Arme Ritter - Wolfgang Bortlik - E-Book

Arme Ritter E-Book

Wolfgang Bortlik

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Beschreibung

Vier verkrachte Bankräuber und ihr Werdegang durch die (Jugend-)Bewegungen der letzten Jahrzehnte - witzig, klug und derb! 1974. Eine junge und politisch heißblütige Vierer-WG überfällt die Kreissparkasse in Glonn, Oberbayern, und erbeutet knapp 40 000 Mark für die "politische Arbeit". Bis sich die fröhlichen Sozialrebellen geeinigt haben, wie das Geld am besten anzulegen sei, wird es bei der Oma im Keller versteckt - doch dann türmt der Enkel, genannt Rademacher, mit der Beute in die Schweiz, und die Gruppe zerstreut sich. Zwei der anderen aus der Viererbande kommen in den nächsten Jahren durch mysteriöse Unfälle um. 2010. Der ehemalige Musikproduzent und noch ehemaligere Bankräuber Ziegler, politisch längst desillusioniert, verbringt mit seiner neuen Anzeigenbekanntschaft Eva ein hoffnungsvolles Wochenende in Paris,wird überfallen und trifft zufällig ausgerechnet im Krankenhaus auf Rademacher. Beide halten den anderen für einen Mörder, und ihr Aufeinandertreffen ist Anlass für einen schwindelerregenden Rückblick auf fast vierzig Jahre Jugendbewegung in der Schweiz und in Deutschland, die vier Bankräuber immer mittendrin: Was ist der Überfall auf eine Bank gegen die Gründung einer Bank? Wolfgang Bortlik, dieser "Nick Hornby auf schweizerisch", tritt mit seiner aberwitzigen Schelmenroman-Krimigroteske beim diesjährigen Länderschwerpunkt Schweiz der Leipziger Buchmesse auf.

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Wolfgang Bortlik

ARME RITTER

Roman

Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg

Schützenstraße 49 a · D - 22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus 2014

Originalveröffentlichung · Erstausgabe Februar 2014

Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg

www.majabechert.de

Druck und Bindung:

Freiburger Graphische Betriebe

1. Auflage

Print ISBN 978-3-89401-789-7

E-Book EPUB ISBN 978-3-86438-152-2

E-Book PDF ISBN 978-3-86438-153-9

Für Lutz

Inhalt

Vorspiel

I

II

III

IV

Nachspiel

We are stardust, we are golden.

Joni Mitchell

Ich werde nicht böse auf Sie und mache Ihnen keine Vorwürfe, da ich weiß, wenn Sie lügen, die Wahrheit verheimlichen oder stillschweigend übergehen, dann tun Sie es nicht aus irgendeinem selbstsüchtigen Grund, Sie tun es schlechtweg, weil Sie glauben, es sei der Sache dienlich.

Michail Bakunin an Sergej Netschajew

Denn niemals kann erzwungen werden, dass ist, was nicht ist.

Parmenides

Vorspiel

Ein junges Paar betritt den Schalterraum der Kreissparkasse des Marktfleckens Glonn in Oberbayern. Beide sind sehr ordentlich gekleidet, die Frau ist auffällig blond. Gleich dahinter kommt noch ein junger Mann herein, bleibt aber beim Eingang stehen. Er ist von einer gewissen Statur, sein Anzugsakko spannt in den Schultern und die Hosen sind zu kurz. Er trägt eine große Sonnenbrille. Außer den dreien ist nur eine ältere Kundin in der Bank, die lautstark die Sommerhitze beklagt. Der Filialleiter lehnt sich über seinen Schaltertisch und lockt mit unverständlichen Lauten den Rauhaardackel der Dame.

Das Pärchen, beide bebrillt, er mit einem sauber gestutzten Vollbart, geht zum zweiten Schalter der Kreissparkasse. Dort betrachtet eine Bankangestellte im Ringelpulli etwas gelangweilt ihre rosa lackierten Fingernägel, bevor sie sich den beiden jungen Leuten zuwendet: »Grüß Gott, was kann ich für Sie tun?«

Dem jungen Mann, der ziemlich krumm dasteht, steht der Schweiß an beiden Schläfen. Er krächzt etwas Unverständliches und wischt sich fahrig übers Gesicht, während die junge Frau ihre voluminöse Handtasche aufklappt und plötzlich eine Pistole in der Hand hält.

