Aspekte der christlichen Esoterik - René Guénon - E-Book

Aspekte der christlichen Esoterik E-Book

René Guénon

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Beschreibung

Das Christentum ist unbestritten jene geistige Lehre, die die westliche Welt am stärksten geprägt hat. Daher hat sich auch René Guénon mehrfach mit verschiedenen Aspekten des Christentums beschäftigt, wobei er sich auf den esoterischen und damit den rein geistigen Teil konzentriert hat. Über ihn wird die Verbindung zu den höheren geistigen Wahrheiten sichergestellt, allerdings ist er im Gegensatz zum exoterischen Teil aufgrund seines Wesens nicht für jedermann verständlich. Doch gerade dieser esoterische Teil der Lehre scheint im Christentum nicht mehr zu existieren oder ist genauer gesagt nach dessen Blütezeit im Mittelalter verloren gegangen. Guénon versucht nun, über die damals entstandenen Lehren christlich geprägter Geheimbünde wie die der Fedeli d'Amore, deren bekanntestes Mitglied Dante war, oder die der "Bruderschaft des Rosenkreuzes" sowie Betrachtungen über die Legenden des Heiligen Grals und die Symbolik der Hermetik zum Kern dieser esoterischen Lehre vorzudringen. Im vorliegenden Band "Aspekte der christlichen Esoterik" sind für die deutsche Ausgabe Guénons Gedanken und Untersuchungen zu den esoterischen Wurzeln des Christentums und der mittelalterlichen Gesellschaft des Westens zusammengefasst. So wird deutlich, dass das Christentum in seinen Ursprüngen und im Westen zur Zeit des Mittelalters mehr war als das, was heutzutage noch durch die Kirche gelehrt und vertreten wird. Auch wenn viele der von Guénon untersuchten Symboliken für den zeitgenössischen Leser fremd erscheinen mögen, so lassen sie doch erkennen, dass in der christlichen Lehre mehr vorhanden ist, als die rein exoterischen und oft oberflächlichen oder rein wörtlich verstandenen Auslegungen der neueren Zeit. Gleichzeitig wird auch deutlich, dass das Christentum über diese Symbolik und ihre Übereinstimmungen mit anderen traditionellen Lehren ein Teil der traditionellen Überlieferung ist, die sich bis zurück zur anfänglichen Tradition und der Quelle allen Wissens erstreckt. Nach über 20 Jahren der Vorbereitung macht die 14-bändige deutsche Ausgabe die meisten Veröffentlichungen René Guénons erstmals in deutscher Sprache zugänglich und ermöglicht es, dem interessierten deutschsprachigen Leser tiefer in die traditionelle Denkweise und die Lehre der metaphysischen Prinzipien vorzudringen.

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Dieser Band umfasst folgende französische Originalausgaben:

L’ÉSOTÉRISME DE DANTE

© Les Éditions Gallimard 1925, 1957

APERÇUS SUR L’ÉSOTERISME CHRETIEN

© Les Éditions Traditionnelles 1954

Sowie Texte (Teil IV) aus:

FORMES TRADITIONNELLES ET CYCLES COSMIQUES

© Les Éditions Gallimard 1970

Deutsche Ausgabe:

BAND 10: ASPEKTE DER CHRISTLICHEN ESOTERIK

Übersetzung aus dem Englischen durch Ingo Steinke

Herausgeber der deutschen Ausgabe: Ingo Steinke

Kontakt: [email protected]

Inhalt

VORWORT DES HERAUSGEBERS

TEIL 1 - DIE ESOTERIK IM WERK DANTES

1. OFFENKUNDIGE UND VERBORGENE BEDEUTUNGEN

2. DIE FEDE SANTA

3. PARALLELEN ZWISCHEN DER FREIMAUREREI UND DER HERMETIK

4. DANTE UND DIE ROSENKREUZER

5. ÜBER DAS IRDISCHE HINAUSGEHENDE REISEN

6. DIE DREI WELTEN

7. SYMBOLISCHE ZAHLEN

8. KOSMISCHE ZYKLEN

9. DIE FEHLER SYSTEMATISCHER AUSLEGUNGEN

TEIL 2 – EINBLICKE IN DIE CHRISTLICHE ESOTERIK

1. HEILIGE SPRACHEN

2. DAS CHRISTENTUM UND DIE INITIATION

3. DIE WÄCHTER DES HEILIGEN LANDES

4. DIE GEHEIMSPRACHE VON DANTE & DEN FEDELI D’AMORE - TEIL I

5. DIE GEHEIMSPRACHE VON DANTE & DEN FEDELI D’AMORE - TEIL II

6. NEUE EINBLICKE IN DIE GEHEIMSPRACHE VON DANTE

7. DIE FEDELI D’AMORE UND DIE „RICHTER DER LIEBE“

8. DER HEILIGE GRAL

9. DAS HEILIGE HERZ & DIE LEGENDEN DES HEILIGEN GRALS

10. DER HEILIGE BERNHARD

TEIL 3 – DIE HERMETIK

1. DIE HERMETISCHE TRADITION

2. HERMES

3. DIE GRABSTÄTTE VON HERMES

ÜBER RENÉ GUÉNON

DIE WERKE RENÉ GUÉNONS IN DEUTSCHER AUSGABE

Vorwort des Herausgebers

Das Christentum ist unbestritten jene geistige Lehre, die die westliche Welt am stärksten geprägt hat. Auch wenn ihr Einfluss und ihre Bedeutung in moderner Zeit immer weiter abnimmt, so stellt sie dennoch die einzige Lehre im Westen dar, die auf echten traditionellen Wurzeln fußt. Natürlich sind auch der Islam und das Judentum schon seit langer Zeit im Westen verbreitet und haben einen gewissen Einfluss gewonnen, aber dieser war und ist gegenüber dem Christentum sehr begrenzt. Und auch die in neuerer Zeit im modernen Westen so beliebten Lehren der Pseudo-Esoterik, die sich dem äußeren Anschein nach an den traditionellen Lehren des Fernen Ostens orientieren, sind an ihrer Bedeutung für die geistige Entwicklung des Westens gemessen nur Randerscheinungen.

