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Dies ist der Beginn des sechsten und letzten Abenteuers von Anthony, dem Jungen, der zwei Leben führen darf. Eines hier auf Erden und eines irgendwo da draußen in den Weiten des Weltraums, wo er ein zaubernder Roboter ist. Eine Serie, die einen in ein völlig neues Universum entführt. Fantastisch und in Farben gemalt, die noch nie ein Auge zuvor gesehen. Das ist versprochen! Buch 1: "wenn große Roboter weinen" Es ist eine alte Wahrheit, dass es manchmal eben doch noch schlimmer kommen kann, als man es auch nur hätte befürchten möchten. Nicht nur, dass Sims und Broms unterwegs nach Chotatyl sind, um das vermeintlich Große Abenteuer zu erleben, das aber nur das Versprechen auf einen ganz grausamen Tod ist, nein, plötzlich wird Anthony auch noch vor der großen Kommission im Rathaus von Ibalon vor die Alternative gestellt, eine Graue Wache zu werden oder unter schrecklichen Qualen für immer abgeschaltet zu werden. Was natürlich alles andere als eine Alternative ist. Und nur dass Mathilda auf der anderen Seite seines Seins beginnt zu träumen, und zwar, dass sie eine Kämpferin ist, vermag so etwas wie Optimismus zu verbreiten. Wenn auch nur kurz, denn nur wenige Wochen später liegt sie wieder einmal in der Klinik und ringt mit dem Tode. Die Chancen stehen Zehn zu Eins gegen sie, sagen die Ärzte. Ein modernes Märchen für all die, die im Geiste jung. Aber natürlich auch für all die, die an die große Kraft der Freundschaft glauben, und daran, dass eine Seele immer schön ist, egal in welcher Brust sie liebt und lebt. „Die beste Fantasy-Serie über KI, die KI nie wird schreiben können!“ Ibalon Daily Observer
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Veröffentlichungsjahr: 2024
IMPRESSUM:
Widmung
BUCH I
Ein verdächtiger Blick aus dem Fenster
Die Kriegerin
Die Klinik
Stelle frei!
Schlange stehen vor dem Rathaus
Das sechste Gebot
Erfüllung der Pflicht
Das MGG
Ein halber grauer Schädel
Laub harken im Park
Eine schreckliche Entwicklung
Eine neue Prophezeiung
Auf der Müllhalde
Fahrt mit einer Gondel
Einige Befehle
Ankunft am Knotenpunkt
Die Königin
Ungebetene Besucher
Ein neuer Kurs
Ein silberner Knochen
Und noch ein Gedicht
Alle Anthony Noll Romane:
FRANCIS LINZ
Anthony Noll
und das Große Abenteuer
BUCH I (wenn große Roboter weinen)
Autor:
Francis M. Linz
Gravelottestr. 4
81667 München
Germany
© Francis Linz 2020
E-BOOK / Version Epub2
ISBN 978-3-911350-54-9
Wörter: 117.000
Geschrieben: Sommer 2018 - Herbst 2020
Auflage: Finale Cut / Frühjahr 2024
Umschlaggestaltung/Illustrationen: © Franus Graueis 2020
Von diesem Werk gibt es auch ein Hardcover
und ein Paperback.
Weiteres siehe: www.Francislinz.com
od. www.Anthony-Noll.de
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Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Rechteinhabers unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Für Fabian und all die,
die in ihren Träumen zu Hause sind.
(Dank an Franus Graueis
für die Bereitstellung seiner Gedichte.
Aber auch an alle,
die zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben.)
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(wenn große Roboter weinen)
Anthony sah zum Fenster des Busses heraus und betrachtete die vorbeihuschenden Gebäude und Gestalten.
Zumindest hätte ein außenstehender Beobachter das so jetzt erst einmal vermutet. Wie zum Beispiel jene beiden Roboter, die auf der Bank ihm genau gegenübersaßen. Serviceroboter der unteren Kaste, die zwar von der Hüfte aufwärts gänzlich menschlich wirkten, deren metallisch schimmernder Haut aber sofort ihre wahre Herkunft verriet. Gar nicht erst zu sprechen von ihren Beinen, waren die doch nur armdicke Stangen, blau lackiert, sich leicht verjüngend hin zum Fuße. Der wiederum durch ein einzelnes Rad ersetzt wurde, nicht größer als ein Suppenteller. Das eine Mal mit grünem Gummi ummantelt, das andere Mal mit rotem.
Völlig ruhig lehnte der Kopf des kleinen Zauberers am Fenster und weit waren seine Augen geöffnet. Mehr noch als nur das, es war geradezu ein Stieren, das ihnen lag. Fast so, als ob sie das hektische Außen tatsächlich auf Neuigkeiten hin überprüften.
Das aber täuschte. Denn auch wenn diese Augen sahen, so sahen sie doch auch nicht. Das aber nicht wegen eines grausamen Unfalls mit einem der nun zehn goldenen Finger. Was vor allem am Anfang der Ausbildung sehr leicht hätte passieren können, ist doch die Kraft, die in einem jeden dieser Finger steckt, eine unsagbar gewaltige. Oder wegen eines anderen schrecklichen Unglücks, das zu einem völligen Erblinden hätte führen können, da ein Sehnerv verletzt oder vielleicht sogar völlig durchtrennt wurde. Sondern weil Anthony mit all seiner Aufmerksamkeit einmal mehr nur irgendwo innerhalb seines eigenen Kopfes spazieren ging. Sich hoffnungslos verirrend im Irrgarten der Tagträume. War ihm das so doch nur Gewohnheit. Von Geburt an.
Nein, niemand kann seiner Natur fliehen. Auch nicht der kleine Zauberer. Der so aber eigentlich gar nicht mehr genannt werden darf, nämlich klein, da er inzwischen schon wahrhaft Großes vollbracht hatte, und das gleich mehrfach. Sodass jung dann wohl viel besser passt, denn ein junger Zauberer, das war er ja in der Tat noch immer. Egal, welchen Bezugspunkt man dafür zurate zieht. Auf der Erde war er vor Kurzem 20 Jahre alt geworden, vor gut zwei Monaten, und auf Robotanien hatte er gerade mal die fünf Semester seiner Ausbildung hinter sich gebracht.
Das klingt ein wenig krumm, ist an Tagen erstaunlicherweise dann aber doch das Gleiche. Da ja zum einen erst mit seinem sechsten Geburtstag auf der Erde seine Ausbildung auf Robotanien begann, und somit sein Leben dort, war er ja erst an diesem Tag aus dem Brunnen gestiegen, wie alle anderen seines Jahrgangs auch, und zum anderen hat ein Jahr dort doch schon immer nicht weniger als zweitausendachtundvierzig Tage. Was das Produkt ist aus 2 x 2 x 2 x 2 x 2 x 2 x 2 x 2 x 2 x 2 x 2.
Dass Anthony nichts von seiner Umwelt mitbekam und immer weiter in einem Tagtraum versankt, war aber nicht weiter schlimm. Einerseits waren es bis zu seiner neuen Arbeitsstelle ja noch mindestens 10 Minuten Fahrtzeit, und andererseits war ja schon bald durch das Fenster, durch das seine Augen scheinbar blickten, kaum noch etwas zu erkennen. Verlor dieses Fenster ja von einer Sekunde auf die andere all seine Transparenz und wurde trüb, geradezu milchig grau. Wenn auch nicht dauerhaft. Vielmehr war es ein steter Wechsel. Transparent – Grau - Transparent.
Wobei zum ersten Punkt allerdings noch anzufügen ist, dass Anthony trotz dieser 10 Minuten bereits eine Viertelstunde seiner täglichen Fahrt hinter sich gebracht hatte. Betrug die Zeit vom Einstieg bis zum Ausstieg in der Regel ja gut fünfundzwanzig Minuten. Einfache Strecke. Kam immer darauf an, zu welcher Uhrzeit und ob Berufsverkehr oder nicht.
Was der junge Zauberer allerdings noch als großes Stück vom Kuchen des Glücks verbuchen durfte. Mit einem dicken Klecks Sahne darauf. Das andere hingegen nicht hatten, die so wie er auf dem Weg zur Pflicht waren. Gab es doch, dank der Linie 28, eine direkte Verbindung von dem kleinen Häuschen am Rande der Stadt, in dem er schon immer lebte, jetzt allerdings nur noch zusammen mit Ramshin, bis hin zu dem Krankenhaus, das ihm ein Praktikum zur Verfügung gestellt hatte. Welches wiederum eine Grundbedingung ist, um auf der Universität von Ibalon den Beruf des Heilers studieren zu dürfen. Was ein Umsteigen erübrigte und ihm letztendlich ein paar kostbare Minuten auf sein stets so chronisch unterfinanziertes Zeitkonto lud.
Ihm womöglich sogar ein mehrfaches Umsteigen ersparte, zeigte der öffentliche Personennahverkehr in Ibalon doch schon immer große Lücken. War er doch das Stiefkind der öffentlichen Kassen. Die Nase ungeputzt, die Schuhe ohne Schnürsenkel. Wenngleich Anthony, wenn er denn dann erst einmal fest angestellt sein sollte, selbstverständlich vom klinikeigenen Shuttleservice abgeholt und auch wieder nach Hause gebracht werden würde. Was allerdings zeitlich in etwa aufs Gleiche hinauskam. So erstaunlich es klingt. Würde der seine Runde ja nicht nur wegen ihm drehen. Aber immerhin wäre die Sache dann kostenlos.