Da legt auch der Mensch im zu engen Anzug beim Eingang in voller Lautstärke los: »Das ist ein Überfall! Keine Bewegung! Das ist ein Überfall!« Er hat auch eine Waffe in der Hand und geht zum Schalter mit dem Hundeliebhaber. Die ältere Dame sinkt mit einem wehen Laut bewusstlos zu Boden. Ihr Dackel beginnt zu kläffen. Der Filialleiter hebt die Flossen hoch und sieht seine Untergebene dringlich an. Die hält auch die Händchen in die Luft, wedelt aber damit, als ob sie ihren Nagellack trocknen müsste.

»Was soll der Scheiß, runter mit den Pfoten! Hier, das Geld rein, alles Geld hier rein!« Die junge Frau gibt einen der Leinensäcke, die sie aus ihrer Tasche zieht, dem Ringelpulli hinter dem Schalter und wirft den anderen dem Komplizen im zu knappen Anzug zu.

Der wird wieder sehr lautstark: »Das ist ein Überfall! Alles Geld in den Sack! Auf geht’s! Keinen Alarm, sonst knallt es!«

Der Dackel bellt dazu.

Die Bankangestellten fangen an, Geldbündel in die Säcke zu stopfen. Auf Befehl der jungen blonden Frau öffnet der Filialleiter den Tresor. Der Dackel bellt und bellt.

»Halt die Schnauze, Waldi!« Der im Anzug versucht, den Hund zu treten, doch der Dackel verbeißt sich stattdessen in sein Hosenbein. Plötzlich geht ein Schuss los. Ein Riesenkrach. Alles erstarrt. Die Welt steht einen Moment lang still. Dann packen der Filialleiter und seine Mitarbeiterin bedeutend schneller als vorher das Geld in die Säcke. Der Dackel verzieht sich fiepend hinter sein immer noch bewusstlos daliegendes Frauchen.

Der Bankräuber mit dem gestutzten Vollbart ist leichenblass geworden. Jetzt schreit auch die junge Frau: »Her mit den Säcken!« Der Brüllaffe fuchtelt mit der Pistole herum und der Filialleiter drückt noch ein letztes Bündel Banknoten in den Sack.

Alles hat vielleicht drei, vier Minuten gedauert. Kein Mensch ist unterdessen in die Bank gekommen. Die junge Frau drückt ihrem bärtigen Begleiter den Geldsack in die Arme und stößt ihn vor sich her zur Tür. Der im Anzug folgt dichtauf. Draußen steht mit laufendem Motor ein weißer Opel Kadett.

Die drei Bankräuber steigen ein. Der im Anzug brüllt: »Du Vollidiot, man kann die Nummernschilder lesen!« Dann heult der 1200-Kubik-Motor auf und das Auto verschwindet in Richtung München. Aber das sieht gar niemand.

Der kleine Platz vor der Kreissparkasse ist leer. Der oberbayrische Sommernachmittag liegt schwer und gemütlich über dem Marktflecken. Aus der Bank kommt auch kein Laut. Irgendwann fährt dann doch die Polizei mit zwei grünen VW-Käfern vor, da scheint aber schon eine halbe Ewigkeit seit dem Überfall vergangen zu sein.

Unterdessen jagt der weiße Kadett auf schnurgeraden Straßen durch einen ausgedehnten Wald. Das Sommerlicht wird durch hohe Fichtenstämme gerastert. Es müsste wunderschön sein, in diesem warmen Braun und Grün spazieren zu gehen, die vielfältigen Wunder des Waldbodens zu entdecken, den geheimnisvollen Geräuschen zu lauschen.

Das Auto fährt schnell. Keiner der Insassen redet. Die junge Frau streichelt dem Leichenblassen beruhigend übers Haar und küsst ihn kurz. Sie trägt keine Brille mehr, er hat das klobige Horngestell durch ein Modell ersetzt, wie es John Lennon trägt. Der Brüllaffe haut mit seiner gewaltigen linken Faust wieder in seine rechte Hand. Der Fahrer, der auffällig lange Haare hat, zieht nervös an einer Zigarette, drückt sie aus, holt eine neue aus dem Paket neben der Gangschaltung und bricht schließlich das Schweigen: »Die Nummernschilder hab ich geklaut, wenn die wirklich jemand gesehen hat und die Nummer den Bullen mitteilt, dann wird das denen nicht viel nützen.« Dann drückt er eine Musikkassette in den Schlitz über dem Autoradio und dreht auf. Natürlich die Rolling Stones: »Gimme Shelter«.

