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Georg Klein

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Beschreibung

Die Männer, die im Mittleren Büro ihren Dienst versehen, arbeiten, Pult neben Pult, am weichen Glas. Am Ende des Tages marschieren sie geschlossen zum aktuellen Nährflur, wo die bleiche Wand eine Speise für alle bereitstellt. Danach schlüpft jeder in seine Ruhekoje. Dort aber liegt Büroleiter Nettler seit einigen Nächten wach. Ein rätselhafter Binnenwind zieht ihm das Gestern, Heute, Morgen ungezählter Arbeitsjahre neu herbei. Allmählich geraten die Selbstverständlichkeiten des Bürolebens ins Wanken. Es hat den Anschein, die guten Tage seien gezählt. Gemeinsam mit drei mehr oder weniger vertrauenswürdigen Kollegen passiert Nettler die Schleuse, den einzigen Weg, der hinausführt aus dem Mittleren Büro. Draußen aber wird, was die Männer für ihre Arbeitsheimat hielten, bereits mit heller Wachsamkeit beobachtet. Fachleutnant Xazy, die leitende technische Agentin, hat begonnen, sich furchtlos um die Zwielichtzone des Natürlichen, um den Grenzbereich zwischen Außen- und Innenwelt, zu kümmern. Mit Ernst und Eigensinn, mit Humor und Gefühl führt Georg Klein seine Figuren einem großen Gegenspieler in die Arme. Nicht alle werden den Frühlingsmorgen dämmern sehen. Aber das Licht des Phantastischen leuchtet hell über die Grenzen des Erwartbaren hinaus.

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Georg Klein

Miakro

Roman

Über dieses Buch

Die Männer, die im Mittleren Büro ihren Dienst versehen, arbeiten, Pult neben Pult, am weichen Glas. Am Ende des Tages marschieren sie geschlossen zum aktuellen Nährflur, wo die bleiche Wand eine Speise für alle bereitstellt. Danach schlüpft jeder in seine Ruhekoje.

Dort aber liegt Büroleiter Nettler seit einigen Nächten wach. Ein rätselhafter Binnenwind zieht ihm das Gestern, Heute, Morgen ungezählter Arbeitsjahre neu herbei. Allmählich geraten die Selbstverständlichkeiten des Bürolebens ins Wanken. Es hat den Anschein, die guten Tage seien gezählt. Gemeinsam mit drei mehr oder weniger vertrauenswürdigen Kollegen passiert Nettler die Schleuse, den einzigen Weg, der hinausführt aus dem Mittleren Büro.

Draußen aber wird, was die Männer für ihre Arbeitsheimat hielten, bereits mit heller Wachsamkeit beobachtet. Fachleutnant Xazy, die leitende technische Agentin, hat begonnen, sich furchtlos um die Zwielichtzone des Natürlichen, um den Grenzbereich zwischen Außen- und Innenwelt, zu kümmern.

Mit Ernst und Eigensinn, mit Humor und Gefühl führt Georg Klein seine Figuren einem großen Gegenspieler in die Arme. Nicht alle werden den Frühlingsmorgen dämmern sehen. Aber das Licht des Phantastischen leuchtet hell über die Grenzen des Erwartbaren hinaus.

Vita

Georg Klein, 1953 in Augsburg geboren, veröffentlichte die Romane «Libidissi», «Barbar Rosa», «Die Sonne scheint uns» und «Sünde Güte Blitz» sowie die Erzählungsbände «Anrufung des Blinden Fisches», «Die Logik der Süße» und «Von den Deutschen». Für seine Prosa wurden ihm der Brüder-Grimm-Preis und der Bachmann-Preis verliehen; für «Roman unserer Kindheit» erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse. 2013 erschien sein Roman «Die Zukunft des Mars».

Aber der Mensch ist so enge in sich selbst

gefangen, dass er sich meistens selbst verzehrt,

wo er die Welt verzehren sollte.

Clemens von Brentano

1.Innenwind

Wie ein Durst gestillt wird

Es war ein fremder Wind. Die fünfte Nacht in Folge holte ihn dieses Wehen, als strichen ihm kühle Fingerspitzen über Wangen, Stirn und Lider, aus traumlos blindem Schlummer in die Finsternis seiner Koje. Nettler richtete sich auf. Seine Linke stach durch die weichen Stränge seines Schlafnetzes, die Rechte stemmte sich an die hornig festen Deckenrippen. Er fühlte sich mehr als bloß wach. Denn mit einer Gewalt, die ihm jenseits der letzten Nächte unbekannt gewesen war, hatte seine Vorstellung erneut damit begonnen, über Geschautes, über in vielen Jahren Glasarbeit Gesehenes, hinwegzujagen.

Alles, was unter seinen Händen, mehr oder minder tief, mehr oder minder günstig übereinandergeschichtet, durch das weiche Glas geglitten war, schien nun in diesem Strom enthalten. Nichts hatte an Glanz, Transparenz oder Schärfe eingebüßt. Aber unabhängig davon, wie prächtig in den zurückliegenden Nächten eine Fülle bekannter Bilder aufgeflammt war, wie leuchtend sich nun erneut Bild über Bild schob, der frische Binnenwind, der Nettler hierbei ins Gesicht blies, duldete kein Verharren, das zur Besinnung eingeladen hätte, sondern nötigte das Auferstandene zur Eile. Und während es gleichmäßig schnell, ohne trödeliges Langsamerwerden, ohne Stocken und ruckartiges Beschleunigen heranrückte, dahinfloss und verschwand, erwarb es sich, befreit von den eigenwüchsigen Widrigkeiten des weichen Glases, eine neue Vertrautheit.

Erst derart flugs und stetig geworden, schien Nettler das Erkannte wirklich alt und vollends gewesen. Gleichzeitig spürte er, dass draußen vor seiner Ruhenische, unter der hohen, nächtlich dunklen Kuppel des Mittleren Büros, dessen Leiter er war, Unbekanntes bevorstand. Etwas Ungesehenes wollte Gestalt annehmen. Und die von rechts nach links flottierende Buntheit, der wärmeraubende Luftstrom auf seinem Gesicht und das lauernde Grau des Kommenden schwangen in ihm zu einem unsinnig lustigen Dreiklang zusammen.

Als Nettler den Kopf aus seiner Koje in die laue Luft des Büros hinausschob, war dort draußen, in dessen weitem Rund, über den vielen in den allnächtlichen Ruhemodus gefallenen Tischen, nicht die geringste Luftbewegung zu spüren. Auch die Erscheinungen erloschen im Nu, allein seine Anspannung dauerte fort und suchte nach irgendeinem Hinweis. Wie immer gegen Winterende war das Band der Wandbeleuchtung schmal geworden und weit nach unten gesunken. Die magere blaue Linie verlief gerade mal handhoch über dem Boden und verdickte sich nur noch an wenigen Stellen zu pulsierenden, vor- und zurückzuckenden Knoten. Das Licht, das sie abstrahlten, reichte hin, einen bescheidenen Streifen bleiche Wand zu erhellen, war aber nicht mehr stark genug, um eines der Arbeitsrechtecke einen Schatten werfen zu lassen.

Von Nettlers Kollegen war bloß das feine Zischeln zu hören, zu dem die Vielfalt der Atemgeräusche bei ihrem Übergang aus den Schlafnischen in die Weite des Büros verschmolz. Irgendwann hatte ihn der alte Guler auf den Rand der Öffnungen hingewiesen, durch die sie bei Einbruch der Nacht Mann für Mann auf ihre Ruhenetze krochen. Auf den ersten Blick sähen die Einstiege ja hübsch verschieden aus, jeder ein wenig anders gestreckt, jedes Oval ein bisschen anders verbeult. Als habe die bleiche Wand sich redlich bemüht, jedem, ausnahmslos jedem, ein unverwechselbares Schlupfloch zu bieten. Die Kanten jedoch stimmten in allen wesentlichen Merkmalen überein.