Betrachtet man nun das Christentum aus traditionellem Blickwinkel, so stellt es eine exoterische Lehre dar, also eine Lehre, die sich unterschiedslos an jeden richtet und ihr Wissen allen offen zugänglich macht. Trotz dieser Offenheit muss jede exoterische Lehre aus traditioneller Sicht auch über einen esoterischen Teil verfügen, der die Verbindung zu den höheren geistigen Wahrheiten sicherstellt und der aufgrund seines Wesens nicht jedermann zugänglich ist. Doch dieser Teil der Lehre scheint im Christentum nicht zu existieren oder ist genauer gesagt im Laufe der Zeit verloren gegangen. Somit ist das Christentum eine aus traditioneller Sicht unvollständige Lehre, was nicht ohne Folgen für die westliche Welt geblieben ist: Wer dem Weg des Christentums folgt, kann sich nur bis zu einer gewissen geistigen Stufe entwickeln, über die hinaus die christliche Lehre nicht reicht. Dadurch ist es der westlichen Welt seit geraumer Zeit verwehrt, aus sich heraus eine geistige Elite zu bilden, die lenkend in die Entwicklung ihrer Gesellschaft eingreifen könnte. Zwar erlebte die traditionelle Gesellschaft des Westens unter dem Einfluss und auf Basis des Christentums im Mittelalter ihren Höhepunkt, mit dem Aufkommen des Humanismus und Rationalismus auf der einen Seite und der Reformation und des Nationalismus auf der anderen verfiel sie dann aber in einen zunehmend schneller verlaufenden Niedergang, der bis in die heutige Zeit reicht. Wer dies anzweifelt, muss sich nur die geringe Bedeutung vor Augen führen, die die Kirche in der heutigen modernen Gesellschaft noch innehat.

Eine traditionelle exoterische Lehre kann nicht ohne den Einfluss und die Einwirkung eines höheren Wissens entstehen, durch das ihre Anbindung an die göttlichen Prinzipien sichergestellt wird. Streitet man dies ab, müsste man annehmen, dass eine solche Lehre rein von Menschen „erfunden“ oder aus dem „Nichts“ fallen könnte. Auch im Christentum lassen sich genügend Spuren in Form von Symbolen oder Übereinstimmungen finden, die diese Verbindung zu höheren Prinzipien belegen. Letztlich sind alle rechtmäßigen Traditionsformen von diesen Prinzipien abgeleitet, so dass es nur natürlich ist, zwischen ihnen auf symbolischer Ebene Übereinstimmungen finden zu können, auch wenn sie sich auf äußerlicher, also exoterischer Ebene oftmals scheinbar im Gegensatz zueinander befinden. Da diese esoterische Grundlage des Christentums heute nicht mehr zugänglich ist, bleibt nur noch die Möglichkeit, nach diesen Spuren zu suchen, um mehr über sie erfahren und die ursprüngliche Lehre von Christus verstehen zu können. Eine wichtige Quelle dafür sind die Lehren initiatischer Organisationen des Mittelalters, wie die Fede Santa, die Fedeli d’Amore oder die „Bruderschaft des Rosenkreuzes“, sofern sie heute noch zugänglich und erhalten sind. Unter ihnen nimmt die Organisation der Fedeli d’Amore aus Italien eine besondere Rolle ein, da einige ihrer Mitglieder oder ihr nahestehende Personen literarische Werke schufen, die heute noch bekannt und sehr stark von diesem Wissen geprägt sind. Allen voran ist dabei Dante zu nennen, dessen Göttliche Komödie in der Literatur als Klassiker verehrt wird, ohne dass die vielfältige esoterische Bedeutung dieses Werkes von den meisten Lesern erkannt wird. René Guénon widmete dem Werk Dantes aus diesem Grund eine eigene Studie, L’Ésoterisme de Dante, in der er verschiedene Aspekte und Symbole des darin enthaltenen esoterischen Wissens aufzeigt und erläutert. Und auch in weiteren Veröffentlichungen hat er sich immer wieder mit Dante und der Organisation der Fedeli d’Amore befasst, unter denen der Dichter einen hohen Rang innehatte.

Doch nicht nur bei diesen initiatischen Organisation aus dem Mittelalter sind Spuren esoterischen Wissens zu finden. So sind auch die Legenden über den Heiligen Gral, die ja eng mit Christus und seiner Kreuzigung verbunden sind und für das Rittertum des Mittelalters eine große Vorbildfunktion einnahmen, von diesem Wissen geprägt. Das Wissen und die Rolle der Ritterorden des Mittelalters – und allen voran des Ordens der Tempelritter – sind mit diesem esoterischen Wissen des Christentums verbunden. Guénon widmete diesen Aspekten mehrere Untersuchungen, die posthum in der Studie Aperçus sur l’Ésotérisme chrétien zusammengefasst und veröffentlicht wurden.

