschlag rar, noch immer folgen wir Erwachsenen, sogar die beiden halblahmen Alten, die weiter in der Gemeinschaftsküche mitwerkeln dürfen, den hinausstürmenden Kindern ins Freie, um das Gesicht gegen die roten Regenwolken zu wenden. Zunächst, bis in den späten Nachmittag hinein, schenkten uns ihre rosa und lila gemaserten Bäuche das ersehnte Nass nur zögerlich in vereinzelten dunklen, mit rostfarbenem Staub gesättigten Tropfen. Erst in der Dämmerung ergoss es sich dicht und rein. Und jetzt, wo ich den Nachtdienst angetreten habe und das Buch, das ich nun, für diesen einen Satz, kühn das meine nenne, in der Ostnische vor mir liegt, hat das Himmelswasser die Scheiben über der Fensterbank fast völlig klar gewaschen.

Fenster sind uns keine Selbstverständlichkeit. Meine Wohnkammer hat, obwohl sie, wie es sich für eine Nothelferbehausung gehört, in einem der Oberflächengebäude liegt, nicht eine einzige derartige Öffnung. Den Kunststoff der runden Luken, die den Kuppelrand der vier großen Altbauten wie ein Kreis aus Augen schmücken, hat der Sandwind blind geschliffen. Allein im Haus Für Alle strömt noch so viel Licht in den Eßsaal, dass dort zur Mittagsstunde keine Steinschmalzkerzen brennen müssen. Seit meiner Kindheit ist ein eigener Trupp von Neubastlern mit der Gewinnung von Glas beschäftigt. Ich weiß noch, wie uns Smosmo erstmals drei bräunliche Stücke in den Unterricht mitbrachte und über den Tisch kullern ließ. Beulig und dellig, konnte man sie kaum Kugeln nennen. Aber so wie sie eine gleichmäßige Form bereits als Versprechen in sich trugen, ließ ihre trübe Halbtransparenz ahnen, dass gutes Glas, über das Ihr offenbar in Hülle und Fülle verfügt, seine Anwesenheit restlos vergessen macht.

Als ich das letzte Jahr unter der Erde wohnte, wurden die Mutterkind-Kammern unseres Stollens mit Türen ausgestattet. Die uralten Vorhänge aus Altstoff waren endgültig zerschlissen. Der Türbautrupp hatte sich, obwohl den ehrsüchtigen Neubastlern dergleichen immer wieder schwerfällt, mit den Glasmachern zusammengetan. Der Selige Tausch ist Sonnengebot. Wir spüren Sinn und Dringlichkeit und können dem Gebotenen dennoch nicht immer gerecht werden. Damals schien die Wechselgabe gelungen. Jede der Türen enthielt ein handhohes Guckfenster aus Steinglas.

Alle waren von dessen Lichtdurchlässigkeit begeistert, und dass seine blasige Unregelmäßigkeit das Gesehene bei Einblick wie Ausblick komisch verzerrte, erhöhte nur das Vergnügen, das Groß und Klein an der Neuerung hatten. Am Tag des Einbaus schoben meine Mutter und ich uns in der halb offenen Tür viele Male aneinander vorbei, um die Position zu wechseln. Ich schnitt auf beiden Seiten des Fensterchens immer kühnere Grimassen, die meine Mutter mit Kopfschütteln tadelte, bis sie meine Scherze doch zum Lachen reizten. Ich lachte mit. Wir lachten und lachten. Schließlich lagen wir uns in der halb aufgezogenen Tür, die Fußspitzen auf der frisch gesetzten, flachen Schwelle, in den Armen. Meine Mutter kicherte am Halsausschnitt meines Kittels, wie ich sie nie vorher hatte kichern hören. Und mit einem nicht geringen Schreck begriff ich zum allerersten Mal leibhaftig, wie klein sie war, wie klein sie meine ganze Kindheit hindurch gewesen sein musste, denn ihre Brust drückte in unregelmäßigen Stößen gegen den untersten Bogen meiner Rippen.

Erst als noch reineres Glas in fast unterarmlangen Stücken zur Verfügung stand, wurden Fensteröffnungen in das Sonnenhaus gebrochen. Die Neubastler setzen jeweils vier der Scheiben in einem Rahmen zusammen. Inzwischen können wir uns den Altarraum gar nicht mehr anders als von Himmelslicht durchflutet vorstellen. Und seit letzter Woche weiß ich sogar aus eigener Anschauung, wie Scheiben dieser erstaunlichen Größe gewonnen werden. Uns erreichte ein Fernruf der Glasmacher. Das dumpfe, noch aufregend ungewohnte Brummen im Ohr, griffen Toctoc und ich unsere Rucksäcke und rutschten die Stange in den Fahrzeugraum hinunter.

Der Doppeltretroller ist das schnellste Mobil, das wir besitzen. Alle vier Roller unseres kleinen Fuhrparks sind gleich unseren beiden Transportkarren weitgehend aus Mockmock gefertigt. Größere Stücke Erdmaterial, die leichten und dabei traumhaft festen Aluminiumbleche oder den geschmeidigen und dennoch reißfesten Kupferdraht, gibt der Panik-Rat nur nach zauderndem Abwägen zum Bau von Gerätschaften frei. Sogar als vor kurzem an einem unserer beiden Einmannroller der Radbelag riss, dauerte es fast ein Dutzend Tage, bis wir das zur Reparatur benötigte Stück Altgummi bewilligt bekamen.

Mockmockschale wiegt schwer. Aber das höhere Gewicht des Doppeltretrollers ist eigentlich nur beim Abbremsen von Nachteil. Wenn auf dem Hinweg zu einem Erkrankten oder Verletzten kein längerer Anstieg und kein weicher oder sehr unregelmäßiger Untergrund bewältigt werden müssen, ist er nicht nur in den Stollen, sondern oft auch im freien Gelände die erste Wahl. Die Werkstatt der Glasmacher liegt weit draußen, bei den bislang besten, erst vor kurzem entdeckten Fundstätten. Und das ganze Endstück, bestimmt vier Fünftel des Wegs, führt über einen wunderbar glatt erstarrten Lavastrom aus der Zeit des Gerechten Untergangs.

