Schund & Segen - Georg Klein - E-Book

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Georg Klein

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Beschreibung

«Kaum einer der gegenwärtigen Literaten kann echt und falsch, Kunst und Kalkül so klar und feinsinnig unterscheiden wie Georg Klein. Alles, was er schreibt, schreibt er im Bewusstsein seiner vielfachen Vermitteltheit. Jede seiner Phantasien ist durch die Sprache, durch die Genres, nicht zuletzt durch seine Menschlichkeit und Erfahrung gegangen, bevor er sein erstaunliches Werkzeug ansetzt.» Ina Hartwig in ihrer Laudatio zum Niedersächsischen Staatspreis 2012

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Seitenzahl: 427

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Georg Klein

Schund & Segen

Siebenundsiebzig abverlangte Texte

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Anmerkung1 Die göttliche Gewalt des GemachtenNimbus und StreichholzheftchenSimulation des FleischesDie großen Kinderaugen des Pop«Du bist Gott!»Die göttliche Gewalt des GemachtenGroßes Gegrusel mit GottTotenkult und LiebesdienstIm Krieg der WeltenDein Kunstding sirrt!2 Die ganze Zartheit unserer ZeitDer kalte GeniusZiegenhonigmilchReite den geilen Papageien!Memo for JaggerIm Taktschlag der GelegenheitenAbgrund des AbbildmachensDie Natter der Gier, gebändigtDer melancholische MechanikerEin Mann nach seinem GeschmackDie ganze Zartheit unserer ZeitIn den Gehäusen der Zukunft3 Das große grüne GrauenDas große grüne GrauenDie Tücke des GärtnersGliederfüßler lächeln uns anDer Luxus dieser wunderbaren WanzensacheDer Feind, der ehrtDas grosse Mammut ist tot!Der Stamm stirbt nieEiskalte Ausgeburt der ModernePanzerkreuzer KlontechnikDie Vergesslichkeit der WissenschaftDer Gott der HühnerDer böse ClownDas fremde himmlische Kind4 Die ewige SchweizWas man zum Leben brauchtDie ewige SchweizDie Sehnsucht der AnderenDie blanken AugenBlumen für HitlerDer Pomp des LabilenNur quakende Stimmen im NichtsBang am Herzen des Grossen BrudersDas englische ExilEigentümer eines freien Herzens5 Gipstrommel und BlechorakelDie Stimmen der fernen TotenBrief vom ZuckiGipstrommel und BlechorakelDie Geister der geliehenen TotenDas TraditionstrümmerbauwerkDie Bosheit der TotenDer Tod ist irgendwie geil, oder?Vom Schminken der MaskeDer Segen souveräner FluchtGegenwartsdankbar6 Schmerz und EhreDas Bastardgeschlecht der AmateureDer entfesselte HeldGrimmig unter EingeweihtenDie Güte des AnthropophagenVerklärung unseliger ArbeitSchwarzer Blitz GerechtigkeitAll-Zeit des HeldenAnmut und Mut der JugendAmokIn den Vorzimmern des TodesDer Kaiser schickt seine Lakaien hinaus!7 Bebend vor SchönheitDas Auge des PolyphemGeheimagent im Pantheon der Poesie«Ein gantz unverstaendliche sprach»Bebend vor SchönheitFriseur der maskulinen LüsternheitenDie Ökonomie der PhantasieHammer und HohlspiegelHerz und ZungeDas Kleid unserer SpracheTod zu Lebzeiten«Die schlechte Versternung des Himmels!»Was macht das Leben lebenswert?Namenregister
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Anmerkung des Verfassers

Jeder der in den folgenden Kapiteln versammelten Texte ist einem Zeitgenossen geschuldet. Denn keines dieser Stücke wäre entstanden, wenn ihr Verfasser nicht telefonisch oder per E-Mail aufgefordert worden wäre, zu einem Anlass, über ein Thema oder über ein Buch zu schreiben.

Dass einem derart etwas abverlangt wird und umgehend einen guten öffentlichen Ort findet, bedeutet ein Privileg. Der Autor dankt daher denen, die an ihn dachten, ihn inspirierten und dann ohne Einschränkung denken und schreiben ließen. Die Mehrzahl der so entstandenen Texte, all diejenigen publizistischen Arbeiten, die nicht in diesen Auswahlband finden durften, muss er hingegen um Verzeihung bitten.

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1 Die göttliche Gewalt des Gemachten

Nimbus und Streichholzheftchen

Das unbewegte bildnerische Werk von David Lynch

Im schmucken Brühl bei Köln, in den noblen Ausstellungsräumen des dortigen Max-Ernst-Museums, hilft es, sich den großen David Lynch als einen Gescheiterten vorzustellen: Dann wäre dieser 63-jährige Amerikaner nur einer der zahllosen Künstler, die es an die Peripherie der Aufmerksamkeit, in das endlos weite Wasteland der modernen Bildproduktion verschlagen hätte. Lynch säße in irgendeinem kalifornischen American Diner, rauchend und kaffeetrinkend, und kritzelte mit einem Fineliner auf die Innenseiten eines leergerissenen Streichholzheftchens – einer, der mit dem Bildermachen nicht aufhören kann, obschon sogar in den Augen der nachschenkenden Kellnerin jene Mischung aus Geringschätzung und Mitleid blinkt, die unweigerlich denjenigen Künstler trifft, der sich keinen Anteil am Superfetisch der Moderne, am monetären Erfolg, sichern konnte.

Besagte Streichholzheftchen finden sich in dieser ersten großen Schau, die Lynch seinen deutschen Verehrern als Maler, Zeichner, Drucker und Fotografen vorstellt. Die kleinen Papp-Rechtecke liegen feinsäuberlich aufgereiht unter Glas, und der Katalog reproduziert sie in exzellenter Qualität, fast schärfer als echt; über den vernutzten Reibflächen, den winzigen Heftklammern, über jedem Kaffeefleck scheint sich der Nimbus der Bedeutsamkeit zu ballen: Ein echter Lynch! Schon kann man sich in das Ambiente der Entstehung den Fan dazu phantasieren, der am Nachbartisch recht scheinheilig seinen Milchshake schlürft und darauf lauert, dass der Meister das akute Streichholzheft und damit das Bild der gerade in dieser Winzigkeit magischen Theaterbühne, das darauf gestrichelt ist, doch ausnahmsweise liegen lassen möge.

Die klug gebaute Ausstellung positioniert diese Miniaturen nur wenige Schritte entfernt von ihrem größten Objekt. Eine Buntstiftzeichnung Lynchs wurde in die dritte Dimension gebracht: übermannshohe Stellwände, Teppichboden und zwei Polstermöbelattrappen. Ein Zimmer, aus dem sich zwei Durchgänge in einen weiteren Raum öffnen. Auf Knopfdruck lässt sich ein diffus dröhnender Sound zuschalten. Zwangsläufig stellt sich die Assoziation ein, dass es derart gemusterte Stoffe und Tapeten wie die akustische Untermalung auch in Lynchs Filmen gibt. Die legendären Filmsets und die gezeigte Installation verbindet zudem ihre theatralisch überdeutliche, fast prätentiöse Gemachtheit. Aber während im Film die Kamerabewegung, die Präsenz der Schauspieler und die Einbettung in Handlung unsere Wahrnehmung zu der einzigartigen Raumillusion steigern, für die Lynch berühmt ist, dominiert nun das Attrappenhafte. Die Künstlichkeit bleibt unerlöst. Es ist, als ginge man durch eine stillstehende, ihrer Schreckfiguren beraubte Geisterbahn, deren Betreiber versehentlich vergessen hat, die Musik abzuschalten.

Dies ist nicht ohne Reiz. David Lynch hat in seinen Dankesworten am Eröffnungstag die hier aufklaffende Wirkdifferenz in das Begriffspaar «great» und «interesting» gefasst. Es erweist sich in der Tat als zumindest interessante Erfahrung, mit eigenen Füßen durch etwas zu tapsen, was einen, Blick auf Blick, Schritt für Schritt, in hintergehbarer Kulissenhaftigkeit und flachem Dekor zwingend an großartige Kunsterfahrung erinnert. Das überwältigend Artifizielle rückt in die Nähe des Gebastelten. Man ahnt, warum sich Lynch, in Anspielung auf einen früheren Gelderwerb, noch immer einen «shed builder», einen Schuppenbauer nennt und am liebsten alles, was für seine Filme errichtet werden muss, eigenhändig aus Holz zusammenhämmern würde.