Allerdings bedarf auch der zweite Punkt noch dringend einer Klärung. Denn dass das Fenster vor Anthonys Nase grau und undurchsichtig wurde, lag ja nur daran, dass die Straße, auf der die Linie 28 fuhr, und das 8 x am Tag und somit 64 x in der Woche, hat diese auf Robotanien doch keine 7, sondern 8 Tage (was ist diese 7 nur für eine krumme Zahl, passt sie doch zu gar nichts, lässt sie sich ja nicht einmal teilen), plötzlich keine Straße mehr war, sondern eine Röhre. Zudem keine, die den Boden durchpflügte. Was, denkt man dabei zugleich an Tunnel, sich sofort im Geist aufdrängt. Sondern eine, die sich vielmehr in die genau entgegengesetzte Richtung aufmachte. Wobei sie sich aber keiner Kurve beugte und nicht den kleinsten Schlenker zeigte.
Zumindest nicht zur Seite hin. Auf und nieder bewegte sich diese natürlich schon, wollte und sollte sie ja nicht irgendwann mitten in den Wolken enden. Was fast so wirkte, als ob sie nicht nur das sein wollte, eine gewöhnliche Röhre, sondern zugleich ein schier endlos langer, sich stetig wellender Pfeil. Einer, der mit dem Eintritt der Linie 28 in den innersten Kreis der Stadt, den Äther erbarmungslos durchbohrte. Aber natürlich auch die Dutzende von Gebäuden, die sich ihm in den Weg stellte. Wo die Fenster des Busses eben ihre Transparenz verloren und nur noch Grau zeigten. Wenngleich dieser Pfeil zwischen den Gebäuden dann wiederum fast durchsichtig wie Glas war und seltsam zerbrechlich wirkte.
Wie so viele andere Pfeile übrigens auch, die in gleicher Weise dem Verkehr dienten. Die aber schon deswegen nicht aus gewöhnlichem Glas sein konnten, weil ja neben den Bussen und ganz gewöhnlichen Autos ja auch noch das durch ihre Hohlräume geschickt wurde, was man allgemein als den Schwerlastverkehr definiert. Der sich in diesem Fall diesen Namen gleich mehrfach verdiente, mit den bis zu fünf oder sechs tonnenschweren Anhängern, die an nur eine Zugmaschine angekoppelt waren. Was, wenn man diese Stadt namens Ibalon, wunderlicher und exotischer es wohl keine zweite im ganzen Universum gibt und durch die Anthony eben gerade in diesem Moment mit der Linie 28 fuhr und in der er seit vielen Jahren sein zweites Leben als zaubernder Roboter führen durfte, von oben hätte betrachten wollen, fast ein wenig so wirkte, als ob vor langer Zeit ein Riese ein gläsernes, sehr filigran wirkendes, nichtsdestotrotz gigantisches Mikadospiel genau in deren Zentrum hätte fallen lassen. Ein Riese, noch viel größer als Bruder Nasspan, der zum Glück in Anthonys einstiger Schule wieder starr und stumm auf seinem Sockel stand, nachdem er kurzfristig in geradezu erschreckender Weise wieder zu den Lebenden zurückgekehrt war. Und erst viel später wäre um diesen wild in alle Richtungen sprießenden Haufen herum mit dem Bau der vielen Wolkenkratzer begonnen worden.
Von denen wiederum manch einer sich nicht damit begnügen wollte, nur seinem Namen gerecht zu werden und somit ein bisschen an ebendiesen Wolken zu kratzen, die von Orange über Blau bis hin zu seifenblasenartig schimmernd so ziemlich alle Farben annehmen konnten, je nachdem wie die Sonne stand und vor allem die vier Monde, sondern sogar mitten durch diese mit seiner die Götter suchenden Spitze stach. Wobei besonders ebenjene frühere Schule von Anthony zu nennen ist, auf der er seine nun offiziell fünf goldenen Finger erwarb, die in Wahrheit aber zehn waren. Diese war ja noch immer das höchste Gebäude. Schon deswegen, kam doch jedes Semester mindestens ein neues Stockwerk hinzu. Manchmal sogar zwei oder drei.
Mit einem leisen Summen im Geleit zischte der Bus weiter durch die Röhre und die Zeit verstrich. Erst eine Minute, dann zwei und so weiter und so fort. In der die beiden Roboter, der eine mit dem grün ummantelten Rad als Fuß, der andere mit dem roten, sich immer wieder gegenseitig lachend anstupsten und kurze Anekdoten vom Dienst bei ihrem jeweiligen Arbeitgeber zum Besten gaben. Mit schnarrenden, scheppernden Stimmen, denen ein Kännchen Öl gewiss gutgetan hätte. Waren sie doch beide emsige Diener in hochherrschaftlichen Häusern.
Und scheinbar gar nicht mehr aufhören wollten die zwei damit bis dann sogar volle sechs Minuten verstrichen waren. Und somit ein genug an Zeit, dass man sich nun doch langsam Sorgen machen musste, dass der immer tiefer in seine Gedanken versinkende junge Zauberer namens Ant Nummer Elf Honig, wie Anthony auf dieser Welt nun einmal offiziell genannt wurde, der ja noch immer auf der Bank ihnen gegenübersaß und weiter völlig sinnentleert aus dem Fenster glotzte, womöglich die für ihn richtige Station verpassen könnte. Trotz ihres unerlässlich lärmenden, geradezu ausgelassen sprudelnden Frohsinns. Zumal das ja nicht nur einmal bereits so schon geschehen war.
Um genau zu sein, da hilft kein wohlwollendes Schummeln, es passierte sogar vier Mal! Und das nur innerhalb eines Monats. Was doch sehr beachtlich ist. Wobei allerdings zu Anthonys Glück weiterführende Konsequenzen ein jedes Mal ausblieben.
Was er zu schätzen wusste. Er, der ja ganz genau genommen, jetzt nicht nur als Ant Honig Nummer Elf Zauberer in den offiziellen Büchern geführt wurde, sondern als Honig Nummer Elf Zauberer. War doch dieser Zusatz: Zauberer, mit dem Bestehen der letzten Prüfungen des fünften Semesters ganz ehrenhaft von ihm verdient worden. Denn im schlimmsten Fall hätte dieses Verpassen der richtigen Station ja mit einem gewaltigen Tritt in den Hintern und einer fristlosen Kündigung enden können, befand er sich doch noch in der Probezeit. Aber immer gerade noch so, und wenn nur eine Sekunde noch fehlte, bevor der große Zeiger fiel, schaffte er es schwer schnaufend und mit hochrotem Kopf seine Identitätskarte, die er mit dem Bestehen der Abschlussprüfung ganz offiziell immer mit sich führen durfte und auch musste, vermerkt eben mit dem Zusatz, nun ein ausgebildeter Zauberer zu sein, in die große, gelb lackierte Stempeluhr einzuführen, die gleich rechts hinter dem Dienstboteneingang der Klinik an der Wand hing. So groß, dass man sie fast mit einem Schrank aus Eisen verwechseln konnte. Unerschütterlich in ihrem Urteil.
Doch dann geschah etwas, das den jungen Zauberer wieder in das Hier und Jetzt zurückholte. Erst nur sehr mühsam, dass es fast schon ein Zerren war, dann allerdings immer rascher. Es war dieses spezielle Grau, das plötzlich neben ihm stand und das sich nur wenig von dem milchigen Grau vor seinen Augen unterschied. Wenngleich dieses Grau jetzt keine Schlieren zog, nicht einmal die geringste Schattierung zeigte, sondern sich völlig einheitlich gab. Von ganz unten bis ganz nach oben.
Oder, um dem Maler den richtigen Pinsel zu reichen, weil Anthony ja auch dieses neue Grau im ersten Moment nicht richtig wahrnahm, es war vielmehr diese eisige Stimme, die in diesem Grau wohnte, die sich recht grob daran machte, ihn wieder in die Realität zurück zu zerren. Vor allem aber deren Worte. „Fühlt sich der junge Herr Roboter hier vielleicht nicht wohl?“, war nämlich die erste Frage, die er von ihr gestellt bekam.
Sodass Anthony dann doch immer mehr erwachte. Und das war auch gut so, denn natürlich war es der Mund einer Grauen Wache, der ihm diese Frage gestellt hatte. Höflich, nichtsdestotrotz so eisig kalt wie der Frosch, der plötzlich an seinem Rücken zu lecken begann. Zudem ein ziemlich kleiner, schmallippiger Mund, der sogleich eine zweite und dritte Frage folgen ließ, unterbrochen nur von süffisanten kleinen Randbemerkungen. Sprach er doch: „Sollen wir den jungen Herren Roboter vielleicht mitnehmen und ihn in unserer Zentralen Verwahrstelle gründlich untersuchen lassen? Und man möge mir doch dabei sofort die nötige Aufmerksamkeit schenken, denn wenn ich sage gründlich untersuchen, dann meine ich auch gründlich untersuchen. Von vorn nach hinten, dass ein jeder Tropfen Öl auch weiß, wohin er gehört. Denn was dem Hintern wohl ist, das ist nicht immer gut für das Ohr. Denn vielleicht ist dem jungen Herrn Roboter ja nicht nur ein wenig unwohl, sondern es liegt sogar ein grober Schaden vor. In seinem Kopf oder womöglich sogar im Gedärm. Rumpelnd und polternd. Ein Schaden, so schwer und gewaltig, dass er eine endgültige Abschaltung unumgänglich macht. Denn wenn ich es mir so recht betrachte, wäre das eine mögliche Ursache für sein völlig apathisches Glotzen. Es wäre vielleicht sogar die einzig mögliche Ursache, oder etwa nicht?“
Verdammt, das war kein Scherz!
