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Dies ist das erste Abenteuer von Anthony, dem Jungen, der zwei Leben führen darf. Eines hier auf der Erde und eines irgendwo da draußen in den Weiten des Weltraums, wo er ein zaubernder Roboter ist. Ein Buch, das einen in ein völlig neues Universum entführt. Fantastisch und in Farben gemalt, die noch nie ein Auge zuvor gesehen. Das ist versprochen! Das beste Fantasy-Buch über KI, das KI nie wird schreiben können! „Ibalon Daily Observer“ Dazu die Stimme eines Kritikers: "Das Abenteuer von Anthony Noll, das sich über sechs höchst unterhaltsame Bände erstreckt, keiner wie der anderer, ist keine Reihe für Kinder. Auch wenn es wie ein modernes Märchen beginnt und man allein wegen der Schlagworte „Kleiner Junge, Magie, Kampf Gut gegen Böse“ denken möchte, es sei nur für all die gedacht, die einst verlassen an einem Bahnhof standen, um sie bei der Hand zu nehmen und in ein neues Abenteuer zu führen, nicht weniger zauberhaft und spannend. Nein, diese Reihe ist ganz anders, schon sprachlich. Ich persönlich würde sie darum frühesten ab 14 Jahren empfehlen, auch wenn man sich in diesem Alter zumeist nicht besonders um die Abenteuer eines Achtjährigen kümmert, denn an diesem Punkt beginnt die Geschichte ja. (Oder zumindest die Erzählung, wenngleich alles ja bereits zwei Jahre früher seinen Anfang nahm.) Doch das ändert sich, werden die Bände ja immer erwachsener, so wie der Held eben auch. (Vor allem der 6. Band ist zu erwähnen, dessen letzten 200 Seiten ein einziges Feuerwerk sind.) Sodass man die Bände in ihrer Gesamtheit ein Werk nennen muss für all die, deren Herz groß ist, deren Fantasie ohne Fesseln und die Spaß an Büchern haben, von denen nie vorausgesagt werden kann, was im nächsten Kapitel geschieht, geschweige denn, wie sie enden. Egal, wie viele Lenze gesehen. (Ich nehme mich da gar nicht aus mit meinem fast erreichtem halben Jahrhundert.) Schon deswegen, weil man nach dem Zuschlagen der letzten Seite die ganze Geschichte ja noch einmal lesen muss. Aus Gründen, die hier nicht genannt werden, die aber versprechen, dass man für nur einmal Zahlen gleich zweimal mit Kopfkino beschenkt wird, wie zuvor noch nie gesehen. Oder, um die Sache abzurunden und den Autor zu zitieren: „Manchmal ist die Geschichte von Anthony und seinen Freunden hart und grausam, manchmal nachdenklich und philosophisch, manchmal auch voller Komik, so wie es das Leben selbst eben ist, aber immer liebevoll. Anders sollte man sich nie der Seele des Lesers nähern."
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2024
IMPRESSUM:
Widmung
BUCH I
Die Weissagung
Was muss denn weg?
Ein seltsames Erwachen
Die Schule
Randeln
Die Mittagspause
Wir sind ein Team
Ein fehlerhafter Energiemodus
Das entscheidende Spiel
Die fünf Gebote
BUCH II
Der neue Leiter des Geheimdienstes seiner Majestät
Im Krankenhaus
Ant erinnert sich
Ein belauschtes Gespräch
Die Semesterprüfung
Der goldene Zeigefinger
Die Routinekontrolle
Kampf in der Seitengasse
Hunks und seine Bande
Herr Halsban und sein Äffchen
Und noch eine Routinekontrolle
Der erste Versuch
Die Lösung
Der zweite Versuch
Sims‘ Befreiung
Der Baum weiß es
Und noch so viele Fragen
Die Anordnung
Alle Anthony Noll Romane:
FRANCIS LINZ
Anthony Noll
und der goldene Zeigefinger
BUCH I (wenn kleine Roboter träumen)
BUCH II (wenn kleine Roboter singen)
Autor:
Francis M. Linz
Gravelottestr. 4
81667 München
Germany
© Francis Linz 2012
Ebook / Epub 2 Version
ISBN 9783911350044
Wörter: 104.000
Geschrieben: Sommer 2011
Auflage: Final Cut / Frühjahr 2024
Umschlaggestaltung/Illustrationen: © Franus Graueis 2019
Von diesem Werk gibt es auch ein Hardcover,
eine illustrierte Ausgabe und ein Hörbuch.
Weiteres siehe: www.Francislinz.com
od. www.Anthony-Noll.de
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Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Rechteinhabers unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Für meinen Vater
Dank für die Marsmännchen,
die Du uns immer gezeichnet hast,
und die Du so oft auf dem Flughafen trafst;
besonders der mit den vielen Füßen
hatte es mir angetan.
(Dank an alle,
die zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben.)
(wenn kleine Roboter träumen)
„Es ist nur dieser Jahrgang, da bin ich mir ganz sicher“, sprach der Mann in dem langen Mantel, geflochten aus Vogelfedern. Bunt und schillernd begleiteten sie jeden seiner Schritte. Er hatte es eilig. Weiß hingegen war das Haar auf seinem Kopf, das er auf seltsame Weise trug. Zumindest an den Stellen, wo er es noch trug.
Wobei man aber nicht sagen konnte, ob da, wo der Schädel kahl war, dieses auf natürliche Weise verloren gegangen war, des Alters wegen, oder ob es schlichtweg wegrasiert worden war. Wohl eine Mischung aus beidem, denn zu exakt war der Kreis, der sich dem neugierigen Auge zeigte, als dass nur die launige Tat der Natur der Ursprung dafür hätte sein können. Außerdem war dort, wo die Haut nackt war, diese mit einer Art rotem Lack übermalt worden.
Mit einem stark glänzenden Lack, der jeden Lichtstrahl sofort in alle Richtungen reflektierte. Darunter schwebte das restliche Haar, das wie zu einem Teller geflochten war. Nicht sehr dick, nur einen oder zwei Finger vielleicht, aber zehn Zentimeter in der Breite. Wenn nicht sogar nach vorne und nach hinten noch ein gutes Stück mehr. Sodass es auf die Entfernung fast den Eindruck erweckte, der Mann trüge einen Heiligenschein.
Das aber täuschte gewaltig. Genauso wie bei dem zweiten Mann, an den die Worte gerichtet waren und mit dem er heftig diskutierend durch die Gänge des Schlosses marschierte.
Wobei marschieren genau das richtige Wort ist. War es doch kein Schlendern weiser Gelehrter, vielleicht versunken im Disput, Raum und Zeit um sich herum vergessend, sondern ein konzentriertes Herangehen an die Sache. Auch wenn natürlich jeder einen eigenen Standpunkt dazu vertrat und somit ein anderes Ziel verfolgte.
Die beide, obzwar so gegensätzlich, sich in einer Sache jedoch völlig gleich waren. Ein jedes wollte so schnell wie möglich erreicht werden. Und das um jeden Preis!
„Nein, nein, mein guter Herr Kollege Ralpanin“, antwortete jetzt der zweite Mann. Wohl genauso alt wie der Erste, denn auch sein Haar war weiß, das er in gleicher Weise trug. Wenn er nicht sogar ein paar Tage älter war.
Was als Verdacht aufkam, wenn man denn den Zustand seines Mantels bei dieser Abschätzung mit in Betracht zieht. Denn einige der bunten Federn waren bei diesem abgebrochen und standen wild ab. Was einen abgetragenen, fast schon zerschlissenen Eindruck erweckte. Kurzum, es sah schäbig aus.
Vielleicht aber sollte man sich bei der Beurteilung des Alters von solchen Äußerlichkeiten nicht irritieren lassen. Vorschnelle Urteile werden gern erstellt, zurückgenommen werden sie nur selten. Vielleicht war der zweite Mann einfach nur nicht so eitel wie der erste. Oder er war nur ärmer und konnte sich nicht so oft dieses für seinen Stand so wichtige Kleidungsstück leisten. Denn nur den obersten Sehern war es ja erlaubt, sich mit den schillernden Federn der Vögel von Saloga zu schmücken. „Das kann nicht sein“, fuhr er fort. „Sie haben den dritten Wurf der Knochen vergessen, der uns eindeutig ein Zeitfenster von fünf Jahren offenbarte.“
„Nein, das habe ich nicht!“, antwortete der erste Mann trotzig. „Aber wir werden ja gleich wissen, wem von uns beiden der Imperator in dieser Sache mehr vertraut. Ihnen, mein guter Herr Kollege Valaspun, oder doch mir.“ Und kaum hatte er dies ausgesprochen, da standen sie endlich vor der hohen Tür, die in den Thronsaal führte. Der ihr Ziel war, seitdem sie vor gut einer halben Stunde die Ebene der Magier und Seher in der Unterstadt verlassen hatten.
Wobei diese hohe Tür aber fast schon ein Tor zu nennen war. Das selbstverständlich streng bewacht wurde. Von der imposanten Leibgarde des Alleinherrschenden. Sonst hätte dieser sich nie und nimmer sicher gefühlt. Viel zu viele trachteten ihm nach dem Leben, als dass sein Schlaf ihm noch Ruhe und Frohsinn versprach. Knechtschaft und Fron war das, was er von seinem Volk forderte. Rache und Tod das, was dieses ihm dafür entgegenrief. Täglich und aus allen Ecken seines Reiches.
