Argumentation - Kati Hannken-Illjes - E-Book

Argumentation E-Book

Kati Hannken-Illjes

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Beschreibung

Das Buch bietet eine Einführung in theoretische Konzepte und analytische Ansätze zur Argumentation. Ausgangspunkt sind drei unterschiedliche Perspektiven: die logische, die dialektische und die rhetorische Perspektive. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dialektischen und rhetorischen Ansätzen. Die Fragen: Welche Form hat ein Argument? Welche Funktion hat Argumentation? Wie bestimmt sich die Geltung von Argumenten/ Argumentation? leiten durch die Darstellungen und Diskussionen. Der Band umfasst drei Abschnitte: I) die verschiedenen Perspektiven auf Argumentation und die relevanten Theorien, II) die Möglichkeiten der Analyse von Argumentation und aktuelle Fragen innerhalb der Argumentationswissenschaft sowie III) aktuelle Forschungsthemen, hier das Verhältnis von Narration und Argumentation, die Multimodalität von Argumentation und das Problem fundamentalen Dissenses (,Deep Dissensus'). Er richtet sich an Studentinnen und Studenten der Rhetorik, Linguistik, Sprechwissenschaft, Philosophie und Sozialwissenschaft sowie an alle am Gegenstand der Argumentation interessierten Leserinnen und Leser.

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Kati Hannken-Illjes

Argumentation

Einführung in die Theorie und Analyse der Argumentation

A. Francke Verlag Tübingen

 

 

© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-8233-0086-1

Inhalt

„To argue is inherently ...1 EinleitungDas Vorgehen in diesem Buch2 Was ist Argumentation?2.1 Grundlagen des Argumentationsbegriffs2.1.1 Strittigkeit und Geltung2.1.2 Was ist ein Argument?2.1.3 Die Funktionen von Argumentation2.1.4 Argumentieren und Erklären2.1.5 Status von Argumentation: Funktion oder Textsorte?2.2 Wenzels Modell der drei Perspektiven auf Argumentation2.2.1 Die Entwicklung des Modells der drei Perspektiven auf Argumentation2.2.2 Die drei Perspektiven auf Argumentation2.3 Die logische Perspektive2.4 Die dialektische Perspektive2.5 Die rhetorische Perspektive2.6 Probleme der Unterteilung in die logische, dialektische und rhetorische Perspektive3 Die dialektische Perspektive3.1 Informelle LogikExkurs: Kritisches Denken3.2 Fehlschlüssigkeit und Fehlschlüsse3.3 Die Diskurstheorie Habermas’ und sein Blick auf Argumentation3.4 Die normative Pragmatik und die Theorie von Präsumtionen und Beweislast3.5 Arne Naess’ Normen für Diskussionen3.6 Die Pragma-Dialektik3.7 Die Verbindung von dialektischer und rhetorischer Perspektive3.7.1 Die Pragma-Dialektik und das Strategische Manövrieren3.7.2 Tindales Integration von dialektischem und rhetorischem Argumentationsbegriff4 Die rhetorische Perspektive4.1 Rhetorisch überzeugen und beweisen4.1.1 Die rhetorischen Überzeugungsmittel: Ethos, Logos und Pathos4.1.2 Das Paradigma und das Enthymem als rhetorische Schlüsse4.2 Die rhetorische Wende4.2.1 Der argumentationstheoretische Ansatz Toulmins4.2.2 Perelman/Olbrechts-Tyteca und die Neue Rhetorik4.3 Die Topik4.3.1 Formale und materiale Topoi4.3.2 Topos als generative Kategorie oder Oberflächenphänomen4.3.3 Aristoteles’ „Topik“ und „Rhetorik“ als Ausgangspunkte4.3.4 Status und Topos4.3.5 Die Argumentationsschemata in Perelman/Olbrechts-Tytecas „Die Neue Rhetorik“4.3.6 Kienpointners Alltagslogik4.3.7 Topik und Geltung/Topik und Wissen5 Argumentation analysieren5.1 Die Analyse von Streitfrage und Status5.2 Die funktionale Analyse5.2.1 Funktionale Analyse auf der MikroebeneExkurs: Das Rekonstruieren impliziter Aussagen und die Position der Analysierenden5.2.2 Die makrostrukturelle Analyse5.2.3 Das pragma-dialektische Analysemodell zwischen Mikro- und Makroanalyse5.3 Analyse der Topoi5.3.1 Analyse der Argumentationsschemata (der formalen Topoi)5.3.2 Analyse der materialen Topoi5.4 Die gesprächsanalytische Argumentationsanalyse5.4.1 Die Ebenen der Handlungskonstitution nach Kallmeyer5.4.2 Argumentation aus gesprächsanalytischer Sicht5.4.3 Gesprächsanalyse und Argumentation: ein schwieriges Verhältnis5.5 Ethnografie der Argumentation5.5.1 Ethnografie der Kommunikation5.5.2 Ethnografie des Wissens5.5.3 Die Ethnografie der Argumentation zwischen Produkt- und Prozessperspektive6 Aktuelle Fragestellungen in der Argumentationswissenschaft6.1 Argumentation und Narration6.1.1 Narration und Argumentation in der klassischen Rhetorik6.1.2 Narration und Argumentation in der modernen Rhetorik und Argumentationstheorie6.1.3 Narration und Argumentation im Recht: die Blaupause6.1.4 Abstraktionsebenen des Erzählens6.1.5 Faktualität und Fiktionalität von rhetorischen und argumentativen Narrationen6.2 Multimodalität der Argumentation6.2.1 Visuelle Argumentation6.2.2 Stimme und Körper in der Argumentation6.2.3 Dinge in der Argumentation6.2.4 Weiterführende Forschungsaufgaben6.3 Grenzen der Argumentation? Inkommensurabilität und deep disagreement6.3.1 Die These der Inkommensurabilität6.3.2 Das Problem der Metaregel und die Rhetorik als Lösung6.3.3 Weiterführende ForschungsaufgabenLiteraturFilmeAbbildungsverzeichnisSachregister

„To argue is inherently to risk failure“ (Henry W. Johnstone Jr.)

1Einleitung

Argumentieren ist riskant, weil ich im Geben und Nehmen von Gründen in Betracht ziehen muss, dass auch mein Gegenüber gute Gründe vorbringt und ich möglicherweise erkenne, dass die Gründe meines Gegenüber „besser“ sind und ich in der Folge meine Position aufgeben muss. Dieses Risiko, selbst überzeugt zu werden, liegt unter jeder Argumentation: „An argument we are guaranteed to win is no more a real argument than a game we are guaranteed to win is a real game“ (Johnstone, 1965, S. 1).

Argumentieren gibt aber auch Sicherheit, weil ich im Geben und Nehmen von Gründen immer wieder offenlege, was ich für wahr halte, während mein Gegenüber dasselbe tut. Damit ist jede Argumentation ein Abgleich über unser Verständnis von Ausschnitten der Welt. So kann Argumentation Verständigung ermöglichen.

Dieses Studienbuch gibt eine Einführung in die Hauptströmungen der Argumentationstheorie, der Argumentationsanalyse und der aktuellen Forschungsfragen in der Argumentationswissenschaft. Die Konzentration liegt dabei auf dialektischen und rhetorischen Ansätzen. Mit der rhetorischen Wende Ende der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts hat die Argumentationstheorie einen starken Wandel erlebt: weg von rein logischen Beschreibungen der Argumentation, hin zur Einbeziehung natürlicher Sprache, einer dialogischen Sicht auf Argumentation und einer Wiederaufnahme von rhetorischen Konzepten wie der TopikTopik und dem Publikum. Neben der Philosophie waren und sind nun die Rhetorik, die Rechtswissenschaft, die Linguistik, die Sprechwissenschaft und andere Disziplinen in die Bearbeitung argumentationstheoretischer Fragen einbezogen. In den USA hat die praktische Auseinandersetzung mit Argumentation in den Debattenteams der Universitäten die Theoriebildung stark vorangebracht und in der Philosophie die „critical thinking“-Bewegung. In Deutschland hat die Argumentationsforschung Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts eine erste Hochzeit erlebt, besonders beeinflusst durch die Konzeption von Argumentation bei Jürgen Habermas. Seit der ersten Konferenz der International Society for the Study of Argumentation 1986 hat sich das Feld immer weiter entwickelt und integriert mittlerweile verschiedenste Disziplinen und Sichtweisen. Die wissenschaftliche Befassung mit der Argumentation hat sich so weit entwickelt, dass man beginnen könnte, von einer Argumentationswissenschaft zu sprechen. Auch wenn das Feld sich aus vielen disziplinären Quellen speist, so hat es sich in den letzten 30 Jahren doch auch immer stärker als eigenes Feld mit einer eigenen akademischen Öffentlichkeit etabliert: mit eigenen Fachgesellschaften, Konferenzen, Zeitschriften und Studiengängen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Argumentation steht vor derselben Herausforderung wie die Erforschung anderer Gegenstände, die im Englischen mit dem Begriff der „Studies“ versehen ist: Es handelt sich zunehmend um einen Gegenstand eigenen Rechts, auch wenn er noch nicht disziplinär selbstständig ist.