Verdammt, verdammt, das klang mehr als nur bedrohlich!!
Dennoch blinzelte Anthony jetzt erst einmal nur leicht verwirrt. Was trotz der Gefahr verständlich war, denn aus dem Tagtraum, in dem er sich mit mindestens noch einem Bein befand, war nur schwer ein Entkommen möglich. Waren Ramshin und er ja darin gerade dabei, heldenhaft und den Tod und den Teufel nicht scheuend, Sims und Broms aus ihrer schrecklichen Gefangenschaft zu befreien. Attacke! - Nur nicht verzweifeln. - Viel Feind, viel Ehr!
Und nichts auf dieser Welt, aber auch auf der anderen, wollte Anthony mehr als das. Alles würde er darum geben, damit das Team endlich wieder vereint war. Das Team mit der Biene auf der Brust. Sein Team! Nein, niemand steht für sich allein! Niemals! So hatten sie es einst geschworen. Und das galt auch heute noch. Vielleicht sogar noch viel mehr!
Dann aber zog er auch dieses letzte Bein aus dem süßen Sumpf seines Traumes, richtete sich mühsam auf und stammelte: „Nein, nein … Es ist nichts. … Ich bin völlig gesund. … Ich habe gestern wohl ein wenig zu lange gearbeitet.“
„Soso, zu lange gearbeitet“, stellte nun eine zweite Stimme fest, die von Tagträumen nichts wusste und speziell von diesem besser nie erfahren sollte. Nicht minder höflich als schon die erste, nichtsdestoweniger nicht minder kalt und unpersönlich. Ist es doch fast schon eine Regel, dass Graue Wachen immer zu zweit auftreten. Und nur wenn mit unbedeutenden Routinearbeiten beauftragt, alleine. Die dann noch anfügte: „Das hören wir gerne. Im Dienst des Systems sich zu verausgaben, das ist uns allen die oberste Pflicht. Heil Samlan dem Dritten und seinen Geboten! Sie arbeiten doch im Dienst des Systems.“
„Aber ja doch!“, beteuerte Anthony, jetzt allerdings sehr eifrig. Wohl auch, weil er dabei ja nicht einmal lügen musste. Denn auch wenn es eine private Klinik war, in der er sein Praktikum absolvierte, so wurde die Ausbildung dort von der Obrigkeit in allen Belangen und in voller Gänze anerkannt.
Vielmehr noch als nur das, diese Ausbildung wurde sogar von höchster Stelle mit einem Zuschuss gefördert. Was nichts anderes hieß, als dass der Fürst von Ibalon seine ganz persönliche Schatzschatulle dafür öffnete. Und das in einem Maße, dass Anthony nur bass erstaunt war. Nicht über den Betrag, den er persönlich ausgehändigt bekam. Das waren ja vorerst nur ein paar lächerliche Tangs und somit eigentlich viel zu wenig, als dass man es ein richtiges Stipendium hätte nennen können. Nichtsdestotrotz für jemanden in seiner Lage natürlich nicht zu verachten. Zumal andere Studienrichtungen so etwas erst gar nicht zu bieten hatten. Sondern über die komplette Summe. Und das Monat für Monat. Hatte er doch einmal zufällig einen kurzen Blick auf seinen Personalbogen werfen können und somit auch auf die vielen Nullen hinter den Zahlen, die dort ordentlich am rechten Rand in Kolonnen standen, die das eindeutig belegten. Als er nämlich in die Buchhaltung der Klinik im obersten Stock des Gebäudes zitiert worden war, wegen eines außerplanmäßigen Schichtwechsels. Mit diesem Betrag hätte man auch viel anderes Gutes tun können. Zumal es in einer Stadt wie Ibalon genug Stellen gab, die täglich und laut schrien, dass sie endlich an der Reihe seien. Der schon zitierte Personennahverkehr, der in einigen Stadtteilen sich diesen Namen kaum verdiente, das Amt für Versorgung der untersten Kasten mit sauberem Trinkwasser, das das erst recht nicht tat, aber auch die Dienststelle, die für die Bereitstellung von kostenlosen und auch funktionierenden Hydraulikpumpen in den Büros der Roboter des mittleren Dienstes Verantwortung trug, waren deren Leitungen doch ständig verstopft. Von billigem Öl, das bei niederen Temperaturen schnell verklumpt. Welches wiederum eingekauft wurde von korrupten Beamten, die das Wort Bestechung nicht nur von den Kriminalfällen im Fernsehen kannten etc. etc.
Dennoch hatte dieser Zuschuss durchaus seine Berechtigung. Selbst in dieser Höhe. Wenngleich es ja die teuerste Klinik im ganzen Land war und der normale Bürger schon darum denken will, dass es vollauf genug sei, was die Patienten für eine Behandlung dort abzudrücken hatten. Es war ein Vermögen! Aber es brauchte einen Anreiz, war der Beruf des Heilers ja noch nie besonders populär. Ließ sich doch damit später weder große Ehr noch ein dickes Bankkonto erzielen.
Ganz im Gegensatz dazu, ein Lehrer zu werden oder auch nur ein kleiner Beamter der Post. Nicht zu sprechen davon, Kapitän eines Flugboots zu sein. Was wohl der Traum eines jeden lernenden Roboters auf Robotanien ist. Vor allem kaum nachdem er das erste Mal mit einem solchen geflogen ist. Ausgenommen vielleicht Anthony. Der, soweit er wusste, diesmal sogar nur einer von zehn seines Jahrgangs war, die sich dazu berufen fühlten, eben ein Heiler zu werden.
Was, wenn man die Zahl derer zugrunde legt, die bestanden hatten, auch die aus den anderen Schulen auf dem Land, wahrlich nicht viel ist. Obwohl die wirklich begabten Zauberer und Hexen, zumindest was die Richtlinien dieser Welt dafür anbetrifft, also die mit den vielen magischen Kristallen im Blut, ja alle so oder so nicht mehr hier waren, sondern unterwegs nach Chotatyl. Um dort das Große Abenteuer zu erleben. Das aber alles andere als das ist, ein großes Abenteuer, sondern nur ein Versprechen auf den Tod. Noch dazu auf einen sehr grausamen Tod.
Und da der Beruf des Heilers nicht besonders populär unter den Schulabgängern war, sollten die paar Tangs, die Anthony persönlich von dieser Förderung ausgehändigt bekam, auch schon bald mehr werden. Sich sogar verdoppeln. So zumindest hatte es ihm die Personalabteilung der Klinik versprochen. Das allerdings schon beim Einstellungsgespräch. Wenn denn diese verdammte Probezeit überstanden war. Woran er gerne glauben wollte, obgleich er bei einer der öffentlichen Kliniken der Stadt, und zwar vom ersten Tag diesen Betrag erhalten hätte. Zusätzlich Kost und Logis und noch so ein paar andere kleine Vergünstigungen mehr.
Was sehr verlockend klingt, aber nicht war. Wollte der junge Zauberer ja nicht nur ein halbwegs talentierter Schrauber werden, denn nichts anderes als das sind die Quacksalber dort, einer, der zumindest ein Kreuzschlitz von einem Torx unterscheiden kann, sondern ein wirklicher Heiler. Einer, der sich durch sein Können diese Berufsbezeichnung tagtäglich verdient. Nicht nur durch das Diplom, das ihm am Ende der Ausbildung ausgehändigt werden würde. Das eben wegen des Mangels an Interessenten ohnehin so gut wie garantiert war. Ganz egal, wo die Ausbildung absolviert wurde und mit welchem Notenschnitt man letztendlich auf die Kranken dieser Gesellschaft losgelassen wird. Ein wirklich guter Heiler zu werden, das aber war nun einmal nur an dieser Spezialklinik möglich, waren die Einrichtungen der Stadt ja eigentlich nur für die Grundversorgung zuständig. Für das wirklich Allernötigste. Was hieß, dass sie eher gewöhnliche Werkstätten waren, zuständig für den Ölwechsel oder das Neujustieren eines Akkus, mit einer nur rudimentär zu nennenden Zusatzversorgung, als denn richtige Krankenhäuser.
Sodass jeder Roboter, der es sich leisten konnte, geradezu alles tat, nur um nicht dort zu landen. Denn schnell war ein Schlauch falsch gelegt oder die Lötstelle auf einer Platine total verbrutzelt. Und bevor man auch nur A sagen kann, war man in solch einem Fall nur noch gut für die endgültige Abschaltung. Und das, so wurde es zumindest hinter vorgehaltener Hand gemunkelt, ganz egal, ob diese menschlich oder aus Blech, nicht immer nur aus purem Unvermögen heraus, sondern weil sich ja mit dem Ausschlachten auch noch ein wenig Geld machen ließ. Das je nach Modell manchmal auch ziemlich viel Geld war. Zudem schwarz und nebenbei.