Unmittelbar überraschend ergreifen den Besucher hingegen die großformatigen Bilder. Erst ein dichtes Herantreten offenbart die Mischtechnik, in der sie hergestellt sind: Fotoprints, Übermalung, Applikation von Gegenständen und Stoffen, dazu verspachtelte, nicht eindeutig identifizierbare, brei- oder schaumartig aufgetragene Substanzen. Dennoch führte es in die Irre, sie als Collagen oder Patchwork zu bezeichnen. Die Bilder erweisen sich, nimmt man den nötigen Abstand ein, als im herkömmlichen Sinne vollgültige Gemälde, die eine einzelne suggestiv realistische Figur in das Kraftfeld eines ebenso wirkmächtig illusionären Raumes betten. Die verwendeten Verfahren dienen nicht dem Bruch, sondern offensichtlich der Verstärkung der Illusion. Als Ganzes wirken diese Tableaus gemalt: Nicht nur ihre Schönheit und Grausamkeit, auch der Glaube an die Technik, die sie evoziert, liegt also letztlich im Auge des Betrachters.

«This man was shot 0.9502 seconds ago» erfasst wie ein Foto mit extrem kurzer Belichtungszeit den Augenblick, in dem eine Kugel die Brust eines Mannes zerreißt. Es ist ein Jedermann. Was seine bis auf Kopf, Hände und Wunde unsichtbar bleibende Haut bedeckt, stammt dinglich real aus der Massenproduktion unserer Tage. Seine Digitaluhr ist gleich Hose und Gürtel vielleicht noch kurz vor Entstehung des Bildes am Fleisch eines unserer Zeitgenossen gehangen. Das Handy, das aus der Tasche des ebenfalls aufgeklebten Sakkos ragt, hat vermutlich tausendundeinmal für ein real existierendes amerikanisches Ohr gepiept. Der rohe Materialismus erreicht seinen Höhepunkt aber nicht in den identifizierbaren, transparent lackierten Textilien oder im unbearbeitet applizierten Gerät, sondern an einer wirklich stupenden Stelle: Aus der blutspritzenden Wunde, aus dem tödlich getroffenen Herzen windet sich die entweichende Seele des Sterbenden!

Ein weißer Pfeil weist auf das, was da den Körper verlässt, und wie in einem Schau- oder Lehrbild wird es durch das Wort «spirit» benannt. Man könnte dies für einen boshaft flachen Scherz halten, besäße der entfliehende Geist nicht selbst eine bestürzend eigentümliche Körperlichkeit. Was sich anschickt, den Leib zu überdauern, ist ein wurmförmiges, plastilinhaftes Gebilde von schwer bestimmbarer halb organischer, halb technoider Struktur. Im Augenblick seiner Erlösung offenbart sich der Geist in seiner vielleicht schrecklichsten Gestalt: als Textur, als gewebeartige Abstraktion des Prinzips Leben. Dies gilt es auszuhalten; dann vermögen das unbewegte Tableau und das Auge eines entsprechend standhaften Betrachters zusammen etwas anderes, im Idealfall sogar mehr als der Bildfluss der Filmrezeption.

Natürlich wird man Lynchs Filme beim Gang durch die Ausstellung allein in solch glücklichen Momenten der Bildversenkung los. Umgekehrt ist es viel leichter, die Erinnerung an große Filmsequenzen sogleich gegen das eine oder andere schwächere Akt- oder Industrieanlagen-Foto, die eine oder andere weniger intensive Lithographie auszuspielen. Auch der treuste Fan trägt in einem klammen Seelenwinkel den kleinlichen Wunsch, den bewunderten Meister bei etwas zu ertappen, was bloß das serielle Arbeitsergebnis eines fleißigen Handwerkers darstellt. Lynch ist zweifellos ein manischer Arbeiter und hat gewiss weit mehr Zeit vor Leinwänden als an Drehorten verbracht. Werner Spies, der die Ausstellung kuratiert, kann erzählen, wie viel der Künstler über die Jahre in seinen kalifornischen Schubladen angesammelt hat und wie wenig davon bisher den Weg in die Öffentlichkeit fand.

Die Werke, die in Brühl gezeigt werden, sind eine heterogene Auswahl, aber gerade in ihrer schwankenden Qualität bilden sie einen trefflichen Prüfstein für das Gemüt desjenigen, der ihnen als naiver oder skeptischer Bewunderer von David Lynch entgegentritt: Wie trächtig ist der Nimbus, der sich über drei Jahrzehnte hinweg wie eine langsam schwellende Regenwolke in unseren Köpfen gebildet hat, sobald wir vor einem Lynch-Bild innehalten müssen? Wie tief reicht die Wurzel dessen in unsere Seele, was unseren nervösen Geist als sausendes Zelluloid mehr als einmal in einen eigentümlich analogen Fluss gebannt hat? Erfahren wir diese Kult gewordene Kunst noch? Oder sind wir bloß endgültig benommen vom Geltungsrumor der Kunstbetriebe, betrunken und verkatert zugleich, und halten die Gegenwart der Bilder, die wir rühmen, wenn sie in Rahmen ernstlich stillstehen, nicht die unbedingt nötige Weile aus?

 

(Geschrieben für die Süddeutsche Zeitung, November 2009)

Simulation des Fleisches

William Gibsons Roman-Trilogie «Neuromancer»

Wozu sind all die Maschinen, diejenigen, die wir bereits besitzen, und diejenigen, von denen wir noch träumen, letzten Endes gut? Das erste Gerät, das in William Gibsons legendärem Science Fiction-Roman «Neuromancer» beschrieben wird, ist der künstliche Arm eines Barkeepers: «Es war eine russische Militärprothese, ein Greifer mit sieben Funktionen, rückkopplungsgesteuert und eingegossen in schmuddeliges, pinkfarbenes Plastik.»

Gemessen an dem, was künstliche Gliedmaßen gegenwärtig leisten können, ist der falsche Arm, den Gibson seinen Lesern im Jahre 1984 als zukünftig vorstellt, weiterhin von einer beeindruckend futuristischen Brauchbarkeit. Seine literarische Wirkung ergibt sich allerdings vor allem aus einem erzählerischen Trick: Das maschinelle Körperteil wird in dem Augenblick, in dem die Handlung einsetzt, als ein Oldtimer der «Bioelektronik», als ein antiquiertes Überbleibsel vergangener Zeiten präsentiert.

Wir befinden uns in Chiba City, einer Stadt an der Bucht von Tokyo, Hochburg der globalen Neurochirurgie. Ein junger Amerikaner ist nach Japan gekommen, weil die Kliniken von Chiba seine letzte Hoffnung bedeuten. Sein ehemaliger Arbeitgeber, ein großer Konzern, hat sein Nervensystem mit einem «russischen Mykotoxin aus Kriegszeiten» so geschädigt, dass er, der einstige «Supercowboy des Cyberspace», sich nicht mehr die Elektroden seines «Cyberspace-Decks» an die Stirn heften und über dieses Gerät in die virtuellen Weiten der «Matrix» hinaussurfen kann.

Was ist der Cyberspace? In welchen hochwichtigen, hypnotisch wirkmächtigen und süchtig machenden künstlichen Raum will dieser Mann um jeden Preis zurück? Und warum ist der Leser im Folgenden volle tausend Seiten lang bereit, an den Cyberspace und seine logische Struktur, die sogenannte Matrix, zu glauben? Als William Gibson sein erstes Buch «Neuromancer» in eine Hermes 2000, eine kleine mechanische Reiseschreibmaschine, hämmerte, existierte das Internet erst in einer Frühform, dem elitären Wissenschaftsnetz Arpanet. Die Vorläufer der heutigen PCs waren noch recht klobige, voneinander isolierte Heimrechner für Schreibarbeiten, simple Spiele oder einfache graphische Darstellungen. Dieses bescheidene empirische Sprungbrett, den technologischen Standard der frühen 80er des vorigen Jahrhunderts, nutzt der Romancier Gibson zu einer Vision, die bis heute nichts von ihrer Faszination eingebüßt hat. Und er schafft dies, ohne dass seine Phantasie ins technische Detail gehen muss. Obskure Kästen, in denen irgendwelche «Chips» arbeiten, und bedeutungsträchtige Namen wie «Ono-Sendai Cyberspace 7, der teuerste Hosaka-Computer des nächsten Jahres», reichen ihm meist aus, um die Pforte, die magische Schleuse, in den virtuellen Raum zu markieren. Denn nicht die spezielle Bauart, das benennbar Mechanische, Elektronische oder Biotechnologische der Geräte, auf die wir zusteuern, sind in diesem Roman das Wesentliche. Entscheidend ist vielmehr das, wovon sie uns erlösen sollen. Der Motor der «technologischen Evolution» ist kein utopisches «Dorthin!», sondern ein inständiges «Bloß weg von hier!».