Toctoc versteht sich darauf, mit einem Zungenschnalzen den Moment des wechselseitigen Abstoßens anzugeben. Da er ein bisschen kleiner ist als ich, durfte ich, die Hände auf dem stummelkurzen, unbeweglichen Lenker des zweiten Mannes, über Toctocs Schulter hinweg erneut bewundern, wie er die Unregelmäßigkeiten der natürlichen Fahrbahn, den flachen, vom Wind verschliffenen Faltenwurf der erkalteten Lava, voraussah. Jede tiefere Rille, jeder festgegossene Felsbrocken wurde in beizeiten angesetztem Bogen, fast ohne Verlust an Geschwindigkeit, umfahren. Schnell zu sein, den Körper entgegen seiner Trägheit als stetig beschleunigt zu erfahren, ist uns im Gegensatz zu Euch nicht oft vergönnt. Und diesen raren Genuss durch eine Pause abreißen zu lassen, kam uns trotz der Länge des Wegs nicht in den Sinn. Smosmo hat mir erzählt, wie restlos erschöpfend einst ein kurzer Fußmarsch auf der Oberfläche unseres Planeten war. In seiner Jugend stand noch ein allerletztes betriebsbereites Atemgerät aus der Zeit der Siedler zur Verfügung. Aber die damalige Barmherzige Schwester rückte es, bis sein Tank endgültig leer war, nur in besonders dringlichen Fällen heraus.

An eine alle Kräfte fordernde und zugleich wunderbar beschwingte Tretrollerfahrt wie unsere heutige war in jenen Tagen nicht zu denken. Ein böiger Rückenwind gab uns zusätzlichen Schub. Womöglich ist nie einer unserer Roller so rasant unterwegs gewesen. Der Weg verging wie im Flug und gewann gerade hierdurch eine besondere, rauschhaft selige Dauer. Natürlich schmerzten uns, als die Grabungsstätte der Glasmacher in Sicht kam, Hals und Lungen, und unsere Augen brannten, weil ein solches Sausen auch die beste Staubbrille überfordert. Toctoc taumelte, nachdem der Roller an einen Felsen gelehnt worden war, und auch mir fielen die ersten Schritte auf den ungleich tätig gewesenen Beinen nicht leicht. Dazu mühte ich mich, einen heftigen Brechreiz niederzukämpfen. Durch den Mund schnaufend, hatte ich eine gehörige Portion des aufgewirbelten Sands geschluckt. Aber aus dem Stolleneingang schlug uns herrlich kühle, sogleich stärkende Kavernenluft entgegen, und die verblüfften Mienen der Glasmacher, die noch nicht mit unserem Eintreffen gerechnet hatten, entschädigten uns vollends für die Nachwehen der wilden Fahrt.

Der Verletzte stand unter Schock. Ich massierte ihm die Fersen und Knöchel, um sein hektisches Hecheln zu beruhigen. Toctoc befragte die anderen nach dem Hergang des Unfalls. Da sie nicht gewagt hatten, ihren Kollegen zum Eingang zu tragen, befanden wir uns an der Stelle des Unglücks und konnten uns das Geschehene trotz der mürrischen Dürftigkeit ihrer Beschreibung ohne Mühe vorstellen. Wie alle Neubastler genießen die Glasmacher das Privileg, ihr Vorankommen gierigen Blicken zu entziehen. Mir war bislang nur bekannt gewesen, dass sie die Scheiben unserer Fenster aus kugeligen Einschlüssen brechen, die sie in den porösen Lavaschichten aufspüren.

Zum ersten Mal lag uns nun ein solcher Findling vor Augen. Es war, die Glasmacher gestanden es mit trotziger Verlegenheit, ein Prachtstück, mehr als hüfthoch und fast so beulen- und dellenlos rund wie eine Mockmock-Kugel. Vielleicht hatten seine besondere Größe und seine vielversprechende Regelmäßigkeit die erfahrenen Handwerker zu gewagter Hast verleitet. Die Bohrer, Hämmer und Keile, mit denen sie zu Werke gegangen waren, lagen noch auf dem Boden des Stollens, rund um ein erstes abgesprengtes Stück. Uns schien die Kugel perfekt angeschnitten. Toctoc bückte sich und nahm den abgetrennten Teil in beide Hände. Er hob ihn auf, hielt ihn wie eine bis zum Rand gefüllte Schale, drehte sich damit zu mir, neigte die Rundung, als wollte er das Segment ausgießen, und gemeinsam staunten wir einen langen lidschlaglosen Blick über die Glätte und die Helligkeit der Kreisfläche. Mehr ließen die Glasmacher nicht zu. Einer nahm meinem Kollegen das kostbare Stück aus den Händen. Ein anderer verstellte die Bruchstelle der Kugel mit einem breiten Altblech. Dies war ihr gutes Recht. Wir machten uns an die eigene Arbeit.

Die Kunst der Nothelfer ist gering. Ich werde nie vergessen, wie enttäuscht meine Mutter aufseufzte, als ich ihr mitteilte, dass Smosmo mich auf die frei gewordene Stelle ins Sonnenhaus berufen würde. Zur Behandlung von Wunden stehen uns lediglich drei Salben zur Verfügung, die man aus Mockmockmilch und verschiedenen Steinmehlen anrührt. Die schwarze Salbe hilft bei Verbrennungen, die graue kommt auf Hautabschürfungen und Fleischwunden aller Art, die weiße Salbe, schwierig herzustellen und besonders leicht verderblich, wird nur verwendet, wenn die Bruchstelle eines Knochens freiliegt. Dem verletzten Neubastler steckte ein abgesprengter Steinsplitter schräg in der Nasenwurzel, fast genau zwischen den Augen. Also drückte ich, so fest ich konnte, mit den Daumen auf die schmerzverwandten Stellen unter den großen Zehen, während Toctoc sich daranmachte, den Fremdkörper herauszuziehen.

Der Splitter erwies sich zum Glück als nicht lang. Die Wunde blutete nur schwach. Ein dicker Klacks der zähen grauen Salbe verschloss den kleinen Schlitz. Viel mehr war nicht zu tun. Gemeinsam sprachen wir die üblichen Formeln. Die Miene des Versorgten verriet uns, wie wohl ihm unsere Genesung verheißenden Worte taten, und auch seine Kollegen, die Toctocs neugieriger Zugriff auf den Findling zweifellos verstimmt hatte, wirkten bloß noch erleichtert. Man offerierte uns verdünnte Mockmockmilch, wir nahmen dankend an, und gemeinsam hockten wir still um den versorgten Glasmacher, so lange, bis dieser in den guten festen Schlaf fiel, den die graue Salbe, wenn man sie auf eine frische Wunde gibt, unweigerlich spendet.