Nettler hatte dies damals, so unauffällig sich dergleichen bewerkstelligen ließ, bei den Einstiegen nachgeprüft, die seiner Koje rechts und links am nächsten lagen. Der alte Schlaukopf hatte recht: Zwischen den engen Hohlräumen ihrer Ruhenischen und der voluminösen Halbkugel des Büros verschlankte sich die Wand hin zum Einstieg rundum gleich, und zuletzt war dessen bloß noch gut daumendicker Rand flach gewellt und von einer Maserung aus gerade noch ertastbaren Rillen durchzogen.

Guler behauptete, just dieser Formung könnte es geschuldet sein, dass er keinen Einzigen im großen Kollektiv der Schlummernden mit seinem Altmännerschnarchen stören müsse, nicht einmal gegen Morgen, wenn der Schlaf auch bei den Jüngeren oberflächlich wurde und ihn, den übergewichtigen Senior, nach bestimmt lautstark gewesenem Gerassel ein immer ähnlich beklemmendes Atemstocken, gefolgt von einem lauthals japsenden Luftholen, endgültig ins Wache hinüberschrecken ließ.

Er mochte Guler. Nettler gefiel dessen Art, sich ungeniert einen Reim auf das zu machen, was Welt war. Der alte Knabe hatte ein Auge für das Wuchtiggroße und Winzigkleine, für das Scharfe wie für das Stumpfe, für Glanz und Mattheit. Guler spürte mit den Fingerkuppen, ob etwas hohl oder massiv war und in seiner Tiefe knochig hart oder markig weich. Sogar wie dicht ein Fleck bleiche Wand vom silbernen Haardraht durchwuchert wurde, behauptete er mit der Zungenspitze herausschmecken zu können. Und gelegentlich scheute sich ihr Dicker nicht, solche Wahrnehmungen mit angeblichen Ursachen, mit verblüffend einleuchtenden oder haarsträubend abwegigen Gründen zu verknüpfen.

Natürlich konnte einem ein Kommentar Gulers gehörig gegen den Strich gehen, so man sich gerade, über den hüfthohen Arbeitstisch geneigt, damit abmühte, einen vertrackt von rechts nach links ruckelnden, vertikal wegsackenden, drei oder vier, gelegentlich sogar alle fünf Ebenen ineinander verschmierenden Bildfluss, irgendein grellbuntes Tohuwabohu im Weichglas des Tisches zu bremsen, zu glätten und zu etwas Erkenn- und unter Umständen Verwertbarem zusammenzudenken. «Verflucht, Guler! Kümmere dich um dein eigenes Zeug!», wurde regelmäßig über eine Schulter geknurrt. Aber jeder von ihnen hatte auch schon von den unverhofften Einwürfen des Alten profitiert und den einen oder anderen Hinweis mit einem widerwilligen «Verflixt, Dicker, wo du recht hast, darfst du recht behalten!» quittieren müssen.

Erst gestern hatte sich Guler auf eine selbst für ihn schamlos drastische Art um den Tisch von Rotschopf Blenker gekümmert. Wie es sich gehörte, hatte der junge Kerl frühmorgens Mitteilung gemacht, dass seine Platte, schon bevor sie vollends hell geworden sei, heftig zu flackern begonnen habe. In der Mittagszeit war der zuckende Bildstrom nach einem letzten spektakulär fauchenden Aufblitzen restlos erloschen. Nur am linken oberen Rand leuchtete noch, kleinfingertief eingesenkt und schmutzig gelb, ein rautenförmiger Fleck, dessen kümmerliches Blinken von einem gerade noch hörbaren Fiepsen untermalt wurde.

Eine solche, dem Ruhemodus der Büronacht entsprungene Höchststörung war ihnen nie zuvor untergekommen. Dicht gedrängt umringten sie Blenkers Tisch. Die Hinteren wippten in beklommener Neugier auf die Zehenspitzen. Schließlich grummelte Guler, die Platte stehe doch ein bisschen schief. Als sich Blenker zur Antwort nur gereizt gegen die sommersprossige Stirn tippte, spuckte der Alte kräftig aufs Glas, und Nettler, der sich sofort über den erstaunlich voluminösen, wasserklaren Klacks Spucke beugte, sah, wie ein ovales Bläschen aus dessen Mitte an den Rand driftete, als ginge es dieser winzigen Linse darum, Gulers Einschätzung, die Neigung von Blenkers Arbeitsplatte aus der korrekten Waagerechten, umgehend bildlich zu bestätigen.

Rotschopf Blenker war noch immer der Dienstjüngste. Nach ihm hatte kein weiterer Aspirant mehr zu ihnen ins Mittlere Büro gefunden. Für Blenker war, weil er unmittelbar nach einem Todesfall eingetroffen war, kein neuer Tisch aus dem Boden gewachsen, er hatte den frisch frei gestorbenen Platz übernehmen können. Lahm und lichtschwach war dessen verjährtes Glas damals gewesen. Aber bald zeigte sich, dass mit Blenkers blassblauen Augen, mit Blenkers wachsbleichen, bis an die Fingernägel braun getüpfelten Händen das rechte Vis-à-vis angetreten war. Erstaunlich zügig hatte die alte Platte in puncto Fließgeschwindigkeit wieder zu den anderen aufgeschlossen. Und irgendwann war ihrem Rechteck, was Helligkeit und Farbenfreude, Konturschärfe und Tiefenausbeute anging, unter den vielen Tischen allenfalls noch Nettlers Chefplatz gleichgekommen.

Jetzt, geborgen im Dunkel seiner Schlafkoje, musste sich Nettler eingestehen, dass ihn der gestrige Totalausfall mit Schadenfreude erfüllt hatte. Nicht dass er Blenker je missgönnt hätte, was da täglich von rechts nach links, in bestechender Transparenz fast immer doppelt, häufig dreifach, nicht selten vier- und, überdurchschnittlich oft, fünffach übereinandergeschichtet durch die Tiefe des weichen Glases strömte. Bildneid war es nicht gewesen, was ihn, während sie Blenkers notleidenden Platz umstanden hatten, gegen ein Grinsen hatte ankämpfen lassen.

Er mochte schlicht Blenkers Erscheinung nicht leiden. Vor allem dessen Haar hatte stets seine Abneigung erregt. Es war schreiend rotblond, der vordere Schädel bereits bis auf einen schütteren Mittelspitz kahl, nur auf dem Hinterkopf kümmerte noch, kaum fingernagelhoch, ein halbwegs dichter, spiralig verwirbelter Bewuchs. Die bloßliegende Kopfhaut war wie das Gesicht mit winzigen Sommersprossen übersät. Sogar im Nacken schienen die bräunlichen Flecklein zwei tiefe Bögen in den Haaransatz getrieben zu haben. Und wenn Nettler, von seiner Glasarbeit aufblickend, zwei Reihen vor seinem Tisch Blenkers Schädel lotrecht zur Bildgleitrichtung auf und ab wippen sah, fühlte er sich unweigerlich versucht, ihrem inzwischen längst überfällig Jüngsten etwas Übles zu unterstellen, irgendeinen verhohlenen Ehrgeiz, der eines Tages nicht vor Bildbetrug oder noch Schlimmerem zurückschrecken würde.

Gestern Mittag war Blenker durch die Sicherungsschleuse gestürmt, um in den anliegenden Gängen nach einem Wandler zu suchen. Nettler hatte ihm dies zugestanden, obschon er bereits angekündigt hatte, er werde über die Spruchbeule seines Leitungstisches um Glashilfe ersuchen. Wie immer konnte es Tage dauern, bis die auf diesem Wege angeforderte Unterstützung eintraf. Ein klein wenig mehr Erfolg versprach es in der Tat, zu Fuß loszugehen und in der Nähe, im Umfeld des Mittleren Büros, nach dem nötigen Beistand zu fahnden.

Mit etwas Glück entdeckte man die dunkle Felltasche eines Wandlers, an das käsige Weiß eines Gangs gelehnt, neben oder unter einem feucht aufklaffenden Querspalt, in den sich der fragliche Kuttenträger von Kopf bis Fuß, vom Kragen seines langen, groben Gewands bis zu dessen Saum, hineingeschoben hatte, um irgendeine undurchschaubare Arbeit zu erledigen. Oder man hörte den Wandler, mannstief in eine Hohlwurzel abgeseilt, unverständlich, aber zweifellos übellaunig murmelnd, vor sich hin werkeln. Dann galt es, den Aufgespürten mit wohldosierten Schmeicheleien ins Büro und an das mehr oder minder verrücktspielende Glas zu locken.