In der Tat, es waren gar seltsame Wesen, die da nun standen und die man überall im Universum nur Bakone nannte. Unverrückbar machten sie ein Weiterkommen ohne Einverständnis unmöglich. Sahen sie doch fast ein wenig so aus wie Klopapierrollen, auf die jemand, womöglich ein Kind, recht ungeschickt mit Filzstiften so etwas wie ein Gesicht aufgemalt hatte.
Auch wenn dieser Vergleich hinkt, nur hinken kann, denn selbstverständlich waren sie ungleich größer. Fast an die vier Meter. Zudem schwer bewaffnet. Auch ließ nichts im Ausdruck ihrer Gesichter auch nur im Ansatz die Erinnerung an die bunte Fröhlichkeit von Filzstiften aufkommen. Erst recht nicht, wenn man direkt vor ihnen stand, wie jetzt die beiden Seher. Es war nur die Form, die diesen Vergleich erlaubte. Rund wie Kreise waren sie und unglaublich gefährlich.
Dementsprechend ruhig, fast schon unterwürfig, war der Ton, mit dem der soeben mit Valaspun Angesprochene Einlass begehrte. „Bakone, tretet bitte zur Seite, denn wir müssen sofort zum Imperator“, forderte er. „Haben wir ihm doch etwas sehr Wichtiges mitzuteilen. Etwas, das keinen Aufschub in der Zeit duldet. Nicht eine Sekunde.“
Worauf einem dieser schrecklichen Wesen, wie aus dem Nichts, ein Arm aus dem runden Bauch wuchs. Scheinbar ohne jeden Knochen, wie eine dicke Schlange. An dessen Ende so etwas wie drei Finger ein Sprechfunkgerät hielten. Welches wiederum, nach einem kurzen Schweben in der Luft, an den bunten Mund gepresst wurde. Sogleich wurden ein paar Sätze hinein gemurmelt. In einer Sprache, die aber keinem der beiden Besucher bekannt war.
Das alles geschah recht zügig, sodass auf eine Antwort nicht lange gewartet werden musste. Nachdem diese von einem großen grünen und orangen Ohr eingesogen worden war, was allerdings so leise geschah, dass die beiden in ihren schillernden Roben Wartenden nichts von dem Inhalt verstehen konnten, erschien sofort ein zweiter Arm. Knapp unterhalb des Ersten, etwas dünner und etwas länger. Der mit seinen drei Fingern einen Zahlencode auf einer Art Tastatur an der Wand eingab. Wie bei einem Tresor. Was das Tor letztendlich dazu veranlasste, sich mit einem kaum hörbaren Zischen zu öffnen.
„Sie werden von seiner Hoheit, dem Imperator, erwartet“, lautete die knappe Aufforderung einzutreten. In einer Sprache, die den beiden Gelehrten jetzt aber wieder geläufig war. Auch wenn es nicht der Dialekt war, der sonst im Palast von den feinen Leuten benutzt wurde.
Unverzüglich taten die beiden, wie ihnen geheißen, denn die Sache, die sie dem Imperator vorzutragen hatten, war in der Tat von einer Eile, die keinen Aufschub duldete. Demgemäß wurden ihre Tritte nun sogar noch ein wenig emsiger, die sofort an den weit entfernten Wänden ein hartes Echo warfen. Auch oder vor allem, weil der folgende Thronsaal sehr groß war.
Sehr, sehr groß sogar, gab es doch noch nie einen größeren im ganzen Universum. Man kann es in vielen Metern ausdrücken, aber auch an der Tatsache festmachen, dass die beiden Gesandten des Schicksals nun geradezu an einem Heer von Bakonen vorbei defilierten. Paarweise, links und rechts, säumten sie ihren Weg. Wie die Bäume einer Allee. Insgesamt ein gutes Gros, was ein Dutzend mal ein Dutzend ist. Wenn sich Valaspun nicht verzählt hatte. Der vor lauter Anstrengung sogar ins Schwitzen kam. Denn so sehr sich auch mühte, mit Ralpanin Schritt zu halten, es gelang ihm nicht. Immer weiter fiel er ab. Er war wohl doch der Ältere.
Somit war es der andere, der vor den vielen Stufen, die zu des Imperators Thron führten, zuerst auf die Knie fiel und sprach: „Es tut mir leid, Eure Majestät belästigen zu müssen, aber wir beide kommen in einer dringenden Angelegenheit, die sofort einer Weisung Eurerseits bedarf.“
Der Imperator hingegen war ein Mann in den besten Jahren. Gut durchtrainiert, was man trotz der Entfernung und all des goldenen Glitters, der geradezu von seiner Uniform tropfte, gut erkennen konnte. Mit noch vollem Haar unter der goldenen Krone, die besetzt mit Myriaden von glitzernden Juwelen war. Etwas gelangweilt blickte er von seinem prächtigen Thron die vielen Stufen herab. Er war schon so lange Imperator, dass es nur sehr wenige Dinge gab, die ihn wirklich noch in Aufregung hätten versetzen können.
Zwei alte Seher gehörten da mit Sicherheit aber nicht dazu. Auch wenn er selbstverständlich die Traditionen achtete, denn kraft seines Amtes war er ja der Vorsteher jeder Religion. Es gibt nur einen Gott, und der trägt seinen Namen: Samlan, der Dritte.
Das hieß aber nicht, dass er diese auch achtete. Er machte es nur, weil es ihm nützlich war. Wenn nicht, dann hätte er schon längst jeden Glauben abgeschafft und all die vor die Tür gesetzt, die ihn für ihn in die Welt trugen. Aber es konnte gewiss nicht schaden, erst einmal zu hören, was diese beiden Vogelscheuchen zu erzählen hatten.
Still lachte der Imperator über den so passenden Vergleich in sich hinein. Ruhig hingegen war seine Stimme, als sie befahl: „Steh auf, Ralpanin! Sprich, was hast du mir so Wichtiges zu berichten!“
Der so Angesprochene tat sofort, wie ihm befohlen, auch wenn sein Mitstreiter erst jetzt dabei war, sich neben ihm auf die Knie zu werfen. „Eure Majestät, es sind uns unglaubliche Neuigkeiten zuteilgeworden“, sprach er hastig. „Eine uralte Prophezeiung betreffend. Eine Prophezeiung, die schon all Eure Vorgänger so sehr gefürchtet haben, mehr noch als all die gelben Teufel von Panakan. Aber wie Ihr wisst, die Knochen, sie lügen nicht. Die Knochen, sie lügen nie!“
„Ja, ja, die Knochen, sie lügen nie“, wiederholte der Imperator, auch wenn er selbst ganz anderes glaubte. Alles nur alberner Humbug. Aber wenn es ihm dienlich war, warum sollte er keinen Vorteil daraus ziehen? „Und was sprechen sie so, die Knochen, und welche Prophezeiungen meinst du genau, Ralpanin? Es gibt so schrecklich viele von ihnen. Würde ich jeden Tag einer Neuen mein Gehör schenken, bräuchte ich neun Leben alleine nur um sie zu begreifen. Nicht wahr?“
Wenn Ironie im Ton mitschwang, so hatte Ralpanin sie nicht vernommen. Viel zu sehr war er mit seiner eigenen Wichtigkeit beschäftigt, als dass die Umwelt vermocht hätte, irgendeinen Einfluss auf ihn auszuüben. Er bekam ja nicht einmal mit, dass Valaspun erst jetzt dabei war, sich neben ihm keuchend und mit zitterndem Gebein wieder zu erheben. Wobei sein weißer Heiligenschein heftig wippte, ganz so, als trotze er heftigen Windböen.
Nein, der Pfad des Planes war schnurgerade. Nichts konnte Ralpanin in die Irre führen. Und so griff er, ohne seinem Kontrahenten auch nur eines Blickes zu würdigen, kurz unter seinen Mantel und brachte einen langen Stab zum Vorschein, der aus irgendeinem Metall gefertigt war und gefährlich silbern glänzte.
Fast schon bedrohlich, sodass sich die Beschützer des Imperators sofort genötigt sahen, aus ihren Bäuchen schlangengleiche Arme mit einer Waffe am Ende erscheinen zu lassen. Hier war es ein Schwert oder eine Armbrust, dort eine Strahlenkanone oder ein Lösch-Mich-Aus.
Die Finger des Allmächtigen aber gaben sofort ein beschwichtigendes Zeichen, sodass all das Mordgerät so schnell verschwand, wie es erschienen war.
Zu Recht, denn Ralpanin bediente nur einen harmlosen Knopf oben am Knauf des Stabes. Worauf dieser einen Lichtstrahl losschickte, der auf halber Strecke zwischen ihm und dem Imperator eine Art durchsichtige Zeitung erscheinen ließ. Nur viel größer. Zwei auf drei Meter. Auf der geschrieben stand:
Und dereinst,
wenn die Zeiten dunkel und finster sind,
und du weinst,
und Angst hast um Frau und Kind.
Dann wird er kommen,
der Erlöser,
und wird vernichten den König,
der wurd immer böser und böser.