Liebend gerne hätten Toctoc und ich noch einen Blick auf den Notfernmelder geworfen, der uns herbeigerufen hatte. Aber es wäre unschicklich gewesen, geradewegs danach zu fragen. Bis jetzt gibt es nur zwei dieser Melder, den zweiten hat Twitwi zur Grabungsstelle für orangen Warmstein hinausgebracht. Dazu kommt der Apparat im Sonnenhaus, der den lautlosen Ruf seiner Brudergeräte empfängt und für unsere Ohren hörbar macht. Die kleine Twitwi hat alle drei gebaut, und wahrscheinlich ist sie die Einzige, die ihr Zusammenwirken auf eine Weise versteht, die uns Übrigen bis jetzt nicht mit Worten vermittelbar ist. Eigens für Twitwi und ihre eigentümliche Findigkeit wurde ein neuer Neubastlertrupp ins Leben gerufen. Smosmo hat das ganze Ansehen, das dem Amt der Barmherzigen Schwester zukommt, in die Waagschale der Entscheidung geworfen, als er die Gelegenheit für diese Neugründung aufgehen sah. Es brauchte eine besondere Konstellation in der Zusammensetzung des Panik-Rats. Erstmals hatte keine einzige Frau das Los der Mitgliedschaft gezogen, und damit konnte keine missgünstige Geschlechtsgenossin gegen Twitwi sprechen.

Twitwi gehörte zu meiner Jahrgangsgruppe, und weil sie die mit Abstand Schmächtigste war, haben wir sie in den Jahren des Unterrichts immer wie ein jüngeres Kind behandelt. Mir und den anderen ist lange nicht aufgefallen, dass sie ein besonderes Talent besaß. Wir hielten sie sogar für ein bisschen begriffsstutzig, weil ihr manche Arbeiten auffällig langsam von der Hand gingen. Wenn sie, den Kinderbohrer oder den kleinsten Hartsteinhammer im schlaffen Händchen, mit stierem Blick über einem einfachen Werkstück brütete, hieß es damals: «Unsere kleine Twitwi schläft wieder mit offenen Augen!» Sogar heute, wo sie den Trupp für unsichtbare Kräfte leitet und Erfolge vorweisen kann, ist es noch üblich, den Kopf über sie zu schütteln, um sich so, mit stummem, dummem Einverständnis, gegen das Unverstandene zu schützen.

Das würfelförmige Gehäuse des Notrufempfängers, das ich von meinem Schreibplatz aus unter dem Altar stehen sehe, hat Twitwi aus Aluminiumblech gebastelt. Oben ragt ein eisengrauer Stummel aus dem Deckel. Nach dem, was ich aus den Heiligen Büchern gelernt habe, bin ich mir fast sicher, dass Ihr einen solchen Auswuchs Antenne nennt. Falls ich mich irren sollte, bitte ich Euch um Nachsicht. Ich habe niemanden, mit dem ich meine Mutmaßungen besprechen könnte. Twitwi hat die Box nicht selbst aufgestellt, sondern bloß ihre beiden Gehilfen geschickt. Als ihr Neubastlertrupp gegründet wurde, bestellte sie zur allgemeinen Überraschung als Helfer ausgerechnet die dickköpfigen Brüder. Alle nennen die beiden so, weil sie, anders als ihre Mutter, die eine rundum wohlproportionierte Frau war, hässlich große, seltsam beulige Schädel auf den arg schmalen Schultern tragen.

Lange hieß es, die dickköpfigen Brüder taugten zu nahezu nichts, weil beide das Sprechen nur unvollkommen erlernt haben und dazu elend mickrige Kerlchen sind. Wären sie nicht bereits im ersten Unterrichtsjahr durch ein besonderes Talent für Zahlen und deren rechnerische Verknüpfung aufgefallen, hätte nicht einmal Smosmo, ihr nachsichtiger Lehrer, die Knaben über kurz oder lang, spätestens nach dem frühen Tod ihrer Mutter, vor dem Dampf des Purpurspalts bewahren können. Bevor Twitwi die beiden Dickschädel anforderte, waren sie in den Altgutkammern als Merker eingesetzt. Unser Altmaterialwart, ein strenger und gewissenhafter Mann, wusste ihr Vermögen, sich die Größe und den Regalort jedes Schräubchens, die Stärke und die Form jedes Blechstücks zu merken, durchaus zu schätzen, dennoch war er wohl froh, ihr blödes Glotzen und das halb verständliche, von komischen Schmatzgeräuschen durchsetzte Gebrabbel, mit dem sie sich verständlich machen wollen, wieder loszuwerden.

Damals, als die dickköpfigen Brüder den Notrufempfänger brachten, suchte ich das Gespräch mit ihnen. Sie wirkten erfreut über meine Neugier und ließen zu, dass ich die Box prüfend in den Händen wog. Das Kästchen ist erstaunlich schwer. Wenn ich die beiden richtig verstanden habe, rührt dies daher, dass es neben allerlei kostbarem Altmaterial auch einen Brocken besten orangen Warmsteins enthält. Damit muss zusammenhängen, dass die beiden unter unserer Altarplatte, die zur Gänze aus dem bislang größten Warmsteinfundstück besteht, den richtigen Standplatz für das Gerät ausfindig machten. Nur dort glomm das Lämpchen, dessen Glas sich neben dem Antennenstummel aus dem Aluminiumdeckel wölbt, zu vollem Rot auf und leuchtet seitdem ohne das kleinste Flackern.