Blenker war, erschöpft und von der Erfolglosigkeit seiner Suche sichtlich gedemütigt, erst spät am Nachmittag zu ihnen zurückgekommen und hatte den dicken Guler mit ausgebreiteten Armen unter seinem maroden Arbeitstisch liegen sehen müssen. Der Alte hielt dessen hintere Beine gepackt, dort, wo sie sich nach den Basiswülsten noch einmal zierlich verjüngten, bevor sie als gleichmäßige Keulen dem randlosen Rechteck des weichen Glases entgegenstrebten. Guler hatte diese Position gleich nach Blenkers Abgang eingenommen, und seit er irgendwann darum gebeten hatte, die Decke aus seiner Schlafkoje zu holen und zusammengefaltet unter seinen Nacken zu schieben, war von ihm kein Mucks mehr zu hören gewesen. Als der Zurückgekehrte an seinen Tisch trat, ächzte Guler erleichtert auf, wälzte sich auf den Bauch, kroch unter der Platte hervor, verweilte noch ein Weilchen auf Händen und Knien, bis mehr als ein Dutzend Kollegen von ihren Plätzen herübergekommen waren und hören durften, wie eindrucksvoll seine Gelenke beim Aufrichten knacksten.

«Blenker, mein Lieber: Schwundraum! Das hier ist kein junger Tisch. Du bist durch und durch Rechtshänder. Ich denke, du schiebst zu arg. Mach ein paar Tage nur mit links. Aber bloß locken, nicht ziehen. Mit Gefühl. Das wird euch beiden, deinem Glas und dir, guttun.»

Als der ganze Bürotrupp wenig später zum abendlichen Essen in den akuten Nährflur hinübermarschierte, war sich Nettler sicher, dass er nicht als Einziger mit einer gewissen Befriedigung beobachtet hatte, wie Blenker der schmallippige Mund aufgeklappt war, wie ihr ungezählte Tage stets bildgewiss, bildstolz, ab und an bilddreist gewesener Rotschopf die rechte Hand gehoben hatte, um entgeistert auf deren Innenseite, dann auf ihrem Rücken, schließlich noch einmal lange im Handteller nach einem Hinweis für jenes ungut übermäßige Schieben zu suchen, von dem Guler orakelt hatte.

Der neue Nährflur lag angenehm näher als der vorige, in zäher Agonie zuletzt arg knauserig gewordene Gang. Vor fünf Tagen hatte Blenker endlich einen grell überbilderten, aber in seinen matt durchschimmernden Details vielversprechenden Hinweis durch das weiche Glas huschen gesehen. Und in der zweiten, der gemeinsamen Schicht ihrer Tische nach weiteren Anhaltspunkten forschend, war es ihnen mit einem simplen Ringschluss gelungen, den verheißenen Folgeflur zu orten. Schon am ersten Abend hatte sie dort eine üppige Menge dampfend heißer Süßkartoffeln erwartet, annähernd gleich große Portionen, verteilt auf mehr als zwei Dutzend Tellerchen aus einem nur fingernageldünnen, aber dennoch starren Blech. Und dass die einzige Gabel, die sie vorfanden, unbrauchbar gewesen war, weil sich deren Zinken krallig gegen ihren Ursprung bogen, hatte dem gemeinsamen Entzücken, der in jedem gewiss ähnlich hell aufflammenden Esslust keinerlei Abbruch getan.

Gestern, am zweiten Abend, waren sogar noch drei tiefe, bohnenförmige Schalen, bis zum Rand mit einer roten Tunke gefüllt, bereitgestanden. Guler behauptete, eine vor Jahr und Tag schon einmal ausgewandete süßscharfe Sauce am Duft wiederzuerkennen, und verzehrte sogleich eine gründlich eingetunkte Kartoffel. Nettler und alle anderen warteten vorsichtshalber noch ein bisschen ab. Bei dick- bis halbflüssigen Substanzen, bei Breien, Pasten und Soßen, war es in diesem Winter gleich viermal zu äußerlich nicht erkennbaren Fehlbildungen gekommen. Wenn das appetitlich anmutende Zeug ungenießbar gewesen wäre, hätten sich, darauf war Verlass, fast im Nu das bekannte Schwindelgefühl und der unverwechselbar spitz pochende Schmerz in den Schläfen eingestellt.

Nettler zog den Kopf zurück in seine Schlafkoje. Die Erinnerung an die Schärfe der roten Soße hatte ihn durstig gemacht. Er hätte sich eine Flasche Wasser mit auf seine Hängematte nehmen sollen. Aber er wusste sich auch so zu helfen. Die Wandknollen, die einst, irgendwann in seinen ersten Bürotagen, die einander entgegenzüngelnden Anfangsstränge seines Ruhenetzes aus sich herausgetrieben hatten, waren all die Jahre hindurch feucht geblieben. Seit den letzten, den neuartigen Nächten tropfte ein stummelig kurz gebliebener Auswuchs über seinem Kopf sogar so stark, dass er frühmorgens mit nass am Schädel klebendem Haar aus der Schlafnische kroch.

Nettler rutschte nach oben und stülpte die Lippen über den glitschigen Nippel. Was er heraussog, kam ihm ungewöhnlich kalt vor. Aber vielleicht täuschte er sich, denn der Kojenwind hatte wieder zu wehen begonnen und strich ihm, dem Schlückchen für Schlückchen Trinkenden, dem trotz des Wiederanflutens der Bilder erneut schläfrig werdenden Chef des Mittleren Büros, wie eine angenehm kühle Hand über den sich allmählich entspannenden Nacken.

2.Knüpfwerk

Was diese Frau zum Glück nicht riecht

Bereits am folgenden Abend erwies sich der neue Nährflur als so überaus ergiebig, dass sie nicht umhinkamen, Volk zum Mitspeisen einzuladen. An der letzten Krümmung des Hinwegs waren sie an einer Gruppe Frauen vorbeigekommen, die damit beschäftigt gewesen waren, Knüpfwerk aus der bleichen Wand zu ziehen. Die bereits gewonnenen Schnüre, die sich zum Trocknen auf dem Boden kringelten, waren recht stark, fast so dick wie die Stränge ihrer Büroschlafnetze.

Knüpfwerk zu gewinnen, verlangte Geduld und Fingerspitzengefühl. Erst neulich hatte Nettler im weichen Glas eine betulich voranzockelnde Bildsequenz verfolgt, die, untertönt von einem ulkig simplen Tuten, Schritt für Schritt demonstrierte, in welcher Höhe die Wand nach einschlägigen Stellen abgetastet werden musste, wie man die erfühlten Knoten durch rhythmisches Drücken stimulierte, auf welche Weise der allmählich hervorsprießende fadendünne Anfang zu fassen war und wie dann Zupfen, Ziehen und Wiederlockerlassen aufeinander zu folgen hatten, damit das Stück beim weiteren Hervorholen nicht abriss.

Nettler schickte Blenker und den schönen Schiller zurück, um die Frauen herzubitten. Blenker würde ausreichend Worte finden, und Schiller konnte ihm mit seinem hinreißend gewinnenden Lächeln beispringen, falls der Rotschopf sich im Ton vergriff. Die beiden hatten Erfolg. Und als man dann gemeinsam goldgelbe Süßkartoffeln mit roter, dieses Mal noch schärferer Tunke speiste, fasste Nettler sich ein Herz und richtete das Wort an eine der Knüpfwerkzieherinnen, an eine mattblond, fast graublond gelockte Frau mittleren Alters, die, den Blechteller in der Hand, neben ihm gegen die Nährflurwand lehnte.