Worauf der Imperator, nachdem er die Botschaft gelesen hatte, lachte. Natürlich wieder nur still und leise in sich hinein. Du meine Güte, was für ein alter Mumpitz. Mottenbein und Hundehaar, verflucht sei diese Bande von Sehern! Selbstverständlich kannte er diese Prophezeiung. Hatten sich doch all seine Ahnen vor ihr immer so sehr gefürchtet. Vor allem sein eigener Vater. Die sogenannten Weisen an seiner Seite hatten schon dafür gesorgt. Darauf kannst du einen lassen, war das doch ihr tägliches Brot! Er aber hatte nicht das Gefühl, dass noch böseres Blut durch seine Adern schwappte als durch die seines Vaters oder irgendeines anderen all seiner Vorfahren. Warum also sollte die Weissagung ausgerechnet jetzt zutreffen und unbedingt auf ihn? Sie waren alle gemein gewesen, hinterhältig und durchtrieben. Das bringt das Schicksal, ein Imperator zu sein, nun einmal so mit sich.
Und nie gab es auch nur den Hauch einer Chance, dass nur einer in der langen Reihe des Blutes diesem Schicksal hätte entgehen können. Nicht nur der Gene wegen. Verlangt das Amt doch nichts anderes von einem als: Sei gemein und böse! Auch wenn es da und dort Könige gab, die mit Güte regierten. Er hatte von ihnen gehört. Aber natürlich einen jeden von ihnen auf der Stelle unterworfen. Das war ihm eine leichte Beute. So gesehen, wem gab das Schicksal also recht? Sie waren jetzt alle tot. Ohne Ausnahme. Er hingegen, er lebte. Gedanken der Liebe und der Fürsorge für das eigene Volk zu hegen, davon hielt er demzufolge rein gar nichts. Das gehört sich nicht für einen Imperator. Nein, das wäre ja geradezu unanständig!
Also sprach er: „Ich kenne die Weissagung, Ralpanin. Sie ist in der Tat uralt. Älter ist wohl nur das Universum selbst. Was aber ist so Dringliches passiert, dass sie ausgerechnet heute dem Drachen mit dem Hammer auf den Zeh schlägt?“
Es war jetzt allerdings Valaspun, der das Wort ergriff, auch wenn er gar nicht gemeint war. Er aber wollte sich nicht so leicht von seinem Nebenbuhler ins Abseits drängen lassen. „Eure Majestät, wir haben heute Morgen die Knochen geworfen. So wie wir das jeden Morgen tun, singend im letzten Schein des Mondes“, sprach er. „So, wie es das Gesetz von uns verlangt. Seit Ewigkeiten. So wie es sein muss, damit das Schicksal uns für immer gewogen ist. Doch das, was wir heute in ihnen lesen mussten, erschreckte unsere Herzen zutiefst. Denn die Knochen, sie sagten unumstößlich: Dieser Erlöser, er ist gekommen, wenn nicht schon sein Geist vor fünf Jahren das Licht erblickt hat.“ Kurz räusperte sich der alte Mann, da er noch immer nicht bei vollem Atem war. Fuhr dann aber fort: „Was jetzt allerdings nicht heißt, dass die Prophezeiung erst später zur Wahrheit wurde. Vor vier, drei, zwei oder sogar vor nur einem Jahr. Viel zu unklar war die Stellung zwischen dem Schlüsselblatt und dem Becken.“
„Genau!“, fiel nun Ralpanin ein, der sich wiederum auch nicht so leicht abdrängen lassen wollte. „Der Erlöser, er ist gekommen. Doch wenn man genau hingesehen hat, mit noch jungen Augen“, und mehr als nur abschätzig, ja, schon voller Verachtung, war dabei sein Blick, wie er behäbig über den etwas kleineren Valaspun streifte, wie der eines Archäologen über eine versteinerte Kakerlake. „Dann hat man erkennen können, dass sich zwei Rippen im Kiefer der Maus kreuzten, die gehäutet und gekocht und vom Fleische befreit dazu auserwählt wurde, uns Lebenden das Schicksal zu zeigen. Das aber steht nun einmal unumstößlich für heute. Und nur für heute! Nichts war da zu erkennen von einem fünf Jahre währenden Zeitfenster.“
Dann nahm er plötzlich sogar Haltung an in seiner Robe aus Vogelfedern und sprach geradezu feierlich: „Ja, Eure Majestät, heute wurde er geboren, der Erlöser. Wo aber, das ist uns nicht bekannt, denn nichts haben die Knochen darüber verraten. Nicht einmal eine Andeutung gemacht, wo wir zu suchen haben. Im Westen oder Osten, im Norden oder Süden oder ob wir nach Oben gehen sollen oder gar nach ganz Unten. Oder vielleicht sogar dorthin, wohin noch nie ein Fuß gegangen.“
„Halt, halt!“, rief nun wiederum Valaspun, der sich von den vielen Worten seines Kontrahenten fast erdrückt fühlte. „Das stimmt so nicht, Eure Majestät. Ganz und gar nicht! Es war nämlich nur eine Rippe, die sich am Kopfe zeigte. Zudem steckte sie auch nicht im Kiefer, sondern in der Augenhöhle. In der linken, um genau zu sein. Das aber heißt nichts anderes als: Vor fünf Jahren kann das Geweissagte schon geschehen sein. Mit einer leichten Tendenz zu sechs Jahren, denn mehr als nur steil stand diese Rippe in der Luft. Einem mahnenden Turm gleich.“
„Das ist so nicht wahr!“, rief nun Ralpanin, sich immer mehr ereifernd, wobei sein Kopf puterrot anlief. Was angesichts seiner Frisur und seines lackierten Schädels ganz seltsam anzuschauen war. „Es waren zwei Rippen und sie kreuzten sich im Kiefer. Ich habe es doch mit meinen eigenen Augen gesehen. Du aber bist nichts weiter als ein schäbiger Scharlatan! Nie hätte man dich aufnehmen dürfen in unsere Zunft“, und immer tiefer wurde das Rot unter dem Rot und dem Weiß.
In der Tat, es sah bedenklich aus. Doch bevor der Schamane ernsthaft gesundheitlichen Schaden nehmen konnte (sein Kopf vielleicht platzte vor lauter Ärger und sein Heiligenschein einfach so davonflog, befreit von der Last des restlichen Körpers), fiel der Imperator ein und befahl: „Hört sofort auf euch zu streiten wie zwei zänkische Marktweiber! Sagt mir lieber, was ich eurer Meinung nach tun soll. Du zuerst, Ralpanin.“
Der so Angesprochene holte tief Luft und presste sie bis hinunter zum Bauchnabel. Das half ihm, die Ruhe in sich selbst wiederzufinden, für die er sonst so berühmt war und die nur ging, wenn eine Lüge sie aus ihrem Bett warf. (Jenes, welches gezimmert war aus dem Gefühl der steten Überlegenheit. Tagaus, tagein, von frühester Kindheit an.) Etwas, was immer nur dieser verfluchte Valaspun schaffte. Was war er nur für ein ekelhafter Quälgeist.
War diese Ruhe aber erst einmal wiedergefunden, kehrte auch wieder diese seltsame Kühle in Ralpanins Stimme zurück. Um nicht zu sagen, fast eisig waren die Worte, die nun von ihm zu hören waren. „Die Lage ist ernst, Eure Majestät“, sprach er. „So ernst war sie noch nie. Darum empfehle ich Euch dringend: Tötet alle Wirte dieses Jahrgangs, denn nur dann seid Ihr auf der sicheren Seite. Nicht einer darf Euch dabei entkommen. Nicht einer darf morgen noch atmen.“
Ein dramatischer Vorschlag. Der Imperator hörte gespannt zu und nickte dann sogar leicht mit dem Kopf, ganz so, als sei er mit diesem einverstanden.