Mein Verstehenwollen hatte Feuer gefangen, und ich versuchte Genaueres aus den beiden herauszubekommen. Sie waren nicht unwillig, aber je mehr sie sich mühten, mir etwas über das Zusammenwirken von Altarplatte und dem Inneren des Kistchens zu sagen, umso unverständlicher wurde ihr heiseres, speichelsprühendes Gehaspel. Zuletzt merkten sie wohl, wie wenig sie mir mitteilen konnten, und schauten mich nur noch still an. Vielleicht lag es an der merkwürdigen Leere ihres Gaffens, dass mein hin und her pendelnder Blick die Verbindung mit ihren Augen verlor. Kurz fiel mir noch auf, zu welch ähnlichem Grübelmuster sich die Hautfalten der hohen, walzenartig gewölbten Stirn bei beiden zusammengezogen hatten. Doch dann entdeckte ich, mit nicht geringem Erstaunen, ja mit Erschrecken, ihre Mützchen.

Es schienen noch immer dieselben zu sein, die sie einst im Unterricht getragen hatten. Bestimmt hatte ihre Mutter die einfachen Kappen einst angefertigt, um eine besonders hässliche Ausbeulung des Hinterkopfes darunter zu verbergen. Die Farbe der Mützen hatte sich im Lauf der Jahre dem Braun der Haare angeglichen. Zudem saßen sie inzwischen so stramm, als wäre der Schädel passgenau in die ihm angebotene Höhlung hineingewachsen. Twitwis Gehilfen schienen mein Hinschauen zu spüren, denn plötzlich kratzten sich beide gleichzeitig genau in der Mitte ihrer Kopfbedeckungen.

Ich weiß nicht, ob sie mich damit ablenken wollten. Aber wie sich die dickschädligen Brüder auf mich stürzten, war ich von ihrer Attacke derart überrumpelt, dass ich rücklings auf den Altar kippte. Beide waren über mir, und ihr Zupacken war stärker, als die kindlich dünnen Ärmchen es erwarten ließen. Die schweren Köpfe plumpsten mir auf die Brust, und aus arg großer Nähe musste ich die borstigen Fasern sehen, die aus ihren Kappen sprossen, offenbar hatten besonders starke Haare deren Gewebe durchstoßen. Der Angriff war mir unheimlich. Und er wäre mir sogar bedrohlich vorgekommen, hätten mir die Bewegungen ihrer Hände, die eifrige Arbeit ihrer zwanzig Finger nicht unmissverständlich mitgeteilt, dass es ihnen, dass es Twitwis Gehilfen, dass es Spispi und Hoho, garstig schmatzend und fast dialogisch kichernd, nur darum ging, mich, den neugierigen, aber vorstellungsschwachen Nothelfer, recht kindisch durchzukitzeln.

Dritte Schreibnacht

Die Barmherzige Schwester hat mich ins Gebet genommen. Obwohl diese Prüfung jedem Nothelfer regelmäßig widerfährt und während meiner Sonnenhauszeit meist nur eine ernste Ermahnung, allenfalls neun zusätzliche Nächte Bereitschaftsdienst nach sich gezogen hat, kroch mir die Angst mit jeder ihrer Fragen ein wenig tiefer in die Knochen. Ich fürchtete, mich zu verraten. Ich fürchtete, meine noch blutjunge Aufschreiblust könnte bereits im Tonfall meiner Antworten mitschwingen. Und die ärgste Strafe, die meines Wissens überhaupt je einen Nothelfer ereilt hat, nämlich als Spätling einem Steinbrechertrupp zugewiesen zu werden, erschien mir heute Nachmittag und erscheint mir weiterhin viel zu mild, gemessen an der Einmaligkeit meines Vergehens.

Unsere Barmherzige Schwester ist nur wenig älter als ich, aber recht dick. Leibesfülle ist bei uns sehr selten. Ich kenne nur einige gestandene Steinbrecher, denen es gelungen ist, die Extrarationen, die für Schwerstarbeit ausgegeben werden, in einem über den Gürtel gewölbten Bäuchlein anzulagern. Vielleicht wäre sogar fett die richtige Bezeichnung für die Beleibtheit der Barmherzigen Schwester, vorausgesetzt, man vermag dieses Eigenschaftswort bei Euch respektvoll über die Lippen zu bringen. Ich habe auf jeden Fall versucht, seine Buchstaben so hinzuschreiben, dass deren Wohlgeformtheit die in diesem Anwendungsfall nötige Hochachtung für mein und vielleicht auch für Euer Auge miteinschließt.

Da es sich nicht schickt, der Barmherzigen Schwester ins Gesicht zu gaffen, beobachtete ich, während ich Auskunft über unseren Aufenthalt bei den Glasmachern gab, das Zucken der beiden Ringe, die ihr festes Fleisch zwischen dem Kinn und dem Halsausschnitt ihres Kittels wirft. Sie nickte viel und ließ ab und zu ein freundliches Brummen hören. Offenbar war sie mit meinem Bericht zufrieden. Ihre Fragen verrieten mir, dass Toctoc bereits vergleichbar gründlich vernommen worden war. Und abgesehen von der übertriebenen Hitzigkeit unser Hinfahrt war ja nichts vorgefallen, was ihren Tadel auf sich ziehen konnte. Erst jetzt gibt mir zu denken, wie genau sie sich nach der großen Findlingskugel erkundigte, bei deren Bearbeitung der Unfall geschehen war. Zweimal forderte sie mich auf, das abgesprengte Stück zu beschreiben. Noch ganz zuletzt, sie hatte sich bereits mit einem würdevollen Ächzen aus ihrem Stuhl erhoben, wollte sie wissen, was ich oder Toctoc, dem das Segment ja ein Weilchen in den Händen gelegen war, in dessen Bruchfläche – sei sie denn wirklich völlig klar gewesen? – gespiegelt gesehen hätten.

Unsere Barmherzige Schwester ist früher, so geht der Weg der Berufung, eine schlichte Nothelferin, also eine von uns gewesen. Und damals, als sie noch mit einem Namen gerufen wurde, mochte ich sie, ich will Euch auch hierin nichts vormachen, besonders gut leiden. Smosmo, der mich zuletzt wohl fast genauso gut kannte wie meine Mutter, hat dies gespürt und Mirmir, so hieß sie damals, in meiner Sonnenhaus-Anfangszeit oft zusammen mit mir losgeschickt. Lernend habe ich ihren bis heute schlanken Händen beim Versorgen kleiner und großer Wunden zugesehen. Und auch wie man als Nothelfer einem Steinbrecher, einem Neubastler oder gar einem der gelehrten Mockmock-Beobachter, forschend und dennoch bescheiden, in die fiebrig glänzenden oder vom Schmerz getrübten Augen blickt, habe ich ihrem damals noch schmalen Gesicht abgeguckt. Womöglich hätte ich mit der Zeit sogar bemerken können, dass allein Mirmir in der Lage sein würde, in Smosmos Fußstapfen zu treten. Undenkbar ist auf jeden Fall gewesen, der tüchtige, stets gut gelaunte Toctoc oder ich, der Heimlichtuer und Zweifler, könnte das Los der Nachfolge ziehen.