Nettler sprach sie auf das ärmellose Oberteil an, das sie zu einem noch recht gut erhaltenen Materialschacht-Rock trug. Er lobte die Regelmäßigkeit des Knüpfwerks und fragte, ob sie es selbst hergestellt habe. Sie leckte sich sorgsam das Rot von den Fingern, hob dann den Saum des Kleidungsstücks vom bloßen Bauch und erklärte ihm bereitwillig, wie aus vier dünnen Stricken der stramme Ausgangszopf des unteren Randes geflochten werden müsse und wie dann das weitere Oberteil, Schlinge auf Schlinge, Knoten für Knoten, in Richtung Armlöcher und Kopfschlitz gearbeitet werde. Wichtig sei, dass das Material nicht mehr teigig weich, aber auch noch nicht spröde ausgetrocknet sei. Auf eine günstige Schlüpfrigkeit und auf ein flottes Arbeiten – am besten zu zweit! – komme es an.

Nettler nickte, obwohl er nicht alles verstanden hatte. Etwas an ihrem Gesicht hatte ihn abgelenkt, vielleicht das Fältchenspiel in ihren Augenwinkeln, das ihrem Blick etwas Spottlustiges gab, oder das Grübchen, das sich, während sie sprach, in irritierender Asymmetrie nur auf ihrer linke Wange bildete, um bei geschlossenen Lippen wieder völlig zu verschwinden. Er bemerkte, dass sie, als wäre er nun seinerseits mit einer Erklärung an der Reihe, seinen Büro-Overall musterte. Dessen Hellblau war schon recht ausgeblichen, in den Ellenbogenbeugen hatte der Stoff seine feste Glätte verloren, und feine Fasern sträubten sich nach oben. Zudem waren, wie bei allen zuletzt ausgewandeten Overalls, die Beine recht kurz geraten. Nettler genierte sich für seine halb bloßliegenden Waden und bereute, das Gespräch derart hautnah begonnen zu haben. Womöglich hatte ihn gar nicht das Strickwerk des Oberteils, sondern der Anblick der auffällig braunen, sehnig muskulösen Frauenarme hierzu verleitet. Ein Satz über die Kartoffeln wäre unverfänglicher gewesen.

«Du hast dich bekleckert. Sieht aus wie Blut.»

Sie legte ihm den Zeigefinger gegen die Brust. Nettlers Kinn sackte nach unten, er erspähte einen winzigen roten Fleck auf dem Klettstreifen seines Overalls. Dicht darunter lag noch immer, obwohl es für sein Verweilen keinen ersichtlichen Grund gab, der vom Fadenziehen mattweiß verfärbte Finger der Frau. Sie drückte zu.

«Du bist der Anführer. Denk nicht, wir wüssten von nichts. Womit macht ihr euch eigentlich den Bart weg? Ihr müsst besonders scharfe Messer haben. Und wie bekommt ihr die Haare kurz? Kannst du mir eine Schere besorgen? Wir beißen die Fäden ab, solange sie feucht sind.»

Ihre Hand war nach oben gewandert, lag nun unter seinem Kinn und drückte seinen Kopf in den Nacken. Dann griff sie ihm an die Unterlippe, zog diese recht grob, er spürte die Schärfe ihrer Fingernägel, nach unten, offenbar um sich seine Zähne anzusehen.

«Wir wollten gerade Dicksprossen kauen, als euer Rotköpfchen uns eingeladen hat. Glaub bloß nicht, ich wäre dumm. Ist der Gang morgen noch offen?»

Nettler nickte, und sie nahm die Hand von seinem Gesicht, um weiterzuessen. Erleichtert wandte er den Kopf und sah, dass der schöne Schiller hinten, ganz am Ende des Nährflurs, ebenfalls mit einer Volksfrau ins Gespräch gekommen war. Die beiden beugten sich weit in die trichterförmige Öffnung, auf deren Boden ihre heutige Mahlzeit ausgewandet war. So würde das abendliche Essen noch mindestens ein Dutzend Mal in ähnlich guter, dann in zügig minderer Qualität zur Verfügung stehen. Und wenn der Gang abstarb, wenn Nahrung und Geschirr zunehmend missgebildet oder, wie zuletzt erneut geschehen, von einem Tag auf den anderen als spiralig ineinander verschmierte, halbgefrorene Klumpen ausgegeben wurden, würde sich unweigerlich ein Hinweis auf den nächsten Nährflur im weichen Glas finden lassen.

Seit Nettler das Mittlere Büro leitete, waren sie kein einziges Mal auf Dicksprossen angewiesen gewesen. Aber in der zweiten Schicht ihrer Tische war regelmäßig in kurzen, stummen Bildfolgen zu sehen, wie Frauen und Kinder, geduldig kauend, Dicksprossen verzehrten. Zweifellos enthielten diese alles, was ein Volkskörper zu seinem Gedeihen benötigte. Bereits in der Nähe des Büros, wo sich die nahezu immer gleich verlaufenden Hauptgänge wie ein Kreis von Strahlen ins Vorfeld der wilden Welt hinausschoben und von nicht ganz so stabilen Quergängen netzartig verbunden wurden, waren Keimstellen auf den Wänden zu finden. Und weiter draußen, in den nicht bloß geometrisch schwieriger zu begreifenden Gefilden, gab es an ihrer Häufigkeit erst recht nichts zu beanstanden. Dort waren die Sprossen allerdings häufig nur dicht unter den hell schimmernden Gangdecken zu finden, und aus dem weichen Glas hatten Nettler und seine Kollegen gelernt, dass sich dann ein Kind auf die Schultern seiner Mutter setzte, um die Sprossen mit dem Messer aus der Wand zu schneiden.

Die Messer waren während des letzten Sommers erstmals zu einem Problem geworden. Ohne bildliche Vorwarnung hatte ihre Haltbarkeit stark nachgelassen. Mittig, zwischen Griff und Klinge, bildete sich eine feinlöchrige Bruchstelle. Und dass es deshalb bald an solidem Erntewerkzeug mangelte, hatte bei den allgemeinen Materialschachtöffnungen des Vorfelds zu Unruhen im Volk geführt. Einige Male war es unter den Frauen bei der Verteilung der neuen Messer sogar zu Handgreiflichkeiten gekommen.

Alle Arbeitsplätze hatten die beunruhigenden Vorgänge in der zweiten, der gemeinsamen Bildebene ihrer Tische gezeigt. Satzfetzen aus dem Wortwechsel der Streitenden gellten ihnen entgegen. Und ihre Tische hatten sich leider nicht mit der klanglichen Wiedergabe der Anfeindungen begnügt. Einmal, als ein wildes Geschubse losging, als Ohrfeigen klatschten und Tritte gegen Schienbein oder Knie mit spitzen Schmerzensschreien quittiert wurden, begann das weiche Glas, jäh und in unvorhersehbaren Intervallen, Reizwogen abzustrahlen. Hiergegen war kein Mittel bekannt. Mann für Mann krümmten sie sich über den Tischen. Dem alten Guler waren die Kraftschübe so schlimm in den Leib gedrungen, dass er es schließlich nicht mehr an seinem Platz ausgehalten hatte und ächzend, die Hände auf den kugeligen Bauch gepresst, an der bleichen Wand zu Boden gesunken war.

Schiller hingegen war, gleich allen anderen, tapfer an seinem Platz verblieben, obwohl ihm die Stoßwellen sichtlich zu schaffen machten. Nettler war keineswegs entgangen, dass ihr Hübscher weiterhin geschwächt war. Offensichtlich hatte er den im letzten Frühling erlittenen Verlust noch immer nicht verwunden. Morgens sah man ihm an, dass er elend schlecht schlief, abends fiel auf, wie lustlos er aß. Jede Materialschachtöffnung, die in der Bildtiefe ihrer Tische Wirklichkeit wurde, musste den armen Kerl, gleichgültig, ob sie mit oder ohne Streit vonstattenging, an seinen letzten Außeneinsatz, an ihren fatal verunglückten Vorstoß an den Rand der wilden Welt und damit an das Verschwinden des kleinen Wehler erinnern.

«Euer Hübscher ist gesprächiger als du. Guck nur, wie sich die beiden aneinander freuen. Vorhin, als er uns eingeladen hat, hat er sich das Lächeln noch ins Gesicht gezwungen. Er ist traurig, aber seine Traurigkeit steht ihm. Er heißt Schiller, stimmt’s?»