Was der Imperator aber in Wirklichkeit nicht war. Nicht nur, weil Ralpanin nicht zum ersten Mal mit dieser Empfehlung an den Thron herantrat. (Wenn er richtig gezählt hatte, war es schon das siebte Mal nur innerhalb seiner eigenen Regentschaft.) Und auch nicht, weil es ihm vielleicht auch nur einen Gewissensbiss bereitet hätte, so viele Seelen zu morden. Als Imperator hatte er schon so viele Tode befohlen, da kam es auf ein paar mehr auch nicht an. Selbst wenn sie in die Millionen gingen. War das doch der Job eines Imperators, so wie er ihn verstand. Nein, eines ganz anderen Grundes wegen. Eines Grundes, der plötzlich so gänzlich nackt unter dem Scheinwerferlicht der großen Thematik stehend, fast schon ein wenig profan erscheinen wollte. Also sprach er: „Und was empfiehlst du mir, Valaspun?“
Das ließ den Befragten aufschrecken. Zumindest tat er so, als ob dem so sei. Auch, als ob er noch ein wenig überlegen müsse, obwohl die Antwort auf diese Frage auf seiner Zunge längst zur Abholung parat lag. Schon seit den frühen Morgenstunden. Sodass, als er endlich doch noch seinen Mund öffnete, die Worte geradezu herauspurzelten, als wären sie heiße Murmeln. „Ich, Eure Majestät, ich empfehle Euch etwas ganz anderes“, sagte er. „Tötet niemanden. Stellt aber unverzüglich Wächter an die Seite der neuralgischen Seelen. Am besten immer paarweise. Einen aus dem Hause Xan und einen aus dem Hause Tak. Damit dürfte der Vorsicht genug gedient sein. Mehr bedarf es nicht. Außerdem bedenkt nur, fünf komplette Jahrgänge hinzumorden, was für ein betriebswirtschaftlicher Schaden das wäre. Geradezu enorm! Von der Schwächung Eurer Streitkräfte gar nicht erst zu sprechen.“
Und kaum waren diese Worte zu Ende gesprochen, da nickte auch hier der Imperator. Diesmal aber, weil er tatsächlich mit dem Gesagten übereinstimmte. Denn das war ja der Grund, den er am meisten fürchtete, der so profan wirkende Grund. Wobei er aber froh war, dass ihn jemand anderes aussprach. Das wahrte sein Gesicht. Denn was ist ein Imperator schon wert ganz ohne Geld? Nicht viel. Die Einnahmen, die hier verloren gingen, die fehlten dann vielleicht in der Kriegskasse. Das aber, was einen Imperator seines Erachtens noch mehr ausmacht, außer böse, gemein und hinterhältig zu sein, das, was seine wirkliche und wahre Bestimmung ist, das ist nun einmal seine Möglichkeit und die Freiheit, immer und wo es ihm die Laune gerade befielt, Krieg zu führen. Wenn er aber tatsächlich so mir nichts, dir nichts alle Wirte dieses Jahrgangs töten würde, vielleicht auch noch die anderen vier Jahrgänge mit hinzu, dann wäre seine Armee in einem Maße geschwächt, dass an Krieg kaum noch zu denken ist. Nicht einmal an einen, nur um sich und das Reich zu verteidigen. Und er würde dick und fett werden, einsam hier auf diesem prächtigen Stuhl sitzend. Aber es waren doch nur Schlachten, die ihm das Gefühl gaben, überhaupt noch am Leben zu sein. Ihm, der sonst alles hatte, den sonst alles aber nur noch entsetzlich langweilte.
So kam es, dass, dies alles bedenkend, der Imperator sein erwartetes Machtwort sprach. „So, wie Valaspun es empfohlen hat, soll es geschehen“, befahl er.
Und dass das Gespräch damit beendet war, war allen Beteiligten sofort klar. Dafür brauchte es keine weiteren Worte. Ein leises Strecken der Finger der rechten Hand reichte völlig aus. Denn so wie Ralpanin für seine Ruhe berühmt war, war es der Imperator für seinen entsetzlichen Jähzorn, wenn man es denn wagte, ihm zu widersprechen. Rückwärtsgehend, sich immer wieder verbeugend, entfernten sich die zwei Seher aus dem Thronsaal.
Die Entscheidung zwischen den beiden Parteien war also gefallen. Was aber nicht hieß, dass nun Ruhe einkehrte. Schon deswegen nicht, weil ja nur ein Ziel erreicht worden war, das andere eben nicht.
Kein Wunder also, dass kaum vor der Tür des Thronsaals angekommen, Ralpanin Valaspun eine seiner vielen abstehenden Federn aus dem Mantel zupfte und mit dieser wild vor dessen Nase herumfuchtelte. „Warum nur hast du gelogen, du scheinheiliger Hund?“, fragte er zornig. „Es waren zwei Rippen und sie kreuzten sich im Kiefer. Ich habe es genau gesehen. Ich war dabei. Und niemand kann dieses Bild aus meiner Erinnerung löschen. Nicht einmal du.“
„Ja, ja, mein guter Herr Kollege Ralpanin“, antwortete der so Angegriffene aber nur gelassen. War er doch der Glückliche, der beim Imperator das erreicht hatte, wonach er fischte. „Das mögt Ihr so gesehen haben. Nichtsdestotrotz hat sich das Schicksal für den anderen Weg entschieden. Wie lang dieser ist, darüber brauchen wir beide nun aber wirklich nicht zu streiten. Das vermag keiner zu sagen, so viele Knochen wir des Morgens auch immer werfen. Wir können nur hoffen, alt genug zu werden, um vielleicht ein kleines Stück vom Ende dieses Weges zu sehen.“
Kaum aber waren diese kryptischen Worte gesprochen, da trennte er sich auch schon von seinem Begleiter und verschwand in einem schmalen Seitengang des Schlosses, um seinen weiteren Geschäften des Tages nachzugehen. Denn Wichtiges war soeben geschehen, aber noch viel Wichtigeres sollte noch geschehen.
Etwas später. Einige Jahre oder auch nur Tage, wer vermag es zu sagen? Auf einem Planeten, blau und rund. Einem Planeten, den seine Bewohner die Erde nannten.
Zumindest die, die über so etwas wie Sprache geboten. Auch wenn es da natürlich noch die anderen gab. Sie alle zu nennen würde allerdings zu weit führen. Nur so viel: Manche tranken erst Milch, fraßen dann Gras, nur um letztendlich geschlachtet zu werden. Eben von jenen, die die Erde die Erde nannten, sich selbst Menschen und die, die das Gras fraßen und die Milch gaben, zumeist Kühe. Etwas seltener auch Ziegen oder Schafe. Wer aber den Menschen erlaubt hatte, sich Menschen zu nennen, das konnte nie festgestellt werden.
Und einer ebendieser Menschen hieß Paul. Um genau zu sein, Ober Paul, denn so nannten ihn alle. Auch die, die nur zufällig mit ihm im selben Haus wohnten und die gar nichts mit seiner Arbeit gemein hatten. Sogar der Postbote, der Bäcker und der Fleischer nannten ihn so. War er doch einer dieser Menschen ohne jeden Nachnamen. Das Recht und den Respekt darauf hatte er anscheinend schon vor langer Zeit verwirkt.
Aber nicht deshalb war Ober Paul in diesem Moment fassungslos, denn dass er so gänzlich ohne Würde war, das war ja von ihm so gewollt. Was sich hier abspielte, hingegen nicht. „Ich verstehe Sie nicht ganz, gnädige Frau?“, sagte er, wobei er den Kopf leicht schüttelte.
Das aber nur, um Zeit zu gewinnen, und seien es nur diese paar läppischen Sekunden, denn Ober Paul hatte sehr wohl verstanden. Darum auch war er ja so konsterniert. So etwas war ihm noch nie passiert. Das war ja geradezu unglaublich!
*
Doch um die Geschichte genau zu verstehen, in all ihren Einzelheiten, muss dieser Moment der absoluten Fassungslosigkeit von Ober Paul vorerst noch ein wenig zur Seite rücken und die Zeit einen kleinen Schritt zurück. Eine Stunde müsste dabei aber genug sein. Der kleine Anthony, acht Jahre alt, dunkelblondes Haar, fast schon braun, blaue Augen und etwas übergewichtig, wenn auch nicht viel, stand im Flur und seine Mutter wischte ihm mit einem Taschentuch, das sie an der Spitze mit Spucke befeuchtet hatte, einen Fleck von der Stirn. Oder, den Dotter vom Eiweiß trennend, sie versuchte es. Im Gegensatz zu all den anderen Kindern dieser Welt wehrte er sich dabei allerdings nicht. Wusste er doch: Widerstand ist zwecklos. Außerdem war er ja sowieso gleich weg. Wenn auch nicht für immer, dann doch zumindest für dieses Wochenende.
„Dass du auch artig bist, bei den Walkers“, sprach seine Mutter, während sie emsig weiter rubbelte. Nein, sie befahl es geradezu. Er hingegen nickte nur stumm. „Das sind reiche Leute, vielleicht vererben sie dir ja mal irgendetwas. Vielleicht sogar ihren ganzen Besitz. Dann wärst nämlich endlich auch du zu etwas nütze und würdest uns nicht immer nur auf der Tasche liegen.“
Anthony schaute betreten. Das war eine schwere Anklage. Dann aber nickte er nur wieder stumm, gleichwohl die Mitte seiner Stirn, an der seine Mutter so verzweifelt versuchte, ihn vom Dreck dieser Welt zu befreien, inzwischen schon heftig brannte. Das aber tat nicht so weh wie die Worte, denn das kannte er ja schon.
Und wie, um das zu beweisen, murmelte sie: „Immer an der gleichen Stelle musst du dich dreckig machen, du altes Ferkel.“ Die Augen dabei noch enger zusammenkneifend, denn sie hatte keine Brille auf.
Angeblich vertrug sie eine solche nicht und es wurde ihr ganz schwindelig davon. Doch eine Brille hätte ihr sicher geholfen, zu erkennen, dass dieser von ihr soeben entdeckte Schmutz so nicht zu entfernen war. Nicht einmal mit Scheuermilch, wie sie es schon einmal probiert hatte. Auch nicht mit Essig, denn es war ein Leberfleck.
Dennoch blieb Anthony weiterhin ohne Worte, denn seine Mutter auf diesen Irrtum hinzuweisen, hätte ihm nur eine Ohrfeige eingebracht. Wie mehrfach bewiesen. Hasste sie es doch ungemein, korrigiert zu werden. Besonders von so einem kleinen Naseweis wie ihm. Niemand aber fürchtete er mehr auf dieser Welt als eben sie. Nicht einmal seinen Vater.
„Seid ihr endlich fertig, ihr zwei?“, hörte man diesen aus dem Wohnzimmer rufen. „Die Walkers stehen bereits unten und hupen. Schon zum zweiten Mal!“
„Los, los, verabschiede dich von deinem Vater!“, ließ sich nun wieder die Mutter vernehmen, wobei sie Anthony zugleich mit der freien Hand unter den Türrahmen schubste.