Diese Einführung will das Feld der Argumentation ordnen, indem sie Grundströmungen, zentrale Ansätze, Möglichkeiten der Analyse und aktuelle Forschungsfragen in den Blick nimmt. Eine Einführung steht immer vor dem Dilemma, zum einen leicht zugänglich sein zu wollen und zur selben Zeit so umfassend als möglich. Der Schwerpunkt dieser Einführung liegt stärker auf der Zugänglichkeit. Sie behandelt die wichtigsten Ansätze in der Dialektik und Rhetorik der Argumentation. Die Lücken, die dieser notwendige Auswahlprozess hinterlässt, sind seit ein paar Jahren ganz hervorragend zu kompensieren: 2014 haben van Eemeren, Garssen, Snoeck Henkemans, Krabbe und Wagemans ein umfassendes Handbuch der Argumentationstheorie veröffentlicht, das sich sehr gut als weiterführende Lektüre eignet. Neben diesem Handbuch sei auch auf die einschlägigen Zeitschriften der Argumentationswissenschaft verwiesen: Argumentation, Argumentation in Context, Informal Logic, Cogency und Argumentation and Advocacy. Eine weitere wichtige Quelle für die, die sich weitergehend für die Argumentation interessieren, sind die verschiedenen Tagungen und Konferenzen zur Argumentation: u.a. die Konferenz der International Society for the Study of Argumentation in Amsterdam, die Tagung der Ontario Society for the Study of Argumentation in Windsor, Language and Argumentation, die Alta Conference on Argumentation in Utah als Konferenz der American Forensic Association, die Tokyo Conference on Argumentation, die Konferenzen der Wake Forest University in den USA und Venedig. Zu vielen dieser Tagungen erscheinen Proceedings – Tagungsbände –, die einen guten Einblick zum Stand der Argumentationswissenschaft geben können.

Mein herzlicher Dank geht an Carmen Harsch für die tatkräftige Unterstützung an diesem Studienbuch von Anfang bis Ende und an Cornelius Filipski für das Lesen und Diskutieren.

Das Vorgehen in diesem Buch

Diese Einführung bietet einen systematischen Zugang und orientiert sich an der Dreiteilung der Perspektiven auf Argumentation in die logische, dialektische und rhetorische Perspektive. Leitend für die Vorstellung und Diskussion der verschiedenen Ansätze sind drei Gesichtspunkte: Unabhängig vom Zugang, den ein bestimmter Ansatz wählt, liegt ihm eine Vorstellung davon zu Grunde, welche Funktion Argumentation hat, welche Form ein Argument hat und was die Geltung eines Arguments bestimmt. Diese drei Aspekte: Form, Funktion und Geltungsbedingungen sind grundlegend für die Diskussion. Sie führen zu folgenden Leitfragen:

Was ist nach diesem Ansatz die Form eines Arguments?

Was ist nach diesem Ansatz die Funktion von Argumentation?

Was bestimmt nach diesem Ansatz die Geltung von Argumenten?

Im Onlinematerial zu diesem Buch befindet sich eine umfassende Matrix, die die verschiedenen Ansätze orientiert an den drei Leitfragen einordnet.

 

Damit die Zusammenhänge und Differenzen der verschiedenen Perspektiven und Ansätze deutlich werden, wird ein Beispiel durch alle Kapitel geführt. Das Beispiel stammt aus dem Stück „Twelve Angry Men“ (deutsch: „Die zwölf Geschworenen“) von Reginald Rose. Es wurde 1957 von Sidney Lumet mit Henry Fonda verfilmt, 1963 folgte eine deutsche Verfilmung von Günter Gräwert. Dieses Kammerspiel dreht sich um die Juryberatung in einem Strafverfahren in den USA. Die zwölf Jurymitglieder müssen die Entscheidung treffen, ob ein 19jähriger Mann seinen Vater erstochen hat und des Mordes schuldig ist. Dem jungen Mann droht die Todesstrafe. Das Stück nimmt ausschließlich die Beratung der Jury in den Blick, eine Beratung, die überhaupt nur stattfindet, weil Juror 8 in der ersten Abstimmung für nicht schuldig plädiert und damit einen sofortigen Schuldspruch unmöglich macht. Die Beispielsequenz, mit der ich in diesem Buch arbeite, ist ein Auszug aus dem Beginn der Beratung. Sie soll hier einmal in Gänze vorgestellt werden, in den folgenden Kapiteln werde ich dann nur mit einzelnen Aspekten arbeiten. Grundlage für die Analyse des Beispiels ist die deutsche Fassung des Theaterstücks von Horst Budjuhn. Im Original werden die einzelnen Geschworenen nur mit Nummern kenntlich gemacht, für die Nutzung in diesem Buch erschien es passender, sie mit „Juror X“ und nicht mit „Nummer X“ zu benennen. Kleinere Regieanweisungen, die für die Analyse irrelevant sind, werden stillschweigend ausgelassen. Der gesamte Film (der amerikanische wie der deutsche) sei allen Argumentationsinteressierten sehr empfohlen.

JUROR1: Also elf Stimmen für „schuldig“. In Ordnung. – „Nicht schuldig“? (Juror 8 hebt langsam die Hand.) Eine. – Klar, 11:1 für „schuldig“. Jetzt wissen wir wenigstens, woran wir sind.

 

 

JUROR3: Seien wir doch mal vernünftig! Sie haben im Gerichtssaal gesessen und genau die gleichen Dinge gehört wie wir alle. Der Bursche ist ein gemeingefährlicher Mörder. Das haben Sie ihm doch angesehen.

JUROR8: Er ist neunzehn Jahre alt.

JUROR3: Alt genug, um seinen Vater zu erstechen! Zehn Zentimeter tief in die Brust!

JUROR6: Der Fall liegt eigentlich klar, ich war eigentlich … ja, ich war vom ersten Tag an überzeugt, daß –

JUROR3: Sie waren nicht der einzige! Der Fall ist nun wirklich bis in die letzte Einzelheit aufgeklärt. Die haben sich so viel Mühe gegeben, es uns zu beweisen. Wieder und wieder. Ja, soll ich am Ende gescheiter sein als die studierten Richter.

JUROR8: Niemand verlangt es von Ihnen.

JUROR10: Ja, was wollen Sie dann noch?

JUROR8: Ich möchte nur darüber sprechen.

JUROR7: Und was soll dabei rauskommen? Elf der Anwesenden sprechen ihn schuldig. Das ist genug gesprochen! Nicht einer hat das geringste Bedenken – bis auf Sie!

JUROR10: Nur eine Frage.

JUROR8: Bitte.

JUROR10: Glauben Sie dem Jungen ein Wort?

JUROR8: Ich weiß nicht, ob ich ihm glaube. Vielleicht glaube ich ihm nicht.

JUROR7: Dann verstehe ich noch weniger, warum Sie für „nicht schuldig“ gestimmt haben!

JUROR8: Elf haben ihn schuldig gesprochen. Ich kann nicht so einfach meine Hand heben und jemanden in den Tod schicken. Ich muß erst darüber sprechen.

JUROR10: Sie hören sich wohl gerne selber reden?