Im Büro herrschte Unsicherheit darüber, wie es das Volk zurzeit mit dem Heißen und Benennen hielt. Aus dem schieren Flussmaterial ließ sich schon lange nichts Sicheres mehr folgern. Während der krisenhaften Materialschachtöffnungen des vorigen Sommers war es zwar zu zahlreichen, unüberhörbar persönlich gemeinten Beschimpfungen unter den aufgebrachten Frauen gekommen, und das Übertragene abgleichend, konnten sie Ausdrücke isolieren, die Namen zu sein schienen. Guler hatte allerdings Zweifel geäußert und nach einigem Grübeln fast alle frisch eruierten Wortgebilde ganz ohne erhellenden Glasbeleg, einfach aus dem vagen Dunkel irgendeiner verjährten Kenntnis, als früher gebräuchlich gewesene, aber mittlerweile rar gewordene Herabwürdigungen identifiziert.

Ein Grund für die Wiederkehr dieser Schimpfwörter wollte dem Alten allerdings nicht einfallen. Es blieb dabei: Feste Namen für einzelne Personen, also Namen in einem soliden Bürosinn, gab das weiche Glas seit geraumer Zeit nicht mehr preis. Womöglich verbargen sich derart verlässlich auf bestimmte Körper zielende Bezeichnungen in den langen schrillen Pfeiftönen, von denen die Wortwechsel zwischen den Frauen seit einiger Zeit durchsetzt waren, und den Tischen gelang es aus irgendeinem Grund momentan nicht, diese aufjaulenden Geräusche in eine wiederholbare Lautung, in etwas stabil Silbiges zu übersetzen.

«Schau dir an, wie brav dein Schillerchen sich alles gefallen lässt. Schönes Essen, schöne Zeit. Er ist wirklich ausnahmshübsch, trotz der garstig kurzen Haare. Und ein lieber Kerl dazu.»

Nettler sah wohl oder übel, was da, am Ende des Nährflurs, vor sich ging: Die Volksfrau, fast noch ein Mädchen, hatte damit begonnen, über Schillers Schultern zu streicheln. Jetzt kniff sie ihn in die Hüften. Schiller reagierte mit einer komisch schlängelnden Bewegung, als wollte er ihrer Hand entkommen, ohne die Füße von der Stelle zu rühren. Und wie um ihn zu beruhigen, schlug ihm die junge Frau nun, zweimal kräftig klatschend, rechts und links auf das Gesäß, bevor sie ihren Arm um die Taille seines Overalls legte. Nettler wandte den Kopf und blickte zum Eingang. Der Nährflurspalt schien sich bereits ein klein wenig verengt zu haben. Höchste Zeit, die Männer zum Rückmarsch ins Büro aufzurufen.

Als Stunden später erneut der Nachtwind zu wehen anhob, als Nettler, von dessen Kühle geweckt, eine vorsorglich aufs Schlafnetz mitgenommene Wasserflasche an die Lippen setzte, stellte sich zügig eine Vielzahl von Bildern ein, die ihn durch die Temperatur ihrer Farben und die Ordnung ihrer Formen an Schiller denken machte. Schiller war, falls er sich recht entsann, kurz vor Rotschopf Blenker zu ihnen gestoßen. In seiner erster Zeit hatten Nettler und Guler sich, so wie es irgendwann Usus geworden war, die Betreuung des Frischtischlers geteilt. Bis Schillers Platte die nötige Höhe erreicht hatte, ließen sie ihn an ihren Plätzen zusehen. Und als es nach einigen Tagen so weit war, als Schiller bei hüftweit gespreizten Beinen derart an die Vorderkante seines Arbeitstischs rührte, dass sein Bauch nach und nach, mit dem beflissen tiefen Einatmen des Anfängers, eine flache Delle in den noch extraweichen vorderen Rand des blutjungen Rechtecks drücken konnte, hieß es, Fluss und Verschränkung nicht weiter zu stören.

Einen Schritt zurückgetreten, die Hände auf dem Rücken, hatten sie schweigend verfolgt, wie Schiller und sein Tisch sich zügig einig wurden. Erst jetzt, wo ganze Wegstücke des Mitangeschauten erneut aufflammten und, vom Schlafnischenwind beschleunigt, weit schneller als damals im Glas, nach links, ins Nichts der Unsichtbarkeit stürzten, dämmerte Nettler die schon ein Weilchen im Dunkeln lauernde Dopplung. Mit einem Ruck rutschte er nach vorn und beugte den Oberkörper hinaus in die still stehende Luft des nächtlichen Büros, um den Bildfluss zu unterbrechen, um sich ohne Lenkung, ganz roh und plump und verwischt ungenau, an etwas zu erinnern, was dort draußen vor sich gegangen war.

Irgendwann, es musste in Schillers Anfangszeit gewesen sein, hatte ihn ein dünnes, flüsterleises Lachen aus dem ersten Dösen geholt. Sofort hellhörig und neugierig, hatte Nettler die Wange an die Kante seines Kojeneinstiegs gedrückt, um ins nächtliche Bürorund zu lugen. Genau gegenüber waren Schiller und der kleine Wehler vor dessen Nachtnische gestanden. Wehlers Rechte lag schon auf dem unteren Rand der Öffnung. Gleich würde das Kerlchen, Schwung aus den Knien holend, auf die Zehenspitzen wippen, um mit einem Hopser in die für seine Körpergröße recht hoch gelegene Schlafstätte zu gelangen. Aber noch war es nicht so weit. Noch hielt Wehler den linken Arm um Schillers Hüfte geschlungen. Und Schillers Rechte strich mit gespreizten Fingern über Wehlers schmale Schultern, über Wehlers Nacken, dann über Wehlers kurze, aber muskulöse Oberarme, so hingebungsvoll und zugleich besitzergreifend, wie die Hand der jungen Volksfrau heute über Schillers von allzu vielen Arbeitstagen vernutzten Overall geglitten war.

Nettler spürte einen leichten Schwindel, dann sogar den spitz piksenden Schmerz in den Schläfen, wie ihn der Verzehr einer Nährflurfehlbildung nach sich zog. Aber die Beschwerden kamen viel zu spät, um den süßen Kartoffeln oder der scharfen Soße geschuldet zu sein. Die neuen windigen Nächte schienen nun doch eine Art Tribut zu fordern. Er wollte versuchen, möglichst schnell wieder einzuschlafen.

Als Letzte waren die Volksfrau und er in der schmalen Öffnung des Nährgangs voreinander gestanden. Rumpf an Rumpf, so nah, dass Nettlers Nase den würzigen Geruch auffing, der ihren im Detail erstaunlich gleichförmigen, aber als Gesamtheit absolut wirren, aus einem aschigen Blond ins silbrig Graue spielenden Locken entströmte. Und vorsichtig inhalierend, hatte Nettler befürchtet, sie könnte nun ihrerseits riechen und als unangenehm empfinden, dass er sich gleich seinen Kollegen, seitdem ihr Vorrat an rosa Seife restlos aufgebraucht war, bloß noch mit klarem Wandwasser wusch. Aber zu seinem Glück, noch einmal war Nettler herzlich erleichtert hierüber, hatte nicht das kleinste Naserümpfen, kein Wangenzucken, kein zur Seite ausweichendes Rucken ihres Kopfs darauf hingedeutet, dass dem so gewesen wäre.

3.Grauglöckchen

Wo einem die Hand juckt

Im Mittagslicht lockte ihn Guler an Wehlers verwaisten Platz. Nettler hatte das Herschauen des Dicken gespürt, und sowie er den Kopf hob, fingen sich ihre Blicke. Guler musste nicht winken, ein Nicken genügte. Nettler griff nach der Flasche unter seinem Tisch und ging erst einmal an den nächsten Wandzapfen, um Wasser nachzufüllen. Dann folgte er einem Zufallspfad, schweifte durchs Büro, wie es immer seine Chefart gewesen war, schaute dem einen oder anderen kurz über die Schulter, murmelte etwas Ermutigendes, verschenkte einen Scherz, blieb sogar ein Weilchen bei Rotschopf Blenker stehen und hörte sich mit an, wie dieser lauthals und so selbstsicher, als wäre alles sein Verdienst, dem Kollegen linker Hand die sachte Rekonvaleszenz seines Arbeitsplatzes beschrieb.