Der Ort, den es um alles in der Welt zu verlassen gilt, ist der individuelle Leib, mit dessen Sensorium man auch im Zeitalter des Cyberspace geboren wird und dessen Freuden und Gebrechen weiterhin jeden Menschen durch sein Leben begleiten. Ausschließlich «Gefangener seines Fleisches» zu sein, erscheint dem jungen Cyberspace-Cowboy des Romananfangs ein schreckliches Schicksal. Aber schon bald wird er einen Schrecken kennenlernen, der der Gefangenschaft im Körper seltsam spiegelbildlich gegenübersteht. In die Matrix zurückgekehrt, trifft er auf einen legendären Cyberspace-Pionier. Dessen Persönlichkeit wurde nach dem Hirntod in einen Rechner übertragen, und erst dort begreift der erfahrene Weltenpendler, dass er nun für immer – das heißt: bis man ihn «abschaltet» – ohne Physis auskommen muss.

Dem Leser begegnet im Folgenden eine ganze Serie von Gestalten, die das Feld zwischen diesen existenziellen Polen bewohnen. So liegt der Körper eines reichen Kunstsammlers unheilbar krebskrank in einer Nährlösung, während sein Geist durch ein virtuelles Barcelona wandelt. Und im letzten Roman-Teil «Mona Lisa Overdrive» gebiert die Matrix aus sich die alten Voodoo-Götter, die telepathisch auf ein biotechnisch manipuliertes Medium in der Echtwelt zugreifen können. Spätestens hiermit ist endgültig klar, dass es in diesem Science Fiction-Wälzer um Religion geht.

«Das Fleisch, das spricht», also der Mensch, liegt in einem merkwürdigen Hader mit dem, was er als sein Eigenstes erkennt. Sosehr es seinen Scharfsinn auch in die Pflicht nimmt, das Gehirn kommt nicht umhin, sich einzugestehen, dass auch seine schönsten Neuronenblitze leibliche Phänomene sind. Und die «Evolution der Maschinenintelligenz», die rasante Verbesserung der Maschinen in der Moderne, weiß sich zuletzt nichts Besseres, als den Leib, aus dessen Kerker sie wegwill, in einem technologisch generierten Raum erneut zu repräsentieren. Gibsons Helden, fanatische Computer-Freaks, Cyberspace-Junkies und mikrochirurgisch verbesserte Cyborgs, müssen erkennen, dass der grandios hochgewölbte Regenbogen der Technikentwicklung schließlich dort wieder Fuß fasst, wo einst die Religion und nach ihr die Kunst ihren Ausgang genommen haben: in der schmerzensreichen, aber auch lustvollen Selbsterfahrung des Fleisches.

 

(Geschrieben für die Neue Zürcher Zeitung, Mai 2007)

Die großen Kinderaugen des Pop

Michael Jackson versteht es, im rechten Moment zu sterben

Längst ging sein Bild seinem Werk voraus. Selbst wer sich niemals auch nur eine einzige Songzeile aus Michael Jacksons Kehle mit Herz und Verstand angehört hat, wusste, dass es diesen Sänger gab. Genau dies hob ihn aus dem Meer der Bekanntheit in den Himmel des Ruhms. Er war ein Star, weil sein Bild immer schon da war. Wie eine riesige Rückprojektion erwartete es den Künstler, sobald er ansetzte, mit einer neuen Platte, mit einem neuen Videoclip oder mit einer neuen Show auf die Bühne des Augenblicks zu springen.

Es ist müßig zu fragen, ob Michael Jackson hierüber nachgedacht hat. Er muss kein großer Grübler gewesen sein, um die Gewalt dieses Umstands zu spüren. Die Art, wie er über mehr als drei Jahrzehnte die Wucht, die beschleunigende Gewalt seines eigenen Bildes, erfuhr, war zweifellos total. Wie keine zweite steht Jacksons Karriere dafür, dass körperliche Präsenz und medialer Anschub am Ende des 20. Jahrhunderts eine neuartige Allianz eingingen.

Jackson war schon als Kind ein Performer. In zahllosen Tournee-Auftritten schickte ihn sein Vater, der auch sein erster Manager war, vor die älteren Geschwister hin an den Rand der Rampe. Abend für Abend galt es, die mehr oder minder geneigte Aufmerksamkeit der Gekommenen mit Präsenz und Können zu verführen. Stets hieß es, jene Sphäre zu erreichen, in der die Faszination des Publikums mit der Darbietungslust des Künstlers zu einem besonderen Stoff verschmilzt. Charisma ist ein synthetisches Gas, das den, der es inhaliert, vergessen macht, wie er an seiner Synthese beteiligt ist. In den frühen Filmdokumenten, die Michael Jackson noch als Mitglied seiner Familienband The Jackson Five zeigen, flammt dieser Wechselzauber in den Augen des Halbwüchsigen auf. Dieser Knabe hört zweifellos selbst, wie hinreißend gut er singt. Zugleich spürt er mit Haut und Haar, wie anschwellend lustvoll, zuletzt enthusiastisch ihm die Anwesenden Auge und Ohr schenken.

Die serielle Tortur der Tourneen gewährte zudem noch eine spezielle Gnade: Die Bilder jedes Abends begannen bereits mit der letzten Zugabe zu erlöschen. Erst das Fernsehen brachte eine mediale Abformung des Auftritts ins Spiel, die auf einer eigenen Präsenz und einer spezifischen Dauer beharrt. Das Fernsehen sagt immer auch: «Dieses Ereignis ist nicht bloß passiert. Mindestens genau so wichtig ist, dass sein Bild nun auf Millionen Mattscheiben hinausgeht!» Das Magnetband, dessen digitale Kopien uns bis heute den zwölfjährigen Jackson bei der ersten TV-Darbietung des Welthits «ABC» zeigen, verrät bereits viel über den eigentümlichen Charakter dieser Doppelung. Dem kleinen Michael ist der energetische Brückenschlag hinüber zu einem Live-Publikum zweifellos längst ins Blut übergegangen. Er wirkt hinreißend kraftvoll, dazu bezaubernd unbefangen, auch wenn diese Anmut nicht ganz frei von Routine sein mag. Zugleich aber lässt er den Blick immer wieder blitzschnell zur Seite gleiten. Offenbar suchen seine Kinderaugen die Kamera, deren Zugriff er spürt. Singend und tanzend beginnt er, in wohl noch halbnaiver Anverwandlung, die Sog- und Strahlkraft des Bildmediums für die Wirkung des eigenen Auftritts zu nutzen.

Der Jüngling, den wir, ein Jahrzehnt später, zu den Mega-Hits der frühen 80er Jahre tanzen sehen, hat dann bereits den entscheidenden und zweifellos bewussten Schritt ins totale Bild getan. Jacksons Aufstieg zum internationalen Star ist dabei nicht vom Siegeszug des Video-Clips und dem Erfolg der neuen Fernsehsender, deren Programm fast ausschließlich aus Clips bestand, zu trennen. Jackson gibt eine doppelte Antwort auf das neue Format und auf den neuartigen ästhetischen Erfahrungsraum, den es dem Pop-Fan eröffnet. Zum einen reagiert er mit einer atemberaubenden Perfektionierung seines Tanzes. Wie sein geschulter Körper die Choreographie zum zwingend überzeugenden Bestandteil des nun stets auch visuell präsentierten Songs macht, ist bahnbrechend. Michael Jackson setzt in diesem Medium durch, dass man ein Lied auch tanzen kann. Und wer wissen will, wie neu das 1980 gewesen ist, muss sich bloß die Clips anderer Interpreten aus dieser Zeit ansehen. Nur Frisuren werden vielleicht noch schneller lächerlich als der Hüftschwung und die Tanzschritte vergangener Jahrzehnte. Michael Jacksons Tanz überzeugt dagegen bis heute durch eine unheimliche Präzision der Einzelbewegung, durch eine Künstlichkeit, die den Körper zum fast roboterhaft gehorsamen Agenten von Rhythmus und Emotion macht. Bis heute brauchen auch tänzerisch begabte Sängerinnen und Sänger alle Tricks der digitalen Schnitttechnik, um eine auch nur halbwegs ähnliche Dynamik und Intensität des Ausdrucks zu erreichen.