 

 

JUROR7: Na, sehen Sie! Und was ist [!] für ein Unterschied, wie lange ich dazu brauche? Ich hebe meine Hand hoch, weil ich überzeugt bin. Wir alle sind einfach überzeugt. Ich brauche dazu nicht mal fünf Minuten. –

JUROR8: Ich brauche vielleicht eine Stunde. – Das Baseball-Match fängt ja nicht vor acht Uhr an.

 

 

JUROR9: Ich habe nichts dagegen, daß wir eine Stunde hier bleiben.

JUROR10: Idiot! – Entschuldigen Sie, es ist mir so rausgerutscht!

JUROR9: Bitte, bitte, tun Sie sich keinen Zwang an.

JUROR10: Ich nehme Sie beim Wort. Gestern abend habe ich einen guten Witz gehört …

JUROR8: Dazu sind wir nicht hier.

JUROR10: Gut, gut, gut, dann klären Sie mich auf, warum wir hier sind. Oder wissen Sie es selber nicht?

JUROR8: Ich weiß nur, daß dieser Junge sein ganzes Leben herumgestoßen wurde. Er ist in einem Elendsviertel aufgewachsen, hat früh seine Mutter verloren. Damals war er neun Jahre alt. Für anderthalb Jahre hat man ihn in ein Waisenhaus gesteckt, weil sein Vater eine Gefängnisstrafe absitzen mußte. Wegen Scheckfälschung, stimmt’s? Ja, das ist kein gutes Sprungbrett fürs Leben. Wie sagten Sie noch – auf freier Wildbahn gegrast? Man hätte sich eben mehr um ihn kümmern sollen.

JUROR3: Unsere Waisenhäuser sind okay. Wir zahlen Steuern dafür.

 

 

JUROR8: Und wissen Sie auch, wer ihn geschlagen hat? Nicht nur sein eigener Vater, nicht unsere sogenannten Erzieher, nicht der Waisenhausvater, nein, meine Herren –

JUROR7: Jetzt bin ich aber gespannt.

JUROR8: Wir. – Neunzehn erbärmliche Jahre sind an diesem Jungen nicht spurlos vorübergegangen. Er ist verbittert. Und deshalb – denke ich, schulden wir ihm ein paar Worte. – Das ist alles.

JUROR10: Ich bin gerührt. Denken Sie von mir was Sie wollen! Aber wir schulden ihm nicht so viel. – Er hat ein saubres Verfahren bekommen. Glauben Sie das ist umsonst? […] Er kann froh sein, daß wir so freigiebig waren. Stimmt’s? Wir sind doch keine Quäker! Wir haben die Tatsachen gehört – und jetzt wollen Sie uns weismachen, daß wir dem Bürschlein glauben sollen! Mir kann der nichts vormachen, nicht so viel – nicht das Schwarze unter dem Nagel glaube ich dem. Ich habe lange genug unter ihnen gelebt, ich kenne sie in- und auswendig. Die sind geborene Verbrecher, alle durch die Bank! Untermenschen!

JUROR11: Untermenschen.

JUROR10: Mir können Sie das glauben!

JUROR9: Es ist möglich … aber es ist entsetzlich, so was zu glauben. Gibt es tatsächlich geborene Verbrecher? – Ist das Verbrechen denn typisch für eine bestimmte Klasse? Seit wann? Und wer, sagen Sie mir das bitte, hat schon ein Monopol auf die Wahrheit? Wer? Sie vielleicht?

JUROR3: Papperlapapp, wir brauchen keine Sonntagspredigt!

JUROR9: Entschuldigen Sie, aber die Ansichten dieses Herrn erscheinen mir denn doch gefährlich –

 

 

JUROR12: Lassen Sie mich eine Sekunde nachdenken – ja, natürlich, es ist unsere Aufgabe, diesen Herrn zu überzeugen, daß wir im Recht sind und er im Unrecht. Vielleicht könnte jeder von uns ein bis zwei Minuten darauf verwenden. Wie finden Sie das?

 

 

JUROR1: Also einmal reihum!

[…]

JUROR1: Zwei Minuten pro Kopf. Sie sind der erste.

JUROR2: Ja … was soll ich sagen … das ist gar nicht so leicht … ich … ja er ist sicher schuldig. Das ist doch von Anfang an klar gewesen … einen Gegenbeweis hat bisher niemand erbracht.

JUROR8: Den braucht auch niemand zu erbringen. Die Beweislast obliegt allein dem Gericht. So steht es in unserer Verfassung. Sie brauchen nur nachzulesen.

JUROR2: Jaja, das weiß ich schon … ich wollte auch nur sagen … na eben, der Mann ist schuldig. Es gibt doch jemand, der die Tat gesehen hat –

JUROR3: Endlich! Sprechen wir endlich über Tatsachen! Lassen wir die persönlichen Gefühle zu Hause! Da ist ein alter Mann, der im zweiten Stock wohnt, direkt unter dem Mordzimmer. Er hat ausgesagt, es habe sich wie ein Kampf angehört, und dann habe der Junge laut gerufen: „Ich bring dich um!“ Er hat es deutlich verstanden! Eine Sekunde später fiel ein Körper zu Boden, und er lief zur Wohnungstür, sah hinaus – und was sah er? Das Bürschlein rannte die Treppe runter und aus dem Haus. Dann holte er die Polizei. Sie fanden den Vater mit einem Messer in der Brust … und der Gerichtsarzt stellte fest, daß der Tod um Mitternacht eingetreten sein muß. – Das sind Tatsachen. Tatsachen lassen sich nicht widerlegen. Der Junge ist schuldig! Daran gibt’s nicht zu rütteln. Ich bin nicht so sentimental wie ein gewisser Herr. Mir ist auch bekannt, daß der Junge erst neunzehn ist, aber das schützt ihn nicht davor, daß er für seine Tat bezahlen muß!

JUROR7: Ganz Ihrer Meinung!

JUROR1: Danke. Der nächste.

JUROR4: Für mich hat nie ein Zweifel bestanden, daß die ganze Geschichte, die uns der Junge aufgetischt hat, doch reichlich fadenscheinig ist. Er behauptet, er sei zur Zeit des Verbrechens im Kino gewesen, und schon eine Stunde später hat er sich nicht mehr erinnern können, welche Filme er gesehen hatte. Ja, sogar die Namen der Stars waren ihm entfallen. Ein bißchen merkwürdig, nicht wahr?

JUROR3: Bitte, da hören Sie es! Sie haben völlig recht.

JUROR10: Und was ist mit der Frau auf der andern Straßenseite? Wenn ihre Aussage nichts beweist, dann können mir alle Beweise gestohlen bleiben.

JUROR11: Ja, allerdings – die Frau hat als einzige den Mord mitangesehen.

JUROR1: Der Reihe nach, wenn ich bitten darf.

JUROR10: Moment, hier ist eine Frau, die im Bett liegt und nicht einschlafen kann.

JUROR7: Wo? Der Frau kann geholfen werden!

JUROR10: Sie erstickt fast vor Hitze. So war’s doch? Jedenfalls blickt sie aus dem Fenster und sieht gerade noch, wie das Söhnchen das Messer in seinen Vater stößt. Es ist zehn Minuten nach Mitternacht, auf die Sekunde. Der Beweis ist lückenlos. Die Frau hat den Burschen seit seiner Geburt gekannt. Sein Fenster liegt schräg gegenüber auf der andern Straßenseite, jenseits der Schienen der elektrischen Hochbahn. Und sie hat unter Eid ausgesagt, daß sie den Mord gesehen hat.

JUROR8: Durch die Fenster eines vorbeifahrenden Hochbahnzuges.

JUROR10: Richtig. Aber der Zug war leer und fuhr in Richtung City. Er war auch unbeleuchtet, wenn Sie sich erinnern. Und die Sachverständigen haben uns bewiesen, daß man bei Nacht durch die Fenster eines vorbeifahrenden Hochbahnzuges sehen kann, was auf der anderen Seite vorgeht. Sie haben es bewiesen!

JUROR8: Eine Frage. Sie trauen dem Jungen nicht. Was veranlaßt Sie, der Frau zu trauen? Sie stammt doch aus demselben Milieu?