Als ihn nur noch ein Dutzend Schritte von Wehlers herrenlosem Tisch trennte, hatte Nettler plötzlich den Eindruck, die Platten seien früher, irgendwann in seiner Anfangszeit, enger beieinandergestanden. In der Mitte des Bürorunds schienen die Zwischenräume bloß ein klein wenig größer geworden. Aber zum matten Weiß der Wand hin, auch dort, wo Guler ihn erwartete, waren die Abstände zwischen den Rechtecken fast derart weit, dass ein zusätzlicher Tisch in die Lücken gepasst hätte. Nettler vermochte nicht zu sagen, ob dies dereinst, bei seinem allerersten, gewiss gierig wachen Blick ins Büro, bereits genauso gewesen war. Womöglich war ihre Gemeinschaft, ohne dass je mit einem Wort an ihre Zahl gerührt worden wäre, im Lauf der Binnenjahre tatsächlich nach und nach ein wenig kleiner geworden.

Wehlers Platz, um den sie wohl alle seit dem Unglück einen ähnlichen Bogen machten, war in verblüffend guter Verfassung. Nirgends zeigte die wässrig schimmernde Helle des Glases die geringste Spur schlieriger Eintrübung, geschweige denn den faserigen Durchwuchs beginnender Verhärtung. Nettler fuhr mit den Fingerspitzen unter den vorderen Rand. Auch auf der Unterseite ließ sich nichts Knotiges oder Rilliges ertasten.

Als wollte er just hierauf nicht gleich als Erstes zu sprechen kommen, meinte Guler, nun sei ja endlich der Frühling im Anmarsch. Ausgerechnet bei Blenker, dessen Tisch allmählich wieder in Schwung komme, habe er vorhin die ersten Schneeglöckchen sehen dürfen. Leider bloß in einem mehr oder minder schmutzigen Grau. Gruselig fremd, ja nahezu unwirklich wären ihm die Frühlingsboten, derart entfärbt, ohne das satt aus dem Glas protzende Giftgrün der Blätter, ohne das grell aufscheinende Bildweiß der Blütenkelche, vorgekommen.

Stumm schauten sie ein Weilchen zu Blenker hinüber. Dem Rotschopf war es inzwischen gelungen, vier Kollegen dauerhaft vor seine Platte zu locken. Mit der linken Hand tupfte und wischte er bereits wieder erstaunlich ungeniert über deren gesamte Fläche. Was es zu sehen und zu kommentieren gab, untermalte die freie Rechte mit großspurigen Gesten. Immerhin schien er sich noch an Gulers Ratschlag zu halten und war bloß einhändig am Glas zugange.

«Es sind nicht die Haare, Nettler. Es ist nicht das Rot. Du kannst ihn nicht ausstehen, weil er ein Angeber ist. Aber wer weiß, wozu seine Großmäuligkeit noch gut sein mag. Oder meinst du, Schillers hübsches Näschen hat bei den Frauen den Ausschlag gegeben?»

Nettler dachte, dass es gestern weder Blenkers dreistes Drauflosschwatzen noch Schillers gefällige Züge gebraucht hätte, wenn Wehler bei ihnen gewesen wäre. Der kleine Wehler war mit Abstand ihr bester Mann in Sachen Volk gewesen, und dass er jetzt, hier an Wehlers Tisch, erneut gezwungen war, sich vorzustellen, beim nächsten ernsten Außeneinsatz ohne ihn auskommen zu müssen, schlug Nettler so unversehens auf den Magen, dass er ein krampfendes Schlucken nicht unterdrücken konnte.

Mit dem Volk auf eine absehbare, halbwegs kontrollierte Weise zu verkehren, war immer schwierig, manchmal schier unmöglich gewesen. Der Wegfall ihres einzigen instinktiv souveränen Könners in Sachen Leutseligkeit würde sich nicht ausgleichen lassen, sobald wieder ein Trupp Richtung wilde Welt ausrücken müsste. Auch wenn der Schock über die Umstände des Verlusts oberflächlich abgeklungen war, das Vakuum, das Wehlers Abwesenheit verursachte, sog im Rund des Mittleren Büros bestimmt nicht nur ihm und Schiller, sondern allen, wahrscheinlich sogar dem selbstgefälligen Blenker insgeheim weiter am Gemüt.

«Fass mal hin. Schön unauffällig, Nettler. Halt die Hand dicht drüber. Aber nicht dran rühren. Drückst du die kleinste Delle, klingt es ab, und wir müssen warten, bis es sich wieder aufbaut.»

Nicht zum ersten Mal tat es ihm gut, den Vorschlägen des Alten gleich Befehlen zu gehorchen. Sein Magen beruhigte sich. Und unwillkürlich gab er sich der Vorstellung hin, er selbst, also der Chef höchstpersönlich, wäre beim letzten Außeneinsatz statt Wehler verlorengegangen. Der kleine Wehler hätte dann, nach glücklich überstandenem Rückzug, im Büro in großer Runde Bericht erstatten können. Am selben Tag noch hätte die Gegenspruchbeule des Leitungstischs unüberhörbar Laut gegeben, alle wären an die herrenlos gewordene Platte geeilt, um gemeinsam zu hören, wer – ja, wer? Am besten Guler! – zum neuen Leiter, also zu seinem Nachfolger berufen worden wäre, und ihr Dicker hätte seine Ernennung mit einem launig gebrummelten «Na, wenn’s unbedingt sein muss!» akzeptiert.

Obschon Nettler, die gespreizten Finger über Wehlers Platte, dieses Wunschgebilde liebend gern noch ein schwebendes Weilchen genossen hätte, der Fluchtpunkt der Phantasie, die erlösende Chefwerdung Gulers ließ das Ganze zu widersprüchlichem Unsinn gerinnen. Als zukünftiger Büroleiter kam der Alte natürlich nicht in Frage, weil er Späterscheiner gewesen war. Nettler versuchte, sich zu entsinnen, wann und wie Guler zu ihnen gestoßen war, aber sosehr er sich mühte, es wollte sich kein Bild einstellen. Einen weniger dickleibigen, weniger hängebackigen, einen irgendwie jüngeren Guler bekam er nicht vors innere Auge. Stattdessen spürte er plötzlich überdeutlich, dass die Hand, die er über Wehlers Tisch hielt, wohlig schwer wurde.

«Nicht zucken, Nettler. Wird gleich noch stärker. Fühl bloß hin und sag mir, was dir dazu einfällt.»

Es musste vor etwa fünf Jahren gewesen sein. Nettler war sich plötzlich sicher, es konnte nicht viel länger her sein, dass der Alte im Büro aufgetaucht war. Er wusste nun sogar wieder, wie seltsam schrumpelig, von fein gekräuselten Falten durchzogen, die vier Bodenknospen des Arbeitstischs gewesen waren, deren Keimen Gulers Erscheinen vorausgegangen war. Welche Kleidung der Angekommene getragen hatte, enthielt ihm sein launiges Gedächtnis allerdings vor, und in sturer Unsinnigkeit malte es ihm den frisch eingetroffenen, den womöglich wüst vollbärtig gewesenen Guler bereits so glattwangig ins damalige Büro, wie dieser erst nach einem halben Arbeitsjahr, also nach dem glasbedingten Ausfall aller Gesichtshaare gewesen sein konnte.

«Unangenehm? So, dass du es nicht mehr aushältst?»

Nettler schüttelte bloß den Kopf. Im Gegenteil: Was Wehlers Tisch an seiner Hand bewirkte, tat ihm gut, und er spürte die nicht geringe Versuchung, gegen das weiche Glas zu drücken und zu spüren, ob Wehlers Platte, wie sie es gewohnt waren, schon beim allerersten, einschmeichelnd linden Nachgeben, differenzlos auf die Temperatur seiner Hand abgestimmt sein würde. Aber bevor es zu einer Berührung kam, begann es in seiner Rechten zu kribbeln, zwischen Zeige- und Mittelfinger, in der namenlosen Mulde, zu der die untersten Glieder der beiden Finger zusammenliefen.