Ja, jeder Roboter von nur halbwegs funktionierendem Verstand tat alles, um nur nicht dort zu landen. Bestach mit dem letzten Tang in seiner Geldbörse die Sanitäter und bot, wenn alles nichts mehr half, sogar die Kupferleitungen seiner Verwandtschaft zum Verkauf feil. Wenngleich er natürlich nie Geschwister besaß, sondern immer nur Brüder der gleichen Baureihe. Was moralisch aber nicht minder verwerflich ist.
Gar nicht erst zu sprechen von den Robotern der Reihe X3-Z04, zu denen sich ja auch Anthony zählte. Die hatten in solch einem öffentlichen Krankenhaus schon zweimal nichts zu suchen. Viel zu teuer waren sie in der Anschaffung, als dass ein Besitzer dieses Risiko auf sich genommen hätte. Waren sie doch absolut menschengleich, mit Blut, Fleisch und Knochen, mit Nerven, Knorpeln und mit Muskelfasern, sodass sie fast nichts mehr unterschied vom Original. Wenn sie nicht sogar so oft so viel menschlicher waren als der Mensch selbst. Wenn man einmal davon absehen will, dass sie kein Fett ansetzen sollten. Denn das war ja das alleinige Vorrecht ihrer Erbauer. Allerdings eines von recht zweifelhafter Natur. Sogar eine Seele besaßen sie. Was auf dieser Welt aber noch allgemein geleugnet wurde. Mehr noch, jedem Roboter, der solch eine für sich beanspruchte, drohte nichts weniger als die endgültige Abschaltung.
Sekunden verstrichen, in denen eine gewisse Anspannung zu spüren war. Genährt von einer stummen Erwartung. In denen nur das leise Summen zu hören war, dessen Verursacher der Bus geradezu zwangsläufig war, indem er die Luft in der Röhre beständig vor sich herschob. Zumindest das bisschen, das sich dort noch befand. Große Vakuumpumpen, etwa alle fünfzig Meter in der Röhre angebracht, hatten den größten Teil dieser ja bereits durch lange Schornsteine, die wie umgekehrte Regenröhren an den Hochhäusern klebten, in das Außen geblasen und waren somit dem Bus bei dieser mühseligen Arbeit eine große Hilfe.
Dann aber, nachdem er endlich begriffen hatte, dass in der Frage der Grauen Wache nach dem Dienst im System sich ja zugleich auch eine nicht ausgesprochene versteckte, antwortete Anthony, wobei sich ein leicht verlegenes Lächeln in seinen Mundwinkeln zeigte: „Ach ja, einen Moment bitte“, und begann ebenjene Identitätskarte, die in nur wenigen Minuten unbedingt den Schlitz der großen Stempeluhr in der Klinik aufsuchen musste, damit er einmal mehr der fristlosen Kündigung entkam, in den Taschen seiner Hose zu suchen. Denn indem er behauptete, dass dem er dem System diente, war ja noch lange nicht bewiesen, dass dem tatsächlich auch so war. Und nichts liebt die Graue Wache mehr als den Beweis. Egal, wohin dieser sie letztendlich führt. Ist der Beweis ihr doch wie die Stufe einer Treppe. Verspricht doch nur er allein und all seine Brüder einen sicheren Tritt auf dem Weg zur absoluten Erkenntnis. Auf dem Weg zu absolutem Wissen.
Leider fand Anthony die Karte aber nicht da, wo er sie zuerst einmal vermutete, sodass er sich, bereits eine kleine Enttäuschung im Gesicht zeigend, die Taschen seiner Jacke vornahm. Wobei er allerdings so ungeschickt vorging, weil er dabei ja immer hastiger und nervöser wurde, dass ihm die Karte, als er sie endlich doch oben links fand und sogleich auch präsentieren wollte, jetzt sogar mit einem gewissen Stolz auf den Wangen, prompt aus den Fingern flutsche und in einer torkelnden Spirale zu Boden trudelte. Wo sie, als ob sie damit den Göttern des Unglücks noch nicht genug Ehre erwiesen habe, auch noch sofort zu rutschen begann. Weil ja die Röhre genau in diesem Moment die Hälfte der Strecke zwischen den zwei Stationen überschritten hatte und sich deswegen einmal mehr zu neigen begann. Somit auch der Bus, in dem sie sich alle befanden.
Ziemlich rapide senkte sich der Bus sogar. Immer mehr und mehr, bis sein Neigungswinkel fast an die acht Grad betrug. Befand sich doch die mit diesem Manöver ins Visier genommene Station wieder auf dem Niveau des Bodens. Die zugleich auch Anthonys Endstation war und die der Bus auf diese Art und Weise beschleunigt wohl in weniger als zwei Minuten erreichen sollte. Ist doch kaum eine Kraft stärker als die Gravitation.
Was jetzt aber nicht wundern soll, befanden sich doch nur die wenigsten Stationen in luftiger Höhe. Schon deswegen, damit die Passagiere, die es besonders eilig hatten, sofort in eine der vielen Rikschas umsteigen konnten, die in den Parkbuchten davor geduldig auf sie warteten. Gezogen von vier Meter großen Robotern mit drei Beinen, die fast jeden schmutzigen Witz kennen, auch die, die das Öl in den Schläuchen zum Blubbern bringen. Ibalon war nämlich schon immer eine höchst hektische und geschäftige Stadt. Wenn sie nicht schon immer die quirligste und hektischste Stadt im ganzen Universum war.
Zum Glück verhinderte eine der beiden Grauen Wachen mit einem satten und raschen Tritt ihres rechten Fußes jede weitere Flucht der Karte. Denn wenn nicht, wäre diese womöglich erst am Ende des Abteils zum Halten gekommen.
Das aber hätte für Anthony nicht nur vielleicht, sondern ganz bestimmt eine erhebliche Verzögerung zur Folge gehabt. Demzufolge ein zu spät zum Dienst erscheinen quasi unvermeidlich gewesen wäre. Dann eben doch das erste Mal. Denn natürlich hätten die Grauen Wachen deswegen von ihrer Kontrolle keinen Abstand genommen. Haben die nämlich eine verdächtige Situation erst einmal als eine verdächtige Situation ausgemacht, dann lassen sie nur ungern locker. Und der Keim des Zweifels war ja bereits gelegt, mit einem jungen, apathisch aus einem Fenster blickenden Roboter. Namentlich ihm. Zumal dieses Fenster außer einem milchigen Grau noch immer nichts anderes preisgab.
Nein, das gehört sich nicht, das war mehr als nur verdächtig. Somit ein Vorkommnis, das nach einem Beweis verlangte. Das geradezu nach einem Beweis schrie. Wohin dieser letztendlich auch führen mochte. Ob zur endgültigen Abschaltung oder nur zu einem „Wir wünschen Ihnen noch einen angenehmen Tag“. Denn das war den grauen Wachen ja wiederum völlig egal. Gefühle waren ihnen schon lange fremd. Zumal es nichts gibt, was besser zu ebendiesem Beweis dient als eben eine Identitätskarte. Nur sie trägt alle Stempel und Siegel, die das System zu vergeben hat.
Wie zu erwarten war es ein sehr breiter Schuh, in dem dieser rechte Fuß steckte, sodass jetzt nur noch eine kleine Ecke dieser Karte zu sehen war. Ein Schuh so klobig, dass er fast schon wirkte, als hätte man vergessen, ihn aus dem Karton zu nehmen.
Kurz blickte die andere Graue Wache auf diesen und somit auch auf die Karte. So als ob sie kurz überlegen müsse, was nun zu tun sein. Dann aber beugte sie sich herab, wobei sie sich mit einer Hand an der Lehne von Anthonys Sitzreihe gut festhielt, da ja die Neigung der Röhre in diesem Moment gerade ihr Maximum erreichte, um das eine vom anderen zu trennen. Und mit spitzen Fingern, aber trotzdem sehr zügig, zog sie das flache Plastik unter dem Klotz von Schuh hervor, wobei der sich natürlich zugleich hilfreich ein paar Millimeter in die Höhe hob.
Mit dem Griff der Fingerspitzen war jetzt aber auch das letzte Stück grau, denn selbstverständlich hatte die Karte dort, wo sie bereits mit dem Schuh des Kameraden in Kontakt gekommen war, diese Farbe angenommen. Wird doch alles, was eine Graue Wache anfasst oder auch nur berührt, innerhalb kürzester Zeit genauso grau wie sie. Und so ein flaches Ding wie eine Karte natürlich nur im Bruchteil einer Sekunde.
Extrem rasch, so möchte man sagen, wenngleich die Schulter eines Roboters aus der Reihe X3-Z04 dafür auch nur etwas unwesentlich länger braucht. Vielleicht so lang wie ein Bär, um einen Honigtopf auszuschlecken, wie ein Kämpfer wohl dazu sagen würde. Und einer namens Broms es auch öfter tat. Wenngleich es ja Anthony war, der das so gleich mehrfach schon hatte erfahren müssen. So auch jetzt. Denn vorsorglich, wohl damit er erst gar nicht auf den Gedanken an Flucht verfiel, lag dort plötzlich die Hand der zweiten Grauen Wache. Und natürlich gefror das Blut in seinen Bahnen unter diesem Grau sofort zu Eis. Zu kleinen spitzen Kristallen, die sich bereits immer näher an sein Herz herantasteten. Das sich dann scheinbar nur noch einmal in der Minute zu schlagen getraute. Nicht verraten wollend, dass es überhaupt noch am Leben war.