Wir schreiben das Jahr 1974. Die Banken sind noch keine schusssicheren Glasfestungen. Das Personal ist nicht geschult, wie es sich bei Überfällen verhalten soll. Die aus der Sommerruhe gerissene Provinzpolizei hält überhaupt nichts von Eile, von Straßensperren oder von großflächigen Suchaktionen.

Und überhaupt, was ist schon ein Banküberfall gegen die Eröffnung einer Bank?

I

Michael Ziegler sitzt auf der Toilette und blättert in einem schmalen Taschenbuch. Es ist ein Pamphlet gegen die Diktatur des Finanzkapitalismus, gegen die Unterdrückung von Minderheiten, gegen die ökologische Zerstörung unseres Planeten. »Neues schaffen heißt Widerstand leisten! Widerstand leisten heißt Neues schaffen!« liest er, schöne Worte, aber er kann mit dieser Parole nichts anfangen. Die ist ihm zu einfach, zu nebulös. Dieser Slogan wird wohl ein paar Jahre später wieder in der Werbung auftauchen.

Eine Ladung Darmwind verlässt Zieglers Körper. Er vermutet schon lange, dass er an einem krankhaften Blähbauch leidet. Meteorismus. Schön, dass es Worte gibt, die einen das Üble und Böse nicht gleich so eindeutig verstehen lassen. Die Aussagen dieses Taschenbuchs sind im Übrigen nichts Neues unter der Sonne. Ziegler ist auch enttäuscht vom Inhalt. Das sind doch Sachen, die er schon vor vierzig Jahren postuliert hat. Aber es ist schön, dass dies heutzutage noch gesagt wird und auch Anklang findet.

»Empört Euch!« Okay, denkt Ziegler, das habe ich hinter mir. Er muss noch einmal furzen und legt die Broschur zur Seite. Dann starrt er auf das blutverschmierte Klopapier in seiner Hand. Er weiß, was die Ursache ist, es macht ihm trotzdem Angst. Aber er wird deswegen keinesfalls zum Arzt gehen, denn der könnte bei der Gelegenheit bei ihm noch allerlei anderes Unheil als diese chronischen Hämorrhoiden aufspüren. Etwa den merkwürdigen Knoten im Oberarm, den er immer spürt, wenn er nach ein paar gelungenen Liegestützen seinen spärlichen Bizeps misst. Das kann nichts Gutes bedeuten, diese Geschwulst. Muskelkrebs, gibt es das?

Ziegler ist kein Hypochonder, weil er gar nicht wissen will, wie krank er ist. Er hat sich damit abgefunden, dass er alt wird. Bald ist er sechzig. Der Körper geht seinen Weg und der Weg führt nach unten. Diese Erkenntnis reicht vorderhand. Dennoch geht das Leben weiter. Ziegler schnäuzt in eine neue Lage Papier. Auch diesmal Blut. Das heißt, einfach weniger in der Nase bohren. Er beendet die Geschäftssitzung und geht in die Küche. Dabei fasst ihn plötzlich eine Lust an, dass er lebt. Immer noch! Er tänzelt etwas allzu keck. Er boxt in die Luft. Alter Blödmann!

Es klingelt an der Haustür. Das wird Eva sein, mit ihrer Tochter Letitia. Aber so darf man die Siebzehnjährige nicht nennen. Sie heißt Letty. Ziegler wird mit Eva ein paar Tage nach Paris fahren, um ihre taufrische Beziehung auf die Probe zu stellen. Ihre Tochter soll in dieser Zeit in seiner Wohnung die Pflanzen gießen und die Post aus dem Briefkasten holen. Das hat Eva, praktisch und vif, wie sie ist, vorgeschlagen, und Ziegler hat, vorübergehend liebesblind und ohne zu überlegen, dazu genickt.

Er schaut schnell in den Spiegel, als er zur Tür geht. Ganz okay für sein Alter, er muss einfach den Blähbauch etwas einziehen und versuchen, sich geradezuhalten. Die neue Brille gibt seinem arg gelichteten Quadratschädel ein leicht intellektuelles, wenn nicht gar weltmännisches Flair.