«Juckt es dich schon? Da, wo sie ihre Stifte einklemmen?»

Natürlich verstand Nettler, was und wen Guler damit meinte. Die rare Gelegenheit, einen Wandler bei seinem Tun zu beobachten, ließ sich keiner im Büro entgehen. Zwar scheuchten die mundfaulen Kerle, sobald sie an einem kränkelnden Arbeitsplatz zugange waren, ausnahmslos jeden, der direkt neben oder allzu dicht hinter sie trat, mit einem garstig zischelnden, unweigerlich einschüchternden «Tsch! Tsch!» beiseite. Aber auch aus dem so erzwungenen Abstand ließ sich das eine oder andere erspähen. Was der jeweilige Wandler aus der Felltasche fischte, die an seiner linken Hüfte hing, was er dann am Tisch zur Anwendung brachte, war zum Glück immer so groß, dass sie sich ein Bild von der Gestalt des Utensils machen konnten. Meist waren es silbrig glänzende Stifte, unterschiedlich lang, aber stets so schlank, dass sie sich an die fragliche Stelle der Hand schieben ließen, um, derart festgeklemmt, mit dem vorderen, spitzen Ende unterschiedlich tief in das geschmeidig nachgebende, mehr oder minder laut aufschmatzende Glas gepresst zu werden.

«So viele Tage, Nettler! Nach all den Tagen, nach fast einem Jahr, sieht Wehlers Glas noch aus, als hätte unser Kleiner seinen Platz bloß eine Nacht allein gelassen. Auch die Höhe stimmt noch. Als würde der Tisch auf Wehler warten. Muss doch etwas Gutes zu bedeuten haben, oder?»

Guler hatte leicht reden. Guler war nicht dabei gewesen. Nettler hatte den kurzatmigen Dicken bei den anderen im Büro lassen müssen, weil der fragliche Materialschacht im Grenzbereich zur wilden Welt gelegen war. Nie zuvor in Nettlers Zeit hatten sie einen bürowichtigen Stollen so weit draußen geortet. Die Hinweise, aus denen sich auf die erforderliche Anmarschgeschwindigkeit schließen ließ, waren leider nicht eindeutig gewesen. Die in den Tischen angezeigten Gangführungen wichen ungewöhnlich stark voneinander ab. Immerhin so viel hatte sich mit einiger Sicherheit voraussagen lassen: Falls sich ihr Trupp nur kurz im prophezeiten Schacht aufhalten musste, falls das dort Ausgewandete, wie vom weichen Glas angekündigt, handlich war und nicht allzu schwer, konnten sie es gerade noch vor Einbruch der Dunkelheit zurück zu den anderen schaffen. Wenn nicht, würde sich ihre Exkursion zwangsläufig in eine fatal ernste, weil unberechenbare Übernachtaktion, in einen wahren Wildewelteinsatz, verwandeln.

Zu fünft waren sie im Morgenlicht aufgebrochen. Nettler gab ein zügiges Tempo vor. Die vier anderen gehörten zu den Jüngeren und sollten imstande sein, mühelos mitzuhalten. Zunächst verlief die Route exakt wie im Chefglas abgebildet. Nettler erlaubte eine einzige Pause und achtete darauf, dass jeder, an die Wand gelehnt, seine Wasserflasche um ein Drittel leerte. Erst auf dem letzten Stück zeigten sich die befürchteten Verlaufsstörungen. Mehrfach war die Gangdecke so weit abgesackt, dass sie nur gebückt weiterkamen. Auch der Lichtfluss schwankte stark, das Kristall über ihren Köpfen hatte sich stumpffleckig eingetrübt, in einigen Wegkrümmungen war die blaue Linie auf beiden Seiten fast völlig erloschen, während aus abzweigenden Gängen ein verführerisch unreiner, zart ins Fahlgelbliche spielender Schimmer über den Boden strahlte.

Die Materialschachtöffnung sah dann allerdings genau so aus, wie in allen Tischen prognostiziert: fast mannshoch, trapezförmig, mit unten gut, oben knapp armlanger Kante. Nacheinander schlüpften sie hinein. Allein der kleine Wehler hielt für den Fall, dass Volk auftauchen sollte, am Eingang Wache. Drinnen war der Boden bereits vollständig abgetrocknet und senkte sich nur ganz leicht in Richtung Ausgabewand. Sie mussten die mitgenommene Stablampe, die letzte, die noch nennenswert Licht warf, nicht einschalten, die Decke war hell genug. Im Nu übersahen sie die ganze Bescherung: Die angekündigten frischen Overalls waren als ein wüster, schmierige Blasen werfender Haufen im rechten Eck zu erkennen. Darüber und daneben ragten vier Stableuchten, anscheinend gut ausgereift, aber rüsselartig verbogen, aus der Wand. Von den erhofften neuen Sandalen, von der ersehnten Seife entgegen der Ankündigung im Glas keine Spur. Und an einen Ersatz für die beiden Anfang Winter ausgewandeten, inzwischen wirkungslos gewordenen Schockstöcke war angesichts der lächerlich fehlgebildeten Lampen erst recht nicht mehr zu denken.

Was dann geschah, ließ sich mit früheren Widrigkeiten, mit den Vorkommnissen, vor denen Nettler erfahrungsgemäß auf der Hut sein konnte, nur schwerlich vergleichen. Zweimal, beide Male lagen schon lang zurück, hatte sich, gleich nach ihrem Eintreten, die Neigung des Bodens mit einem bedrohlich grunzenden Ruck erhöht, und sie waren, ohne das Ausgewandete, das mit der Ausgabeseite des Materialschachts Abgesackte, zu prüfen, so schnell sie konnten, zum Ausgang hinaufgestolpert. Ein andermal hatte sich ein Schockstock, als Schiller ihn aufnehmen wollte, in dessen Rechte entladen, und er war, den linken Arm um Wehlers Nacken, halblahm zurückgehumpelt. Ansonsten hatten sie sich in problematischen Materialschächten allenfalls die Finger mit der bräunlichen, unverwechselbar säuerlich riechenden Flüssigkeit besudelt, die, auch bei vorsichtigem Anrühren, aus mehr oder minder offensichtlich missratenen Objekten zu spritzen pflegte.

Damals, im bislang letzten Frühling, hatte Nettler nach kurzer Rundumschau aus einem unguten Vorgefühl heraus den sofortigen Rückzug befohlen, und nacheinander waren sie an Wehler vorbei hinaus in den Gang geschlüpft. Ihr Kleiner aber war an der trapezförmigen Öffnung stehen geblieben. Und wahrscheinlich weil er den Schacht als Einziger nicht hatte betreten dürfen, wandte er sich, sobald Schiller ihn als Letzter passiert hatte, noch einmal Richtung Eingang und steckte den Kopf, beide Hände an die seitlichen Ränder gestemmt, ins Stolleninnere. Dieses Hineinbeugen und das unmittelbar Folgende hatte allein Schiller beobachtet. Nettler, Blenker und der große, bullig starke Axler, für den es wider Erwarten nichts zu schleppen gegeben hatte, waren schon im Weggehen begriffen. Erst auf Schillers Schrei hin fuhren sie herum.

Wäre Schiller ihnen, ohne noch einmal den Blick zu wenden, gefolgt, hätte wahrscheinlich keiner etwas bemerkt. Denn von Wehler kam nicht ein Laut. Und falls ihnen dann, frühestens oder spätestens an der nächsten Wegkrümmung, aufgefallen wäre, dass sie nur noch zu viert waren, hätte sich ohne kollegiale Zeugenschaft vollzogen, was Schiller von Anfang an, was er, Blenker und Axler nach Schillers Aufschrei zusammen mit diesem bis ans schreckliche Ende miterleben mussten.