Der hob müde seine Hand und sagte: „Tschüss, Dad.“
Sein Vater aber nahm ihn gar nicht richtig wahr. Auf der Couch sitzend murmelte er nur: „Ja, ja, mach, dass du endlich vorankommst“, und wandte sich dann auch schon, mit einer frisch geköpften Flasche Bier in der Hand, dem Fernseher zu. Auf dem gerade irgendeine Sportveranstaltung lief. Anthony konnte kurz einen Ball erkennen, der sich unaufhaltsam einem Netz näherte; wozu auch immer. Dann auch schon war auf dem Weg zur Haustüre und allen Blicken entschwunden.
Auch die vier Stockwerke waren schnell geschafft, denn wie ein Gummiball sprang der Junge die Stufen hinab. Er freute sich, auch wenn die Walkers nicht unbedingt das waren, was er Freunde nannte oder wie er sich gar Eltern vorstellte; wenn er sich denn andere hätte wünschen können als die, die er seine eigenen nannte. Für beides waren sie zu alt. So um die fünfzig. Im Großen und Ganzen gesehen waren sie aber recht nett. Immerhin schlugen sie ihn nicht oder noch Schlimmeres. Und in der Welt, wie er sie kannte, war das ja auch schon etwas wert.
*
Eigentlich kamen ja Menschen wie die Walkers mit Menschen wie den Nolls, wie Anthony mit Nachnamen hieß, nicht in Berührung. Dafür war die gesellschaftliche Kluft einfach viel zu groß. Ganze Stadtviertel. Dennoch war es dazu gekommen.
Wieso und warum? Nun, das ist kein Geheimnis und schnell erklärt. Einer Lehrerin in der Schule kam Anthonys Verhalten mit den Jahren immer merkwürdiger vor. Also schickte sie ihn, nach Rücksprache mit dem Jugendamt, zu einem Psychologen. Für zehn Sitzungen. Der führte einige Tests durch und attestierte Anthony dann als Resultat all dieser eine gesunde Intelligenz, gepaart mit einer manchmal etwas überbordenden Fantasie.
Ein Urteil, das die Lehrerin wiederum sehr überraschte, brachte Anthony in der Schule doch kaum den Mund auf. Sprach angeblich nur mit Bäumen.
Was auch stimmte. Am liebsten mit dem Baum auf dem Schulhof. Es gab ja nur den einen. Denn diesem konnte der Junge all seine Sorgen anvertrauen und der gab ihm auch immer eine gültige Antwort. Selbst dann, wenn das Leben schwer und über die Grenze des Erträglichen zu kippen drohte. Sonst aber blieb er meistens stumm und betätigte sich so gut wie nie am Unterricht. Schaute nur aus dem Fenster und summte leise vor sich hin. Und gab, wenn man ihn denn aufrief, zumeist nur völlig sinnlose Antworten.
Einmal, zum Beispiel, auf die Frage: „Wie viele Beine haben die Spinnen?“, sagte er nur: „Mittwoch.“ Mehr nicht. Und setzte sich dann einfach wieder auf seinen Platz. Ganz so, als sei mit diesem Wort das Rätsel für immer gelöst. Oder verpflanzte, als es darum ging, mit dem Stock in der Hand auf der großen Leinwand, die in Erdkunde immer vor die Tafel geklemmt wurde, Hauptstädte den entsprechenden Ländern zuzuordnen, Moskau mitten ins Meer hinein. Wo er es dann ganz einfach untergehen ließ. Wohl im Bauch eines großen Walfisches oder eines ähnlichen Ungeheuers. Was aber letztendlich sein Geheimnis blieb. Auf die Frage, was es denn da so albern zu grinsen gäbe, wenn man sich so derart blöd anstellt, gab er nämlich, wie gewohnt, keine Antwort. Ging zurück zu seinem Pult, setzte sich auf seinen Stuhl, sah aus dem Fenster und summte leise vor sich hin.
Eigentlich hätte es damit gut sein können, ein Kind mit gesunder Intelligenz muss nicht auf die Sonderschule. Diese Frage war beantwortet. Doch zufällig befand sich zu genau der Zeit, als Anthony geduldig seine Sitzungen absaß, auch Frau Walker bei diesem Psychologen in Behandlung. Aus dem Grund, war doch ihr einziger Sohn erst kürzlich auf so tragische Weise ums Leben gekommen. Was ihren Geist immer tiefer in eine magnetische Schwärze zog. Er war, als er die Regenrinne des Hauses säuberte, mit der Leiter umgekippt und direkt in einen Zaun mit spitzen Latten gefallen. Nur drei Tage vor seinem zwanzigsten Geburtstag. Und als sie nun eines Tages das Sprechzimmer verließ, mit einem Herzen, das durch all das Reden und Weinen mindestens ein Pfund leichter war, und Anthony wartend davor sitzen sah, hatte sie sich sofort in ihn verliebt. Ihn in ebenjenes Herz geschlossen, das jetzt so viel neuen Platz besaß. Was in der Tat als ein großer Zufall zu werten ist, denn sonst begegneten sie sich nie. Aber an diesem Tag war Anthony ausnahmsweise pünktlich. - Das einzige Mal!
In der Tat, Frau Walker, die alle nur die gute Nancy nannten, war sogar richtig vernarrt in den Jungen. Wieso auch immer, denn Anthony war nun wahrlich kein Kind, das man sofort umarmen will. Er war zwar nicht hässlich oder gar abstoßend, aber zu selten lächelte er und zu oft war sein Gesicht ohne jeden Ausdruck. Das aber sind nun einmal keine Umstände, denen die Kraft innewohnt, dass einem die Sympathien Fremder nur so zufliegen.
Gänzlich ohne jeden Ausdruck war dieses Gesicht sogar, was, wenn man es genau betrachtete, auch für den Rest seines Körpers zutraf. Es war fast so, als wolle der Junge nie auffallen. Um keinen Preis. Und manchmal, wenn er vor eine graue Wand stand, hatte man sogar das Gefühl, wenn die Kleidung nicht wäre, er wäre gar gänzlich unsichtbar.
Eigentlich sollte Anthony ja vom Fleck weg von den Walkers adoptiert werden, wenn es nach diesen gegangen wäre. Wogegen sich die Nolls aber vehement wehrten. Auch die Mutter. Was Anthony wiederum sehr erstaunte. Besonders geliebt fühlte er sich von ihr ja nicht. - Noch nie!
Aber auch wenn die Walkers wohlhabend waren, oder um es mit der Stimme des Volksmunds zu sagen, gespickt waren mit Moneten wie der weihnachtliche Rehrücken mit Speck, so war dem sonst so leicht zu bestechenden Vorsteher des Jugendamtes dennoch immer bewusst, dass sie für eine legale Adoption leider schon viel zu alt waren. Dementsprechend sagte er ab. Da war es auch ohne jede Bedeutung, dass man auf dem Amt sehr wohl darum wusste, wie locker oft die Hand der Frau Noll saß und wie sehr ihr Mann dem Trunk zugeneigt war und schon darum nie eine Arbeit fand. Denn dass Anthony verlottert oder gar verwahrlost sei, das konnte man wiederum nicht behaupten. Seine Kleidung war immer frisch gewaschen und das Haar gekämmt. Er war zwar etwas auffällig im Verhalten, das wohl, aber das sind viele andere Kinder auch.
Nein, das reicht noch lange nicht aus, ihn so einfach aus dem Schoß seiner Familie zu reißen. Da waren die Vorschriften nicht zu beugen, soviel die gute Nancy auch flehte. Und nicht einmal all die vielen kleinen Scheine halfen ihr da, die in diesen Tagen, versteckt in Schachteln mit Konfekt, so oft auf den wichtigen Pulten des Amtes lagen. Also einigte man sich letztendlich darauf, dass Anthony jedes zweite Wochenende bei den Walkers zu Gast sein durfte. Womit dann auch die Nolls einverstanden waren.
Aber wohl nur deshalb, weil die Scheine, die zuvor noch so ungefragt im Zucker klebten, nachdem sie eine kleine Wanderung durch die Geldbörse von Anthonys Vater angetreten hatten, in Bier und Schnaps umgetauscht werden konnten. Somit waren alle an dieser Geschichte Beteiligten von dieser Stunde an zufrieden. Sogar der kleine Anthony, den man zuvor und auch danach nie wirklich dazu befragt hatte. Wäre er doch sonst sofort zu den Walkers gezogen. Für einen Tag und immer. Und das, wiewohl sie schon so schrecklich alt waren.
Die letzten fünf Stufen das Treppenhaus hinunter, die nahm Anthony sogar mit nur einem einzigen Sprung. Ein neuer Rekord, den er erst letzte Woche aufgestellt hatte. Der somit Bestätigung erfuhr.
Am Wagen angekommen, wurde er sofort umarmt und geküsst. Was er genauso geduldig über sich ergehen ließ wie schon zuvor die Behandlung durch seine Mutter. Sodass es fast schien, als sei ihm das eine so viel wert wie das andere. Wobei er auf die Frage, wieso ebenjene geküsste Stirn so schrecklich rot sei, aber nur antwortete, das käme wohl daher, dass er so lange oben an der Scheibe des Fensters gelehnt und auf die Abholung gewartet habe.