In seiner tänzerischen Brillanz scheint Jackson auf den ersten Blick ein Bühnenkünstler alter Art zu sein. Schließlich vertraut er weiterhin auf sein leibliches Vermögen, auf Musikalität und erworbene Technik, auch wenn die Studioarbeit viele Wiederholungen und den beliebigen Zusammenschnitt der besten Sequenzen und Momente erlaubt. Und während seiner zahllosen Tournee-Auftritte war er tatsächlich wie früher auf die Gunst des gelingenden Augenblicks angewiesen. Aber seine zweite Antwort auf die schnell dominierende Clip-Kultur verrät, wie sehr es dem jungen Mann bereits um 1980 um das millionenfach vervielfältigte und technologisch dauerhafte Bild geht. Mit Hilfe kosmetischer Operationen verwandelte er sein lustig pausbäckiges Bubengesicht in das starre, zwischen wenigen markanten Ausdrücken hin und her zuckende Antlitz einer Ikone. Jacksons Gesicht tanzt auf unverwechselbare Weise mit. Aber es hat alles gleitend Weiche und das sympathisch Unbestimmte dem strengen Spiel der Virtuosität geopfert. Jacksons neues Gesicht, das Gesicht des Stars, unterstreicht die hochdifferenzierte Arbeit des Restkörpers mit wenigen überdeutlichen, fast comicartigen Mienen. Wie sehr es im Musikclip auf solch wuchtig auftrumpfende mimetische Gesten ankommt, hat er vor seinen vielen, mehr oder minder geschickten Nachahmern erkannt.

Dieses künstliche Antlitz, aus dessen Mitte eine von Operation zu Operation immer spitzer werdende Nase ragte, kennen alle, die in den letzten dreißig Jahren jung waren. Die Spekulationen über das Ausmaß und die jeweiligen Gründe der Gesichtskorrekturen rissen nie ab. Der Spott und die Häme, die über Jacksons Haut- und Narbenproblemen, vor allem über die mehr oder minder große Künstlichkeit seiner Nase ausgeschüttet wurden, wurden zum deutlichsten Ausdruck des spezifischen Neides, den seine Figur weltweit unweigerlich auf sich gezogen hat.

Was missgönnen wir, seine Zeitgenossen, einem Pop-Star vom Kaliber Jacksons? Weit mehr als seinen Erfolg oder als seinen Reichtum neidet man einem solchen Künstler die luzide Stabilität, die blanke Härte des Bildes, das von ihm im Umlauf ist. Deshalb ist jener populäre Künstler der Schlauere, der das eigene Bild immer wieder in andere geläufige Klischees umschlagen lässt, wie dies zum Beispiel Madonna tut. Und gewieft verfährt auch derjenige, der seinen Zeitgenossen in regelmäßigen Abständen eine mittlere, allzu menschliche Katastrophe zur Anschauung bringt, was Britney Spears in den letzten Jahren vorbildlich gelang. Jackson hingegen wurde die hochgradige Gemachtheit, die feste Figürlichkeit seines Bildes zum Verhängnis. In einem solchen Fall weiß unsere Missgunst stets, wo sie, nagend und kratzend, anzusetzen hat. Noch ist kein Star-Ruhm ohne Körperlichkeit denkbar. Zumindest im Pop bleibt der Leib die materielle Basis des Bildes. Und wer das Bild niedergehen sehen will, kann auf das Alter, auf Krankheiten und auf die Tücken der chirurgischen Manipulation vertrauen. Michael Jackson, dem es gelungen war, hinter einer rhythmisierten Maske zu verschwinden, musste erfahren, dass von keinem anderen zeitgenössischen Gesicht der entblößende Verfall mit größerer Gier erwartet wurde als von seinem.

Der fünfzigjährige Jackson stand vor einer neuen Konzertserie. Mehr noch als die vorausgegangenen hätte sie ihn mit dem eigenen Bild konfrontiert. Erneut wäre er vor riesige Leuchtschirme getreten, die Hunderttausenden von Konzertbesuchern vorproduzierte Videosequenzen zu alten und neuen Songs geboten hätten. Erneut hätte er sich den Live-Kameras auf der Bühne zugewandt, die sein aktuelles Gesicht sogleich auf diese Bildwände übertragen hätten. Und mit einem flinken Seitenblick hätte er dann kontrollieren können, ob er mit der Künstlichkeit seinerselbst zufrieden gewesen wäre. Wahrscheinlich hätte er rund um den Globus noch einmal gezeigt, dass es möglich ist, mit somnambuler Laszivität so zu tanzen und zu singen, als wäre eine Ikone aus ihrem goldenen Rahmen gesprungen.

Wahrscheinlich hätte es, um Atem zu sparen, das eine oder andere Playback gebraucht, aber die wohlmeinende Mehrheit der Konzertgänger hätte ihm dies gewiss verziehen. Der wahre Fan ahnt den Schmerz, der sich wie ein Lichtbogen zwischen dem alternden Körper und dem anders hinfälligen Bild eines Stars spannt. Der gute Fan fühlt, dass es keine leichte Sache ist, dem technologisch immer rabiateren Bilddruck die Performanz des schwächer werdenden Fleisches entgegenzusetzen. Nur der böse Fan, den es immer auch gibt, hofft klammheimlich auf die Katastrophe, auf den Moment, wo sein Star vor der Übermacht des eigenen Bildes in die Knie bricht.

Michael Joseph Jackson, genannt «The King of Pop», war noch einmal bereit, dieses Risiko auf sich zu nehmen. Aber etwas in ihm, etwas sehr Kluges irgendwo in seinem für die kommenden Auftritte trainierten Körper, hat sich dann doch anders entschieden. Genau im rechten Moment, im unmittelbaren Vorfeld einer mörderisch steil gewordenen Bild-Erwartung, hat dieser großartige Performer die großen, in vierzig Karrierejahren fast unverändert gebliebenen Kinderaugen für immer vor jedem Bild verschlossen.

 

(Geschrieben für die Berliner Morgenpost, Juni 2009)

«Du bist Gott!»

Weisheit und Schund in Robert A. Heinleins Roman «Fremder in einer fremden Welt»

Unter den Missgriffen, die jedem Romancier, auch einem Science Fiction-Autor, drohen, liegt ein besonders fataler Fehler stets verführerisch nahe: Er kann seinesgleichen, also einen Schriftsteller, zur Hauptfigur des Geschehens machen. Robert A. Heinlein gönnt sich einen langen, ereignis- und figurenreichen Vorspann, bevor er in «Fremder in einer fremden Welt» just diesen Missgriff mit genüsslichem Pomp zelebriert. Der steinalte Erfolgsautor Jubal E. Harshaw betritt die Bühne der Zukunft.

Harshaw ist nicht nur Schriftsteller, er ist auch Rechtsanwalt, Mediziner, Philosoph und Bonvivant. Eisgekühlten Brandy schlürfend, diktiert er seinen ebenso schönen wie klugen Sekretärinnen, was ihm am Pool seiner Villa in den Sinn kommt. Dabei scheut er sich nicht, mit zynisch hellsichtigen Aphorismen zu brillieren, um dann, nach einem kurzen Kratzen im grauen Brustfell, ein superbes Exempel in Sachen Schund zu geben. «Jubal, schämst du dich nie?», fragt ihn eine seiner Sekretärinnen, nachdem sie eine rührselige Weihnachtsgeschichte rund um ein halbverhungertes Kätzchen in ihr absolutes Gedächtnis gespeichert hat.

Harshaw, der seinem hundertsten Geburtstag entgegensieht, hat drei Weltkriege erlebt, aber weit wichtiger als alle irdischen Wirrnisse erweist sich, dass er Zeitgenosse der ersten beiden bemannten Marsexpeditionen war. Die Besatzung des zweiten Raumschiffs, das erst ein Vierteljahrhundert verzögert auf die Reise ging, fand wie erwartet die Leichen ihrer Vorgänger. Dann aber machte man zwei spektakuläre Entdeckungen. Es existiert eine uralte Zivilisation von Marsianern. Und die Marsbewohner haben ein menschliches Kind, den Sohn von zwei Besatzungsmitgliedern des ersten Raumschiffs, aufgezogen.

Valentine Michael Smith, die Waise vom Mars, wird auf die Erde gebracht. Und der verwickelte Plot muss einige Klippen höchster Unwahrscheinlichkeit umschiffen, damit der wundersame, in allen Angelegenheiten unseres Planeten unbedarfte Jüngling unter die Fittiche des alten Harshaw gerät. Der Mann vom Mars ist ganz vom meditativ-kontemplativen Geist der dortigen Kultur geprägt. Er kennt keinen Ehrgeiz und keine Aggression. Lüge und Missgunst liegen ihm ebenso fern wie jede Form von Eile. Sein einziges Bestreben gilt dem «Groken» alles Seienden, einem Erkennen, das sich völlig in seinen jeweiligen Gegenstand versenkt, um ihn restlos zu durchdringen und in seiner Eigenart anzunehmen. Smith, der auf dem Flug zur Erde Englisch gelernt hat, «grokt», was seine neuen Artgenossen angeht, allerdings zunächst fast gar nichts und missdeutet das wenige, was er zu begreifen glaubt, auf typisch marsianische Weise.