Eine weitere Quelle esoterischen Wissens im Mittelalter ist in der Hermetik zu finden. Sie ist zwar nicht christlichen Ursprungs, stellt aber einen wesentlichen Bestandteil der mittelalterlichen Gesellschaft dar. Der Versuch, Metall in Gold zu verwandeln oder die Suche nach dem „Stein der Weisen“ werden aus heutiger Sicht meist wörtlich verstanden, sind aber lediglich symbolische Übertragungen eines tieferen geistigen Wissens auf die materielle Ordnung. Die Symbolik der Hermetik ist eng in die Lehren der genannten initiatischen Gesellschaften und Legenden eingewoben und wird daher zu deren besserem Verständnis benötigt, so dass auch René Guénon diesem Thema einige Untersuchungen gewidmet hat.

Um ein inhaltlich zusammenpassendes und vollständiges Bild zur christlichen Esoterik und ihren Ausdrucksformen während ihrer Blüte in der westlichen Gesellschaft des Mittelalters zu formen, haben wir für die vorliegende Ausgabe die bereits genannten Veröffentlichungen zusammengefasst: Ihr Hauptteil setzt sich aus der zu Guénons Lebzeiten erschienenen Studie L’Ésoterisme de Dante (Teil 1) sowie der posthum in Aperçus sur l’Ésotérisme chrétien veröffentlichten Sammlung an Artikeln zur christlichen Esoterik (Teil 2) zusammen. Die enge inhaltliche Verwandtschaft sowie die Kürze beider Studien legten dies nahe. Ergänzt werden sie von drei Kapiteln zur Hermetik (Teil 3) aus der ebenfalls posthum veröffentlichten Sammlung Formes Traditionnelles et Cycles Cosmiques. Auf diese Weise konnten wir Guénons Gedanken und Untersuchungen zu den esoterischen Wurzeln des Christentums und der mittelalterlichen Gesellschaft des Westens erstmals in einer Ausgabe zusammenfassen.

Durch das Studium der vorliegenden Ausgabe sollte es deutlich werden, dass das Christentum in seinen Ursprüngen und zu seiner Blütezeit im Mittelalter mehr war als das, was heutzutage noch durch die Kirche gelehrt und vertreten wird. Auch wenn viele der von Guénon untersuchten Symboliken für den zeitgenössischen Leser fremd erscheinen mögen, so lassen sie doch erkennen, dass in der christlichen Lehre mehr vorhanden ist, als die rein exoterischen und oft oberflächlichen oder rein wörtlich verstandenen Auslegungen der neueren Zeit. Gleichzeitig wird auch deutlich, dass das Christentum über diese Symbolik und ihre Übereinstimmungen mit anderen traditionellen Lehren ein Teil der traditionellen Überlieferung ist, die sich bis zurück zur anfänglichen Tradition und der Quelle allen Wissens erstreckt. Es bleibt zu hoffen, dass sich die geistigen Führer des heutigen Christentums dieser Verbindungen wieder bewusst werden und mit dieser Gewissheit den Niedergang und die Gleichgültigkeit stoppen, denen sich das Christentum in der modernen Gesellschaft gegenübersieht. Und auf die persönliche Ebene übertragen, sollte jeder Leser dieser Studie seine eigene Position gegenüber der christlichen Lehre überdenken und prüfen, inwieweit diese im Einklang mit seiner geistigen Entwicklung steht oder von Vorurteilen oder falschen Einflüsterungen geprägt ist. Nur wer sich von letzteren befreit, kann die Dinge so sehen, wie sie in Wahrheit sind und nur auf diese Weise kann die angestrebte geistige Entwicklung fortgesetzt und die Grenzen überwunden werden, auf die sie in ihrem weiteren Verlauf immer wieder stoßen wird.

I. Steinke

München, im Juli 2020

Teil 1 - Die Esoterik im Werk Dantes
1. Offenkundige und verborgene Bedeutungen

O voi che avete gl’intelletti sani,

Mirate la dottrina che s’asconde

Sotto il velame delli versi strani!

Ihr die gesund euch das Verständnis wahret,

Erwägt die Lehre wohl, die mit dem Schleier

Der Verse sich verhüllt, die seltsam lauten!

Mit diesen Worten1 machte Dante in der Göttlichen Komödie deutlich, dass in seinem Werk eine verborgene Bedeutung zu finden ist, die sich auf das esoterische und initiatische Wissen bezieht. Die äußere und offenkundige Bedeutung seiner Schriften ist somit ein Schleier, der von denen durchdrungen werden muss, die diese tiefere Bedeutung verstehen möchten. In einem seiner anderen Werke wird der Dichter sogar noch deutlicher und erklärt, dass alle Schriften prinzipiell nach vier Bedeutungsebenen auszulegen sind und nicht nur die, die einen speziell esoterischen Hintergrund haben.2 Diese verschiedenen Bedeutungen heben sich jedoch nicht gegenseitig auf und stehen nicht im Gegensatz zueinander, sondern ergänzen sich vielmehr wie Teile, die zu einem gesamthaften Ganzen werden.