JUROR10: Ach Sie – Sie sind ein ganz geriebener Gauner …

JUROR1: Aber, aber, meine Herren! Immer mit der Ruhe!

JUROR7: Lassen Sie ihn doch reden! Tief durchatmen, entspannen!

JUROR10: Er hat die Weisheit mit Löffeln gefressen, Sie werden schon sehen –

JUROR1: Gut, gut, wir sind doch nicht da, um uns zu streiten. Wer kommt dran?

 

 

JUROR6: Ich weiß nicht … vorhin war ich ganz sicher, ich frage mich bloß … das Motiv ist schließlich die Hauptsache, denke ich. Wo es kein Motiv gibt, gibt’s auch keinen Fall. Oder? Das Motiv beschäftigt mich. Zum Beispiel die Aussage der Leute, die Flur an Flur mit dem Burschen wohnen … das hat mich immerhin überzeugt. Die sagten doch etwas von einer Auseinandersetzung zwischen dem Vater und dem Jungen – so gegen sieben Uhr abends. Ich kann mich auch irren.

JUROR11: Es war acht Uhr, nicht sieben.

JUROR8: Ja, acht Uhr abends. Die Nachbarn hörten einen Streit, aber sie konnten nicht verstehen, worum es ging. Dann wollten sie auch noch gehört haben, daß der Vater den Jungen ins Gesicht schlug, zweimal, und zuletzt sahen sie den Jungen wütend die Wohnung verlassen. Was beweist das?

JUROR6: Genaugenommen – nichts. Ich habe ja nicht gesagt, daß es was beweist. Aber es ist nicht alles –

JUROR8: Sie haben gesagt, daß sich ein Motiv für den Mord daraus ergeben könnte. Genau wie der Staatsanwalt. Nur, ich habe den Eindruck, daß es kein sehr stichhaltiges Motiv ist. Der Junge ist so oft in seinem Leben geprügelt worden, daß Prügel sozusagen sein tägliches Brot waren. Es überzeugt mich nicht, daß ihn plötzlich zwei Ohrfeigen so reizen sollen, daß er deswegen gleich zum Mörder wird.

JUROR4: Es können zwei zuviel gewesen sein. Bei jedem ist das Maß einmal voll.

(Rose, 1982, S. 17–26, für die deutsche Bühne dramatisiert von Horst Budjuhn)

2Was ist Argumentation?

Dieses Kapitel führt grundlegende Begriffe ein, die in den folgenden Kapiteln aus der Perspektive verschiedener theoretischer Ansätze näher ausbuchstabiert und diskutiert werden. Zudem wird mit Wenzels Ansatz der drei Perspektiven auf Argumentation das Modell erläutert, an dem sich diese Einführung in die Argumentation orientiert.

2.1Grundlagen des Argumentationsbegriffs

2.1.1Strittigkeit und Geltung

Wenn Menschen argumentieren, tauschen sie Gründe aus. Spezifisch für das BegründungshandelnBegründungshandeln in einem argumentativen Rahmen ist, dass hier Gründe eingefordert oder gegeben werden, weil etwas strittig geworden ist, d.h. die Geltung einer Aussage bestritten wird. Um von Argumentation zu sprechen, müssen also nicht nur Gründe gegeben (und genommen) werden; diese Gründe müssen sich auch auf einen strittigen Sachverhalt beziehen. Die meisten Ansätze zur Argumentation gehen davon aus, dass das Bestehen einer StreitfrageStreitfrage konstitutiv ist für Argumentation und dass Argumentation sich durch dieses Merkmal auch von anderen Formen des BegründungshandelnsBegründungshandeln wie ErklärenErklären-warum unterscheiden lässt. StrittigkeitStrittigkeit kann allerdings in verschiedenen Formen auftreten: Sie kann von den Argumentationspartnerinnen angenommen werden, ohne dass sie direkt geäußert wird, oder sie kann direkt hergestellt werden, wie im folgenden Beispiel. Hier begründet Juror 2 seine Position, dass der Angeklagte schuldig ist, und Juror 8 bestreitet die Geltung dieser Aussage.

JUROR1: Zwei Minuten pro Kopf. Sie sind der erste.

JUROR2: Ja … was soll ich sagen … das ist gar nicht so leicht … ich … ja er ist sicher schuldig. Das ist doch von Anfang an klar gewesen … einen Gegenbeweis hat bisher niemand erbracht.

JUROR8: Den braucht auch niemand zu erbringen. Die Beweislast obliegt allein dem Gericht. So steht es in unserer Verfassung. Sie brauchen nur nachzulesen.

JUROR2: Jaja, das weiß ich schon … ich wollte auch nur sagen … na eben, der Mann ist schuldig. Es gibt doch jemand, der die Tat gesehen hat –

Juror 2 begründet hier, warum er glaubt, dass der Angeklagte schuldig ist. Diese Begründung („einen Gegenbeweis hat bisher niemand erbracht“) wird von Juror 8 nicht akzeptiert und er begründet auch, warum er sie nicht akzeptiert („Die Beweislast obliegt allein dem Gericht“). Juror 2 reagiert darauf mit einer etwas vagen Rücknahme seiner Aussage: Er nimmt sie implizit zurück („Jaja, das weiß ich schon“) und bietet eine andere Begründung an („Es gibt doch jemand, der die Tat gesehen hat“).

Dieses Beispiel zeigt, dass unterschieden werden kann zwischen zwei Formen des Bestreitens. Zum einen kann die Aussage an sich bestritten werden, zum anderen die Geltung der Aussage in einem bestimmten Kontext. Juror 8 bestreitet nicht, dass niemand den Gegenbeweis angetreten hat, die Verteidigung konnte tatsächlich nicht beweisen, dass der Angeklagte unschuldig ist. Aber diese Aussage hat keine RelevanzRelevanz für die Fragestellung, ob die Schuld des Angeklagten zweifelsfrei erwiesen ist, und kann daher keine Geltung beanspruchen, auch wenn die Aussage faktisch richtig ist.

Das Beispiel zeigt außerdem, dass innerhalb von Argumentation oft mehrere StreitfrageStreitfragen auf unterschiedlichen Ebenen behandelt werden. In dem kurzen Beispiel liegen mindestens zwei StreitfrageStreitfragen vor: Ist der Angeklagte schuldig oder nicht? Ist der Mangel an Gegenbeweisen ein guter Grund? Weil es häufig mehrere Streitfragen gibt, kann die Analyse von Argumentation sehr komplex werden (vgl. Kapitel 5).

Argumentation ist die Bearbeitung einer StreitfrageStreitfrage durch das Geben und Nehmen von Gründen.

Argumentation beruht aber nicht nur auf StrittigkeitStrittigkeit, sondern auch auf der Annahme von Übereinstimmung. Durch Argumentation wird StrittigkeitStrittigkeit bearbeitet, indem Aussagen – implizit und explizit – angeführt werden, von denen die Argumentationspartnerinnen1 annehmen, dass ihr Gegenüber diese akzeptiert oder akzeptieren muss/sollte. Damit beruhen Gründe auf Aussagen, die selbst nicht strittig sind, sondern als geltend angenommen werden. Im Beispiel ist dies der Verweis auf die Verfassung. Innerhalb von Argumentation wird also nicht nur deutlich, worüber es divergierende Ansichten gibt. Deutlich wird auch, was die Teilnehmerinnen einer Argumentation als gemeinsame Geltungsbasis ansehen. Diese Aussagen – die strittige und die geltende – befinden sich auf zwei unterschiedlichen Ebenen: zum einen der Ebene dessen, was als Grund in Bezug auf die Streitfrage angegeben wird und zum anderen auf der Ebene des Übergangs vom Grund zur Konklusion. Dabei bleibt der Übergang vom Grund zur Konklusion oft implizit. Auch das lässt sich im Beispiel gut sehen: Juror 2 führt an, dass niemand einen Gegenbeweis geführt hat. Dies wird in der Runde nicht bestritten, kann also von da an als geteiltes Wissen dieser Teilnehmer angesehen werden. Implizit äußert Juror 2 aber auch, dass dies ein guter Grund dafür ist, dass der Angeklagte schuldig ist. Diese Aussage ließe sich in einer starken Form rekonstruieren als: Wer die eigene Position (Unschuld) nicht beweisen kann, muss die Position der Gegenseite übernehmen (Schuld). Auch diese Aussage wird von Juror 2 als potenziell geteiltes Wissen eingeführt, von Juror 8 aber explizit abgelehnt. Damit wird in der Argumentation nicht nur markiert, was strittig ist, sondern auch, was gilt. Argumentation hat also grundlegend nicht nur die Funktion StrittigkeitStrittigkeit/DissensDissens zu bearbeiten, sondern sie hat auch eine epistemischeArgumentationepistemische Funktion, also auf Wissen bezogene Dimension: Argumentation etabliert was gilt. Sie ist deshalb immer auch „Reden über die Geltungsbedingungen von Äußerungen“ (Kopperschmidt, 1989, S. 26). Ob Argumentation möglich ist, wenn kaum oder keine geteilte Geltungsbasis besteht, ist eine der aktuellen Fragen innerhalb der Argumentationswissenschaft und wird unter der Überschrift des deepdissensus<i>deep dissensus</i> oder dem Problem der Inkommensurabilität diskutiert (vgl. Kapitel 6).