Die zum Himmel schreiende Unschuld des Jünglings erschüttert die goldene Nische, in die sich der Allesversteher Harshaw zurückgezogen hat. Smith, der allen, auch seinen potenziellen Ausbeutern und heimlichen Feinden, empathisch «grokend» entgegentritt, der auch den letzten miesen Halsabschneider in «seiner ganzen Fülle» begreifen und liebend annehmen will, gerät schnell in Lebensgefahr. Harshaw, dem keine irdische Niedertracht fremd ist, wird sein Berater und Beschützer. Und der illustre Greis schreckt nicht davor zurück, sich als intriganter Jurist, als gewiefter Psychologe, als phantasievoller Risikospieler und nicht zuletzt als wortgewaltiger Schwadroneur mit den Geheimdiensten und Spitzenpolitikern des zu einer Föderation vereinigten Globus anzulegen.

Die Erzählung des Sieges, den Jubal E. Harshaw dabei zunächst erringt, ist ein prächtiges Stück Schund. Und der Umstand, dass sich ausgerechnet ein Romancier zum rettenden Heros aufschwingt, scheint ein Exempel schamloser Autorengrandiosität, ein leicht durchschaubarer Akt professioneller Wunscherfüllung. Robert A. Heinlein war 41 Jahre alt, als er sich erste Notizen zu «Fremder in einer fremden Welt» machte, und er sollte 53 werden, bis er den Roman endlich fertig hatte. Seine Veröffentlichung verzögerte sich weiter, weil der Verlag inhaltliche Einwände erhob. Schließlich musste Heinlein in einem demütigenden Akt von Selbstzensur mehr als ein Viertel streichen. Das Erscheinen der ursprünglichen Fassung hat er nicht mehr erlebt.

«Du bist Gott!», sagt der auf die Erde Gekommene zu seinem väterlichen Mentor Harshaw, als ihm nach vielen Gesprächen und langem geduldigem «Groken» eine Synthese marsianischer und irdischer Weisheit zu dämmern beginnt. Und dieser Satz wird zur Begrüßungsformel der spirituellen Gemeinschaft, die Smith zur Verbesserung der Welt ins Leben ruft. Man «grokt» einander so innig wie möglich, teilt alles Eigentum und frönt einem eifersuchtslosen freien Sex. Dies geht ein utopisch schwebendes Weilchen gut. Wie ein kleiner Gott darf sich noch heute der Leser fühlen, der das Glück dieser friedlichen Kommune und die Jesus-gleichen Wunder, die ihr übersinnlich begabter Stifter tut, in naiver Identifikation mitgenießt. Dann wird Smith durch einen von den Mächtigen aufgehetzten Mob gelyncht. Mit einem grausamen Ruck scheinen wir noch hinter unsere Gegenwart, bis in die Entstehungszeit des Romans, in die USA der 50er Jahre, zurückversetzt. Ernüchtert müssen wir «groken», dass die Güte zu allen Zeiten der Macht der Bosheit unterliegt – bevor Robert A. Heinlein und sein Wunsch-Ich Jubal E. Harshaw mit zwei verblüffenden Schlusskapiteln erneut eine Tür hinüber in jene Welt aufstoßen, in der Schund und Weisheit, ohne sich etwas zu missgönnen, göttlich lustvoll miteinander kopulieren dürfen.

 

(Geschrieben für die Neue Zürcher Zeitung, September 2007)

Die göttliche Gewalt des Gemachten

Versuch, die Wirklichkeit des Spiels «GTA 4» zu verstehen

Eine Stadt und ein Roman sind erst wirklich groß, wenn sie uns verleiten, in ihnen verloren zu gehen. Beide Verführer, die wahre Metropole und ein Prosatext, der die Bezeichnung Roman verdient, appellieren mit Erfolg an das Verlangen unseres Bewusstseins, von einem größeren System vereinnahmt zu werden. Dabei weiß unser Begehren sehr wohl, dass das Labyrinth, das uns verschlingt, gebaut ist. Die Künstlichkeit des Systems ist sogar ein notwendiges Ingrediens der Faszination, die es ausstrahlt.

Alle Spieler, mit denen ich bisher über «Grand Theft Auto IV» gesprochen habe, behaupten, dass dieses Computerspiel das bislang beste sei. Und fragt man nach dem Grund, fallen unweigerlich die Adjektive «wirklich», «echt» und «real». Diese Attribute bekommt zunächst die Stadt «Liberty City» verliehen, die den Raum des gesamten Geschehens bildet. Liberty City liegt, verteilt auf sieben Inseln, an der Küste und ist dem heutigen New York nachempfunden. Der Spielende, der seinen Helden, den serbischen Immigranten Niko Bellic, zugleich begleitet und lenkt, wird diese Stadt während der vielen Stunden, in denen er den Controller in der Hand hält, nicht verlassen. Die Zahl der Straßen, die er mit zahlreichen Fahrzeugen befährt, ist so groß, dass er bis zuletzt ein Navigationssystem benutzen wird, um ans Ziel zu kommen. Nie wird er die partielle Ortskenntnis eines Einheimischen oder gar die Souveränität eines Taxifahrers erreichen. Die wichtigsten Verkehrspunkte, vor allem die monumentalen Brücken, werden zwar bald wiedererkannt. Aber wenn es überhaupt einen Reiz des Wiedersehens gibt, liegt er darin, wie jäh das Bekannte aus dem Geflecht der Stadtautobahnen, der Überführungen, der Tunnel und der Kreuzungen, also aus dem Nicht-Überschauten, auftaucht.

Dabei ist der Erwerb einer weitergehenden Übersicht prinzipiell möglich. Das Straßennetz von Liberty City ist bei weitem kleiner als das einer Metropole aus Backstein, Asphalt und Beton. Aber die Handlungsstruktur des Spiels drängt zur Eile. Wie ein Verrückter zu fahren macht außerdem Spaß. Und da die Autos in Schrott verwandelt werden dürfen und die Kollateralschäden an anderen Verkehrsteilnehmern nur geringfügige Sanktionen nach sich ziehen, ist Rasen von Anfang an das Naheliegende. Dass dabei nicht nur eine Erfahrung gewonnen, sondern auch eine Erfahrung vermieden wird, verraten die Taxi- und U-Bahn-Fahrten. Sie dauern, da sich der Taxifahrer an die Verkehrsregeln und die Bahn an die Schienen hält, fast so lang wie auf unseren Straßen. Den Raum derart dröge zu durchmessen, wäre «wirklich» in einem quälend alltäglichen Sinne und würde die Intensität der Spielrealität beeinträchtigen. Also leistet man eine Sonderzahlung aus dem virtuellen Kapital des Helden und springt ohne Weg ans Ziel.

Ausgesprochen störend wirkt es sich auf den Genuss der Spielwelt aus, weite Strecken zu Fuß zu gehen. Ich habe dieses laienhaften Unterfangen eine halbe Stunde lang durchgehalten und alle Anrufe, die Niko zu Treffen mit anderen Kriminellen und damit zur Benutzung eines Fahrzeugs verlocken wollten, ignoriert. Ab und zu tapste mein ungeschickt geführter Protagonist in fahrende Autos, einmal wurde er hinterrücks von einem Drogendealer niedergeschlagen. Eindrucksvoller als diese Interaktionen war, was mir an den Gebäuden widerfuhr. Während meines Spaziergangs gelang es mir kein einziges Mal, in eine Fassade einzudringen. Die graphisch aufreizend perfekt präsentierten Geschäfte, Lokale, Kinos und Appartementhäuser erwiesen sich als Potemkinsches Dorf. Wie ein virtuelles Rumpelstilzchen rannte mein Held gegen ihre Türen an. Die begehbaren Häuser des Spiels sind meist nur über die Episoden der Spielhandlung erreichbar. Die restliche Welt, der denkbare Innenraum von Liberty City, bleibt wie versiegelt. Wer gelegentlich weit nach Mitternacht durch reale Großstadtreviere geirrt ist, weiß, wie nahe unsere Städte der Fiktion von Liberty City hierin sind.

Auch Niko Bellic selbst sei, so beteuern mir die erfahrenen Spieler, wirklicher als seine Vorgänger in den älteren GTA-Spielen. Der Fortschritt soll im Agieren seines Körpers liegen, der noch realistischer kämpft und klettert, der sich geschickt hinter Deckung duckt, wenn Kugeln fliegen, und sich geschmeidig abrollt, wenn ihm per Fingerdruck ein Sprung aus größerer Höhe befohlen worden ist. Der Maßstab, an dem sich die Glaubwürdigkeit dieser leiblichen Präsenz messen muss, ist in das Spiel integriert. In unbeeinflussbaren Zwischensequenzen, die die Handlung vorantreiben, agieren Niko, seine Kumpane und Gegenspieler auf dem Niveau des computeranimierten Trickfilms. Ihre Körper sind glaubwürdig weiche Massen in glaubwürdig hohlen Räumen. Und ihre Gesichter zeigen das auf wenige emotionale Schachzüge begrenzte Spektrum an Ausdruck, mit dem heutzutage auch ein humaner Darsteller die Folgen einer vergleichbaren TV-Serie bewirtschaftet.