Es besteht daher kein Zweifel, dass auch die Göttliche Komödie in ihrer Gesamtheit auf verschiedene Weisen ausgelegt werden kann. Wir haben diesbezüglich ja auch die Bestätigung des Autors, der besser als jeder andere über seine Absichten Auskunft geben kann. Schwierig wird es jedoch, wenn man die verschiedenen Bedeutungen festlegen möchte – und zwar insbesondere dann, wenn es um die höchste oder anders gesagt um die tiefste Ebene geht. An dieser Stelle kommt es bei den verschiedenen Kommentatoren zu weit auseinander liegenden Ansichten und Meinungen. Sie sind sich zwar alle noch darüber einig, dass neben der wörtlichen Bedeutung der dichterischen Erzählung eine weitere philosophische (oder besser gesagt eine philosophisch-theologische) Bedeutung existiert und auch eine politischgesellschaftliche Auslegung möglich ist. Aber zusammen mit der wörtlichen Bedeutung sind dies erst drei Auslegungsarten, während Dante ja darauf hinweist, dass es immer vier Bedeutungen gebe. Um welche weitere kann es sich dabei handeln? Aus unserer Sicht kommt nur eine initiatische Bedeutung in Frage, die in ihrem Wesen metaphysisch sein muss und auf die sich viele Hinweise finden lassen, die alle aus dem esoterischen Bereich stammen, selbst wenn sie sich nicht unbedingt direkt auf die rein metaphysische Ordnung beziehen. Gerade aufgrund ihres esoterischen Charakters ist diese tiefste Bedeutungsebene den meisten Kommentatoren entgangen. Wenn man sie jedoch übergeht oder überhaupt nicht erfasst, können auch die anderen Bedeutungen nicht vollständig erschlossen werden, da diese vierte Bedeutung als das Prinzip der anderen verstanden werden muss, in der deren Vielfalt zusammengefasst und vereint wird.

Aber selbst jene, die erkannt haben, dass in der Arbeit von Dante auch eine esoterische Seite zu finden ist, haben im Hinblick auf ihre tatsächliche Natur viele Fehler gemacht. In der Regel fehlte ihnen nämlich das notwendige Verständnis für derartige Dinge und oft wurden ihre Auslegungen durch gewisse Vorurteile beeinflusst, derer sie sich zumindest teilweise nicht bewusst waren oder die sie nicht ablegen konnten. So erklärt sich auch, warum Rossetti und Aroux, die unter den ersten Autoren waren, die auf diese esoterische Bedeutung hingewiesen haben, Dante der „Ketzerei“ beschuldigten. Sie erkannten nicht, dass sie verschiedene Betrachtungsweisen miteinander vermischten, die sich auf völlig unterschiedliche Bereiche beziehen. Auch wenn sie in ihren Kommentaren einen Teil der Dinge völlig richtig darlegten, so gibt es doch auch viele andere, über die sie keine oder nicht ausreichend tiefe Kenntnis hatten. Und auf genau diese Punkte möchten wir in dieser Studie eingehen, ohne jedoch das Ziel zu haben, dieses Thema vollständig untersuchen zu wollen, da es wahrhaft unerschöpflich ist.

Für Aroux stellte sich die grundlegende Frage, ob Dante ein Katholik oder ein Albigenser gewesen war. Andere fassten diese Frage noch allgemeiner, indem sie Dante entweder als Christ oder als Heide betrachteten.3 Aus unserer Sicht ist dies jedoch nicht so bedeutungsvoll, da die wahre Esoterik etwas ist, das sich völlig von der nach außen gerichteten Religion unterscheidet. Auch wenn die Esoterik natürlich gewisse Verbindungen zu ihr hat, so kann dies nur auf eine Weise erfolgen, dass sie in religiösen Formen eine symbolische Ausdrucksform findet. Es ist dabei unerheblich, ob diese Formen der einen oder anderen Religion angehören, da sich hinter dieser augenscheinlichen Vielfalt immer nur die Einheit der esoterischen Lehre verbirgt. Dies ist auch der Grund dafür, warum Initiierte in aller Welt an verschiedensten Verehrungsformen teilgenommen haben und den Bräuchen gefolgt sind, die in dem jeweiligen Land üblich waren, in dem sie sich aufhielten. Dante kannte diese grundsätzliche Einheit und konnte aus diesem Grund Ausdrücke in seiner Arbeit verwenden, die er je nach Bedarf aus der christlichen oder griechisch-römischen Antike entlieh, ohne dass er dabei irgendeine Art von Synkretismus eingeführt hat. Die reine Metaphysik ist weder heidnisch noch christlich, sie ist vielmehr wahrhaft universal. Auch die antiken Mysterien waren nicht heidnisch, da diese äußere Form nur eine Überlagerung ihres wahren Kerns war.4 Auf ähnliche Weise gab es im Mittelalter Organisationen, die initiatisch aber nicht religiös waren und dennoch den Katholizismus als ihre Grundlage wählten. Und da Dante zu einer dieser Organisationen gehörte – was eine Tatsache ist, die für uns außer Frage steht –, gibt es keinen Grund, ihn der „Ketzerei“ zu beschuldigen. Wer auf diese Weise denkt, zeigt nur, dass er eine falsche Vorstellung vom Mittelalter hat. Leute mit einem derartigen Blick auf die Dinge sehen nur ihren äußeren Aspekt und nicht all die dahinter liegenden Facetten, für die in der modernen Zeit kein Gegenstück mehr gefunden werden kann.