Eine Definition, die die Aspekte der StrittigkeitStrittigkeit oder DissensbearbeitungDissens und der Etablierung von Geltung verbindet, ist die von Wolfgang Klein (1980). Er fasst Argumentation als den Versuch „mit Hilfe des kollektiv Geltenden etwas kollektiv Fragliches in etwas kollektiv Geltendes zu überführen“ (Klein, 1980, S. 19). Damit beinhaltet diese Definition den Aspekt der StrittigkeitStrittigkeit (bzw. etwas weniger stark: Fraglichkeit). Etwas ist (kollektiv) fraglich, wird dann aber mit Hilfe von Gründen (dem kollektiv Geltenden) in etwas kollektiv Geltendes überführt. Argumentation hat also auch bei Klein immer beide Funktionen: die Bearbeitung von StrittigkeitStrittigkeit und die Etablierung von Geltung.

Argumentation hat immer zwei Funktionen. Durch Argumentation wird

1) StrittigkeitStrittigkeit bearbeitet und

2) Geltung hergestellt.

2.1.2Was ist ein Argument?

Wenn Argumentieren heißt, eine StreitfrageStreitfrage durch das Geben und Nehmen von Gründen zu bearbeiten, was ist dann ein Argument? Wie ist ein Argument aufgebaut? Die Unterscheidung von Argumentation und Argument ist in den verschiedenen Ansätzen zur Argumentation nicht einheitlich. Hier soll Argumentation verstanden werden als die Abfolge und Kopplung verschiedener Argumente in Bezug auf eine StreitfrageStreitfrage. Diese Abfolge kann in verschiedenen Interaktionsformen auftauchen und verschiedene Grade von Komplexität haben. Aber was ist nun ein einzelnes Argument?

Ein Argument ist die Grundeinheit innerhalb einer Argumentation. Dabei ist ein Argument nicht das Gleiche wie ein Grund, auch wenn beide Begriffe alltagssprachlich oft synonym verwendet werden. Das Argument bezieht sich immer schon auf eine StreitfrageStreitfrage und beinhaltet Aussagen, die den Übergang vom Grund zur Konklusion legitimieren. Ein Grund ist also eine Aussage innerhalb eines Arguments. Ein Argument beinhaltet demnach drei Aussagen mit unterschiedlichen Funktionen. Diese Grundeinheit wird seit den Anfängen der Rhetorik als dreiteiliges Modell dargestellt.

Oder übertragen von der Funktion in Positionsbegriffe:

Die einzelnen Funktionen und Positionen dieser dreiteiligen Grundform werden je nach Ansatz unterschiedlich benannt, die entsprechende Terminologie wird in den Abschnitten zu den einzelnen Ansätzen eingeführt. Daher ist die Position, von der aus begründet wird, noch recht allgemein mit „Grund“ benannt. Die Position des Übergangs ist in Anführungsstriche gesetzt, da dieser Begriff an sich in keinem Modell genutzt wird: In den verschiedenen theoretischen Ansätzen hat sie verschiedene Bezeichnungen – SchlussregelSchlussregel, Topos, Oberprämisse, Schlusspräsupposition –, Abstraktionsgrade und theoretische Fundierungen. Ihre Funktion ist immer gleich: die Kopplung des Grundes an die Konklusion.

Ein Argument lässt sich also darstellen als die Verbindung einer Konklusion mit einem Grund auf Basis eines Übergangs. Das heißt aber nicht, dass immer alle Teile dieses Modells in einem Text, in einer Interaktion wirklich auftreten. Häufig, insbesondere in AlltagsargumentationAlltagsargumentationen, werden eine oder zwei Funktionen nicht besetzt (vgl. Kapitel 4.1.2 zum EnthymemEnthymem). Allerdings können sie auf Nachfrage besetzt werden, ja sie müssen dann gefüllt werden können oder das Argument muss zurückgezogen werden.

Wie man bei der Analyse von Argumentation diese grundlegende Form ermittelt, wird deutlich, wenn man das Kriterium der StrittigkeitStrittigkeit hinzunimmt: Argumentation wird nur notwendig, wenn etwas bestritten wird. So lassen sich die drei Funktionen des Modells durch das Bestreiten einzelner Teile herausarbeiten. Eine kurze Sequenz aus dem Beispiel macht dies deutlich:

JUROR8: Ich weiß nur, daß dieser Junge sein ganzes Leben herumgestoßen wurde. Er ist in einem Elendsviertel aufgewachsen, hat früh seine Mutter verloren. Damals war er neun Jahre alt. Für anderthalb Jahre hat man ihn in ein Waisenhaus gesteckt, weil sein Vater eine Gefängnisstrafe absitzen mußte. Wegen Scheckfälschung, stimmt’s? Ja, das ist kein gutes Sprungbrett fürs Leben. Wie sagten Sie noch – auf freier Wildbahn gegrast? Man hätte sich eben mehr um ihn kümmern sollen.

JUROR3: Unsere Waisenhäuser sind okay. Wir zahlen Steuern dafür.

Die argumentative Äußerung von Juror 3 lässt sich in der dreiteiligen Form folgendermaßen darstellen.

Die Aussage, die begründet werden muss, ist, dass Waisenhäuser okay sind. Denn Juror 8 hat eine gegenteilige Aussage gemacht, indem er festgestellt hat, dass der Angeklagte in einem Waisenhaus gelebt hat („hineingesteckt wurde“) und dass dies kein gutes Sprungbrett für das Leben sei. Juror 3 widerspricht nicht nur der Aussage von Juror 8, er stellt eine Gegenbehauptung auf und er liefert auch gleich den Grund dazu. Warum sind unsere Waisenhäuser okay? Weil wir Steuern dafür zahlen.

Es fehlt noch die dritte Funktion innerhalb des dreistelligen Modells: der Übergang von Grund zu Konklusion. Kann man, um auf die Funktion des Grundes zu kommen, fragen, warum die Aussage gilt (Unsere Waisenhäuser sind okay! Warum? Weil wir Steuern dafür zahlen), so gelangt man zum Übergang, indem man nach der RelevanzRelevanz fragt: Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Was hat die Tatsache, dass wir Steuern für Waisenhäuser zahlen, damit zu tun, dass sie okay sind?