Mit Mirmir bin ich gleich in meiner ersten Woche in die Tiefe, zu den äußersten Mockmock-Beobachtern, hinabgesandt worden. In meiner Unerfahrenheit war mir, zumindest im Moment unseres Aufbruchs, nicht einmal die Besonderheit dieser Mission bewusst. Jetzt, wo ich mich schreibend erinnere, staune ich über die Länge des Wegs, den wir damals zu bewältigen hatten, über sein Ziel und über das, was uns dort erwartete. Schon als Erstlinge, ganz am Anfang des Unterrichts im Kugelturm, erfassen wir den Aufriss der Oberwelt, indem wir ihn viele Male mit dem Griffel auf geschliffenen Glanzstein zeichnen, und auf dieselbe Weise prägen wir uns das Stollennetz der Unterebene ein, wo wir in den Mutterkind-Kammern zu Hause sind. Euch müssten beide Pläne, so sie Euch vor Augen kämen, lächerlich simpel vorkommen. Und wahrscheinlich schüttelt ihr ungläubig den Kopf, wenn ich Euch jetzt gestehe, dass wir keine vergleichbar übersichtliche Abbildung von der Tiefwelt besitzen, obwohl deren einziger Bewohner doch lebensnotwendig für unsere Gemeinschaft ist.

Alles, was uns Staub und Sand, was uns der Lehm und das Gestein, das Wasser und das Sonnenlicht nicht geben können, schenkt uns Freund Mockmock. Zu unserem Heil und Segen haben unsere Ahnen, die Siedler, die noch eine Weile von irdischen Vorräten zehren konnten, ihn entdeckt, seine Nutzbarkeit erkannt und sogleich begonnen, seinen Wegen nachzuspüren.

Damals, als ich mit Mirmir abstieg, dauerte es noch gut einen halben Tag, bis wir die erste Kaverne erreichten, in der geerntet wurde. Mirmir maß die Zeit mit der kleinen, aus durchsichtigem und bruchfestem Altmaterial gebauten Gelbkornuhr, die Smosmo uns mitgegeben hatte. Ein erfahrener Allesmacher hatte uns fast zwei Drittel der Wegstrecke geführt, zuletzt wies er in einen Gang, der uns ohne Abzweig zu unserem Etappenziel bringen sollte. Wir könnten das Steinschmalz in unseren Lämpchen sparen, der Boden sei eben und zudem habe man erst vor kurzem alle vierhundert Schritt eine Schaufel frischen Leuchtsand an die Stollenwand gehäuft.

Die Höhle, die wir so erreichten, war ungewöhnlich hoch und enthielt, wie zu jener Zeit in dieser Tiefe üblich, fast ausschließlich Mockmock im Ruhezustand. Ein dreiköpfiger Trupp, eine noch junge Mockmock-Beobachterin und zwei Allesmacher, waren mit dem Abbau beschäftigt. Die zu erntenden Kugeln hingen so weit oben, dass sie nur mit einer Leiter zu erreichen waren. Natürlich boten wir, eingedenk des Seligen Tausches, unsere Hilfe an. Dies wurde nach dem üblichen Zögern und Zieren nicht unfreundlich angenommen. Wir trugen ein paar Dutzend Kugeln hinaus auf den Hauptgang und stapelten sie dort getrennt, je nachdem ob sie beim langwierigen, behutsamen Abdrehen glücklich unversehrt geblieben oder beschädigt worden waren, gegen die Wand, bis es Zeit für das abendliche Essen war. Erst als wir im matten Glimmen einer Leuchtsandkiste frisch geröstete Mockmockschuppen in süßes weißes Steinschmalz tunkten, verriet Mirmir beiläufig, zu wem wir unterwegs waren. Und unsere Gastgeber gaben als Wechselgabe ihrerseits kund, dass der Erkrankte trotz seiner Hinfälligkeit weiterhin uneingeschränkte Anerkennung genieße.

Als wir ihn am Abend des nächsten Tages im rötlichen Schein einer kostbaren Zündpechfackel vor Augen bekamen, lag er bereits auf der Bahre, die ihn nach oben schaffen sollte. Sein Beobachtertrupp, zwei Männer und drei Frauen, hatte unmittelbar vor unserem Eintreffen, einstimmig und gegen seinen Willen, entschieden, dass er die Leitung ihrer Arbeit aufgeben müsse. Er hingegen beteuerte mit schwacher Stimme, aber erstaunlich wortreich, er wolle unbedingt unten bleiben. Sie seien einem bestimmten Erkundungsziel so nah wie nie zuvor. Die Vorstellung, in der dünnen Luft der Oberwelt dahinzusiechen, während hier unten wichtige Entdeckungen gemacht würden, bedeute für ihn eine unerträgliche Schmach. Ich hatte unbedarft, wie ich damals war, Mühe, auch nur zu ahnen, was er meinte. Seine Kollegen sahen betreten zu Boden, solange er derart unwürdig offen zu uns schlichten Nothelfern sprach. Schließlich duldete der Alte, dass wir ihn untersuchten. Die Anzeichen für schweren Sonnenmangel sind stets gleich. In seinen Ellenbogenbeugen, in den Kniekehlen und im Nacken war die Haut handtellergroß in schleimiger Auflösung begriffen. Wir verbrauchten unsere ganze graue Salbe, um die wunden Flächen abzudecken.

Als er eingenickt war, weihten uns seine Mitbeobachter in weitere Fehlzustände ein. Er, der einst ein untrügliches Auge für die hauchdünnen Schleimspuren der Mockmock-Wanderung besessen habe, sehe inzwischen, schlaflos ins Dunkle starrend, Dinge, die auch in schönstem Zündpechfackelschein keiner von ihnen bestätigen könne. Dies war schlimm genug. Aber wir spürten zudem, dass sie, die in großer Tiefe Gesundgebliebenen, noch ärgere Hinweise auf die Fortgeschrittenheit der Erkrankung für sich behielten. Mirmir entschied, nachdem sie die entsprechende Sonnenhausbefugnis mit den üblichen Formeln bekräftigt hatte, er solle unverzüglich ins Licht hinaufgebracht werden.