Da dies der wahre Charakter aller initiatischen Organisationen ist, gibt es nur die folgenden beiden Fälle, in denen es zu einer Anklage wegen „Ketzerei“ kommen kann, wobei hinzuzufügen ist, dass im Hintergrund oft auch ganz andere Absichten eine ausschlaggebende Rolle gespielt haben: Der erste Fall trat ein, wenn Mitglieder unzulässige Enthüllungen machten, die zur Gefahr führten, dass jene in Verwirrung gerieten, die für die Kenntnis höherer Wahrheiten nicht vorbereitet waren, so dass es auf gesellschaftlicher Ebene zu Unruhen kommen würde. Die Urheber solcher Enthüllungen machten dabei den Fehler, dass sie nicht nur in der exoterischen, sondern auch in der esoterischen Ordnung Verwirrungen hervorriefen, die letztlich im Vorwurf der „Ketzerei“ gipfelten. Eine vergleichbare Situation gab es auch immer wieder im Islam, wobei dort den esoterischen Schulen üblicherweise keine Feinseligkeit von Seiten der religiösen oder gerichtlichen Autoritäten entgegenschlug, die die Gewalten der Exoterik darstellen.5 Im zweiten der beiden angesprochenen Fälle wurde die Anschuldigung der „Ketzerei“ einfach als Vorwand von politischer Seite dafür genutzt, um die Anhänger einer initiatischen Organisation verfolgen zu können, da diese normalerweise mit gewöhnlichen Mitteln nur sehr schwer für ihre Zwecke beeinflusst werden konnten. Die Zerstörung des Ordens der Tempelritter ist hierfür das bekannteste Beispiel und wir werden im Verlaufe dieser Studie noch mehrfach darauf eingehen.

1 Siehe GÖTTLICHE KOMÖDIE, Hölle, IX, 61-63.

2Si possono intendere e debbonsi sponere massimamente per quattro sensi. („Auf vier Weisen können sie verstanden und müssen sie erklärt werden.“), CONVIVIO, Teil II, Kapitel 1.

3 Siehe Arturo Reghini, L’Allegoria esoterica di Dante, in NOUVO PATTO, September - November 1921, Seite 541-548.

4 Wir würden es bevorzugen, den Begriff „heidnisch“ vermeiden zu können, da er ursprünglich nur ein abwertender Ausdruck für die griechisch-römische Religion im letzten Stadium ihres Verfalls war, als diese nur noch eine Art von Aberglauben darstellte.

5 Hier beziehen wir uns insbesondere auf das bekannte Beispiel von Al-Hallāj, der in Bagdad im Jahre 921 nach Christus hingerichtet wurde. Das Gedenken an ihn wird selbst von jenen gepflegt, die der Meinung sind, dass er zu Recht für seine unüberlegten Enthüllungen verurteilt wurde.

2. Die Fede Santa

In einem Wiener Museum sind zwei Medaillen ausgestellt, von denen eine Dante darstellt und die andere den Maler Peter von Pisa. Auf der Rückseite sind jeweils die Buchstaben F.S.K.I.P.F.T. eingraviert, die Aroux als Frater Sacrae Kadosch, Imperialis Principatus, Frater Templarius deutete. In Bezug auf die ersten drei Buchstaben ist diese Auslegung jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit nicht richtig, da sie keine sinnvolle Bedeutung ergibt. Unserer Meinung nach müssten sie Fidei Sanctae Kadosch lauten. Die Verbindung der Fede Santa, bei denen Dante allem Anschein nach einer der Führer gewesen war, stammte in dritter Rangfolge vom Orden der Tempelritter ab, was den Namen Frater Templarius rechtfertigt. Die Würdenträger dieses Ordens trugen den Titel Kadosch, was ein Wort hebräischen Ursprungs ist und „heilig“ oder „geheiligt“ bedeutet. Es lässt sich bis heute in den höheren Graden der Freimaurerei finden. Und hier stößt man auch auf den Grund, warum Dante den Heiligen Bernhard als Führer für den Abschluss seiner himmlischen Reise wählte: Bernhard von Clairvaux entwarf die Statuten des Ordens der Tempelritter.6 Auf diese Weise wollte Dante wohl zum Ausdruck bringen, dass unter den Bedingungen seiner Zeit der Zugang zu den höchsten Graden der geistigen Hierarchie nur über diesen Weg möglich war.

Um den Begriff Imperialis Principatus erklären zu können, darf man sich nicht nur auf die politische Rolle Dantes beschränken, wenngleich die Organisationen, denen Dante angehörte, bei der herrschenden Schicht angesehen und anerkannt waren. Wir möchten in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass die Bezeichnung „Heiliges Reich“ auch eine symbolische Bedeutung hat und dass selbst heute noch in der Schottischen Freimaurerei die Mitglieder der Höchsten Räte den Titel „Würdenträger des Heiligen Reiches“ tragen und der Titel „Prinz“ in den Bezeichnungen verschiedener Grade auftaucht. Darüber hinaus trugen ab dem 16. Jahrhundert die Führer der verschiedenen Organisationen, die von der „Bruderschaft des Rosenkreuzes“ abstammten, den Titel „Herrscher des Reiches“. Und es gibt durchaus Gründe anzunehmen, dass zu Dantes Zeit die Fede Santa gewisse Ähnlichkeiten zur Verbindung hatten, die später zur „Bruderschaft des Rosenkreuzes“ wurde, wobei noch nicht einmal ausgeschlossen werden kann, dass sie von den Fede Santa mehr oder weniger direkt abstammte.