Dieser Übergang bleibt im Beispiel implizit. Hier wird deutlich, dass die Rekonstruktion von impliziten Anteilen wie „denn die Dinge, für die wir Steuern zahlen, sind okay“ nicht immer einfach und vor allem nicht immer eindeutig ist. Man könnte z.B. den Übergang hier auch allgemeiner fassen: Dinge, für die sich die Gesellschaft engagiert, sind gut/Dinge, für die sich die Gesellschaft engagiert, sind ausreichend für alle Mitglieder der Gesellschaft. Sobald der Übergang aber auf einer allgemeineren Ebene rekonstruiert wird, ergeben sich noch mehr Möglichkeiten. So ließe sich der Übergang rekonstruieren als „Dinge, für die sich die Gesellschaft engagiert, sind gut“, aber auch als „Alles, für das man bezahlt, ist gut“. Hier wird bereits ein Aspekt deutlich, der in der Entwicklung der Argumentationstheorie und der Argumentationsanalyse immer wieder relevant wird: das Verhältnis zwischen normativen Modellen und der Beschreibung natürlicher (im Gegensatz zu für die Analyse konstruierter) Argumentation. Konstruierte Beispiele haben den Vorteil, passgenau für ein Modell konzipiert zu sein und damit das Modell auch zutreffend erläutern zu können. Natürliche Argumentation ist häufig schwieriger zu analysieren, u.a. da Aussagen implizit bleiben und sie sich so nicht immer klar in vorgegebene Muster fassen lassen. Das kann man bedauern, man kann es aber auch als das eigentlich Interessante an der Argumentation verstehen. Wer argumentiert, muss oft zwei Aufgaben zugleich bearbeiten: die Aufgabe, Argumente vorzubringen, von denen sie glaubt, dass sie belastbar sind und die Aufgabe, Argumente vorzubringen, von denen sie glaubt, dass das Gegenüber sie akzeptieren wird. Hinzu kommt außerdem, dass Argumentation in der Regel in Interaktionen eingebettet ist und damit auch interaktionale Anforderungen (das Gesicht wahren, die Beziehung zum anderen aufrecht erhalten etc.) bearbeitet werden müssen. Diese verschiedenen Aufgaben werden in Kapitel 5.4 zur Gesprächsforschung und Argumentationsanalyse in den Blick genommen.

2.1.3Die Funktionen von Argumentation

Nachdem nun die Grundeinheit der Argumentation mit dem dreistelligen Argumentmodell beschrieben ist, soll der Blick vom Argument zur Argumentation gehen: Welche Funktionen hat Argumentation? Warum und wozu argumentieren wir?

JUROR7: Und was soll dabei rauskommen? Elf der Anwesenden sprechen ihn schuldig. Das ist genug gesprochen! Nicht einer hat das geringste Bedenken – bis auf Sie!

JUROR10: Nur eine Frage.

JUROR8: Bitte.

JUROR10: Glauben Sie dem Jungen ein Wort?

JUROR8: Ich weiß nicht, ob ich ihm glaube. Vielleicht glaube ich ihm nicht.

JUROR7: Dann verstehe ich noch weniger, warum Sie für „nicht schuldig“ gestimmt haben!

JUROR8: Elf haben ihn schuldig gesprochen. Ich kann nicht so einfach meine Hand heben und jemanden in den Tod schicken. Ich muß erst darüber sprechen.

Juror 8 will nicht einfach nur sprechen: Er fordert Gründe ein und will selber Gründe liefern, um die Frage „Ist der Junge schuldig“, in dieser Sequenz gefasst als „Glauben Sie dem Jungen ein Wort?“, zu beantworten. Dabei ist sein Ziel nicht, die anderen von der Unschuld des Jungen zu überzeugen; zur übergreifenden StreitfrageStreitfrage („Ist der Junge schuldig“) formuliert er selbst keinen eigenen StandpunktStandpunkt (keine eigene Konklusion). Zu Argumentieren – und wenn nur für eine Stunde – hat hier die Funktion, eine Entscheidung, die getroffen werden muss, zu einer fundierten, argumentativ gesicherten Entscheidung zu machen. Es geht hier (auch) um die Legitimation einer Entscheidung.

Argumentation wird in vielen theoretischen Ansätzen über ihre Funktion gefasst. Dabei lassen sich, wie oben eingeführt, zwei Funktionen von Argumentation unterscheiden: die Bearbeitung von DissensDissens oder StrittigkeitStrittigkeit und die Funktion der Geltungsetablierung. Diese Funktionen schließen einander nicht aus, sondern bedingen einander und sind eng gekoppelt. Die epistemischeArgumentationepistemische Funktion Funktion, die Funktion Geltung zu etablieren, ist oben schon kurz beleuchtet worden. Sie betrifft vor allem den „Übergang“, die Herstellung von RelevanzRelevanz zwischen Grund und Konklusion, von der die Sprecherin annimmt, dass sie vom Gegenüber geteilt wird. Diese Funktion findet sich in der Argumentationstheorie vor allem unter den Überschriften TopikTopik und ArgumentationsschemataArgumentationsschema wieder (vgl. Kapitel 4.3). Die Funktion der Bearbeitung von StrittigkeitStrittigkeit soll hier noch einmal genauer betrachtet werden, da sie selbst nicht ganz unstrittig ist.

Was bedeutet es, „StrittigkeitStrittigkeit zu bearbeiten“, was genau ist das Ziel von Argumentation? Eine gemeinsame Lösung, einen KonsensKonsens oder Kompromiss zu erlangen und am Ende den bestehenden DissensDissens aufgelöst zu haben? Oder kann auch eine Verschärfung des DissensesDissens Ziel einer Argumentation sein? Es gibt einige Ansätze, die den KonsensKonsens als Ziel von Argumentation sehen (so z.B. die Theorie kommunikativen Handelns von Habermas, vgl. Kapitel 3.3) oder zumindest das Zurückziehen entweder der Problematisierung oder des StandpunktStandpunktes nach einer argumentativen Phase (so z.B. die Pragma-Dialektik, vgl. Kapitel 3.6). Andere Ansätze sehen die Verschärfung einer StreitfrageStreitfrage durchaus auch als Ziel von Argumentation. Völzing (1979) stellt fest: „Es ist die Funktion von Argumentationen, in KonfliktenKonflikt dazu zu dienen, gegenteilige Meinungen oder Ansichten herauszuarbeiten, per Kompromiß oder KonsensKonsens Lösungsmöglichkeiten anzubieten, aber auch Potential zur Verschärfung eines KonfliktsKonflikt bereitzuhalten“ (Völzing, 1979, S. 12). Hier dient Argumentation also nicht ausschließlich der Lösung von KonfliktenKonflikt, sondern kann auch der Zuspitzung von Gegensätzen dienen, ohne einen direkten Einigungswillen. So sind beispielsweise parlamentarische Debatten oder politische Talkshows nicht darauf ausgelegt, KonsensKonsens zu erzielen, sondern vielmehr darauf, gegensätzliche Positionen vor einem Publikum aufzuführen. Vertreterinnen einer KonsensorientierungKonsensorientierung der Argumentation würden an dieser Stelle aber vermutlich argumentieren, dass die Verschärfung ein Zwischenstadium ist, um für einen Zeitraum unterschiedliche Positionen auszustellen und zu pointieren und damit ein Publikum in die Lage zu versetzen, eine fundierte Entscheidung zu treffen. Wie Klein (2001) treffend sagt, besteht in Situationen, in denen die Argumentierenden sich aufeinander beziehen, aber den DissensDissens nicht lösen können, „die Chance, dass aus unbegriffenem DissensDissens begriffener DissensDissens wird – was bei der Vorbereitung von Entscheidungen häufig notwendige Bedingung für tragfähige Kompromisse ist“ (S. 1311).

Inwieweit ein argumentativer Austausch auf einen KonsensKonsensorientierung orientiert ist, hängt vom Argumentationskontext und speziell vom Grad an AgonalitätAgonalität ab. Im Beispiel des Ausschnitts aus „Die zwölf Geschworenen“ ist dies ein Kontext, in dem zwei Parteien – Anklage und Verteidigung – einander gegenüberstehen und eine Entscheidung nach bestimmten Verfahrensregeln getroffen werden muss. Zugleich rahmt Juror 8 die Situation eher als gemeinsames Problemlösen: Er hat noch keinen eigenen StandpunktStandpunkt, formuliert Zweifel an dem geäußerten Standpunkt und will über das Abwägen von Gründen zu einer fundierten, legitimen Entscheidung kommen. Der Grad an Agonalität ist hier deutlich geringer als in einer Konfrontation zwischen unterschiedlichen, klar formulierten Positionen.

AgonalitätAgonalität bestimmt Situationen, die auf einen Wettkampf oder eine kämpferische Auseinandersetzung bezogen sind. Lyotard (1989) nutzt den Begriff AgonistikAgonistik in Bezug auf die argumentative Auseinandersetzung zwischen zwei Parteien mit einer dritten, beobachtenden Partei als Entscheidungsinstanz.