Dieses Niveau, die Wirklichkeitssuggestion des Fernsehens und des auf TV-Format geschrumpften Kinofilms, kann der vom Controller geführte Niko dann nicht mehr ganz halten. Aber da er meist von hinten zu sehen ist oder von seinem Fahrzeug verborgen wird, wird man von der nun vorherrschenden Starre der Mimik relativ selten belästigt. Und in einem merkwürdigen Übersprung der Anteilnahme rühren stattdessen Kleinigkeiten des leiblichen Ausdrucks: Wie sorgsam streift Niko sich den Schutzhelm über, bevor er mit dem Motorrad losbraust, wie rührend langsam rappelt er sich nach einem Sturz auf, der ihm in unserer Verkehrswelt sämtliche Knochen gebrochen hätte.

Das ist der Traum von Nikos Wirklichkeit. Und vordergründig gibt es keinen Grund, den Systemgenuss, das wissende Verlorengehen des Spielers an diesen Körper und an diesen Raum, zu stören. Dennoch kommt es aus heiterem Himmel dazu, dass Grand Theft Auto IV die Grenzen der eigenen Realität wie eine Eierschale knackt. Auf der Insel «Happiness Island» steht die gewaltige «Statue of Happiness», der New Yorker Freiheitsstatue ähnlich. Am schnellsten ist das Monument mit einem Hubschrauber zu erreichen. Der mächtige Sockel kann betreten werden, offeriert aber nicht viel mehr als einen Getränkeautomaten und apathisch herumlungerndes Wachpersonal. Ein Aufstieg, hinauf auf die Aussichtsplattform zu Füßen der Statue, scheint unmöglich.

Der erfahrene Spieler jedoch darf entdecken, dass just in diesem virtuellen Monolithen ein sogenanntes «Easter Egg», ein besonderes Geschenk der Spielemacher an ihn, verborgen ist. Niko Bellic steuert den Hubschrauber so nahe an das Denkmal, dass die Rotorblätter Funken schlagen. Dann zwingt ihn der richtige Tastendruck zum tollkühnen Sprung hinunter auf die Plattform. Während der Helikopter in der Tiefe vor dem Sockel der Statue zerschellt, durchschreitet Niko – in absichtlich plumpem Bruch der Wirklichkeitsillusion! – eine geschlossene Tür, neben der die Aufschrift «No hidden content this way» prangt. Damit ist er ins Innere, in den hohlen Leib der Figur, gelangt. Eine Leiter, ein Aufstieg über viele Sprossen, führt ihn hinauf in die Brust der heroischen Jungfrau. Schon auf dem letzten Stück begleitet ihn ein dumpfes, schließlich bedrohlich anschwellendes Pochen. Mit Niko heben wir den Blick und sehen ein gigantisches, zuckendes, laut schlagendes Herz. An Ketten ist es im Innenraum der Statue aufgehängt.

Nun gibt es nichts weiter zu tun, als das Organ aller Organe in seiner anatomisch korrekten Echtheit und in seiner monumentalen Künstlichkeit zu bestaunen. Die Handlung ist ausgesetzt. Aber das Spiel hält an, als wäre mit dem Bruch des bisherigen Realismuskonzepts ein Hochplateau möglicher Wirklichkeit erklommen. Im Rhythmus des Herzschlags, des intimsten aller Geräusche, stehen sich Niko Bellic und seine Götter, die Schöpfer des Spiels, so lange gegenüber, wie es der Spieler aushält. Dann geht es die Leiter hinunter, hinaus auf die Plattform und über deren Brüstung in die Tiefe, wo Niko, ein Abstieg ist nicht programmiert, nach kurzem Sturz in einer blutroten Lache einen seiner obligatorischen Tode findet.

Gibt es außerhalb von Liberty City, im Alltag des jeweiligen Spielers, vergleichbare Momente des Verlorengehens? Als Niko für mich, den Dilettanten, zum ersten Mal über die Brüstung flankte, verlor ich einen Augenblick lang den Halt in meiner Wirklichkeitsreligion. Kurz wankte in mir der Glaube, dass mich irgendeine materiell existierende Metropole oder zumindest der Systemgenuss eines Romans zu einer vergleichbaren Erfahrung zwingen, in ein vergleichbares Verschwinden führen könnte. Zweifellos hat das mit Gewalt zu tun. Diejenigen, die als Nichtspieler die vordergründige Gewalttätigkeit dieses Spiels, das Überfahren, Niederschlagen und Totschießen, beklagen, haben allerdings gerade mal den kleinen Finger seiner mächtigen Faust begriffen. Die ganze Hand fühlt allein der Spieler. Er spürt die höhere Gewalt des Schöpfers, die sich im Weltei seines Systems mit einer besonders subtilen Brutalität offenbart.

Bevor er zu einem neuen Durchgang wiederauferstehen muss, blutet Niko noch zwei, drei stumme Sekunden am Fuß der «Statue of Happiness». Die rote Lache ist hübsch realistisch. Aber womöglich wird unser Held bereits in der nächsten Version von Grand Theft Auto jeden seiner Tode so lange beweinen und beklagen müssen, wie es ihm seine Kreatoren eingeschrieben haben. Schon jetzt sagen die stärksten Augenblicke dieses Spiels: Das Gemachte soll alle Macht erringen. Der wahre Kitzel des Realen liegt im offensichtlich absichtsvoll Geschaffenen, selbst wenn das Wesen göttlicher Absicht dabei ein Geheimnis bleibt.

 

(Geschrieben für die Süddeutsche Zeitung, Mai 2008)

Großes Gegrusel mit Gott

Mark Z. Danielewskis voluminöser Horrorroman «Das Haus»

Energetisch gesehen gibt es für den Leser zwei Arten von sehr dicken Romanen: zum einen die süffigen Schmöker, die versprechen, viel Lesezeit mit wenig Kraftaufwand durchmessen zu dürfen. Räumlich könnte man solche Bücher mit einer extrem langen Rutschbahn vergleichen. Draufsetzen und loslassen! Alles Weitere erledigen das erzählerische Gefälle und die Genre-üblichen Gleitmittel. Daneben gibt es aber auch Wälzer, die nicht mit flotter Gängigkeit, sondern mit deren Gegenteil, mit Widerstand, Verzögerung und langwieriger Anstrengung locken. Wer sich auf einen solchen Leseweg begibt, wählt einen Trimm-dich-Parcours für Fortgeschrittene und ist sogar bereit, mit einer speziellen Wollust an der Schmerzgrenze der eigenen Kondition zu leiden.

Mark Z. Danielewskis Roman «Das Haus» ist nicht nur dick, sondern auch kompliziert. Dabei gibt es einen zentralen Plot, der alle Voraussetzungen für ein zügiges Wegschmökern mitbringt. Eine vierköpfige Familie, die Navidsons, verlässt Anfang der 90er Jahre New York, um in Virginia ein altes Haus zu beziehen. Schnell kulminieren unheimliche Begebenheiten. Durch einen wie aus dem Nichts entstandenen Korridor lässt sich ein völlig finsteres, eiskaltes Riesengebäude betreten, das dem Häuschen, von außen unerkennbar, anhängt. Dieses Haus-am-Haus lebt. Unvorhersehbar verändert es seine Struktur und scheint durch sein Wuchern, Dehnen und Schrumpfen auf diejenigen zu reagieren, die es zu erkunden wagen. Was dabei im Einzelnen geschieht, ist weit origineller und vertrackter, als es eine Zusammenfassung wiedergeben könnte, und weil es zudem spannend erzählt wird, soll kein wichtiges Detail der Exkursionen, die Will Navidson und andere wagen, verraten werden.

Neben der fast klassischen Haunted-House-Story bietet Danielewski noch eine umfangreiche zweite Handlung auf. Sechs Jahre nach dem Geschehen um das Spukhaus gerät in Kalifornien ein junger Mann namens Johnny Truant in eine tiefe existenzielle Krise. Truant, der in einem Tätowierladen jobbt und seine freie Zeit mit Drogen und schnellem Sex herumkriegt, ist hochsensibel und künstlerisch begabt, hat eine traumatische Kindheit hinter sich, und so braucht es nur noch einen letzten Kick, dass sein Leben aus der Spur springt. Der Roman schließt die beiden Ereigniskomplexe kurz, und als Verbindungsstück dient ihm – dies hat eine lange Tradition – in Gestalt eines Manuskripts die Literatur selbst.