Die beiden haben sich gestritten, denkt Ziegler, als er Mutter und Tochter eintreten lässt. Eva hat ganz rote Backen und atmet schwer. Das ist nicht wegen der Treppe in den ersten Stock oder wegen des etwas ansteigenden Wegs zum Haus am Waldrand, in dem Ziegler wohnt. Evas sonst so sorgfältig gelegtes graues Haar ist verwuschelt, ein Büschel steht kühn ab. Letitia versteckt sich hinter ihren langen braunen Haaren und erwidert Zieglers Gruß nicht.

»Hallo du!« Evas Lippen streifen kurz die seinen. Er nimmt die bedeutend kleinere Frau in die Arme, drückt einen Kuss auf das abstehende Haarbüschel und blickt über ihren Kopf hinweg. Er sieht noch, wie Letty die Haare hinter ihre Ohren zurückstreicht, die Augen verdreht und den Mund verzieht. Nein, die Tochter seiner neuen Freundin ist nicht auf seiner Seite. Die mag ihn ganz und gar nicht.

Evas Atem geht jetzt regelmäßiger. Sie riecht nach Honig. Ziegler möchte noch ein bisschen so stehen bleiben, zumindest bis sie sich endgültig beruhigt hat. Aber die Luft brennt immer noch von Evas Ärger. Elektrisch geladen. Summend.

»Was ist denn jetzt, was soll ich genau machen?«, quengelt ihre Tochter und stellt sich direkt neben ihre Mutter, so als ob sie diese vor etwas beschützen müsste.

»Also die großen Pflanzen in der Stube brauchen nicht so viel Wasser, aber die Setzlinge vor dem Panoramafenster, die müssten alle zwei Tage gegossen werden. So, dass das Wasser nicht über die Untersetzer schwappt. Und dann bitte immer auch den Briefkasten leeren. Ist das okay, kannst du das machen?«

»Ich bin ja nicht behindert«, schnappt Letty und macht ihren Haarvorhang wieder zu. Sie nimmt die zwei Schlüssel, die ihr hingehalten werden. Ihre Mutter schüttelt dazu den Kopf und klammert sich an Zieglers Oberarm.

Nachdem die beiden gegangen sind, dauert es keine halbe Stunde und Eva ruft an. Letty habe beschlossen, ihn, Ziegler, nicht zu mögen, sie finde es peinlich.

»Wer oder was ist peinlich?«

»Na wir beide, unsere Liaison!«

Bei diesem Wort muss Ziegler unwillkürlich grinsen: »Unsere Liaison? Wieso denn das?«

»Einfach so! Sie findet mich peinlich, dass ich mich in meinem Alter noch so benehme, du weißt schon, so, ja. Aber Letty weiß vor allem nicht, was sie von dir halten soll. Sie findet dich, wie soll ich sagen, komisch, weil du so bist, wie du bist. Dass du zum Beispiel keinen festen Job hast. Versteh mich bitte nicht falsch, du weißt ja, wie materiell die Jugend heute denkt. Letty stört, dass ich ihr nicht einfach sagen kann, dass du Herr Professor, Direktor oder was weiß ich bist. Dass du da und dort arbeitest und soundso viel im Monat verdienst. Nicht, dass das ein Problem ist, nicht dass ich das jetzt irgendwie ernst nehme, versteh mich nicht falsch, du …« Eva verstummt mit einem merkwürdigen Laut.

Ziegler lacht leise. »Sag ihr doch, ich sei Künstler.«

»Michael, damit kannst du reifere Damen wie mich becircen, aber nicht meine siebzehnjährige Tochter.«

»Dann sag ihr halt, dass ich in den 1980er Jahren ein berühmter Pop-Produzent war und immer noch von den Tantiemen zehre.«

»Stimmt das denn wirklich?«

»Na ja, mehr oder weniger. Komm schon, Lettys Abneigung wird sich mit der Zeit legen. Sie kennt mich ja gar nicht. Morgen fahren wir erst mal nach Paris. Denk nur, die Stadt des Lichts und der Liebe.«

Eva seufzt. Ziegler seufzt zurück. Vor ein paar Wochen hat er einen Anfall von Einsamkeit gehabt. Seine Bücher und seine Schallplatten konnten ihn fast nicht mehr trösten. Auf einmal hat ihm das Alleinsein schwer aufs Herz und die Seele gedrückt. Schlaflos so ganz allein auf dem großen Futon. Eine hundsmäßige Verlassenheit ist über ihn gekommen. Also hat er auf Evas Kontaktanzeige in einer Wochenzeitung reagiert. Sie sei »relativ schön« stand da, das gefiel Ziegler. Er schrieb zurück, er sei eigentlich auch ziemlich relativ.