Zwei der Mockmock-Beobachter begleiteten uns, damit wir uns an den Griffen der Tragbahre abwechseln konnten. Der Alte wurde gut festgegurtet. Kaum dass er wieder zu sich gekommen war und begriffen hatte, wohin es ging, versuchte er mit der ihm verbliebenen Kraft, sich zu befreien. Und als wir ihn nach einigen Stunden losbanden, damit er sein Wasser abschlagen konnte, nutzte er unser Beiseitetreten zu einem erstaunlich flinken Fluchtversuch. Aber schon nach ein paar Dutzend Schritten begann er zu taumeln. Seine Kollegen warfen ihn nieder, und von da an blieb er auf die Trage gebunden, von wo er uns anbettelte oder beschimpfte. Wir marschierten ohne Pause weiter. Als wir endlich den ersten Stollen erreichten, in den durch einen tiefen Spalt ein wenig Sonnenlicht fiel, schüttelte ihn bereits heftiges Fieber.

Während der ersten zwei Tage, die er dann auf dem wärmenden Altar lag, war nur Smosmo bei ihm. Wir hörten den alten Mockmock-Beobachter in einem fort reden. Es klang, als wollte er der Oberwelt alles, was er über den Gegenstand seiner Forschungen wusste, bis in die feinste Kriechspur des Mockmockfußes hinein erläutern, bevor ihm die Erinnerung versagte. Leider war seine Stimme zu leise, um verständlich bis in unseren Aufenthaltsraum hinüberzudringen. Als ich mich einmal, eine Schale mit Blausteinbröcklein und einen Mörser in den Händen, dicht an die Tür stellte, um vielleicht doch einen Satz zu erhaschen, zwinkerte mir Mirmir vom Tisch her zu. Sie hatte begriffen, dass ich zu lauschen versuchte, ich wiederum sah, welches Vergnügen ihr die kleine Einsicht bereitete, und der jähe Zauber unserer Komplizenschaft füllte den Raum bis in den letzten Winkel.

Auch heute, während mich die Barmherzige Schwester, in die sie sich verwandelt hat, arg gründlich prüfte, gab es einen Moment vergleichbarer Innigkeit. Ihr letztes Nachhaken, ihre Frage nach unserem Blick in das abgesprengte Glas, ließ mich ein Begehren spüren, das meiner einstigen Neugier an der Tür zum Altarraum verwandt schien. Sie war gerade aufgestanden und strich, zur Ostwand schauend, den Kittel wieder glatt über ihre in nur zwei Amtsjahren rätselhaft üppig gewordenen Hüften. Mir schenkte dies die Gelegenheit, ihr Gesicht im Profil zu betrachten. Aus den prallen Wangen unser Barmherzigen Schwester erhob sich Mirmirs Näschen. Es hatte, gleich ihren feingliedrig gebliebenen Händen, nicht an Fleischigkeit gewonnen, und ich verspürte, ermutigt durch die Gewissheit, dass sie mein unziemliches Hinschauen sehr wohl bemerkte, die unbändige Lust, ihr just diese Beobachtung mitzuteilen.

Natürlich schwieg ich. Auch wenn mich der Missbrauch, den ich mit den Heiligen Büchern treibe, in Gedanken schlimm hemmungslos macht, weiß ich weiterhin, was sich im Sprechen und Handeln vor den anderen gehört. Und die Angst, mich zu verraten, tut das Ihrige dazu. Dem alten Mockmock-Beobachter konnte auch Smosmo nicht mehr helfen. Zwar ließ die Kraft des orangen Warmsteins das Fieber zurückgehen, und die wunden Stellen an seinem Körper begannen abzuheilen. Aber sein Geist verwirrte sich zügig weiter. Smosmo gab auf, bei ihm zu wachen. Jetzt durfte auch ich im Wechsel mit den anderen Nothelfern am Altar sitzen, um dem fast unverständlich gewordenen Gemurmel zu lauschen. Nur wenn man ihn fütterte, stellte der hilflos Gewordene das Reden ein. Schließlich machte Smosmo dem Panik-Rat Meldung, und der schickte zwei grauhaarige Allesmacher, um ihn abzuholen.

Es ist unüblich, dass wir Nothelfer einen Unheilbaren bis an den Purpurspalt begleiten, aber damals hieß Smosmo mich und Mirmir mitgehen. Der Weg ist nicht weit. Wenn man vom Sonnenhaus Richtung Süden blickt, kann man bei nicht allzu diesigem Himmel gut sehen, wie sich das Licht in den feinen Schwaden bricht, die stetig aus dem Felsschlot steigen. Den Kindern ist verboten, dorthin zu gehen. Auch mich hatte meine Mutter früh gewarnt, die Dämpfe seien giftig. Doch irgendwann erfuhr ich von einem älteren Knaben, was es mit dem Purpurspalt genau auf sich hat, und teilte von da an die Scheu, die jeden Kundigen von dieser Stelle fernhält. Gleich mir war Mirmir nie zuvor dort gewesen. Die Allesmacher, die Schulter an Schulter die vierrädrige Karre zogen, schienen hingegen gut mit der Örtlichkeit und dem Ablauf der einschlägigen Arbeit vertraut.

Alles ging zügig und ohne Worte vonstatten. Vor dem Spalt, der nichts weiter ist als ein breiter Schlitz im ebenen Felsgrund, wendeten sie ihr Fahrzeug mit der Deichsel und manövrierten seine Rückseite über den Rand der Öffnung. Als sie die Ladefläche schräg stellten, indem sie das starre Zugholz hochstemmten, rutschte der alte Mockmock-Beobachter allein durch das Gewicht seines Körpers hinunter. Die nackten Füße fädelten sich in den Schlot, kurz hemmten die Falten, zu denen sich seine Hose in den Kniekehlen zusammengeschoben hatte, sein Gleiten, aber ein geschickt dosiertes Rütteln half darüber hinweg. Das magere Gesäß und der Rücken leisteten keinen Widerstand, die Arme klappten bereitwillig hoch, und die Hände des noch immer unaufhörlich Brabbelnden machten keine Anstalten, sich noch irgendwo festzuklammern.