Truant fällt eine wüste Blätter- und Zettelsammlung aus dem Nachlass eines kürzlich verstorbenen Greises namens Zampanò in die Hände. Kernstück dieser Papiere ist der sogenannte «Navidson-Report», in dem Zampanò erzählt, was der Familie Navidson in Virginia zugestoßen ist. Ein Buch im Buch also, aber mit dieser einmaligen Verschachtelung lässt es Danielewski nicht bewenden. Der Navidson-Report tritt nämlich nicht als direkte Chronik realer Ereignisse vor uns, sondern als Nacherzählung eines Films. Will Navidson hat, nachdem er mit Frau und Kindern ins Spukhaus gezogen war, die dortigen Ereignisse akribisch auf Zelluloid und Video gebannt. Navidson ist ein mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneter Fotoreporter, und mit dem Navidson-Report scheint ihm auf Anhieb ein Meisterwerk des Dokumentarfilms gelungen zu sein.

Den Rang dieses Werks bezeugt die gewaltige Rezeption, die der Film binnen weniger Jahre in der Kritik und in allen möglichen Wissenschaften erfahren hat. Die 450 Fußnoten des Romans geben hierin einen Einblick. Zum größten Teil stammen sie von Zampanò, der auf ausgewählte Sekundärliteratur verweist und auch ausführlich aus dieser zitiert. Dazu kommen noch Anmerkungen von Johnny Truant und Anmerkungen der anonymen Herausgeber, die Truants Werk, also die kombinierten Geschichten der beiden, in Druck gebracht haben. Im Anhang finden sich des Weiteren Dokumente aus beider Leben: Manuskriptfragmente, Zeichnungen, Fotos und Briefe. Eine zusätzliche Dimension der Darstellung öffnet sich im Druckbild des Romans. Es werden verschiedene Schrifttypen und -größen verwendet. Manchmal erscheint der Text in Spalten oder Kästen. Man muss rückwärts lesen oder zwischen den Zeilen hin und her hüpfen – von weiteren den Lesefluss stauenden Einfällen ganz zu schweigen.

Behält man rigoros die Handlung im Auge, werden einem, in wechselnd langen Teilstücken, drei Ebenen «wirklichen» Lebens geboten: die Erlebnisse der Familie Navidson, das allmähliche Ausflippen des jungen Truant und Bruchstücke aus dem Dasein des mysteriösen Zampanò. Allerdings stellt Danielewski den Wirklichkeitscharakter aller drei Dimensionen von Anfang an regelmäßig in Frage. Truant kann bei seinen Recherchen keinen Hinweis darauf finden, dass der angeblich berühmte Film tatsächlich existiert. Viele der in den Zampanòs gelehrten Anmerkungen zitierten wissenschaftlichen Werke sind offensichtlich erfunden. Zampanò war zudem die letzten vierzig Jahre seines Lebens blind. Er kann den Film, den er nacherzählt und kommentiert, so es ihn denn gäbe, nie gesehen haben.

Auch Truant selbst ist ein fragwürdiger Erzähler. Gleich zu Beginn des Romans erweist er sich als notorischer Schwindler, als einer, der Geschichten aus seinem Leben gern so zurechtlügt, dass er damit maximalen Eindruck bei den Zuhörern erzielen kann. Außerdem leidet er während seiner Arbeit über Zampanòs Zetteln zunehmend an Angstattacken und Wahnvorstellungen. Einiges deutet sogar darauf hin, dass er den Navidson-Report in einem kreativen Delirium selbst verfasst haben könnte. Diese und zahlreiche weitere Fragwürdigkeiten werden dem Leser manchmal diskret, oft wie auf dem Präsentierteller serviert. Dabei lässt sich nicht alles, was die Authentizität des Geschilderten in Frage stellt, auf die Konten der beiden fiktiven Autoren Zampanò und Truant wegbuchen, manches geht zu Lasten der waghalsigen, nicht immer glatt verfugten Konstruktion des Überautors Mark Z. Danielewski.

Wer es als Romancier frontal darauf anlegt, die Wirklichkeitsillusion des Lesers zu frustrieren, spielt ein riskantes Spiel. Letztlich hofft er, dass die hauchdünne bleiche Larve, mit der jede Fiktion das banale Bastlertum des erfindenden Autors verbirgt, an Liebreiz gewinnt, wenn sie mit dem Rouge ironischer Relativierung aufgeschminkt wird. Solche Texte sagen dann mit artistischer Koketterie: «Guckt mal, ich bin nur erfunden, aber ist nicht alles hinreißend schlau ausgetüftelt?» Kleine Glanzstücke dieses Spiels mit Wirklichkeitsillusion und Desillusionierung finden sich im Navidson-Report. Die Idee, das Kernstück des Plots, die eigentliche Horrorhandlung, als Abriss eines Dokumentarfilms zu erzählen, geht verblüffend gut auf. Die Beschreibung der Technik, der verschiedenen Kameras und Beleuchtungsutensilien, die fachmännische Reflexion über deren Potenz und über die gewonnenen Resultate erzeugen eine eigene Aura von Wirklichkeit. Im Griff der Geräte erringen die Körper der wagemutigen Spukhauserforscher eine schmerzhafte Präsenz. Selbst das bis zuletzt gestaltlos bleibende Grauen bekommt eine eigentümlich technologische Kontur. Die bildgebenden Maschinen scheinen auf suggestive, fast magische Weise Garanten für die Authentizität jedweden Geschehens.

Am anderen Ende der Wirkungsskala liegt das Tischfeuerwerk aus Belesenheit und interpretatorischer Schläue, das in den Anmerkungen und auch im Erzähltext abgebrannt wird. Allein schon die Titel der erfundenen Bücher, Aufsätze, Fernseh- und Rundfunkbeiträge strotzen vor Gescheitheit und protzen zugleich mit einem Witz, der die Welt der Theorie aufs Korn nimmt. Sogar einen, der selbst lange, lernend oder lehrend, akademisch gelitten hat, wird dieses Spiel mit wirklichem oder vorgetäuschtem Wissen irgendwann ermüden. Natürlich gibt es Zeitgenossen, die erwarten, dass ein schwieriges Buch auch die Spannbreite möglicher Deutung in irgendeinem Theorie-Kauderwelsch zur Schau stellt. Aber die allzu freigiebige Befriedigung dieses Anspruchs wird zuletzt den Herzmuskel des Lesens, die Phantasie, lähmen. Der starke Leser denkt gern selbst. Ungut pompös erscheinen mir in diesem Zusammenhang auch die zahlreichen direkten Bezugnahmen auf Werke der Weltliteratur, oft sogar in der Originalsprache. Wessen Bildung wird hier, für oder gegen wen, in Stellung gebracht? Der Anhang bringt unter der Überschrift «Diverse Zitate» noch einmal zwanzig gewichtige Namen, von Homer bis Derrida, und es entsteht der Verdacht, dass der Autor mit einem finalen Schlag entweder alle weniger Belesenen vollends einschüchtern oder uns auf dem Wege der intellektuellen Anbiederung in den Kreis der Eingeweihten, in die Gemeinde der Fans einbinden will.

Aber halb so schlimm! Dieses dicke Buch kann dem, der bis auf seine letzten Seiten gelangt, eine Menge Freude bereiten. In der Bewältigung seiner Komplexität genießt unser mentales System sich selbst, es freut sich an der eigenen Vielschichtigkeit, und unser Ego darf stolz sein auf sein Durchhaltevermögen. Unserem Ich bietet das Figurenaufgebot darüber hinaus wunderbare Möglichkeiten der Identifikation. Die Navidsons stehen samt dem zu Hilfe herbeigeeilten Onkel anrührend tapfer füreinander ein. Die Familie, der harte Kern des amerikanischen Selbstbilds, überdauert mit heroischem Opfermut die wahrlich schaurigen Prüfungen, die ihr das Haus auferlegt. Wer jung ist, kann sich speziell Johnny Truant zu Herzen nehmen. Er ist der gefährdete Jüngling, der ums Haar an seiner Sensibilität zerbricht, dann aber über Zampanòs Zetteln selbst zum Künstler, zum wortmächtigen Schriftsteller wird und als Gesellenstück seine traumatische Kindheit in Erzählung verwandelt.