Sie trafen sich in der unverfänglichen Atmosphäre eines scheußlich eingerichteten Cafés im Stadtzentrum. Ziegler fand gleich heraus, dass Eva begierig war auf Kultur, Kunst und Reisen. Diese Interessen konnte er perfekt bedienen. Also ließ er seinen ganzen Charme spielen. Die Anstrengungen lohnten sich unmittelbar. In Evas Augen konnte er lesen, dass ihr die Aussicht gefiel, mit einem gebildeten Herrn seines Alters die Welt oder zumindest die nähere Umgebung unsicher zu machen.

Am Ende des Rendezvous hat er tunlichst vermieden, sie zu berühren oder ihre Hand zu nehmen. Das hat Eva dann gemacht, beim Abschied. Sie hat zweimal die Luft neben seinen Wangen geküsst und dann, wie zufällig, doch noch seine Backe. Ein klares Zeichen. Ein Triumphgefühl ist da in Ziegler aufgestiegen.

Eva Schaub ist Lehrerin am Humanistischen Gymnasium. Aktiv bis in die Fingerspitzen. Sie ist kompakt und resolut, sie bevorzugt klare Ansagen und Entscheidungen. Zack bumm! Ziegler macht das ein bisschen Angst. Nein, Ungemach, ja, Nervosität befällt ihn. Aber Eva passt in sein Beuteschema.

Sie seufzt noch einmal ins Telefon: »Ich hoffe, du hast recht wegen Letty. Wir sehen uns morgen auf dem Bahnhof. Ich war ja schon zwanzig Jahre nicht mehr in Paris. So eine schöne Stadt. Ach, ich liebe diese großen Kaufhäuser. Und die Boulevards. Ich freue mich sehr!«

Ziegler erwidert ein bisschen stockend: »Ich mich auch. Also freuen, meine ich. Das wird schön.« Eigentlich hätte er gerne noch etwas Emotionaleres angehängt, zumindest ein: »Ich hab dich gern«, aber da ist die Verbindung schon unterbrochen.

Ziegler atmet tief durch. Diese kleine Kröte von Tochter hat ganz offensichtlich ein gewisses Sensorium. Zieglers Absichten sind nicht nur emotional gesteuert. Sein Konto leert sich in atemberaubendem Tempo, das kleine Erbe seiner kurz nacheinander verstorbenen Eltern ist für diese Wohnung am Waldrand draufgegangen. Eva ist sicher nicht reich, aber doch vermögend. Lehrerinnen am Gymnasium verdienen gutes Geld. Auch wenn die Hälfte wahrscheinlich für dieses verwöhnte Gör draufgeht. Eva kommt außerdem aus einer wohlsituierten Familie. Das weiß jeder hier in Basel. Sie könnte durchaus für ein bisschen Sicherheit stehen, für Zieglers würdiges Altern. Allerdings, noch ist genug in seiner Kriegskasse, um mit ihr nach Paris zu fahren.

Er schaut noch einmal in den Spiegel im Flur. Alles bestens, wenn er sich nur gerade hält.

Am nächsten Morgen lässt er noch einmal den Blick in seiner Bleibe schweifen. Hat er alles für die Reise: Ausweis, Geld, Fahrkarte? Was noch? Wo ist sein Handy? Ach ja, der Fotoapparat. Fünf Bücher für fünf Tage sind vielleicht etwas viel, da er doch in Gesellschaft ist. Gerade mal drei Stunden werden sie im Zug von Basel nach Paris sitzen. Was braucht er denn noch? Hat er seine Bankkarte eingepackt? Plötzlich überkommt ihn doch noch ein ungutes Gefühl. Dass Letty, dieser miesepetrige Teenager, ungehinderten Zugang zu seiner Wohnung hat, verursacht ihm jähes Unbehagen.

Liegt hier in seiner Klause irgendetwas herum, was dem feinen Töchterlein einen Schock versetzen könnte, wenn es die Pflanzen hegt? Trostlose Kontoauszüge? Zeugnisse aus seiner Vergangenheit? Sonst Verdächtiges? Viagra? Nein, alles gut versteckt oder eingepackt. Ziegler schaut in die Küche. Auch schön aufgeräumt. Er schaut auf die Uhr. Wann fährt eigentlich der TGV nach Paris? Soll er mit dem Fahrrad zum Bahnhof fahren oder doch lieber mit der Trambahn? Außerdem drücken ihn diese flotten schwarzen Halbschuhe sehr an der Ferse, da zieht er besser die neuen Turnschuhe an.