Bis in diese Zeile habe ich kein einziges Mal darüber nachgedacht, warum mein Blick damals zwischen dem fast gemächlich wegtauchenden Leib und Mirmirs Gesicht hin und her zuckte. Nun aber, nachdem sie mich in ihrer heutigen Gestalt ins Gebet genommen hat, ist mir klar: Nie hat sie schöner für mich ausgesehen als damals. Und noch etwas muss ich Euch gestehen: Wir besitzen hier, in den oberirdischen Gebäuden und in den Kammern, die rundum in den lehmigen Grund gegraben sind, nirgends ein Stück Glas oder Metall, das nach Eurem hohen irdischen Maßstab die Bezeichnung Spiegel verdient. Meine Mutter, die Eure Spiegel wie wir alle nur aus einer kleinen Geschichte kennt, die das Große Palaver überliefert, hat diesen Mangel, wenn sie ihr Haar über einer Fliese aus poliertem Glanzstein richtete, oft mit wenigen dürftigen Worten bedauert. Auch die hochrespektable Barmherzige Schwester, zu der Mirmir geworden ist, könnte der Vagheit dieser Klage vermutlich nichts Wesentliches hinzufügen. Allein ich, der heimlich alle sechsundfünfzig Heiligen Bücher studiert hat, wäre heute Nachmittag, bevor sich der wuchtige Leib, in dem sich meine einstige Mirmir verborgen hält, hinausschob, in der Lage gewesen, auswendig eine längere Passage zu zitieren, die einiges mehr, die staunenswert viel über die Freuden und Schrecken erzählt, die ein irdischer Spiegel, ein Spiegel aus geschliffenem, auf der Rückseite mit Aluminium behauchtem Glas, zu spenden vermag.

Vierte Schreibnacht

Es ist ein Segen, dass unsere Kleinen nur ganz selten den Beistand des Sonnenhauses brauchen. Kopfschüttelnd, erneut von banger Verwunderung erfüllt, habe ich eben im vierzehnten Buch nachgelesen, wie anders es sich bei Euch verhält. Seit Smosmo mich zum Nothelfer berufen hat, musste ich heute erst zum zweiten Mal Hand an ein Kind legen. Das erste Mal hatte ein Junge am Werktisch des Kugelhauses zu heftig mit dem kleinsten Steinhammer ausgeholt und sich eine Schramme in die Stirn geschlagen.

Vielleicht liegt die Wohlbehaltenheit unserer Knaben und Mädchen daran, dass sie nie allein gelassen werden und daher auch nirgends auf eigene Faust umherstreifen. Schon wenige Tage nach der Geburt nimmt die Mutter ihr Kind im Tragetuch mit in den Dienst. Mit einer eigentümlichen Überschärfe glaube ich, mich daran zu erinnern, wie ich als Säugling aus wohligem Schlaf zu mir kam und über den grobfasrigen Rand eines solchen Tuchs auf die arbeitenden, auf die mit einem schmalen Spaten behutsam grabenden Hände meiner Mutter lugte.

Bis in den Beginn ihres Sterbens hinein war sie als Altfinderin tätig, und bevor ich in meine eigene Arbeit bestellt wurde, war ich nachmittags, sobald der Unterricht vorbei war, ihr kindlicher, dann jugendlicher Gehilfe. Noch heute gerate ich regelmäßig in Versuchung, ausführlich vom Tun meiner Mutter zu berichten. Toctoc, der mir seit Mirmirs Erhöhung der Liebste unter meinen Kollegen ist, musste schon manchen Ausbruch dieser Art erdulden. Vorgestern, als wir auf dem Rückweg von den Glasmachern waren, gerieten wir zwangsläufig erneut in die unmittelbare Nähe der Grauen Gruben. Und weil nun meine Hände den Doppelroller steuerten, konnte ich unser Fahrzeug an den Rand der Lavabahn lenken. Gemeinsam schauten wir in die aufgegebene, weil restlos ausgebeutete Fundstätte hinunter, und es schmerzte mich, Toctoc nicht sagen zu dürfen, dass diese weite, von Grabungslöchern übersäte Kuhle, wenn es bei uns nach Euren Bräuchen ginge, den Namen meiner Mutter tragen müsste.

Wieder und wieder habe ich mir als kleiner Junge bis in die schönste Einzelheit erzählen lassen, auf welche Weise sie das Verschüttete entdeckte. Alles war tief unter kleinteiligem Geröll und grauem Staub begraben, keines der üblichen Zeichen, kein Buckel, keine Mulde, nicht das Aufblitzen eines einzigen winzigen Metallsplitters wies auf den verborgenen Schatz hin. Meine Mutter griff sich, wenn sie mit der verlangten Geschichte begann, stets mit beiden Händen an die Schläfen, um mir erneut vorzumachen, wie sie damals ihre Staubschutzbrille abgenommen hatte, um deren Gläser sauber zu pusten. Es dunkelte bereits. Zusammen mit einem erfahrenen Kollegen war sie auf dem Rückweg in die Kolonie. Ergebnislos hatten sie an einer anderen Stelle harten Boden großflächig aufgehackt und knietief abgetragen, weil vorbeikommenden Allesmachern das Beieinander einiger Steinbrocken verheißungsvoll unnatürlich vorgekommen war. Die Findung von Altgut zehrt von solchen Hinweisen. Die dickköpfigen Brüder haben als kleine Buben, an den Händen ihrer Mutter zur Arbeit tapsend und ins Gelände glotzend, gleich dreimal schöne, nur handhoch mit Sand bedeckte Blechstücke in unmittelbarer Nähe der Kolonie entdeckt.