Eine kleine Lüge, aber mit Bedacht gewählt, denn was sollte er die gute Nancy beunruhigen mit Dreck, der kein Dreck war und der sich mit Spucke und einem Taschentuch einfach nicht besiegen ließ. So aber freute sie sich, dass er ihr Kommen ersehnt hatte, und sagte, während sie ihm mit einer ihrer so üppig mit Ringen beladenen Hände spaßeshalber auf seinen kleinen Bauch klopfte: „Jetzt aber, mein kleiner Frosch, gehen wir erst einmal ganz toll etwas essen. Du hast doch sicher einen Riesenhunger?“
Worauf Anthony sofort nickte, gleichwohl er nicht ganz verstand, wieso sie ihn immer mein kleiner Frosch nannte. Vielleicht deshalb, weil er bei allen Treppen, egal, ob hinauf oder hinab, nie nur eine Stufe allein nahm. Für ältere Menschen ist so etwas ja schon Sport. Aber es war auf alle Fälle besser, als fettes Schwein genannt zu werden oder dreckige Ratte, wie es in der Schule so oft geschah.
Frohen Herzens bestieg er darum den Rücksitz des Wagens, auf dem der Hund bereits mit wedelndem Schwanz auf ihn wartete und auf den er sich, wenn er ehrlich war, am meisten gefreut hatte. Dann fuhren sie los.
Und wie Anthony hoffen wollte, war es auch diesmal das ewig gleiche Ziel, das Fast-Food-Restaurant, das an der Einfahrt zur Autobahn stand. Er liebte Pommes frites und Hamburger über alles. Welches Kind nicht? Doch diesmal kam alles ganz anders.
Ja, die Wege des Schicksals, sie sind in der Tat unergründlich, denn diesmal wollte Herr Walker fein ausgehen. Diesmal gab es kein billiges Fast Food, denn immerhin waren sie jetzt genau dreißig Jahre verheiratet. Er und seine gute Nancy. Und heute war ihr Hochzeitstag. So zumindest erzählte er es mit seiner tiefen Stimme Anthony über die Schulter und die Rückenlehne seines Sitzes hinweg, während sein Blick aber weiterhin artig und pflichterfüllt über das Lenkrad hinweg die kommende Straße kontrollierte.
Artig war aber natürlich auch Anthony. Er gratulierte sofort, und das, obschon ihm der Begriff fein ausgehen erst einmal große Sorge bereitete. Aber nachdem seine Frage, ob es dort denn auch Pommes frites mit Ketchup gäbe, mit einem sehr bestimmten „Aber sicher doch!“ beantwortet worden war, war auch er wieder beruhigt.
Wenn auch, um ehrlich zu sein, nicht ganz, denn eine gewisse Nervosität war einfach nicht abzustreifen. Hartnäckig klebte sie an jedem Gedanken. Denn vielleicht war ja fein ausgehen tatsächlich eine tolle Geschichte, wie versichert, vielleicht aber auch nicht. Das Problem war, er wusste es nicht. Mit seinen Eltern war er nämlich noch nie fein ausgegangen. Nicht einmal, als man ihn einschulte. Und ein Hochzeitstag wurde bei ihnen sowieso nie gefeiert. Was aber immer mehr die Zweifel in seinem Kopf türmte, das war die Tatsache, dass sich anscheinend nur Herr Walker auf dieses Abenteuer mit einem breiten Lachen auf dem Gesicht einlassen wollte, die gute Nancy hingegen nicht. „Ach, es muss doch gar nicht so etwas Außergewöhnliches sein“, warf sie ein. „Wieso gehen wir nicht einfach dorthin, wohin wir immer gehen? Mir reicht es doch völlig, wenn du mir sagst, dass du mich liebst.“
Doch auf diesem Ohr war ihr Mann heute taub wie ein Stein. So oft sie ihren Satz auch wiederholte. Er wollte standesgemäß feiern, und so sollte es auch geschehen. Doch wenn der gute Mann gewusst hätte, was das letztendlich für dramatische Folgen haben sollte, für sie alle, auch für ebenjenen bereits erwähnten Ober Paul, dann hätte er es gewiss unterlassen. - Oder etwa nicht?
*
Sie saßen zu dritt am Tisch, der Hund war im Wagen geblieben. Und ebenjener Ober Paul stand neben ihnen. Noch immer so fassungslos, dass er das schon einmal Gesagte nur monoton wiederholte: „Ich verstehe Sie nicht ganz, gnädige Frau?“
Doch er war nicht nur fassungslos, denn das wäre ein viel zu wenig an Worten, sondern es war vielmehr so, als ob gerade etwas in seiner kleinen Welt zerbrach, und zwar so heftig, dass es nie wieder heil zu machen war. Und wenn man denn einen Vergleich bemühen will, dann war es vielleicht so, als ob Ober Paul ein Leben lang in einer dieser Zauberkugeln gelebt hätte, die man nur zu schütteln braucht, und es fallen herrlich glitzernde Schneeflocken. So dicht, dass sie die Sicht verdeckten auf die Welt da draußen. Die garstige Welt, die er gar nicht sehen wollte. Nie und niemals, denn hier war sein Platz. Hier war er Ober Paul. Ein Mann zwar ohne jeden Nachnamen, aber ein Mann mit einer gewissen Identität.
Wobei es Ober Paul auch nichts ausmachte, dass man ihn hier so oft sehr schlecht behandelte. Denn Reiche sind nun einmal eben so. Vielmehr taten sie gut daran, denn er war nur geboren, um ihnen zu dienen. Das war seine Einstellung. Somit war es geradezu ihr gutes Recht, ihn zu treten und zu beleidigen, denn sie hatten es im Leben zu etwas gebracht und er eben nicht. Nie würde er sich über seinen Rang erheben. Wenn sie ihn nur teilhaben ließen an ihrer Welt voller Luxus und Glamour. Das war ihm vollauf genug. Doch jetzt das! Das war einfach zu viel. Und ihm war fast so, als ob ganz langsam eine immer größer werdende Erstarrung alles ergriff und nie wieder diese herrlich glitzernden Schneeflocken fallen wollten in dieser seiner kleinen Welt.
Dass Reiche sich danebenbenahmen, das hatte Ober Paul oft genug zu sehen bekommen. Wenn sie schwer angeheitert sich gegenseitig in die Hosen fassten oder gar betrunken unter den Tisch pinkelten. Das war ihm nichts Neues. Ein großer Schwamm und nur fünf Sekunden später war die Sache für ihn vergeben und vergessen. Stand es ihnen doch zu. Sie hatten hart genug dafür gearbeitet. Dass sich jemand aber so gänzlich danebenbenahm, sich eines Reichen, wie er sie kannte, als nicht würdig erwies, das war hingegen nicht zu akzeptieren. Das war unanständig. Nein, viel mehr noch, das war geradezu obszön!
Also fragte er ein drittes Mal: „Ich verstehe Sie nicht ganz, gnädige Frau?“
Vielleicht auch mit der schwachen Hoffnung verbunden, dass der Fluch, der sich Stück für Stück wie ein eisiges Leichentuch über alles legte, was er seine kleine Welt nannte, doch noch irgendwie mit Worten abzuwenden sei.
Doch ändern tat sich damit nichts, denn zum vierten Mal bekam er dieselbe quälende Frage zu hören: „Was muss denn weg?“ Und es war die gute Nancy, die sie stellte. Vielleicht etwas naiv im Tonfall, aber nichtsdestoweniger unerbittlich nach Antwort suchend.
Wobei die gute Frau es in der Tat auch so meinte. Was muss denn weg? Denn sie und ihr Mann waren nicht immer reich gewesen. Nein, vielmehr hatten sie sich alles hart erarbeitet. Jeden Cent. Erst der kleine Schuhladen, nie Urlaub, keine Zeit, und erst dann, nach so vielen Jahren, die erste Filiale. Heute immerhin zehn.
Somit entsprachen sie und ihr Mann bis zu diesem Punkt noch ganz der Erwartung, die Ober Paul an seine Kundschaft stellte. Doch von da an trennten sich die Wege entschieden, denn sie fühlte sich nicht als etwas Besseres, nur des Geldes wegen. Anderer Dinge wegen hingegen schon. Ganz gewiss! Vielmehr war es ihr peinlich. Nicht, es zu besitzen. Nein! Das war von Gott so gewollt. Sondern damit zu prassen. Sie war eine gute Christin.
Und die, das ist allgemein bekannt, hüllen sich nun einmal in die Gewänder der Demut und der Bescheidenheit. Das ist das Dogma, das man sie lehrt. Seit über zweitausend Jahre. Mit scharfen Worten, die wie Adler von der Kanzel herabstürzen. Sei demütig und rechtgläubig, nur dann ist das Paradies dein. Dahin aber wollte die gute Nancy irgendeines Tages. Nichts ersehnte ihr Herz sich mehr als das. Dementsprechend wanderte ihr Zeigefinger auf der Speisekarte zwischen den zwei billigsten Gerichten hin und her. Immer und immer wieder. Und was ihr eine Entscheidung dabei so unmöglich machte, das war ja die Tatsache, dass beide absolut gleich viel kosteten. Bis auf den Cent!