Die Differenzierung zwischen verschiedenen Graden von AgonalitätAgonalität ist eine Frage, die momentan wieder stärker in den Fokus rückt. So kontrastiert Ehlich (2014, S. 41) explorativesArgumentierenexploratives und persuasivesArgumentierenpersuasives Argumentieren. Dabei geht er, im Anschluss an Trautmann (2004), davon aus, dass Argumentation eine Form der Wissensbearbeitung darstellt: Argumentation wird dann notwendig, wenn sich Differenzen zwischen den Wissenssystemen der Gesprächspartnerinnen ergeben (vgl. Ehlich, 2014, S. 45). Die Grundannahme ist hier, wie in fast allen Argumentationstheorien, dass Argumentation dann genutzt wird, wenn die Kommunikation zwischen den Partnern nicht mehr glatt verläuft, also Problematisierungen auftreten. Ehlich differenziert zwischen verschiedenen Arten der Differenzen zwischen den Wissenssystemen: Im persuasivenArgumentierenpersuasives Argumentieren versuchen Gesprächspartnerinnen „interessebezogen die eigene Position in Bezug auf etwas gemeinschaftlich Fragliches zur Geltung zu bringen“ (S. 46), in explorativerArgumentierenexploratives Argumentation geht es „primär um eine gemeinsame Weiterentwicklung von Wissen als Umwandlung von präzisiert Unbekanntem in Bekanntes“ (S. 47). Eine Weiterentwicklung dieser Differenzierung steht noch aus. Als theoretische Setzung gilt für so gut wie alle argumentationstheoretischen Ansätze, dass auch für Argumentation mit einem geringen Grad an AgonalitätAgonalitätStrittigkeitStrittigkeit gegeben ist, wenn auch nur implizit. StrittigkeitStrittigkeit ist damit konstitutiv für Argumentation.

Argumentation hat also zwei Funktionen: Die Bearbeitung von StrittigkeitStrittigkeit und die Etablierung von Geltung. Je nach argumentativer Situation kann eine der Funktionen im Vordergrund stehen, ohne dass dann die andere Funktion gänzlich fehlt.

2.1.4Argumentieren und Erklären

Der Grad an AgonalitätAgonalität zwischen verschiedenen Formen der Argumentation kann variieren und StrittigkeitStrittigkeit auch implizit angenommene StrittigkeitStrittigkeit sein. Aber wie unterscheiden sich dann Argumentieren und ErklärenErklären? Ist Begründen innerhalb einer Argumentation nichts anderes als die Erklärung, warum die Konklusion zu Recht besteht? Wenn man ErklärenErklären und Argumentieren in Verbindung bringt, dann ist Argumentation eine spezifische Form des ErklärensErklären, die Klein (2001) als „ErklärenErklären-warum“ bezeichnet. Aus Perspektive der SprechakttheorieSprechakttheorie gleichen sich ErklärenErklären-warum und Argumentieren dahingehend, dass beide konklusive Sprechhandlungen vollziehen (S. 1309), d.h. sie etablieren Schlüsse zwischen verschiedenen Aussagen. Sie unterscheiden sich aber, so Klein (2001), in ihrer pragmatischen Funktion. So geht es beim ErklärenErklären-warum um das „Explizieren des Zustandekommens von Sachverhalten“ (S. 1316), wohingegen Argumentieren auf „problematische Geltungsansprüche“ (S. 1316) bezogen ist. Nach Morek (2012) unterscheiden sich beide Formen durch die epistemische Haltung, die die Beteiligten zu ihren Aussagen einnehmen: Beim ErklärenErklären ist diese durch Gewissheit gekennzeichnet, beim Argumentieren durch Verhandelbarkeit. Allerdings ist die klare Bestimmung von Äußerungen als Argumentation oder Erklären-warum nicht immer möglich. Äußerungen können durchaus beide Funktionen vereinen. Deppermann (2006, S. 14) betont, dass sich die verschiedenen Bereiche Argumentieren, ErklärenErklären und semantisches Explizieren häufig nicht klar trennen lassen bzw. Äußerungen sich mehreren Kategorien zuordnen lassen. Analytisch sind ErklärenErklären-warum und Argumentieren also möglicherweise durchaus trennscharf, empirisch ist das nicht immer gegeben (für die Verbindung von ErklärenErklären und Argumentieren siehe weiterführend Antaki, 1994).

2.1.5Status von Argumentation: Funktion oder Textsorte?

In der Unterscheidung von Argumentieren und ErklärenErklären wird eine weitere grundlegende Frage in der Untersuchung von Argumentation deutlich: Lässt sich Argumentation an Hand textueller Merkmale oder über die Funktion eines Textes bestimmen?

In der Linguistik befassen sich in erster Linie die Pragmatik und die Textlinguistik mit Argumentation. Dabei wird Argumentation unterschiedlich eingeordnet: als Diskurseinheit (Hausendorf & Quasthoff, 1996), als Form der Themenentfaltung (Brinker & Sager, 2006) oder auch als VertextungsmusterVertextungsmuster (Eggs, 2008). Argumentation wird dann als ein VertextungsmusterVertextungsmuster neben den anderen Mustern NarrationNarration, Deskription und Explikation gesehen (vgl. Brinker, Antos, Heinemann et al., 2008). Grundlegend für die Einordnung von Argumentation als ein VertextungsmusterVertextungsmuster ist die Annahme, dass Argumentation durch spezifische sprachliche Verfahren gekennzeichnet ist. Als sprachliche Indikatoren für Argumentation werden häufig KonnektorenKonnektoren wie „weil“, „daher“, „da“, „deshalb“ etc. genannt. Diese markieren die Verbindung von einzelnen Aussagen im Sinne einer argumentativen Verknüpfung als Grund und Konklusion. Dabei ergeben sich allerdings einige Probleme. In natürlicher Argumentation bleiben, wie bereits dargelegt, einzelne Anteile einer Argumentation oft implizit, so dass einzelne Aussagen zwar als Teile einer Argumentation fungieren, aber nicht als solche markiert werden. Im Beispiel der „zwölf Geschworenen“ ist die grundlegende Frage, auf die sich die meisten Äußerungen beziehen, ob der Junge schuldig ist oder nicht. Diese Konklusion wird aber nicht in jedem Fall geäußert. Doch auch wenn Grund und Konklusion einer Äußerung explizit geäußert werden, müssen sie nicht durch sprachliche KonnektorenKonnektoren verbunden sein, um als argumentativer Text kenntlich zu sein. Dies zeigt sich im folgenden Beispiel:

JUROR3: Unsere Waisenhäuser sind okay. Wir zahlen Steuern dafür.

Diese Äußerung lässt sich klar als ein Komplex von Konklusion und Grund analysieren: Unsere Waisenhäuser sind okay, denn wir zahlen Steuern dafür. Dies wird aber nicht sprachlich markiert. Zudem sind sprachliche KonnektorenKonnektoren, wenn sie auftreten, oft vage (eine argumentative Verbindung kann durch sprachliche KonnektorenKonnektoren markiert werden, diese Markierung ist aber nicht hinreichend, um den Text sicher als Argumentation zu identifizieren) und polyfunktional (durch einen sprachlichen Indikator kann eine argumentative, aber auch eine explikative Verbindung angezeigt werden) (vgl. Deppermann, 2006). Die Bestimmung von Argumentation als VertextungsmusterVertextungsmuster oder Funktion von Texten ist wichtig für verschiedene aktuelle Forschungsfragen in der Argumentationswissenschaft. Dieser Aspekt wird in Kapitel 6.1 noch einmal genauer aufgenommen, wenn das Verhältnis von Argumentation und NarrationNarration diskutiert wird.

2.2Wenzels Modell der drei Perspektiven auf Argumentation

Um das Feld stärker zu ordnen, bevor in den folgenden Kapiteln dann einzelne Ansätze genauer vorgestellt werden, soll hier das Modell der drei Perspektiven auf Argumentation von Wenzel (1980) eingeführt werden. Es wird in der Argumentationswissenschaft – nur halb im Scherz – oft auch die „Heilige Dreifaltigkeit der Argumentationstheorie“ genannt. Dieses Modell ist als Heuristik zu verstehen, d.h. es bietet klare analytische Abgrenzungen zwischen verschiedenen Bereichen. Diese Abgrenzungen sind in der Analyse natürlicher Argumentation nicht mehr so leicht zu ziehen und können verwischen.