Nein, nichts und niemand hat diesem Grauen und dieser extremen Kälte länger Widerstand entgegenzusetzen. Keine tote und erst recht keine lebende Materie. Auch wenn Anthony anscheinend diesbezüglich ganz besonders allergisch war. Und es würde gewiss mindestens eine halbe Stunde dauern, bis endlich wieder Farbe in sein Fleisch zurückkehrte und die Schulter darunter ohne stetes störendes Knacken ihr Tagwerk vollbrachte.
Langsam erhob sich die zweite Graue Wache dann wieder mit der Karte zwischen den Fingerspitzen. Und drückte, nachdem sie den Griff mit ihrer anderen Hand wieder von Anthonys Schulter gelöst hatte und zugleich auch wieder aufrecht stand, kurz noch einmal das Kreuz durch, wozu sie ein wenig keuchend sprach, allerdings nur an ihren grauen Kompagnon gewandt. „Nein, nein, es liegt kein grober Schaden vor. Schon gar nicht einer so schwer, dass er eine endgültige Abschaltung unumgänglich macht. Muss nur mal wieder zur Inspektion, mich gut durchölen lassen.“
Was die erste Graue Wache mit einem kurzen Nicken guthieß. So schien es zumindest, denn so etwas wie eine Mimik zeigte ihr Gesicht dabei ja nicht. Kein Wunder, war das doch nicht mehr der Fall, seitdem es die Farbe Grau angenommen hatte. Denn ob dem wirklich so war, wie ihr Kamerad behauptete, war so natürlich nicht für sie feststellbar. Vielleicht musste sie diesen Vorfall sogar gleich nach Beendigung der Patrouille einer höheren Stelle melden. Wer weiß? Ein Versäumnis könnte vielleicht ihre eigene Akte beschmutzen. Das aber musste vermieden werden, auch wenn es womöglich sogar die endgültige Abschaltung ebendieses ihres Kameraden zur Folge hätte. Die der dann aber wohl mit dem gleichen, nicht vorhandenen Gesichtsausdruck zur Kenntnis nehmen würde. Selbst wenn der eigene Tod zumindest ein leichtes Zucken dort geradezu schreiend herausfordert. Außerdem war er ihr ja erst heute Morgen zum ersten Mal zugeteilt worden.
Nach einem weiteren kurzen Stöhnen, das nicht Gutes verhieß, überreichte die zweite Graue Wache dann der ersten die Karte. Anscheinend war die der Boss, auch wenn für Anthony kein Unterschied zwischen den beiden auszumachen war. Trug doch keine ein Rangabzeichen, weder auf der Brust noch an den Schultern noch sonst wo. Und auch in der Größe unterschieden sie sich nur in wenigen Zentimetern. Wobei zudem die Zweite ja die Größere war.
Davon abgesehen war das Tragen von Rangabzeichen den Grauen Wachen ja generell nicht erlaubt. Somit waren nur zu den öffentlichen Auftritten, wenn sie auf den Jamsinen durch die Straßen ritten oder zu Fuß in Schwadronen paradierten, zu Ehren Samlans dem Dritten, dem Gebieter der Galaxie, solche Abzeichen an ihnen zu entdecken. Wenn sie denn zu entdecken waren. Darf man ja dabei nicht an bunte Orden denken, wozu der Geist sofort verführt wird, denkt er an diese, wird ja alles, wie im ganzen All bekannt, kaum dass es mit ihnen in Berührung kommt, genauso grau wie sie. Und ein grauer Punkt auf einer grauen Uniform macht nun einmal nicht viel her.
Interessiert betrachtete die erste Graue Wache das Porträt von Anthony, das selbstverständlich, so wie es das Gesetz verlangt, auf dieser Karte zu sehen war. Wenngleich in diesem Moment nur für ihr geschultes Auge, das ja darauf trainiert war, die Farbe Grau in mindestens zehntausend Schattierungen wahrzunehmen. Es war ein Hologramm, das auf der Vorder- wie auf der Rückseite die Hälfte des Platzes auf der Karte einnahm. Wozu die Graue Wache, nachdem sie diese Karte sogar gegen das Licht gehalten hatte, das plötzlich wieder von außen durch das Fenster des Busses hereingeströmt kam, feststellte: „Nun, besonders ähnlich sieht es Ihnen ja nicht, Ant Honig Nummer Elf Zauberer. Nein, das kann man wirklich nicht sagen.“
Was jetzt aber nicht nur daran lag, dass das Porträt von Anthony, inzwischen zur Gänze schwarz-weiß, ihn, wenn es denn eines von der Erde gewesen wäre, sofort an eines aus einem längst vergangenen Jahrhundert erinnert hätte, wenn es denn damals schon dreidimensionale Hologramme gegeben hätte, sondern weil es ihm tatsächlich nicht besonders ähnlich sah. Es war nämlich ein großes Erschrecken in diesem zu sehen.
Was doch sehr erstaunlich ist, neigte Anthonys Gesicht doch in der Regel nicht dazu. Zeichnete es sich im normalen Alltag doch eher dadurch aus, dass es so völlig durchschnittlich war. Wenn man einmal von dem kleinen Leberfleck auf der Stirn absehen will. Der sich nicht einmal mit Scheuermilch oder Essig entfernen ließ, wie es einst in längst vergessenen Tagen versucht worden war. Nicht nur einmal. Von einer Mutter, die aber gar keine richtige Mutter war. Hatte sie doch nur einen Schnellkurs besucht, die Aufzucht von Menschenkindern betreffend. Und natürlich dadurch, dass wenn hinter der Stirn dieses Gesichts die Gedanken zur Pflicht gerufen wurden, man das auch immer auf der Außenseite gut beobachten konnte. Sonst aber war dieses Gesicht nur noch dafür bekannt, dass es zumeist gänzlich teilnahmslos wirkte. Wenngleich es zum Glück schon zu Ausdruck und somit zu Mimik in der Lage war.
In der Tat, gänzlich ohne jeden Ausdruck war dieses Gesicht so oft, was, wenn man es genau betrachtete, auch irgendwie für den Rest des Körpers zutraf. Wenn man das so über einen Körper so sagen darf. Und fast war es so, als wolle dieser nie auffallen. Ein Verhalten, das dem Besitzer dieses Körpers, namentlich Anthony, schon immer zu eigen war, denn auch hier konnte er nicht seiner Natur fliehen. Sodass, wenn man ihn denn vor eine graue Wand gestellt hätte, einen sofort das Gefühl befiel, wenn die Kleidung nicht wäre, dann wäre er vielleicht sogar gänzlich unsichtbar.
Natürlich war das Erschrecken, das das Porträt auf der Karte zeigte, nicht ganz freiwillig, schon gar nicht gewollt, vielmehr erzwungen worden. Denn als das Foto geschossen wurde, im Untergeschoss des großen Zentralbahnhofs von in Ibalon, in einer dieser Kabinen, die nur für diesen Zweck dort standen, was eine der wenigen seltenen Gemeinsamkeiten zwischen dieser Welt und Anthonys guter alten Erde war, und was ihn schon deswegen immer zum Schmunzeln brachte, da hatte Broms ihn tatsächlich überrascht. Hatte der ihm doch, während er auf dem Hocker saß, den er zum Glück zuvor noch auf die richtige Höhe gedreht hatte, aber natürlich erst, nachdem Ramshin ihn noch einmal auf diesen Umstand hingewiesen hatte, verbunden mit ihrem üblichen nachsichtigen Lächeln, und ungeduldig auf das Blitzlicht wartete, durch den Vorhang hindurch, der die Kabine mehr schlecht als recht von der Außenwelt trennte, seinen dicken Daumen in die Rippen gestochen. Wozu der Kämpfer lauthals lachte. Er und die beiden Mädchen standen ja davor, weil auch sie am an diesem denkwürdigen und so ereignisreichen Tag, dem Tag vor der Abschlussprüfung des fünften Semesters, spätestens ihren Antrag für eine Identitätskarte bei der Schulbehörde abzugeben hatten. Denn wenn nicht, dann wären sie gar nicht erst zur Prüfung zugelassen worden.
Die die Schulbehörde selbstverständlich abarbeitete und dann ordnungsgemäß ausstellte. Was schon dadurch bewiesen wurde, dass eben auch die beiden Identitätskarten, die von Sims und Broms, ihnen dann eine Woche später zugestellt wurden. Direkt an die Haustür ihres kleinen Häuschens am Rande der Stadt. Von einem sich ziemlich wichtig nehmenden Serviceroboter der Post, der dabei auf eine schriftliche Quittung in dreifacher Ausführung bestand. War Anthony in seinen Augen ja nur sehr bedingt dazu berechtigt, die Annahme dieser beiden offiziellen Dokumente zu vollziehen. Was er ihn auch sehr deutlich spüren ließ, wenngleich diese seitdem recht nutzlos auf dem Wohnzimmertisch lagen. Waren Sims Broms ja inzwischen auf dem Weg, das Große Abenteuer zu erleben. Unterwegs nach Chotatyl. Das aber alles andere als das war, sondern nur ein großer Betrug. Wenn die beiden denn überhaupt noch am Leben waren.