Die schmale Broschüre Empört Euch! von Stéphane Hessel hat er erst der Papiersammlung anheimgeben wollen, jetzt legt er sie auf den Küchentisch, wo Letty das Büchlein auf jeden Fall sehen kann. Den Post-it mit »Für Letty« reißt er aber besser gleich wieder ab.

Er steht schon im Treppenhaus und zögert dann, die Wohnungstür hinter sich zuzuziehen. Es scheint ihm, dass aus der Bibliothek feine Stimmchen klingen, die kaum vernehmlich rufen: »Bleib hier, Meister, bleib hier, lass uns nicht allein!«

»Unsinn!«, denkt Ziegler, »das gibt es doch nicht!« Er poltert die Treppe hinunter.

Mit hochrotem Kopf prustet er auf den Bahnsteig. Der TGV steht noch da. Da sieht er Eva. Sie winkt, als ob ihre Hände brennen würden, und redet auf den Schaffner ein. Nichts wie rein in den Zug!

»Fahrradkette«, japst Ziegler. »Rausgesprungen, nicht mehr reingekriegt das Ding, ums Verrecken nicht, und keine Taxinummer im Handy.«

»Ist ja alles noch mal gutgegangen«, meint Eva und streichelt seine Hand. Aber Ziegler spürt, dass sie immer noch auf mindestens tausend Touren läuft. Ihre braunen Augen blitzen noch nach, wie bei einem sich langsam entfernenden Gewitter, und da ist auch dieses widerspenstige Haarbüschel wieder, das hochsteht, als ob es elektrisch geladen wäre.

Ziegler bemüht sich, während der Fahrt die Stimmung zu heben. Er beginnt mit Unverfänglichem. Wie er sich freue. Wie schön Paris sei. Die Hauptstadt der Welt. Was es dort nicht alles zu sehen gebe. Dann fragt er nach Letty, ob sie immer noch kratzbürstig sei. Es interessiert ihn eigentlich nicht, aber jetzt kann Eva sich ein bisschen ausjammern. Langsam beruhigt sie sich. Ziegler hält ihre Hand ganz fest und lehnt sich zurück, soweit das im engen Sitz des Hochgeschwindigkeitszugs überhaupt möglich ist.

Dann übernimmt er wieder das Wort, erzählt vom 18. Arrondissement, wo sie wohnen werden. Montmartre, aber eben nicht dort, wo sich die Touristenmassen herumschieben, sondern knapp daneben. Eine geschichtsträchtige Gegend in jeder Beziehung. Ein Zentrum der Kommune von 1871. Die Barrikaden des republikanischen Paris, der aufständischen Werktätigen gegen die feige Zentralregierung, die vor den einmarschierenden Preußen kuschte und stattdessen die Revolutionäre zusammenkartätschte. Die Menschen von Paris, die für die Freiheit ihr Leben geben wollten, die heldenhafte Louise Michel, la Petroleuse, die Kanonen von Montmartre.

Ziegler beendet seinen Wortschwall, als er Evas verständnislosen Blick bemerkt. Ja, hat sie denn keine Ahnung von all dem? Paris, die Hauptstadt der Revolte, des Aufstandes. Die Revolution, die Hoffnung der Geknechteten, der Sturz der Herrschenden. Geschichten, bei denen es Ziegler immer warm ums Herz wird. Weil das nicht aus der Welt verschwinden wird. Nicht die Hoffnung, auch nicht die Gewalt und die Niederlage. Er glaubt nicht an den letzten Kampf, sondern an eine endlose Folge von Kämpfen und Revolten, immer neu und immer gleich, denn die Ungerechtigkeit und die Anmaßung verschwinden nicht von selbst aus der Welt, die Sklaverei droht stets, und man muss sich schlussendlich einfach wehren, mit allen Mitteln. Das hat er jedenfalls lange geglaubt, aber auch das ist jetzt kein Thema, um es mit Eva zu besprechen.

»Das kannst du mir alles vor Ort ganz genau erklären, Lieber«, summt sie und lehnt ihren Kopf an seine Schulter. Ziegler hält seinen Mund und ihre Hand, während draußen eine grün-braune Landschaft vorbeihuscht. Dabei durchfährt ihn ein Schauer bei der Vorstellung, dass er mit Eva in den Galeries Lafayette oder anderen gewaltigen Warenhäusern herumirrt, umgeben vom gnadenlosen Gleißen des Käuflichen.