2.2.1Die Entwicklung des Modells der drei Perspektiven auf Argumentation

Für die Einführung des Modells von Wenzel ist es sinnvoll, sowohl einen kurzen Abriss seiner Entwicklung zu geben als auch einen historischen Rückgriff auf seine Grundlagen zu unternehmen.

2.2.1.1Die drei Perspektiven bei Aristoteles

Das Modell der drei Perspektiven lässt sich zurückbinden an die drei Schriften, in denen Aristoteles sich zur Argumentation äußert. Von Aristoteles liegt zur Argumentation keine eigene, umfassende Beschreibung oder Theorie vor. Er thematisiert das, was wir heute unter Argumentationswissenschaft fassen, in drei seiner Schriften: der „Analytik“, der „TopikTopik“ und der „Rhetorik“. In der „Analytik“ behandelt Aristoteles logische Schlüsse, in der „Topik“ die dialektische Methode und die unterschiedlichen Topoi, die der Argumentation zu Grunde liegen können, und in der „Rhetorik“ schließlich werden das EnthymemEnthymem und ParadigmaParadigmaals Schlussverfahren als rhetorische Schlussverfahren sowie wiederum die Topik, hier mit der Unterscheidung in allgemeine und spezielle Topoi, behandelt. Dies korrespondiert begrifflich und konzeptionell mit der Unterscheidung der drei Perspektiven, die Wenzel vorgeschlagen hat. Wichtig ist aber, dass diese Unterscheidung keine aristotelische ist!

Aristoteles behandelt Argumentation in den drei Werken „Analytik“, „TopikTopik“ und „Rhetorik“. Er verfasste aber keine eigene, umfassende Theorie der Argumentation.

2.2.1.2Von einer zu drei Perspektiven

Das Modell der drei Perspektiven auf Argumentation hat eine Entwicklungsgeschichte, die zugleich einiges über die verschiedenen Ansätze der Argumentationswissenschaft erzählt. Daher soll die Geschichte des Modells der drei Perspektiven hier etwas ausführlicher an Hand von drei Aufsätzen dargestellt werden. Interessanterweise kommen die Autoren dieser Aufsätze alle aus derselben Disziplin, den Communication Studies. Diese firmierte bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts als Speech Communication und ist die deutlich größere und stärker differenzierte Schwesterdisziplin der Sprechwissenschaft. Eine Teildisziplin der Speech Communication (wie der Sprechwissenschaft) ist die Rhetorik. Zudem waren alle drei Autoren – wie auch der Großteil der anderen rhetorisch geprägten Argumentationswissenschaftlerinnen in den USA – Leiter akademischer, universitärer Debattenteams und hatten dadurch nicht nur einen theoretischen, sondern auch einen spezifisch praktisch ausgerichteten Blick auf Argumentation.

2.2.1.3Der Sonderfall argument<i>argument</i>

1974 hielt Wayne Brockriede einen Vortrag auf der Alta Conference mit dem Titel „Where is Argument?“. Der Vortrag (und der daraus resultierende Artikel) verortet argument an sechs Stellen. Argument ist demnach

„an inferential leap from existing beliefs to the adoption of new beliefs or the reinforcement of an old one“

„a perceived rationale to support that leap“

„a choice among two or more competing options“

„a regulation of uncertainty“

„a willingness to risk confrontation of a claim with peers“

„a frame of reference shared optimally“

In Brockriedes Ansatz wird deutlich, was weiter oben schon betont wurde. Argumentation ist immer zweierlei: die Bearbeitung von DissensDissens und die Verhandlung von Geltung. Insbesondere Punkt 1, 2 und 6 beziehen sich auf geteiltes Wissen und die Etablierung von Geltung, wohingegen sich 3, 4 und 5 eher auf die Bearbeitung von StrittigkeitStrittigkeit beziehen.

Zudem ist der Aufsatz von Brockriede exemplarisch für das terminologische Problem, das der englische Begriff argument<i>argument</i> mit sich bringt. Nicht alle der sechs Punkte beziehen sich auf Argumentation im Sinne von Begründungshandeln. So lassen sich die Punkte 3 bis 6 zwar auf Argumentation beziehen, sie sind aber nicht spezifisch für Argumentation. Sie lassen sich allgemein auf rhetorisches Handeln beziehen, innerhalb dessen argumentiert werden kann, aber nicht muss. Nun nimmt Brockriede auch nicht in Anspruch, dass die sechs Punkte Argumentation und Argumentieren abschließend definieren, dass es sich also hier um die notwendigen und hinreichenden Bedingungen handelt, um von argument zu sprechen. Die Unklarheit in Bezug auf die sechs Punkte beruht auf der semantischen Breite des Begriffs argument im Englischen, der neben Argument oder Argumentation auch agonale Interaktionsformen wie Streit oder Auseinandersetzung einbezieht.

Der englische Begriff argument<i>argument</i> hat eine semantische Breite, die im Deutschen nicht gegeben ist. Argument bezieht sich auf eine Interaktionsform und kann weitestgehend mit Streit übersetzt werden. Innerhalb eines argument kann argumentiert werden, dies ist aber nicht notwendigerweise der Fall. Diesen Unterschied aufs Unterhaltsamste deutlich gemacht haben Monty Python mit dem Sketch „The argument clinic“. Das ist konzentrierte Argumentationstheorie.

2.2.1.4Argument1 und Argument2

Drei Jahre später reagiert Daniel O’Keefe (1977) auf Brockriede mit seinem Vortrag „Two Concepts of Argument“. O’Keefe kritisiert Brockriede wegen der unklaren Begrifflichkeit, die sich durch die unterschiedlichen Bedeutungen von argument ergeben kann. O’Keefe führt eine Unterscheidung ein, die in der nicht-englischsprachigen Literatur nicht notwendig wäre, im angloamerikanischen Raum aber zu einer immer noch so benannten Unterscheidung in argument1 und argument2 führt. O’Keefe (1977) versteht unter argument1 „a kind of utterance or a sort of communicative act“ (S. 121). Dies entspricht damit dem Verständnis von Argumentation als BegründungshandelnBegründungshandeln. Argument2 auf der anderen Seite ist „a particular kind of interaction“ (S. 121), ein Verständnis, das vom deutschen Begriff Argumentation nicht abgedeckt ist. O’Keefe formuliert den Unterschied so: „An argument1 is something one person makes (or gives or presents or utters), while an argument2 is something two or more persons have (or engage in)“ (S. 121). Nun sind Streit und DissensDissens Kontexte, die Argumentation zu einem möglichen und vielleicht sogar erwartbaren, aber eben nicht notwendigen Verfahren machen. Diese Unterscheidung von O’Keefe ist vor allem im englischsprachigen Raum bis heute präsent.

Interessant ist, dass O’Keefe Brockriede zwar kritisiert, aber auch anerkennt, dass die Begriffsverwirrung einem Perspektivwechsel auf Argumentation entstammt: einer Abwendung von Argumentation als logischem Schlussverfahren und einer Hinwendung zu sozialer Interaktion, in der Argumente ausgetauscht werden, in der argumentiert wird.

2.2.2Die drei Perspektiven auf Argumentation

1980 dann schlägt Wenzel eine Dreiteilung des Argumentationsbegriffs vor: Argumentation lässt sich, so Wenzel, aus einer rhetorischen, dialektischen und logischen Perspektive betrachten. Er schließt mit diesem Konzept explizit an die Aufsätze von Brockriede (1975) und O’Keefe (1977) an, die er als Bemühungen sieht, die konzeptionelle und terminologische Unordnung innerhalb der Argumentationswissenschaft zu ordnen. Den Grund dieser Unordnung sieht Wenzel in der Wende in der Argumentationswissenschaft, weg von formal-logischen Auffassungen von Argumentation, hin zur Untersuchung natürlich-sprachlicher Argumentation, und damit weg von ent-situierten, konstruierten Beispielen hin zu Argumentation in sozialer Interaktion.