Und nur bei dem Gedanken an diese schreckliche Möglichkeit zuckte Anthony plötzlich zusammen. Mehr noch als nur das, ganz schnell wandte er sich von den zwei Grauen Wachen ab und blickte zu dem Fenster hinaus, durch das jetzt auch wieder Gesichter zu erkennen waren. Hatte der Bus ja seine Geschwindigkeit inzwischen soweit gedrosselt, dass man sogar zu Fuß mit ihm hätte Schritt halten können, wenn auch nur rennender Weise, und es sich somit nur noch um wenige Sekunden handeln konnte, bis er endgültig zum Stillstand kam.
Interessiert tuend blickte Anthony hinaus. Was ein sehr unhöflicher Akt war, aber sein musste. Denn auch wenn die Grauen Wachen grau waren und von ziemlich breiter Statur, so kamen sie dennoch einer grauen Wand nie und nimmer gleich. Aber nur die hätte vielleicht geholfen, dass er in diesem Moment tatsächlich wie unsichtbar gewesen wäre. Durfte doch niemand die kleine Träne sehen, die sich bei dem Gedanken an Sims und Broms möglichen Tod sofort so ungefragt in sein Auge gedrängt hatte. Denn das wäre nicht nur bedrohlich, nein, es käme sogar einem Todesurteil gleich. Denn wie lautete nun einmal das dritte Gebot auf diesem Planeten:
‚Roboter weinen nicht. Robotern ist es untersagt zu weinen, ausgenommen der Fall, um zu zeigen den Menschen ihr Mitgefühl oder eine höher geordnete Instanz befiehlt ihnen dies. Handelt ein Roboter wider dieser Anweisung, sind die Grauen Wachen unverzüglich zu informieren, und eine endgültige Abschaltung ist unumkehrbar.
Natürlich hatten die beiden grauen Gesellen Anthonys abrupte Kopfbewegung registriert. Keine Frage! Alles zu registrieren, was außerhalb der Norm liegt, das ist nun einmal ihre Pflicht. Darauf sind sie programmiert und nichts anderes ist ihr Ziel. Zumal es ja in der Tat ein fast schon unverschämt zu nennendes Verhalten war und sie es gar nicht leiden mochten, wenn ihnen nicht der Respekt gezollt wurde, der ihnen ihrer Meinung nach gebührte. Aber zum Glück führten sie es anscheinend darauf zurück, dass der junge Zauberer mit einem Blick nach draußen nur überprüfen wollte, ob es tatsächlich die Station war, an der er auszusteigen hatte. Erhob er sich doch auch fast zeitgleich von seinem Sitz. Was für sie beiden ein untrügliches Zeichen dafür war. Fast schon ein Beweis. Wenngleich es ja eigentlich gar keiner war. Wie gut, dass auch Graue Wachen sich manchmal irren können.
„Nun gut“, sprach die erste darum, während sie Anthony seine Identitätskarte wieder aushändigte. Die dieser mit weiterhin tief gesenktem Blick, nichtsdestotrotz flinkem Griff, entgegennahm. Nur um sie so schnell wie möglich in eine Hosentasche zu stecken, war das Ding ja inzwischen nicht nur grau, sondern eiskalt. „Dann will ich den jungen Herren Roboter mal nicht weiter aufhalten. Ist er ja unterwegs, um dem System zu dienen. Heil Samlan dem Dritten und seinen Geboten! Möge er, Ant Honig Nummer Elf Zauberer, sich aber trotzdem immer daran erinnern, dass es sich nicht gehört, in solch apathischer Weise aus dem Fenster zu glotzen. Man könnte ja sonst fast auf Idee verfallen, er träume womöglich.“
Worauf jetzt sofort die zweite Wache einfiel, vielleicht auch, um von dem leisen Pfeifen abzulenken, das sich inzwischen in ihr Atmen gestohlen hatte: „Das allerdings wäre dann nicht nur ein Vergehen, das wäre sogar eine schwere Straftat. Ich hoffe, er weiß das. Ich hoffe, er weiß das nur zu gut!“
Und dann, fast mit der letzten Luft, die noch in ihr war, rief sie sogar laut, während sie mit dem Zeigefinger ihrer linken Hand auf die Scheibe vor der vordersten Stuhlreihe deutete, gleich neben dem Eingang beziehungsweise auf die Tafel, die dort angebracht war. Auf der neben den sonstigen Erlassen und Anordnungen und der zurzeit gültigen Fahndungsliste der Grauen Wache natürlich auch die fünf Gebote standen. War es doch Pflicht, diese Informationen auf allen Plätzen und in allen öffentlichen Gebäuden und auch Verkehrsmitteln auszuhängen. „Zweites Gebot: Roboter träumen nicht. Robotern ist es untersagt zu träumen. Handelt ein Roboter wider dieser Anweisung, sind die Grauen Wachen unverzüglich zu informieren, und eine endgültige Abschaltung ist unumkehrbar.“
Selbstverständlich, kaum die ersten Worte vernommen, waren auch Anthony und die andere Graue Wache in den Text mit eingefallen. Aber auch all die Roboter, die sich gerade an ihnen vorbeidrängten und dem Ausgang zuströmten. Wozu auch die zwei mit dem einmal grün und dem einmal rot ummantelten Rad als Fuß gehörten. War es doch fast schon ein Gesetz, dass man sich beim Rezitieren eines Gebotes sofort zu beteiligen hatte, und das am besten lauthals. Und alle bildeten sie einen Chor, um das System zu preisen und zu huldigen.
Dann aber war zum Glück das Schlimmste überstanden. Anthony wünschte den beiden Boten des täglichen Schreckens auf Robotanien höflich einen Guten Tag, in einem Ton, der nicht einmal den Verdacht aufkommen ließ, es könne ihm am nötigen Respekt ihnen gegenüber mangeln, verbeugte sich, und rannte auch schon los. Keine Sekunde zu spät, denn gerade noch so schlüpfte er durch die hintere Tür des Busabteils, die sich zischend hinter ihm schloss.
Auf dem Bürgersteig blieb der junge Zauberer allerdings erst einmal sofort wieder stehen und atmete vernehmlich durch. Die Woche fing ja ganz schön mies an. Ganz unbestritten. Und er wollte nur hoffen, dass diese verdammte Kontrolle kein drohendes Zeichen für noch mehr Unheil war. Wusste er doch, dass da noch so einiges anderes die nächsten Tage auf ihn wartete, was ihm die Laune gehörig verderben konnte. Nicht nur die kaum zu vermeidenden Treffen mit dem Oberarzt der Klinik, die von Mal zu Mal immer unangenehmer wurden. Nein, denn da war ja noch die sogenannte Eignungsprüfung. Die vor der großen Kommission im Rathaus der Stadt. Was auch immer sich hinter diesem seltsamen Begriff verbergen wollte.
Kurz schüttelte sich Anthony sogar, fast so, als ob es ihm so gelingen könnte, die dunklen Ahnungen abzuschütteln, die bei diesen Gedanken fast zwangsläufig in ihm aufkamen. Denn jede Art von Prüfung auf Robotanien war ja noch nie ein Spaß. Im Gegenteil! War doch manchmal sogar der Tod die letzte Note, die ins Zeugnis geschrieben wurde.
Dann aber machte er sich endlich auf den Weg in die Klinik. Wobei wenigstens die Gefahr, womöglich doch noch zu spät zum Dienst zu erscheinen, bei all dem Adrenalin in seinem Blut, als ziemlich gering einzuschätzen war. Zumal er dann sogar das Laufen anfing.
Und immer schneller rannte Anthony. Immer schneller und schneller. Nein, ihr bösen Geister, ihr bekommt mich nicht zu fassen. Das Team, es wird gerettet werden, euch allen zum Trotz. Schon deswegen, so haben wir es einst geschworen.
Niemand steht für sich allein!
Rasch wandte sich Mathilda Anthony zu: „Ich habe übrigens neulich geträumt, dass ich eine starke Kriegerin bin. Was sagst du dazu?“ Und nach einem kurzen Blick in sein verblüfftes Gesicht, da lachte sie laut auf: „Na, das hättest du mir wohl nicht zugetraut“, wozu sie plötzlich sogar eine ihrer Krücken bedrohlich schwang. In einer Art und Weise, als ob diese plötzlich ein Schwert sei.
Und dann, während sie ihren Weg wieder aufnahm und ebendieses Schwert im Wechsel mit dem Fuß auf der anderen Seite bei jedem Schritt nach vorne stieß, da rief sie: „Hier, nimm das, du feiger Schurke! Und das! Ah, ich merke, du hast noch immer nicht genug. Wagst es, dich mit mir anzulegen! Mit mir, die ich eine Freundin von Anthony dem großen Zauberer bin. Dem größten Zauberer des Universums. Einstmals sogar seine einzige und somit seine beste Freundin auf dieser Erde.“
Weiter und immer weiter schritt das Mädchen voran, die schmale Straße, an der ihre beiden Häuser lagen, und lachte laut. Wohingegen Anthony völlig überrumpelt war. Mehr noch als einen Igel, der mit einem lauten Knall entdecken muss, dass er einen Luftballon niemals schlafen kann. Wie wohl ein Krieger auf Robotanien jetzt dazu sagen würde. Ein Krieger, wie zum Beispiel Broms.