Zur endgültigen Wiedergutmachung ordert Ziegler am Gare de Lyon ein Taxi, damit sie bequem zu ihrem Hotel kommen. Auf Wunsch von Eva hat er ein richtiges Appartement gemietet, aus Platzgründen und auch, damit man zwischendurch ein Süppchen oder einen Tee kochen kann.

Das Auto, dessen Kofferraum nur knapp Evas voluminöses Gepäck aufnehmen kann, quält sich durch den Verkehr um die großen Plätze herum. Der Engel der Freiheit grüßt glänzend von der Säule an der Place de la Bastille. Vielleicht lacht er sie auch aus, wie sie da beide im Taxi sitzen und plötzlich nicht mehr so genau wissen, was der eine vom anderen zu halten hat. Dann geht es wieder voran. Dann bleibt man wieder stehen. Nach einer endlosen Fahrt quer durch die Stadt hält das Taxi genau vor dem Eingang zum Cimetière de Montmartre. Ziegler wundert sich. Eva sieht ihn an und deutet stumm auf die Grabsteine und Monumente, die knochengrau und beinweiß durch das offene Tor scheinen. Sie ist ein bisschen blass um die Nase. Ziegler hätte vorher nachschauen sollen, wo dieses Apart‘Hotel Citadines genau liegt.

Der Taxifahrer grinst breit in den Rückspiegel, als könne er sich über Missstimmungen zwischen seinen Fahrgästen glänzend amüsieren. »Apart‘Hotel Citadines Montmartre, c’est justement ici!«

Ihre Bleibe liegt tatsächlich genau neben dem Friedhof. Ziegler gibt gleich zum Besten, dass hier Heinrich Heine begraben liegt. Und Henri Beyle alias Stendhal, sowie auch Théophile Gautier, alles große Künstler, und das in unmittelbarer Nachbarschaft. Ziegler tut aufgekratzt und fröhlich, aber Evas Stimmung kommt schwerlich aus dem Keller heraus, auch wenn das Zweierstudio im Hotel geräumig und hell ist und es einen hübschen Innenhof gibt, von dem aus man rein gar nichts vom Friedhof sehen kann. Wortlos beginnt Eva, ihren Koffer auszupacken. Ziegler sitzt programmatisch auf dem Bett, aber nichts passiert.

Er spürt, wie Ärger in ihm aufzieht. Was soll dieses Verstummen, dieses Gezicke wegen des Friedhofs? Die Toten sind tot, die werden sich nicht rühren und als Geister um Eva herumschwirren und sie erschrecken. Wobei Ziegler sich gleich selbst verbessert: Selbstverständlich sind die Toten einerseits mausetot, aber andererseits bleiben sie durch ihre Taten und Werke am Leben. Heinrich Heine und Stendhal sind bedeutend lebendiger als so mancher von den Schriftstellern, die sich jetzt gerade in ihrem Metier versuchen. Und sowieso sind sie lebendiger als alle diese Konsumleichen, die auf der Suche nach dem ultimativen Schnäppchen über die Boulevards schleichen.

Ziegler wartet darauf, dass Eva etwas sagt oder tut. Doch sie gibt nur einen unterdrückten Laut von sich, als ihr im Bad das Necessaire zu Boden fällt.

Letitia Schaub stellt ihr Fahrrad an den Gartenzaun und kramt die zwei Schlüssel hervor, die ihr gegeben worden sind. Zuerst der Briefkasten. Der untere ist beschriftet mit F. & M. Zanoni, Musikpädagogen. Letty meint, sich erinnern zu können, dass sie vor Jahren an der Musikschule, als sie ohne viel Erfolg Blockflöte lernte, eine Frau Zanoni als Lehrerin hatte. Der obere Briefkasten gehört Michael Ziegler. Da liegen Briefe von wohltätigen Organisationen, dazu ein anonymes Couvert, vielleicht ein Bankauszug, zwei Ausgaben einer Tageszeitung aus Zürich und ein paar Werbeprospekte, die alles Mögliche dieser Welt zu besonders günstigen Preisen versprechen.