Süßer noch als ein solcher Gleichklang mit den Figuren ist jedoch die Identifikation mit dem, der sie erdacht hat. Denn einfach alles, was einem wichtig erscheint, in einen 800-Seiten-Wälzer zu packen, die Welt und ihre Vergangenheit, Raum und Zeit, die liebe Kunst samt der nicht ganz so geliebten Kritik der Kunst, das muss sich anfühlen wie Gott-Sein. Mehr noch als ein Horrorroman erscheint mir «House of Leaves» deshalb ein Künstlerroman zu sein. Und die Grandiosität, zu der sich seine Verfasser, die fiktiven wie der authentische, aufschwingen, schreckt vor letzten theologischen Höhen nicht zurück. Gott kommt in diesem Roman, recht gruselig und zugleich ironisch-theoretisch gebrochen, selbstverständlich auch vor.

 

(Geschrieben für die Süddeutsche Zeitung, September 2007)

Totenkult und Liebesdienst

Harald Bergmanns monumentaler Film «Brinkmanns Zorn. Director’s Cut»

Kann der Film der Literatur einen Liebesdienst erweisen? Oder hat zwischen zwei zeitgenössischen Künsten stets die Missgunst das letzte Wort, weil sich jede auf Kosten der anderen ein möglichst großes Stück Fleisch aus dem knappen Braten unserer Aufmerksamkeit säbeln muss? Falls Futterneid den Umgang zwischen Literatur und Film bestimmt, dann begleitet ihn der Wunsch, sich Zugriff auf das Besteck des Konkurrenten zu verschaffen. Film wie Literatur versuchen die Gabeln in die Finger zu bekommen, mit deren Zinken der Nebenbuhler besonders wirkungsvoll in unser Herz zu pieksen versteht.

Der Lyriker Rolf Dieter Brinkmann kauft sich Ende der 60er Jahre eine Super-8-Kamera und begann damit zu filmen. Vom WDR erhält er 1973 ein Tonband als Leihgabe und nimmt damit seine Umwelt, Frau und Kind, vor allem aber sich selbst auf. In derselben Zeit, einer Krisenphase seines Schreibens, wirft er sich auch auf das Fotografieren, knipst manisch mit einem billigen Schnappschussapparat herum und verarbeitet einen Teil der Positive mit anderem Bildmaterial und Textfragmenten zu Collagen. Nur hier, in aufwendigen Text-Bild-Bänden, von denen zwei posthum erscheinen werden, führt dieses Fremdgehen mit den Verfahren und den Gerätschaften der bilderzeugenden Künste zu abgeschlossenen Werken. Ansonsten enden Brinkmanns Versuche, die «alten verfluchten Trampelpfade der Literatur» zu verlassen, in einem Wust aus Aufgelesenem und Gebasteltem, in einem Neben- und Durcheinander von dilettantisch Missratenem und genialischen Glücksgriffen. Maleen Brinkmann hat diesen Fundus, über den frühen Unfalltod ihres Mannes im Jahre 1975 hinaus, aufbewahrt. So geduldig, wie vergängliche Dinge ausharren können, warteten die Schmalfilme, die Tonbandspulen und die Collagen darauf, dass der Richtige kommen würde.

Inzwischen kann man sagen, dass 1997 mit dem Filmemacher Harald Bergmann der Rechte aufgetaucht ist. Bergmann rettete Film- und Magnetbänder durch Digitalisierung vor dem Verfall und hat in zehnjähriger Arbeit aus dem Nachlass des Dichters und fiktiven Spielszenen einen knapp sechsstündigen Film komponiert. Dessen Herzstück, das auf den Tonbändern Brinkmanns basiert, war bereits im Frühling dieses Jahres unter dem Titel «Brinkmanns Zorn» in den Kinos zu sehen und hat die Anerkennung der Kritik und zwei Preise errungen. Jetzt liegt der vollständige Film als «Brinkmanns Zorn. Director’s Cut» vor.

Bergmann beginnt mit einer Zusammenstellung von Brinkmanns Super-8-Experimenten. Die Schwarzweiß- und Farbaufnahmen sind bereits von Brinkmann kurztaktig montiert worden. Und dieser Vorschnitt zeigt, wie weit ein Amateur kommen kann, so er über den kreativen Furor und die manische Zähigkeit eines Rolf Dieter Brinkmann verfügt. Nur wenige der nicht selten unscharfen oder verwackelten Einstellungen besitzen, für sich genommen, die konzentrierte Kraft, die wir von einem Kinobild erwarten. Brinkmanns Montage jedoch legt offen, wie blutig ernst es ihm damals mit dem Ablichten seiner Umwelt war. Er will «den blöden Realitätsfilm» zusammenzwingen mit dem, was er die «Flitzefilme» in seinem Kopf nennt. Die «grobe, verletzende und verletzte Welt» soll mit einem Bewusstsein, das an der Hyperintensität seiner Wahrnehmung laboriert, zu Bildsequenzen verschmolzen werden, die auch dem Betrachter die Augen für «den schrecklichen Mangel», für «die zähe klebrige Traurigkeit» öffnen, die Brinkmann überall wahrzunehmen glaubt.

Es muss eine empathische Tortur bedeutet haben, die aus sekundenkurzen Schnipseln zusammengeklebten S-8-Rollen zu sichten, die Strukturen von Brinkmanns Kompositionen zu begreifen und aus dem Stummfilmmaterial ein neues Ganzes zu formen. Harald Bergmann stand letztlich vor der Aufgabe, das auf halber Strecke gescheiterte Synthese-Unterfangen Brinkmanns, die Kombination von hochgespannter Wahrnehmung, direkter Ablichtung und rigoroser Wahrnehmungskritik, die dem filmenden Dichter vorschwebte, zu einem wirkmächtigen Ende zu bringen. Er hätte hierzu auf einen nachträglich eingesprochenen Kommentar, also auf das Wort, das uns der Dichter hier verweigert, zurückgreifen können. Stattdessen wählt Bergmann eine Kunst, in der er selbst ein ambitionierter Dilettant ist: Er unterlegt die Schmalfilme Brinkmanns mit einer Musik, die Pathos-Gesten und emotionale Floskeln der populären Musik um 1970 zitiert. Was in Brinkmanns Bildsequenzen wie in einem lautlosen Schluchzen stecken bleibt, tritt, von der Musik erlöst, unabweisbar zutage. Nun muss es jeden, dem das Gelingen und Scheitern von Kunst etwas bedeutet, bis ins Mark rühren, diesen hochbegabten Kerl, dieses Monstrum von einem Schriftsteller, eine Zigarette der untergegangenen Marke «Astor Filter» rauchen zu sehen. Sein Blick in die Kamera gilt zwingend uns, den Kommenden. Und wenn wir seine junge Frau Maleen betrachten, spüren wir jenen historischen Amputationsschmerz, den vergangene körperliche Schönheit evoziert, so sie die Tücke der Technologie für uns dokumentiert hat. Zugleich jedoch versöhnt uns die Vertonung mit der mörderischen Abgenutztheit des zu oft durch den häuslichen Projektor gejagten Materials. Denn ausgerechnet die Musik, die der Flüchtigkeit des akustischen Augenblicks gehorchen muss, vermag mehr als jede andere Kunst den Zeitschmerz zu lindern.

Den zweiten Teil des Films eröffnen die souveränen Bilder von Bergmanns Kamerafrau Elfi Mikesch. Sie zeigen eine schneebedeckte Landschaft bei Longkamp im Hunsrück, wo Brinkmann im Winter 1971 drei Wochen lang versuchte, ein Romanprojekt in Gang zu bringen. Gleichzeitig wollte er sich, getrennt von seiner Familie, «entgiften», das hieß für ihn, ohne Alkohol und Haschisch auskommen. Seine täglichen Notizen dokumentieren das Scheitern dieser Selbstkur. Ein kurzes Weilchen, nur wenige Sekunden, darf sich der Filmbetrachter in der Illusion wiegen, die Gestalt des Dichters wäre nun durch stimmungsvolle Naturbilder und Spielszenen in die gewohnte Fiktionalität gebettet. Dann aber kommt Brinkmanns Tagebuch gleich einem aufhuckenden Dämon über das Bild. Als wäre die abgelichtete Landschaft aus Papier, wird sie von links oben mit skelettweißen Schreibmaschinenlettern überschrieben. Das Verfahren ist einfach. Dass seine Simplizität schlagend wird, liegt an den rhythmischen Wechselwirkungen, den Dopplungen und Kontrastierungen, die im Weiteren zwischen den Spielfilm-Elementen, den Interviews mit Zeitzeugen und dieser gewaltsamen Überschreibung entstehen. Brinkmanns Tagebuch ist ein eigentümlich taumelnder Text. Fast kindlich tastende Beschreibungspassagen wechseln mit Stücken, in denen die ganze Radikalität seiner Wahrnehmungsreflexion und das merkwürdig verstockte, fast lauernde Potenzial seiner poetischen Möglichkeiten aufleuchten.