Wenngleich man den Igel auf Robotanien natürlich nicht ganz mit dem, der auf der Erde beheimatet ist, vergleichen kann. Schon gar nicht von der Größe her. Außerdem ist er flach wie ein Teppich. Nicht zu vergessen, knallgelb. Wie man generell sagen muss, dass die Flora und Fauna in Anthonys zweitem Leben, das ja eigentlich seit Langem sein erstes war, schon seit dem Beginn aller Zeit immer gerne mit dem Pinsel auf eine weitaus prächtigere Farbpalette zurückgriff. Alles war dort ein Stück bunter, eine Ecke greller. Nicht nur die Wolken am Himmel.
Aber ohne Frage hat auch dieser Igel lange Stacheln, die er sein tägliches Kleid nennt und die er auch in der Nacht niemals ablegt. Schon weil er die Kälte meidet. Sodass der Vergleich dann doch wieder stimmte. Was Anthony das Denken und das Suchen nach Worten und Begriffen wiederum sehr vereinfachte. Der ja ständig auf der Suche nach solchen Vergleichen war. Jetzt allerdings, kaum den ersten Satz von Mathilda vernommen, natürlich erst einmal wie angewurzelt stehen geblieben war.
Dann aber, wenn auch nur schwer wieder in Tritt kommend, stolperte er seiner, wie von ihr soeben richtig bemerkt, einzigen und somit auch besten Freundin auf dieser Erde auch schon wieder artig hinterher. Wobei er, als er endlich Worte fand, seltsamerweise zuerst aber gar nicht auf den unglaublichen Hammer einging, der ihn, wiewohl nur verbal, soeben ganz schwer auf die Brust getroffen hatte, sondern sagte nur, allerdings ein wenig klingend, als wäre er in akuter Atemnot: „Ich bin nicht der größte Zauberer des ganzen Universums. … Sag nicht ständig solch einen Unsinn. … Ich mag das nicht. … Und außerdem … Du bist noch immer meine einzige und somit beste Freundin. … Das weißt du doch.“
Was jetzt seltsamerweise tatsächlich die Kraft in sich trug, dass Mathilda ihre Krücken wieder senkte und sogar stehen blieb und auf Anthony wartete.
Ein Umstand, den der zuerst als gutes Zeichen deutete, dann aber, als er das Feuer in den Augen seiner einzigen und somit besten Freundin auf dieser Erde blitzen sah, und das sogar auf die drei Meter, die ihm ja noch immer bis zu ihr fehlten, sofort umzudeuten wusste. Kannte er sie ja lange genug.
„Ja, und was war mit Amelie“, fauchte sie nämlich.
Dementsprechend wurde Anthonys Schritt noch träger. Kaugummigleich. Er musste irgendwie Zeit gewinnen, und wenn es nur eine Sekunde war. Diese Frauen und ihre ewigen Stimmungswechsel. Er würde es nie verstehen.
Doch diese lächerliche Sekunde, die tatsächlich auf diese Weise gewonnen wurde, war natürlich viel zu wenig, als dass sie ein Rettungsring in den Fluten der Zeit hätte sein können. Womöglich aus den Wolken geworfen von mitfühlenden Engeln. Sodass Anthony, selbst als er endlich wieder neben Mathilda stand, erst einmal nur recht nervös mit dem rechten Auge blinzelte. Ein Tick, der sich gern zu solchen Gelegenheiten bei ihm einstellte. Wenn die Welt ihm zeigte, dass sie sich nur ungern von seinen Zügeln einen Weg aufzwingen lassen wollte. Nein, auch mit diesen Worten hatte er nicht gerechnet. „Mit wem?“, stammelte er dann, obzwar er ja genau wusste, wer gemeint war. Und ließ noch ein gedehntes „Mit Amelie?“ folgen. „Meinst du vielleicht die Amelie, die einst im gleichen Haus mit mir wohnte?“
Mathilda hingegen war hellwach. „Ja, genau diese Amelie meine ich“, schoss es aus hier heraus. „Ich zumindest kenne keine andere. Du vielleicht? Sie war doch deine Freundin, oder etwa nicht? Deine beste Freundin!“
Jetzt aber schluckte der junge Zauberer. Erst einmal, dann noch einmal. Stumm Tribut zollend für eine jede der zwei Kräfte, die plötzlich in ihm zogen. So schrecklich heftig und noch dazu in völlig konträre Richtungen. Zum einen musste er ja unbedingt klären, was Mathilda genau damit meinte, sie hätte geträumt, dass sie eine starke Kriegerin ist, aber zum anderen gab es Momente im Leben, da musste er höllisch aufpassen, was er sagte. Damit eben diese Freundin, seine einzige und beste auf dieser Erde, nicht plötzlich auch seine letzte war. Da musste er jedes Wort auf die Goldwaage legen, mit einer Pinzette aus dünnem Glas.
Vorsichtig probierte er es darum mit einem: „Ja, eine Freundin, das war sie schon. Aber natürlich habe ich sie nie so gerne gehabt wie dich.“ Und das, obschon er Amelie tatsächlich geliebt hatte. Ganz schrecklich blutete sein Herz darum, als er sie unter den Leibern des Ozmolots fand. Den er wiederum als Fred kannte und den er zum Glück für lange Zeit nicht mehr wiedersehen würde. Schon gar nicht eben als den Fred, den er kannte, ewig jung und niemals alternd, stets ein wenig streng riechend, denn dieser Leib war ja im Spiegeluniversum für immer verloren gegangen. Abgeholt von den Seelenfängern.
Doch so einfach kam der junge Zauberer aus der Sache nicht raus. Und Mathilda sprach auch sofort den Punkt an, wo der Haken lag: „Das sah mir aber ganz anders aus. Habe ich euch doch Händchen haltend durch die Stadt gehen sehen. Nicht nur einmal. Oder hat mich da mein Auge getrübt?“
Worauf Anthony, fast schon schlagfertig, wofür er nun wirklich alles andere als berühmt war, jetzt eigentlich antworten wollte: „Willst du vielleicht mit mir Händchen halten durch die Stadt gehen?“, dann aber zum Glück sofort einsah, dass das ein noch viel größeres Unglück im Gepäck führte. Egal, wie die Antwort ausfallen würde. Und so sagte er letztendlich nur etwas kleinlaut: „Ich war verliebt, da macht man viel Unsinn. Da ist man verwirrt und sieht nicht den Menschen, den man in Wirklichkeit vor sich hat.“
Was diesmal seltsamerweise tatsächlich die Kraft in sich trug, dass Mathilda wieder versöhnt wurde. Und das viel schneller, als zu befürchten war. Sogar das Blitzen in ihren Augen schwand und sie sagte nur: „Nun ja, so unrecht schien mir diese Amalie gar nicht zu sein.“ Hatte sie sich mit ihr ja im ‚Sonne in der Nacht‘, dem Lokal, das damals ziemlich angesagt war, in das sie aber beide kaum noch gingen, ein wenig unterhalten. Eben über ihren gemeinsamen Freund namens Anthony. Auch über dessen Kopf hinweg. Weil der ja in der Anwesenheit von zwei Frauen sich schon immer schwer damit tat, den Mund überhaupt aufzukriegen. Noch dazu in der Anwesenheit dieser zwei Frauen. Völlig egal, dass die damals ja erst im Begriff waren, sich zu richtigen Frauen zu entwickeln. Was für einen Mann wie ihn vielleicht noch viel gefährlich war.
Was den erst einmal nur erneut schlucken ließ, denn obwohl so viele Jahre seitdem vergangen waren, so war er dennoch über diesen scheinbaren Irrtum seines Herzens noch immer nicht hinweg. Hatte er Mathilda ja auch nie verraten, wie die Sache richtig stand. Eben, dass er Amelie so unvermutet unter den Leibern des Ozmolots fand, als er plötzlich seine Wohnung im vierten Stock dieses grässlichen Mietshauses räumen musste. Waren ja die Schergen des Leiters des Geheimdienstes seiner Majestät hinter ihm her und wollten ihm nicht weniger als das Leben rauben.
Und dass er ihr noch nicht davon berichtet hatte, das wollte schon etwas bedeuten, hatte Mathilda ja so eine raffinierte Art, dass er ihr letztendlich alles verriet. Stellte geschickt ihre Fragen, die eigentlich immer nur Fallen waren, in die er in seiner gewohnt tölpelhaften Weise dann plappernd stolperte.
Im Hier und Jetzt aber war der junge Zauberer auf der Hut. Dass seine beste und einzige Freundin hier auf Erden, einmal in Rage, sich so schnell wieder beruhigte, kam selten genug vor und musste somit fast schon mit einem Wunder gleichgesetzt werden. Und auch wenn dieses noch sehr klein zu nennen war, so tat er sich schon immer schwer an solche zu glauben. Egal, ob an die großen oder die kleinen Wunder. Auch wenn ihm in seinem Leben schon so einige widerfahren waren. Sehr, sehr kleine, aber auch sehr, sehr große Wunder. Sogar welche, die noch größer waren, als dass ein Elefant sich durch das Schlüsselloch des Briefkastens zwängt, Rüssel voraus, um in diesem seinen wohlverdienten Mittagsschlaf zu halten. Wie ein Kämpfer namens Broms wohl nun dazu sagen würde und es auch mehrmals im Leben tat. Eben immer dann, wenn auch er Zeuge eines solch unglaublichen Wunders geworden war.