Erst am darauffolgenden Morgen war ihr Hübscher in der Lage, Nettler halbwegs anschaulich zu beschreiben, wie sich die Materialschachtöffnung, wie sich die vier Ecken des Trapezes vor seinen Augen zu einem schiefen Oval gerundet hatten, das sich gleitend zu einem makellosen Kreis verengte. Völlig geräuschlos und gar nicht besonders schnell sei dies zunächst geschehen. Rückblickend machte sich Schiller schlimme Vorwürfe. Selbstverständlich hätte er den in den Schacht gebeugten Wehler warnen müssen, aber das Erstaunen verzögerte den Ruf, der ihm in die Kehle stieg, um eine kleine, aber fatale Spanne. Erst als der Kreis zuschnappte und sich mit einem hellen Pfloppen um Wehlers Taille schloss, sei ihm etwas über die Lippen gekommen. Vielleicht Wehlers Name? Er sei sich nicht sicher. Ob Nettler ihm sagen könne, was er da, nach vorne gestürzt und Wehlers Unterleib packend, verspätet gerufen habe?

Zu viert hatten sie, keuchend und zerrend, an Wehlers Beinen gehangen, an seinen Knien, an seinen kräftigen, unglaublich hart gespannten Waden, schließlich bloß noch an den zierlichen Füßen des Kleinen. Zuallerletzt hatte Axler dem, der da fürchterlich gleichmäßig eingesaugt wurde, in hilflosem Ungestüm nach der linken auch noch die rechte Sandale von der Ferse gerissen. Danach lagen ihre Hände auf der vollständig geschlossenen, sich bestürzend zügig glättenden Wand. Nur dort, wo Wehlers Fußsohlen, zuletzt die hornigen Ballen seiner Zehen, verschwunden waren, hielt sich noch ein Weilchen eine Rosette feiner Runzeln. Und während sich auch diese Fältchen allmählich verzogen, spürte Nettler, spürte ein jeder für sich, noch war kein Wort zum Geschehenen gefallen, wie eine Auswallung der Wand seine Finger so arg kribbeln machte, dass einer nach dem anderen diese von der Verschlussstelle lösen musste, um sie auf der Brust an der harten Klettfalte des Overalls zu reiben.

«Ist es das gleiche Gefühl? Zumindest ungefähr? Streng dich an, Nettler. Tu mir bitte den Gefallen.»

Nettler gab sich Mühe. Ja, die Empfindungen waren ähnlich. Auch jetzt hielt er es nicht länger aus und musste die Finger, die er die ganze Zeit brav über Wehlers Tisch gespreizt hatte, nach vorne holen und mit der Linken kneten und kratzen.

«Hunger, Nettler? Mich hat es vorhin hungrig gemacht. Und euch? Wie war das, als der Schacht den Kleinen verschluckt hatte: Hättet ihr dennoch sofort etwas essen können?»

Nettler verkniff sich ein Nicken. Guler hatte recht, aber irgendwie schien es Nettler nun falsch, beschämend und unvorsichtig zugleich, dem Alten rückhaltlos zuzustimmen. Das Hungergefühl jedoch, das er auch jetzt, an Wehlers Tisch gelehnt, nicht vor sich verbergen konnte, war so stark, dass er seine Wasserflasche an die Lippen hob und nicht absetzte, bevor sie leer und sein Magen provisorisch gefüllt war.

Damals waren sie auf dem allerletzten Stück ihres in stummer Panik vonstattengegangenen Rückmarsches im frischen, zukunftsmunteren Abendlicht des Binnenfrühlings am akuten Nährflur angelangt. Und ohne den schon vor ihnen dort eingetroffenen, neugierig aufschauenden Kollegen ein Wort der Erklärung zu gönnen, hatten sie sich alle vier, selbst Schiller, auf das reichlich Ausgegebene, einen öligen, tief dunkelbraun, fast schwarz gebackenen Kuchen, gestürzt, mit zittrigen Händen große Stücke abgerissen und die klebrig weichen Brocken, ohne zu kauen, mehr als nur gierig hinuntergeschlungen.

4.Zinkenspitzen

Wer aus dem Glas erzählt

Im Lauf des Nachmittags kam Nettler nicht umhin, sich einzugestehen, welche Sorge in ihm keimte. Gelegentlich geschah es, dass sich ein noch ergiebiger Nährflur vorzeitig für immer versiegelte und sie, nichts ahnend anmarschiert, gezwungen waren, umzukehren, ohne einen Bissen zwischen die Zähne bekommen zu haben. Bis jetzt war dergleichen allerdings nie beunruhigend gewesen. Denn sie mussten bloß die anschließende Nacht und das folgende Arbeitsintervall mit leerem Magen durchhalten. Der nächste Gang, dessen Lage das weiche Glas bei einem derart jähen Ausfall prompt, spätestens in den Mittagsstunden, preisgab, würde, das wussten sie aus Erfahrung, fürs Erste nicht mit Speise geizen.

Heute jedoch hätte es zumindest für ihn, insgeheim und wohl ausschließlich für ihn, eine arge Enttäuschung bedeutet, wenn der junge Flur derart abrupt verendet gewesen wäre. Denn für das unstete Volk, für die kaum berechenbaren Frauen, vermutlich auch für eine braunarmige, im Großen wirr, im Kleinen gleichförmig graublond Gelockte gab es, genau dies hatte Nettler begonnen zu befürchten, womöglich keinen Grund, an der aushärtenden Naht einer unübersehbar final verwachsenen Öffnung auszuharren.

Aber dann waren die Frauen allesamt da, hockten schwatzend im Kreis neben dem weit offenen Eingang, hatten sogar zwei kleine Mädchen und einen alterskrummen, weißbärtigen Volkskerl mitgebracht, jedoch nicht gewagt, ohne die Büromannschaft einzutreten. Also ging Nettler voran, und mit dem ersten Hineinschnuppern hatte er das sichere Gefühl, erneut würde es leichthin für alle reichen. Fast zugleich bemerkte er, dass der Überfluss noch eine zweite dingliche Gestalt angenommen hatte: So regelmäßig verteilt, als müsste ihr Hingeworfensein einem Muster gehorchen, lagen auf dem Boden Gabeln, derart viele, dass die Volksfrauen, die hinter ihm hereindrängten, barfüßig, wie sie waren, darauf achten mussten, sich nicht durch einen Tritt auf die Zinkenspitzen zu verletzen. Da sich dann aber alle, auch seine Männer, sogleich bückten, um eine Gabel zu ergattern, und die beiden Mädchen eilig die überzähligen in den tiefen Taschen ihrer Röcke verschwinden ließen, war diese Gefahr im Nu, schon bevor die erste Süßkartoffel auf eines der wunderbar makellosen Esswerkzeuge gespießt wurde, aus der Welt.

Essend beobachtete Nettler den Weißbärtigen. Im Glas waren Volksmänner selten und meist nur an der Peripherie des jeweiligen Bildes zu entdecken. Auch bei ihren Exkursionen ins Vorfeld der wilden Welt hatte er nie einen mit Muße aus der Nähe betrachten können. Scheu waren die zotteligen Greise immer gewesen. Aber mittlerweile huschten sie, sobald ihnen ein Bürotrupp entgegenkam, so flugs in den nächsten Quergang, dass man kaum mehr als einen gekrümmten Rücken, einen flatternden Rock und das schulter-, manchmal sogar hüftlange weiße Haar zu sehen bekam. Auch jetzt stand der alte Volksmann im hinteren Winkel des Nährflurs, hatte sich gegen die Wand gedreht und hielt den Kopf dicht über den Teller, als wolle er möglichst wenig von seinem Gesicht preisgeben.

«Ich kenne ihn nicht besser als du. Aber ich kann euch ins Gespräch bringen.»

Die Wirrgelockte griff an Nettlers Ärmel und zog ihn, ohne ein Zustimmen abzuwarten, zwischen den Essenden hindurch. Der Alte zuckte zusammen, als sie bei ihm anlangten. Aber die Braunarmige fasste ihm an die Schulter, und so blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als sich umzudrehen und den Kopf zu heben. Dann jedoch sah er Nettler ohne Zögern ins Gesicht – so fest, als käme es ihm darauf an, dass just diese Festigkeit bemerkt und mit einer Art Respekt anerkannt würde.