Es lassen sich noch viele weitere Parallelen dieser Art finden, von denen einige bereits von Aroux selbst erkannt wurden. Einer der wesentlichsten Punkte, auf den er aufmerksam gemacht hat, ohne daraus jedoch alle Schlüsse zu ziehen, die möglich gewesen wären, ist die Bedeutung der unterschiedlichen symbolischen Regionen und insbesondere die der „Himmel“, die bei Dante zu finden sind. Diese Regionen stellen verschiedene Zustände dar und die „Himmel“ sind „geistige Hierarchien“ und damit Grade der Initiation. In dieser Hinsicht lässt sich eine interessante Übereinstimmung zwischen der Vorstellung Dantes und der von Swedenborg herstellen und auch gewisse Erkenntnisse aus der hebräischen Kabbala und der islamischen Esoterik weisen in diese Richtung. Dante selbst gab zu ihrer Auslegung einen Schlüssel: A vedere quello che per terzo cielo s’intende… dico che per CIELO intendo la scienza e per CIELI le scienze.7 Was sind aber diese „Wissenschaften“, die Dante symbolisch als „Himmel“ bezeichnet? Ist dies ein Verweis auf die sieben freien Künste, die oft von Dante und seinen Zeitgenossen erwähnt wurden? Dies kann durchaus zutreffen. Aroux schreibt dazu Folgendes:

Die Katharer hatten bereits im 12. Jahrhundert Erkennungszeichen und -wörter sowie eine astrologische Lehre. Sie führten ihre Initiationen an der Tagundnachtgleiche im Frühling durch. Ihr wissenschaftliches System war auf der Lehre der Entsprechungen aufgebaut: Die Grammatik entsprach dem Mond, die Dialektik dem Merkur, die Rhetorik der Venus, die Musik dem Mars, die Geometrie dem Jupiter, die Astronomie dem Saturn und die Arithmetik oder die ‚erleuchtete Vernunft’ der Sonne.

Den sieben planetarischen Bereichen, die die ersten sieben Himmel von Dante sind, entsprechen also die sieben freien Künste. Und genau diese Bezeichnungen finden sich auf den sieben linken Sprossen der „Leiter des Kadosch“ im 30. Grad der Schottischen Freimaurerei. Die aufsteigende Ordnung dort unterscheidet sich durch die Umkehrung von Rhetorik und Logik (die hier für die Dialektik steht), von Geometrie und Musik sowie dadurch, dass die der Sonne entsprechende Wissenschaft der Arithmetik den vierten oder mittleren Rang der Siebenheit einnimmt, der diesem Stern auch normalerweise in der astrologischen Ordnung der Planeten zukommt, während die Katharer ihn auf der höchsten Rangstufe ihrer „Mystischen Leiter“ platziert hatten. Auf der gegenüberliegenden Seite dieser Leiter setzte Dante den Glauben (Emounah) an die höchste Stelle, was sich direkt auf die Fede Santa bezieht, bei denen er selbst den Rang des Kadosch innehatte.8

Zu diesem Thema sind noch weitere Anmerkungen notwendig: Wie kommt es, dass derartige Entsprechungen zwischen echten initiatischen Graden und den freien Künsten entstehen konnten, wenn letztere öffentlich in Schulen gelehrt werden? Wir denken, dass diese Künste einmal auf exoterische und einmal auf esoterische Weise betrachtet werden müssen. Es ist durchaus möglich, jeder weltlichen Wissenschaft eine weitere Wissenschaft überzuordnen, die sich zwar auf das gleiche bezieht, aber deren Blick tiefer geht. Man kann dies mit der höheren Bedeutung und der wörtlichen Auslegung vergleichen, wie dies beispielsweise in der Bibel möglich ist. So kann man auch sagen, dass die äußeren Wissenschaften als eine Art von Ausdruck für höhere Wahrheiten dienen, da sie nur das Symbol für etwas sind, das aus einer anderen Ordnung stammt: Wie Platon sagte, ist das Wahrnehmbare nur der Widerschein des Höheren. All die Naturerscheinungen und die Geschehnisse in der Welt- und Menschengeschichte haben einen symbolischen Wert, indem sie etwas von den Prinzipien ausdrücken, von denen sie abhängen und von denen sie die mehr oder weniger entfernten Folgen sind. Somit ist es möglich, durch eine geeignete Übertragung den initiatischen Wert jeder Wissenschaft und jeder Kunst erkennen zu können. Daher ist es durchaus denkbar, dass Ausdrücke, die den freien Künsten entnommen sind, im Mittelalter für diese Übertragung genutzt wurden, so wie die Freimaurerei sich in ihrer Sprache auf Ausdrücke der Baumeisterkunst stütze. Wir meinen, dass eine derartige Betrachtungsweise die Dinge wieder zurück zu ihrem Prinzip führt und daher in ihrem Wesen eingebettet und ihnen nicht willkürlich aufgesetzt ist. Und wenn dies so ist, kann die Tradition, mit der sie verbunden ist, bis zum Ursprung der Wissenschaften und Künste zurückreichen. Im Gegensatz dazu stellt der ausschließlich weltliche Blickwinkel, der in moderner Zeit vorherrschend ist, nur das Ergebnis eines allgemeinen Vergessens dieser Tradition dar. Wir können uns hier jedoch nicht weiter mit dieser Frage und den mit ihr verbundenen Aspekten befassen. Stattdessen möchten wir Dante selbst aus seinem Werk Canzone zitieren, in dem er beschreibt, wie er die Prinzipien einiger freier Künste auf seine eigene Arbeit anwendet:

Oh Menschen, die ihr nicht die Bedeutung dieses Liedes erkennen könnt, so lehnt es dennoch nicht ab. Achtet auf seine Schönheit, die großartig ist, aufgrund seines Aufbaus, der die Spezialisten der Grammatik anspricht, oder aufgrund seines Ablaufes, der die Spezialisten der Rhetorik anspricht, oder aufgrund der Anzahl seiner Teile, die die Spezialisten der Musik anspricht.