Erst wurde Ober Paul befragt, was er denn empfehlen könne. Worauf der auf der einen Seite den Fisch lobte, in Butter geschwenkt, auf der anderen von der Einzigartigkeit des Essigs schwärmte, mit dem der Salat vom Küchenchef höchstpersönlich verfeinert wird.
Wissen, das der guten Nancy aber nicht wirklich weiterhalf, legte er sich doch damit nicht eindeutig auf eine Seite fest. Auch nicht nach all den anderen vielen Fragen, die sie ihm dann noch stellte. Bis ihr letztendlich nur noch diese eine durch Kopf kroch, die ihr der einzige Ausweg zu sein schien. „Was muss denn weg?“ Denn demütig ist der Christ und isst, wenn es denn sein muss, die Krümel vom Boden in des Teufels Küche.
Wobei im Fall der guten Nancy aber unbedingt sofort angemerkt werden muss, dass es ihr schon sehr wichtig war, dass alle Welt diese unglaubliche Bescheidenheit ihrer Seele registrierte. Sodass der Disput in seiner ganzen Länge über den Tisch flog, vor und zurück, immer wieder, wie eine rastlose Flipperkugel.
Was so nervend war, dass Anthony irgendwann vor Scham einfach nur noch im Boden versinken wollte und er immer mehr in seinem Entschluss bestärkt wurde, nie erwachsen werden zu wollen. Was er sich selbst in diesem Moment sogar schwor! Diese Erwachsenen, sie waren einfach nur seltsam. Die einen so, die anderen so. In dem, was sie taten, vor allem aber in dem, was sie sagten.
Aber sogar Herr Walker schien sich in diesem Moment nicht so recht wohlzufühlen.
Für den die gute Nancy jedoch auch keinen noch so kurzen Funken Rücksicht sprühen ließ. Denn was sollte sie tun? Was half es ihr, demütig hier auf Erden zu sein, wenn niemand es registrierte. Denn wer weiß, vielleicht bedurfte es ja genau der Zeugen dieses Schauspiels, wenn sie denn dann dereinst vor dem Richter steht, der zu entscheiden hat, ob sie im Schatten des Baumes der Erkenntnis sitzen darf, nur um der Schlange den Kopf zu kraulen.
Jetzt aber fing sich Ober Paul langsam. „Gnädige Frau“, sagte er. „Wir sind das erste Haus am Platz. Folgerichtig: Bei uns ist alles frisch. Immer und an jedem Tag der Woche! Bei uns muss nichts weg. Wobei besonders das Gemüse zu erwähnen ist. Ich werde ihnen also den Salat bringen. Was wollen Sie trinken? ... Ein Glas Leitungswasser ... Sehr wohl.“
War diese Hürde endlich gemeistert, rauschte er endlich ab, denn die Bestellungen von Herrn Walker und Anthony waren ja längst auf einem kleinen Zettel notiert. Diese Frau aber, sie war ihm zu viel. Und das nur aus dem einen Grund, sie war irgendwie genauso wie er. Sie war nichts Besseres. Sie hatte ihren Reichtum gar nicht verdient. Reiche haben nicht demütig und bescheiden zu sein. Das steht ihnen gar nicht zu. Das ist das Vorrecht der Armen. Nein, niemandem war es erlaubt, ihm in diesem Haus diese Rolle streitig zu machen! Somit war klar, sie soll nur das bekommen, was ihr auch wirklich zusteht.
Und genau so geschah es. Denn nachdem der Küchenchef nach ihm geklingelt hatte, mit einem leichten Tippen der rechten Hand auf die Glocke, die golden glänzend immer auf solch einen Moment wartend auf dem Tresen stand, und Ober Paul den Salat von dort mit einem geübten Griff entgegengenommen hatte, verschwand der für einen kurzen Moment in einem dunklen Eck. Wo er unbeobachtet auf die grünen Blätter spuckte und diese dann genüsslich mit dem Zeigefinger verrührte.
War dies zu seiner Zufriedenheit geschehen, leckte er diesen Finger dann einfach nur ab, drehte sich wieder in Richtung Restaurant und stolzierte in dieses. Wo er am Tisch angekommen, mit einem breiten Grinsen im Gesicht, die Schüssel der guten Nancy direkt vor die Nase stellte. Wozu er sagte: „Wohl bekomm’s, gnädige Frau.“
Worauf die mit freudig funkelnden Augen sagte: „Der sieht aber mal wirklich lecker aus. Schier unglaublich, was man hier für sein Geld kriegt.“
Ja, das war die richtige Antwort! Jetzt endlich fielen doch wieder ein paar dieser herrlich glitzernden Schneeflocken in der kleinen Glaskugel. Und dennoch, eines wusste Ober Paul genau, in diesem Land, dem seinen, würde es nie mehr so werden wie früher. Nie mehr würde es eine weiße Weihnacht geben.
*
Aber auch die Heimfahrt war ein einziges Desaster. Wenn alle Hochzeitstage so endeten, dann wollte Anthony nie einen feiern. Und war nur froh darum, dass seine Eltern das nie taten. Die ganze Fahrt stritten sich die beiden Alten vor ihm nämlich nur. Das hatte er zuvor noch nie bei ihnen erlebt. Wenigstens schlugen sie sich nicht und es waren nur Worte, die da flogen, keine Hände. Auch schlimm, aber besser zu ertragen.
Er warf ihr vor: „Da will ich dir einmal etwas Gutes tun und du lässt mich nicht. Du denkst immer nur an dich!“
Worauf sie antwortete: „Der Herr mag es nicht, wenn man mit dem Geld prasst!“
Dann ging es in dem Ton weiter: „Ach ja, und all die Brillanten an deinen Fingern, was ist das?“, fragte er.
Worauf sie antwortete: „Das ist etwas ganz anderes.“
Hin und her flogen die Worte nun auch hier. Immer und immer wieder. Aber auch bei der Erinnerung an die Pommes frites kam bei Anthony keine rechte Freude auf. Sie waren labbrig gewesen, toten Würmern gleich. Nicht so kross frittiert wie in der Filiale der Fast-Food-Kette. Er hatte sie daher in eine Serviette gerollt und sie dann, einen Streifen nach dem anderen, dem Hund auf dem Rücksitz zum Fressen gegeben. Zumindest der freute sich. Er aber wollte nie wieder fein ausgehen. Was war das nur für ein unglaublicher Blödsinn! Einer, an dem nur die Erwachsenen Freude finden können. Nie wieder würde er sich von den Walkers zu so etwas Schrecklichem überreden lassen.
Nun allerdings war es fast so, als ob der Himmel endlich ein Einsehen hätte, denn Anthonys Wunsch wurde tatsächlich erfüllt. Nie wieder würde er mit den Walkers fein ausgehen. Das war gewiss. Wenn auch dieser Wunsch ganz anders in Erfüllung ging, als denn von ihm angedacht. Irgendwann eskalierte der Disput auf den Vordersitzen nämlich.
Wieso und warum? Anthony wusste es nicht. Den genauen Anlass hatte er nicht mitbekommen. Diese Welt war nicht die seine und darum hatte er auch schon lange aufgehört zuzuhören. Vielmehr kraulte er mit einer Hand den Hund im Nacken, sah aus dem Fenster und summte ansonsten nur still vor sich hin.
Bis es plötzlich so laut vor ihm wurde, dass er gar nicht umhinkam, aus seinem Schneckenhaus herauszukriechen und wieder Anteil zu nehmen. Die gute Nancy zog nämlich einen Ring nach dem anderen von ihren Händen, der rechten wie der linken, und warf diese ihrem Mann auf den Schoß, wozu sie mit schriller Stimme rief: „Sieh hin, ich brauch das alles nicht. Ins Paradies kann man so etwas ohnehin nicht mitnehmen. Nur das reine Herz.“
Eine Tat ohne jeden Sinn. Nicht nur für Anthony. Die für sich alleine allerdings noch keinen bleibenden Eindruck auf das Schicksal gemacht hätte. Es hat schon ganz andere Dinge gesehen. Doch leider war es nur das Vorspiel, reihten sich doch nun in geradezu tragischer Weise kleine Umstände aneinander, so lange, bis sie letztendlich alle zusammen ein einziges großes Unglück heraufbeschworen. Zuerst purzelte nämlich einer der Ringe auf den Boden und rollte bis hin zum Gaspedal. Dann auch schon machte sich einer seiner Brüder daran, durch die leicht gespreizten Beine auf den Sitz zu fallen und von dort seinen Weg bis unter das Gesäß des alten Mannes zu finden. Wo er zwar nicht sehr heftig, dafür aber stetig und penetrant in das weiche Fleisch bohrte. Was wiederum den Gepeinigten dazu nötigte, aufstehen zu wollen und mit einer Hand nach dem Übeltäter zu tasten.