Auch dem Blick meiner Mutter war dereinst, begünstigt vom flach einfallenden Licht unserer im Niedergang befangenen Sonne, das Muster des Sandes aufgefallen. Auf einem schmalen Streifen kräuselte er sich in feinen Wellenlinien. Und ohne groß zu überlegen, hatten sie und ihr Begleiter, der in ihrem Bericht stets namenlos blieb, die Schaufeln von den Schultern genommen und noch einmal zu graben begonnen. Bis heute liebe ich den Moment am meisten, an dem sich meine Mutter dem Rat ihres Kollegen widersetzt. Stets bat ich sie, wortwörtlich zu wiederholen, wie sie ihm damals sagte, sie sei entschlossen weiterzuwühlen, bis das letzte Steinschmalz in ihrer Lampe verbrutzelt sei. Noch heute, vielleicht für immer, verachte ich ihren Begleiter dafür, dass er auf der Geltung des Nachtgrabverbots beharrte, seine Lämpchen aufnahm und sie in halbem Licht alleine zurückließ.

Mit ernsten Worten hat mich meine Mutter regelmäßig darauf hingewiesen, dass ihr damaliges Verhalten alles andere als nachahmenswert sei und ihr bloß die elende Lage der damaligen Altfinderei schlimmen Ärger erspart habe. Seit über einem Jahr war keine einzige Fundstätte mehr aufgetan worden. Der Panik-Rat erwog bereits, die Hälfte der Altfinder als schlichte Allesmacher in den Dienst der Mockmock-Beobachter zu stellen und damit unter Tage zu verbannen. Meine Mutter versicherte mir, sie, die freche Nachtgräberin, hätte als Erste den Weg ins Sonnenlose genommen, wenn ihre Schaufel nicht plötzlich auf einen verheißungsvollen Widerstand gestoßen wäre.

Vorgestern, als Toctoc und ich, gestützt auf die Lenker unseres Doppelrollers, in die Grauen Gruben hinüberblickten, war hellichter Nachmittag. Toctoc hörte geduldig zu. Aber ich kann natürlich nicht wissen, ob meine Worte ihn hinreichend beflügelten, ob seine Vorstellung die unbotmäßig hartnäckige, die frevelhaft kühne Altfinderin so anrührend, wie ich es mir wünsche, auf die Knie sinken ließ. Mir hat sie stets erzählt, der bloße Klang, ein nie gehörtes, hohles Tönen, habe sie tief erschreckt und sie ihr Grabwerkzeug beiseitelegen lassen. Erst als der Lampendocht zischelnd mit dem Erlöschen kämpfte, wagte sie, mit ihren Fingerspitzen den Sand von der Rundung zu streichen, an die das Blech der Schaufel gepocht hatte. Die feinen Fasern, die sie dabei mehr spürte denn sah, wurden von ihr sogleich für Haare, für menschliches Haupthaar, gehalten. Mit ihrem Altfindermesser kappte sie eine Strähne und trug sie als Beweis durch die um sich greifende Nacht, durch den schwachen Schein, den der kleinere unserer beiden Monde durch die Wolken sandte, hinüber in die Kolonie.

Noch vor Morgengrauen trat der Panik-Rat zusammen. Und während der ganzen ersten Grabungswoche war der Ratsvorsitzende, den wir den Bleiber nennen, bei den Arbeiten anwesend. Unsere Kolonie ist zu klein, um eine große Neuigkeit geheim zu halten. Bevor die Sonne ihren höchsten Stand erreichte, wusste fast jeder, der oberirdisch tätig war, Bescheid. Allein die Gegenwart des Bleibers, der in seinem von Kupferdraht durchwobenen Sitzungsgewand auf einen dicken Felsbrocken geklettert war, verhinderte, dass die Fundstätte von den Neugierigen gestürmt wurde. So weit das Große Palaver zurückreicht, niemals waren größere Überreste eines unserer Ahnen gefunden worden. Das Wenige, was man an Knochenähnlichem ausgegraben hatte, war stets so kleinteilig gewesen, dass es den gemeinsamen Ratschlag des erfahrensten Altfinders und der Barmherzigen Schwester brauchte, um die fragwürdigen Splitter in den Rang uranfänglicher Körperlichkeit zu erheben. Das Kistchen, das diese bescheidenen Stücke beherbergt, ist bis heute gerade mal drei Viertel voll. Seit der Entdeckung meiner Mutter ist nur die halbe Pfanne eines recht kleinen, wahrscheinlich jugendlichen Schultergelenks hinzugekommen.

Dem damaligen Bleiber half in der großen Krise der ersten Tage, dass er gleich dreimal hintereinander in dieses Amt berufen worden war. Der Panik-Rat wird jedes Jahr frisch zusammengestellt. Neun der zehn Amtsinhaber beruft das Trommelorakel aus allen, die mindestens hundert graue oder weiße Haare auf ihrem Kopf vorweisen können. Bevor der alte Rat auseinandergeht, bestimmt er in geheimer Wahl den Bleiber, diejenige Ratsperson, in der sich die lückenlose Fortdauer der Einrichtung verkörpert. Der Bleiber sitzt dann den neuen, durch das Orakel gefundenen Räten vor, und seine Stimme gibt im Fall einer unentschieden endenden Abstimmung den Ausschlag.

Meine Mutter genoss es stets aufs Neue, mir und sich auszumalen, wie hart dem damaligen Bleiber das Ausharren auf dem Felsbrocken geworden war. Das schwere, die Sonnenstrahlung aufsaugende Ehrengewand brachte ihn mächtig ins Schwitzen, und weil er nicht mehr der Jüngste war, wurde ihm das unbewegte Stehen nach und nach zu einer rechten Qual. Aber allein seine aufrechte Anwesenheit hielt die Neugierigen auf Abstand. Damals sei ihr klar geworden, dass der Name Panik-Rat sich in der Tat auf die Wahrscheinlichkeit eines allgemeinen Außer-Rand-und-Band-Geratens beziehe. Denn sobald sich der hochehrwürdige, dreimal auserwählte Ratsvorsitzende auch nur kurz, um die schmerzenden Beine zu entlasten, auf den Felsen setzte, gerieten die Wartenden in Unruhe. Wie er sich ein einziges Mal anschickte, von seinem Posten herabzuklettern, rückte die erste Reihe, fast ausschließlich Allesmacher und größere Knaben, sogleich bedrohlich näher. Von hinten flogen plötzlich Steine in die Grabungsstätte. Einer der Altfinder wurde am Kopf verletzt. Und erst als der Bleiber wieder aufrecht stand und beide Arme hob, wichen die Aufgeregten an die befohlene, mit Glanzsteinbrocken deutlich markierte Bannlinie zurück.