Lässt sich nicht hier im erwähnten Verhältnis der Musik und Zahlen eine Verbindung zur Wissenschaft des Rhythmus und all ihrer Entsprechungen finden und damit auch einen Bezug zur Tradition der Pythagoräer herstellen? Macht nicht gerade diese Tradition es möglich, die „solare“ Rolle zu verstehen, die der Arithmetik zugesprochen wird, da sie das gemeinsame Zentrum aller anderen Wissenschaft ist? Und werden dort nicht auch die Entsprechungen deutlich, die sie vereinen, so wie die Musik mit der Geometrie durch das Verhältnis der Formen (was wiederum eine Anwendung in der Architektur findet) verbunden ist und die Astronomie durch die Kenntnis der Ausgeglichenheit der himmlischen Bereiche deutlicher wird? Im Folgenden werden wir zeigen, welche grundlegende Bedeutung Dante der Symbolik der Zahlen gegeben hat. Und selbst wenn diese Symbolik nicht allein auf die Pythagoräer zurückzuführen ist und sich in verschiedenen anderen esoterischen Lehren finden lässt, weil die Wahrheit eben immer die gleiche ist, so ist es doch nicht ungerechtfertigt, eine „Kette der Tradition“ von Pythagoras über Virgil zu Dante zu spannen, die auf italienischem Boden zweifellos ohne Unterbrechung Bestand hatte.

6 GÖTTLICHE KOMÖDIE, Paradies, XXXI. Das Wort contemplante, das Dante später benutzte, um den Heiligen Bernhard zu beschreiben (ebd., XXXII, 1), scheint für ihn eine Doppelbedeutung gehabt zu haben, die auf dessen Ähnlichkeit zum Wort „Tempel“ beruht.

7 CONVIVIO, Teil 2, Kapitel 14: „Zu dem, was mit dem dritten Himmel gemeint ist, habe ich zu sagen, dass ich mit Himmel Wissenschaft und mit Himmeln Wissenschaften meine.“

8 Hinsichtlich der „Leiter des Kadosch“, auf die wir auch noch später in dieser Studie zu sprechen kommen, möchten wir auf MANUEL MAÇONNIQUE von F. Vuilliaume, XVI, Seite 213 (2. Auflage von 1830), verweisen.

3. Parallelen zwischen der Freimaurerei und der Hermetik

Nach den allgemeinen Bemerkungen, die wir bislang gemacht haben, möchten wir nun zu folgenden bemerkenswerten Parallelen kommen, auf die bereits Aroux hingewiesen hatte und die wir kurz erwähnten:9

Die Hölle stellt die äußere Welt dar, das Fegefeuer ist der Ort der initiatischen Prüfungen und der Himmel ist die Wohnstätte der Vollkommenen, wo sie Erkenntnis und Liebe auf höchstem Stand finden… Der himmlische Kreis, den Dante beschreibt,10 beginnt mit den alti Serafini, die die Principi celesti sind, und endet mit den niedrigsten Rängen des Himmels. Auffällig ist, dass gewisse Würdenträger der Schottischen Freimaurerei (die von sich behauptet, bis zu den Tempelrittern zurückzureichen und von denen Zerbino, der schottische Prinz und Liebhaber von Isabelle von Galizien, die Personifizierung in Ariostos Orlando Furioso ist) ebenfalls als Prinzen bezeichnet werden, nämlich als „Prinzen der Gnade“ (Princes of Mercy). Ihre Verbindung oder Gruppe wird der „Dritte Himmel“ (Third Heaven) genannt und sie haben ein Palladium – oder eine Statue der Wahrheit – als ihr Symbol, das wie Beatrice mit den Farben grün, weiß und rot geschmückt ist.11 Ihr „Verehrungswürdiger Meister“ (Worshipful Master, dessen Titel auch Most Excellent Prince ist) trägt einen Pfeil in seiner Hand und ein Herz mit einem Dreieck auf seiner Brust,12 was ihn zu einer Personifizierung der Liebe macht. Die geheimnisvolle Zahl 9, durch die „Beatrice besonders geliebt wird“ – und „die man die Liebe nennen muss“, wie Dante in Vita Nuova sagt –, wird auch mit dem „Verehrungswürdigen Meister“ in Verbindung gebracht, der von 9 Säulen und 9 Fackeln umgeben ist und dessen Alter 81 ist, was wiederum das Quadrat von 9 ist, so wie auch über Beatrice gesagt wird, dass sie im 81. Jahr des Jahrhunderts gestorben ist.13

Dieser Grad des „Prinzen der Gnade“ ist der 26. Grad des Schottischen Ritus, zu dem F. Bouilly das Folgende schreibt:14

Dieser Grad ist meiner Meinung nach der am schwersten interpretierbare all jener aus dieser Kategorie (dem 19. bis 30. Grad): Er wird auch als Scottish Trinitarian bezeichnet. Alles in diesem Sinnbild bezieht sich auf die göttliche Dreiheit: der Hintergrund der drei Farben (grün, weiß und rot), die Darstellung der Wahrheit und letztlich überall der Hinweis auf das „Große Werk der Natur“ (auf deren Phasen sich die drei Farben beziehen) mit den drei sie bildenden metallischen Elementen (Schwefel, Quecksilber und Salz),15 ihre Verschmelzung und ihre Trennung (solve et coagula) – also kurz gesagt die Wissenschaft der mineralischen Chemie (oder eher der Alchemie), die von Hermes bei den Ägyptern eingeführt wurde und der Medizin (Spagyrik) eine solch große Macht und Weite verlieh. Die Wissenschaften, die zu Glück und Freiheit führen, folgen einander und sind in einer Reihenfolge geordnet, die zeigt, dass der Erzeuger die Menschen mit allem ausgestattet hat, was ihr Leiden erleichtern und ihren Aufenthalt auf der Erde verlängern kann.16 Gerade aus der Zahl 3, die durch die drei Schenkel des Dreiecks so gut dargestellt wird, haben die Christen ein leuchtendes Symbol für die Dreieinigkeit gemacht. Es geht zurück in weit entfernte Zeiten17 und der begabte Beobachter kann dessen urzeitliche Quelle entdecken… Daher, verehrte Ritter, lasst nicht davon ab, Scottish Trinitarians zu sein, die Zahl 3 zu ehren und zu bewahren als das Zeichen für all das, was die Pflichten eines Mannes darstellen und das uns gleichzeitig an die Dreiheit unseres Ordens erinnert, die in die Pfeiler unserer Tempel graviert ist: Glaube, Hoffnung und Barmherzigkeit.18