Doch damit nicht genug, denn was nun folgte, das war, kurz gesagt, der vierte, fünfte und sechste Schritt des Schicksals mitten hinein in das Unvermeidliche. Dorthin, wo es sich schon immer am wohlsten fühlt. Seit dem Anbeginn aller Zeit. Denn nicht eine Sekunde später rutschte der rechte Fuß über den am Boden liegenden Ring und drückte, letztendlich am Gaspedal angekommen, dieses zur Gänze durch. Was zur Folge hatte, dass der Wagen so plötzlich beschleunigte, dass das Lenkrad prompt verrissen wurde. War ja auch nur noch eine Hand damit beschäftigt gewesen, mit seiner Hilfe den Kurs zu halten. Dann auch schon schlitterten vier Reifen über die Straße und eine Leitplanke zerbarst mit großem Getöse. Reste davon sprangen in die Luft und eine Windschutzscheibe zerbröselte in tausend Teile. Und obgleich die Splitter ebendieser Leitplanke nur aus Holz, so waren die beiden Walkers, von selbigen getroffen, dennoch wahrscheinlich sofort tot. Kein Mensch kann so etwas überleben.
Vielleicht hätte es ja wenigstens für Anthony und den Hund eine Rettung geben können, wer weiß, aber wie es allen großen Unglücken nun einmal zu eigen ist, musste all dies ausgerechnet auf einer Brücke passieren, die einen Fluss querte.
Wobei es aber, das versteht sich von selbst, es nicht die Brücke an sich ist, die sich das entscheidende Detail einer jeden großen Tragödie nennt, das wäre natürlich blanker Unsinn, sondern der Umstand, dass eine Widrigkeit geradezu zwangsläufig die nächste in einem Rucksack versteckt auf dem Buckel trägt. Und damit geht es dann mit schwankendem Schritt von Krise zu Krise.
Der Wagen machte demgemäß noch einen halben Salto durch die Luft, nur um letztendlich mit dem Dach zuerst klatschend auf den Wellen des Flusses aufzuschlagen.
Dann auch schon drang eisiges Wasser in einem einzigen großen Schwall durch das große Loch in der Front herein. So schnell, dass der Junge nicht einmal die Chance bekam, zu überprüfen, ob denn der Schwimmkurs, den er erst kürzlich in der Schule im Sportunterricht belegt hatte, sich auch für die Praxis in freier Natur eignete. Vielmehr wurde er sofort ohnmächtig. Nur kurz war ihm noch so, allerdings wie in einem Traum, als ob ein seltsames Wesen, aus dem Wasser kommend, diffus leuchtend in seiner Erscheinung, nach ihm griff. Nach ihm und seinem Leben.
- War das der LIEBE GOTT?
Anthony erwachte. Oder es war ihm zumindest so, als ob er erwachte. Es war so gewohnt. Fast wie daheim. Hatte er doch das Gefühl, mit dem Rücken auf einem weichen Bett zu liegen. Vor allem da war kein kaltes Wasser mehr um ihn herum.
Allerdings, ob er die Augen tatsächlich geöffnet hatte, was für ihn zu einem ordnungsgemäßen Erwachen dazugehörte, oder eben nicht, das konnte er nicht sagen. Es veränderte sich nämlich nichts. In beiden Fällen war es einfach nur stockdunkel. Und von einem Lichtwesen, gar von einem LIEBEN GOTT, war nun auch nichts mehr zu entdecken.
Aber es war nicht nur stockdunkel um den Jungen herum, es war sogar pechschwarz! So schwarz, schwärzer es nicht geht, sodass er sich, kaum dass er seine Gedanken wieder in Reih und Glied gestellt hatte, mehr oder weniger ordentlich, die eine alles entscheidende Frage stellen musste, und das, obschon er nicht das geringste Bedürfnis in sich spürte, das zu tun. Aber nach dem zuvor Erlebten konnte sie gar nicht ausbleiben. Die eine alles entscheidende Frage, die da lautete: Hatte er überhaupt noch so etwas wie Augen oder war er vielleicht doch schon tot?
Nein, diese Frage wollte Anthony sich nicht stellen. Kein vernünftiges Wesen will das! Somit kam sofort eine große Angst auf, die zudem immer weiter und weiter anwuchs. Wenn das hier tatsächlich das Paradies sein sollte, von dem ihm die gute Nancy immer so gerne erzählte, voller Glück, wohin die Seelen gehen nach dem Tod, dann wollte er es genauso wenig, wie er jemals wieder fein ausgehen wollte. Wie konnte man sich nur auf so etwas freuen? Erwachsene waren wirklich komische Geschöpfe. Er auf alle Fälle wollte nicht für immer in tiefster Schwärze liegen. Das war kein Spaß. Das war einfach nur gruselig.
Doch plötzlich gab es eine Veränderung!
Obwohl, nein, das zu sagen, es stimmt nicht ganz. Es war ja eigentlich gar keine Veränderung. Anthony hörte nämlich jemand atmen. Sowohl an seiner linken als auch an seiner rechten Seite. Das aber schon die ganze Zeit. Was er jedoch bis jetzt so nicht vernommen hatte, da er von seiner Angst so gefangen war. Die sofort ein wenig ihren kalten, unerbittlichen Griff um sein Herz lockerte. Er war anscheinend doch nicht allein. „Seid ihr es, Nancy, John?“, fragte er vorsichtig.
Nancy, John, so hatte Anthony die Walkers noch nie genannt, auch wenn sie es ihm oft genug angeboten hatten. Sie hießen für ihn immer nur: Herr und Frau. Alte Menschen heißen nun einmal so: Herr und Frau. Das gebietet schon der Respekt. Aber im Paradies war es wohl erlaubt, einmal eine Ausnahme zu machen. Wer sollte sonst neben ihm liegen? Sie waren die letzten Menschen gewesen, die er gesehen hatte. Und dass er in den Hundehimmel gekommen war, das glaubte er nun auch wieder nicht. Wieso auch? Außerdem war der Hund allein gewesen und konnte sich somit schlecht auf zwei Seiten aufteilen. Doch es gab keine Antwort. Waren die beiden Alten vielleicht auch tot?
Ein furchtbarer Gedanke! Sofort kroch wieder diese schreckliche Angst durch Anthonys Glieder. Diese Angst ohne Grenzen.
Doch nein! Das konnte nicht sein. Tote atmen nicht! Anthony hatte in der Schule zwar nie richtig aufgepasst, aber im Fernsehen, bei den Krimis, war das immer das todsichere Zeichen. Man hielt einen Spiegel vor den Mund des vermeintlich Ermordeten, der beschlug, und alle atmeten erleichtert auf. Vor allem, das steht außer Frage, der vermeintliche Tote. Also probierte er es noch einmal mit schüchterner Stimme: „Nancy, John, warum sprecht ihr nicht mit mir?“
Worauf Anthony diesmal immerhin so etwas wie ein leises Grummeln erntete. Das er aber seltsamerweise weder dem linken noch dem rechten Atmen zuordnen konnte. Es lag anscheinend ein kleines Stück daneben. Dann antwortete es ihm sogar verschlafen in ganzen Sätzen. „Dass du es nie abwarten kannst, Ant, bis uns Glomp weckt. Und was ist das für ein Quatsch mit Nancy und John? Sind das vielleicht Namen aus der Schule? Welchem Haus gehören sie denn an?“
Und auch wenn er ja auf ein solches Lebenszeichen gehofft hatte, erschrak Anthony erst einmal heftig über diese fremde Stimme, obgleich sie einem Kind zu gehören schien. Einem Knaben. Vor allem aber erschrak er natürlich heftig über das Gesagte, machte es doch ziemlich klar, dass es nicht Nancy und John waren, die da neben ihm lagen. Wer aber war es dann?
Instinktiv versuchte der Junge sich aufzurichten, um sich einen Überblick zu verschaffen. Was angesichts der ihn umgebenden völligen Schwärze aber ohne jeden Sinn war.
Vor allem aber eines anderen Umstandes wegen, sodass er es gewiss unterlassen hätte, wenn er denn um diesen gewusst hätte. Nur kurz war nämlich der Weg seines Kopfes in die Höhe. Höchstens eine Handbreit, dann auch schon schlug er gegen ein Hindernis an. So grob, dass er sofort in seine Ausgangsposition zurückgeworfen wurde. Und obzwar keine Sekunde später ein schrecklicher Schmerz durch seine Nase und den Hinterkopf zu kriechen begann, immer stärker und stärker werdend, so war Anthony dennoch eines plötzlich völlig klar: Er war gefangen!
Eine Erkenntnis, die die Angst, die sich so kurz zu zähmen wusste, sofort wieder wachsen ließ. Immer schneller und schneller, bis der Junge meinte, es nicht mehr aushalten zu können.
Doch bevor er wirklich losschreien konnte, um der Welt seine schreckliche Furcht zu verkünden, viel lauter noch als jede Feuerwehrsirene, was der Gefangene gewiss getan hätte, geschah etwas Neues. So plötzlich und unerwartet, dass ihm fast der Atem stillstand. So still stand, dass nicht einmal mehr genug Luft für nur ein einziges Wort da war, und sei dieses nur geflüstert. Es wurde nämlich blitzartig hell um ihn herum. Strahlend hell!
Kein Wunder, denn das Hindernis, mit dem Anthonys Stirn gerade eben noch so unliebsam Bekanntschaft geschlossen hatte, es verschwand wie mit einem Ruck. - Er war frei!
Was dann auch wirklich so war, denn dieses Hindernis war nichts weiter gewesen als der Deckel einer ziemlich flachen Kiste, gerade noch verschlossen, nun aber geöffnet, in der sich Anthony plötzlich liegend fand. Allerdings nicht allein, denn neben sich konnte er noch drei andere Kinder entdecken. Alle im Schlafanzug, so wie er.