Letty nimmt die Post ins Haus und geht hoch in Zieglers Wohnung. Strohblumenarrangements an den Wänden des Treppenhauses schützen Harmlosigkeit vor. Neben der Tür zu Zieglers Wohnung klebt ordentlich mit Tesa fixiert ein schon etwas vergilbtes Plakat. »Was ist heute noch links? Thesen für eine Politik der Zukunft«, liest Letty da. Die Affiche weist auf einen Kongress aus dem Jahre 1998 in einem Ort namens Tauberbischofsheim hin.

Sie schüttelt den Kopf. Als sie das letzte Mal mit ihrer Mutter hier war, hat diese angesichts des Plakats kurz aufgeseufzt. Letty weiß nicht so ganz genau, was »links« bedeutet. Die Stadt Basel wird von einer links-grünen Mehrheit regiert. Ihr Vater sagt immer, dass das ein Unglück sei, dass damit alles den Bach hinunterginge, die Moral, die Eigeninitiative, die Sicherheit der Bürger. Aber dem alten Idioten glaubt Letty kein Wort mehr. Erst sie und ihre Mutter verlassen und dann eine große Klappe haben wegen Moral und so, der Herr Oberrichter.

Wahrscheinlich ist Ziegler einer von diesen Linken, aber ihr kommt dieser Typ eher link vor. Sie öffnet die Wohnungstür und ein Schwall warmer, erdiger Luft fliegt ihr entgegen. Sie wirft die Post auf das Telefontischchen im Korridor. Dieser Ziegler passt ihr einfach nicht. Letty überlegt, was ihr an ihm so missfällt. Sie kann es nicht sagen, es ist einfach ein Gefühl. Ihre Mutter muss doch auch merken, dass dieser Ziegler ein Loser ist. Sie bemerkt, dass sie ganz leise auftritt, als würde sie in die Wohnung einbrechen. Dabei ist das Haus völlig leer. Deswegen muss Letty ja auch die Pflanzen wässern. Die Zanonis sind angeblich fortwährend auf musikalischer Bildungsreise. Hat jedenfalls dieser Ziegler behauptet. Vielleicht liegen sie aber auch tot im Keller. Letty bekommt eine Gänsehaut.

Vorsichtig schaut sie sich im großen Wohnzimmer um. Da ist alles voll mit Büchern. Viel zu viele Schmöker sind das. Dicke und dünne. Letty schüttelt den Kopf. Was macht dieser Ziegler mit all den Papiermonstern? Sie zieht wahllos ein Buch heraus. Ein Typ schaut sie an von einem violetten Umschlag, er sieht ein bisschen aus wie Elvis Presley oder sonst so ein früherer Star. Aber den Namen hat sie noch nie gehört. Isidore Isou. Und das Buch heißt Précisions sur ma poésie et moi. Letty schüttelt es ein bisschen. Französisch. Ihr Hassschulfach! Wenn sie so etwas nur schon liest. Totes Papier, oder? Schnell steckt sie das Buch zurück ins Gestell.

Dann sind da auch ganz alte Schwarten. Fast eine halbe Wand voll brüchiger Rücken, viel Ocker und Grau mit verwaschenen Goldbuchstaben. Und daneben die Ständer mit den CDs. Wahnsinn. Sogar noch jede Menge Langspielplatten in einem Gestell unter der Sitzbank an der Fensterfront. Dort stehen auch die Pflanzen in großen Tontöpfen. Letty kennt sie nicht, doch, das fleischiggrüne Gewächs da könnte eine Yucca sein wie bei ihrer Freundin Ada. Und da sind auch die Setzlinge in kleinen Plastiktöpfen vor dem großen Fenster, dort, wo am meisten Licht hinkommt. Diese Dinger, die sie besonders gut gießen soll.

Durch die Glasscheiben sieht Letty weit über die Stadt, sie erblickt den Rhein, der blitzend die Richtung wechselt und nach rechts abschwenkt. Das Hochhaus am Messeplatz ragt tapfer in den Dunst. Wer eine Wohnung in dieser Lage hat, muss doch ein bisschen Kohle besitzen, denkt sie fast beruhigt. Aber trotzdem möchte sie nicht, dass ihre Mutter und dieser Ziegler ein Paar werden. Eva ist immer so vertrauensselig. Sie kann doch nicht mit jedem dahergelaufenen Typen etwas anfangen, nur weil sie das Gefühl hat, dass ihre Uhr tickt, dass sie sonst lebenslang solo bleibt, wenn sie nicht sofort zuschlägt.