Und so sagte Anthony nur noch: „Sprechen wir nicht mehr darüber. Das führt zu nichts. Ich frage dich ja auch nicht über deinen Peter aus, oder?“
Kurz war es daraufhin still, denn das war ja eine Wahrheit, an der nun Mathilda zu schlucken hatte. In der Tat, das tat Anthony nie. Wobei das Mädchen aber nicht wusste, ob sie sich das nicht insgeheim manchmal so wünschte. „Ja, das tust du nie“, gab sie zu. Dann aber, auch weil sie ihrer Natur nicht fliehen konnte, fügte sie noch an: „Ist es vielleicht, weil du ihn nicht leiden kannst?“
Worauf Anthony allerdings sofort zurückfragte, denn er war ja auf der Hut: „Wie, nicht leiden kann?“ Und unvermutete Fragen sofort mit Gegenfragen zu beantworten, war schon immer eine gute Taktik. Also fuhr er auch sogleich damit fort: „Ich kann deinen Peter nicht leiden? Wie kommst du denn drauf?“
Was ihm hoffentlich half, wieder einmal ein kleines Stück von der Schnur der Zeit abzuschneiden und es in seine Tasche zu stecken. Mehr als nur diese eine lächerliche Sekunde. Das er dann in einem geeigneten Moment herausholen und wieder anknüpfen konnte, am besten in einem Moment größter Not, die in Diskussionen mit Mathilda ja gerne mal gehäuft auftauchten, denn selbstverständlich konnte er diesen aufgeblasenen Fatzke nicht leiden. Und nichts weiter war dieser Peter in seinen Augen. Was Mathilda aber scheinbar nicht erkennen konnte und wohl auch nicht wollte. War doch in diesem Fall ganz eindeutig sie es, die verwirrt war und die nicht den Menschen sah, den sie in Wirklichkeit vor sich hatte. Ihr dabei zu helfen, indem er diese Wahrheit eventuell äußerte, war allerdings alles andere als ratsam. Jetzt nicht, aber auch nicht zu jedem anderen Zeitpunkt. Dann wäre das kleine Stück von der Schnur der Zeit nämlich bereits jetzt verbrannt, schneller als eine Lunte. Außerdem, er war zwar so oft ein Tölpel im Umgang mit den Frauen, zugegeben, einer, dessen Fuß fast jedes Fettnäpfchen passte, aber er war kein Selbstmörder. Schon eben darum sprach er nie über diesen Peter.
Nichtsdestotrotz musste er irgendwie aus diesem Gespräch fliehen, das eine Wendung genommen hatte, die er so gar nicht guthieß. Wie es so oft bei den Gesprächen mit Mathilda war. Was sie geträumt hatte, das war wichtig und nichts anderes. Trotzdem versuchte er es erst einmal mit einem diplomatischen „Wir beide haben halt völlig andere Interessen.“ Denn wenn einer seine Mathilda kannte, dann war das natürlich er. Und wenn die erst einmal eine Frage gestellt hatte, dann ließ sie diese nur ungern unbeantwortet. Also lieber jetzt was zum Besten geben, und wenn es so eine plattgesessene Plattitüde war, als in einem Moment, wo es vielleicht noch unpassender war.
Und in der Tat, es schien sogar die richtige Antwort gewesen zu sein. Mathilda lachte nämlich plötzlich wieder.
Mehr noch als nur das, das Mädchen kriegte sich auf einmal kaum noch ein vor Lachen. Wohl auch, weil das nun ihr das half, diese unglaubliche Spannung abzubauen, die immer in ihr aufkam, wenn sich um Peter und Anthony zugleich kümmern musste. Und sei es nur in Gedanken. Und dann, wobei sie sogar kleine Kugeln aus Spucke über ihre Lippen hinweg in die weite Welt schoss, wie immer, wenn die Heiterkeit in ihr nicht mehr zu bändigen war, da rief sie fast schon: „Wie wahr, wie wahr, dass ihr zwei unterschiedlicher seid, dass es kaum noch unterschiedlicher geht, das ist eine der wenigen absoluten Wahrheiten, die es auf dieser großen weiten Welt gibt! Übertroffen vielleicht nur von der, dass ein guter Romancier nur selten auch ein guter Poet ist.“
Eine Feststellung, die sie scheinbar sehr treffen fand. Auch an diesem Ort und in diesem Zusammenhang. Denn nachdem sie endlich aufgehört hatte zu lachen und zu prusten, da zog ein Ausdruck über ihr Gesicht, der das mehr als nur vermuten ließ. Strotzte er doch vor eitler Selbstgefälligkeit.
Was Anthony seiner einzigen und somit besten Freundin hier auf dieser Erde aber seltsamerweise in diesem Moment gönnte, wiewohl er von ihrem plötzlichen Heiterkeitsanfall natürlich aufs Neue mehr als nur einen Schritt weiter in den See der Verwirrung gestoßen wurde. Zum Glück nicht so weit, dass einmal mehr das Ertrinken drohte. Verdammt, diese Frauen und ihre ewigen Stimmungswechsel! Er würde es nie verstehen. Denn niemand würde Mathilda jemals wegen ihrer Beine bewundern, die von dicken Narben überzogen waren, als wollten sie die Flüsse auf einer Landkarte sein. Auch wenn er es gar nicht leiden konnte, wenn sie, wie so oft, mit Wörtern um sich warf, die er so gar nicht einordnen konnte.
Nein, in der Tat, das konnte der junge Zauberer so gar nicht leiden, fühlte er sich dann doch plötzlich immer so schrecklich dumm. Denn auch wenn er ahnte, dass dieses Wort aller Wahrscheinlichkeit nach etwas mit der Schriftstellerei zu tun hatte, war es doch Mathildas sehnlichster Wunsch, einmal eine große Schriftstellerin zu werden, so war es ihm dennoch ein einziges Rätsel, wo er jetzt diesen verflixten Romancier einzuordnen hatte. Ist er der, der diese kleinen Heftchen mit Sätzen fühlt, die es an diesem Kiosk zu kaufen gibt, an dem er sich selbst, als er noch allein in diesem riesigen Mietshaus wohnte und noch nicht bei Frau Watenbloom, allerdings immer nur mit Süßigkeiten versorgte? Egal, ob ein Westernheld darauf abgebildet ist oder ein Doktor, der eine Krankenschwester im Arm hält. Oder ist er vielleicht sogar der, der im Verlag für die belegten Brötchen zuständig ist, die er in eben diesem Kiosk immer besorgen muss? Ist doch der Romancier nichts anderes als ein Laufbursche für die anderen. Ein Lehrling der Buchstaben. Alles war möglich, alles konnte passen.
Dann allerdings atmete der Zauberer kurz innerlich auf, denn so ganz dumm, wie kurz befürchtet, war er dann eben doch nicht. Immerhin war auch ihm inzwischen bekannt, was ein Poet ist. Nur zu gut. Hatte Mathilda ja nicht nur einmal davon geschwärmt, wie sehr es diese Burschen vermögen, das Herz eines kleinen Mädchens mit Worten weich zu kneten. Besonders ihr Herz.
Darum sprach er plötzlich: „Wie recht du doch hast. Das kann man nicht besser sagen.“
Was Mathilda sogleich noch ein wenig selbstgefälliger durch die Gegend blicken ließ. Wenngleich sich dabei zugleich eine kleine Falte des Misstrauens zwischen ihre Augen schlich. Nicht weil Anthony sie lobte, dafür war die Eitelkeit die Schriftstellerei betreffend einfach viel zu groß, aber weil er sich scheinbar tatsächlich für dieses Thema interessierte. Das sah ihm nämlich so gar nicht ähnlich. Hatte sie ja nicht umsonst gesagt, dass er und Peter so völlig gegensätzlich seien. Der, wenn auch kein guter Romancier, dann zumindest doch ein ganz leidlicher Poet war.
Dann, weil er ja wusste, dass er etwas riskieren musste, damit das Gespräch endlich auf das Thema kam, das wirklich von Interesse für ihn war, ging Anthony sogar in die Vollen. „Und umgekehrt darf man das natürlich auch so sagen“, behaupte er frech.
Worauf es kurz einen Moment still war, seltsam still. Doch alles gewagt, alles gewonnen. Zwar klang es noch etwas zögernd, als Mathilda sprach: „Das ist wohl auch wahr“, aber nur, weil sie ja sofort im Kopf all die tausend Namen der Personen vergleichen musste, die ihr dazu einfielen. Aber letztendlich gab es auch dort keinen Widerspruch.
Sodass Anthony, die Gelegenheit beim Schopfe greifend, endlich doch noch fragen konnte: „Wann hast du geträumt, du bist eine Kriegerin?“ Nicht dass Mathilda womöglich doch wieder auf die Beziehung zwischen ihm und diesen schrecklichen Peter zu sprechen kam. Oder, noch viel schlimmer, er ihr vielleicht auch noch sein Lieblingsgedicht aufsagen musste. Da gab es nämlich keines.
„Ach, das ist schon länger her“, antwortete die, dabei aber noch immer leicht abwesend wirkend, denn gab es da nicht vielleicht doch einen guten Poeten, der auch ein guter Romancier war? Ihr Kopf stand einfach nicht still.
Anthony hingegen drängte unbeirrt weiter. „Was heißt hier, schon etwas länger?“