Das Wichtigste, was man aus der zitierten Passage entnehmen sollte, ist die Tatsache, dass diesem Grad wie auch fast alle anderen aus seiner Kategorie eine klare hermetische Bedeutung innewohnt. Und in dieser Hinsicht besonders erwähnenswert ist die Verbindung der Hermetik mit den Ritterorden.19 An dieser Stelle möchten wir nicht die historischen Wurzeln der höheren Grade der Schottischen Freimaurerei untersuchen oder auf die widersprüchlichen Theorien über ihre Abstammung vom Orden der Tempelritter näher eingehen. Ob nun eine tatsächliche Übertragung des Wissens der Tempelritter zu den Schottischen Freimaurern stattgefunden hat oder diese auf Grundlage von deren Wissen gegründet wurden, ist hier von zweitrangiger Bedeutung: In beiden Fällen kann man davon ausgehen, dass viele der Grade der Schottischen Freimaurerei – und auch einige, die sich in anderen Riten finden lassen – die Überreste aus Organisationen sind, die früher unabhängig voneinander existiert haben.20 In erster Linie handelt es sich dabei um alte Ritterorden, deren Gründung mit den Kreuzzügen eng verbunden ist und die zu einer Zeit geschah, als es zwischen dem Osten und Westen nicht nur feindliche Beziehungen gab, sondern auch einen aktiven geistigen Austausch, der insbesondere durch die Vermittlung dieser Orden herbeigeführt wurde. Hier stellt sich gleich die nächste Frage: Haben diese Orden initiatisches Wissen aus dem Osten aufgegriffen und für sich angepasst oder haben diese Orden bereits von Anfang an über ein derartiges Wissen verfügt, so dass ihre eigene Initiation sie befähigte, auf geistiger Ebene mit Vertretern aus dem Osten in Kontakt zu kommen? Aber auch darauf können wir keine Antwort geben. Allerdings möchten wir anmerken, dass die zweite Annahme, auf die man zwar seltener stößt, durchaus denkbar ist, wenn man vom Vorhandensein einer initiatischen Tradition im Westen während des Mittelalters ausgeht.21 Und was diese Annahme noch weiter stützt, ist die Tatsache, dass jene Orden, die später gegründet wurden und die nie Verbindungen zum Osten hatten, ebenfalls über eine hermetische Symbolik verfügten. Der „Orden des Goldenen Vlies“ ist ein gutes Beispiel dafür, da bereits sein Name auf diese Symbolik aufmerksam macht. Wie auch immer dies sein mag, im Orden der Tempelritter gab es sicher Kenntnisse über die Hermetik wie auch über Lehren arabischen Ursprungs und auch Dante könnte über sie ein gewisses Wissen erlangen haben.

Wir möchten nun zu den Entsprechungen in der Freimaurerei zurückkehren, die Aroux nannte und von denen wir bereits einige dargestellt haben. Bei verschiedenen Graden der Schottischen Freimaurerei konnte Aroux eine Analogie zu den neun Himmeln erkennen, die Dante mit Beatrice durchquert. Diese Entsprechungen sind wie folgt: Der Mond entspricht dem weltlichen Mensch, Merkur entspricht dem Knight of the Sun (28. Grad), Venus dem Grad des Prince of Mercy (26. Grad, mit seinen Farben grün, weiß und rot), die Sonne entspricht dem des Great Architect (12. Grad) oder des Noachite (21. Grad), Mars entspricht dem Grad des Great Scot of the Order of Saint Andrew (29. Grad, mit dem Abbild eines weißen Kreuzes auf rotem Grund) oder auch dem Grad des Patriarch of the Crusades, Jupiter entspricht dem Knight of the White and Black Eagle oder Kadosch (30. Grad) und Saturn dem Grad des Golden Ladder des gleichen Grades des Kadosch. Offen gesagt finden wir einige dieser Verbindungen zweifelhaft. Insbesondere die Beschreibung des ersten Himmels als die Wohnstätte der Weltlichen können wir nicht nachvollziehen, da deren Platz nur in der „äußeren Dunkelheit“ liegen kann. Und wird es nicht auch aus der Göttlichen Komödie deutlich, dass die Hölle die äußere Welt darstellt und die Himmel (zu denen auch der Mond gehört) nur erreicht werden können, wenn man die initiatischen Prüfungen des Fegefeuers durchlaufen hat? Es ist auch bekannt, dass der Bereich des Mondes eine spezielle Beziehung zur Vorhölle hat. Dabei handelt es sich jedoch um einen anderen Aspekt seiner Symbolik, der nicht mit dem verwechselt werden darf, der ihn in der Göttlichen Komödie als den ersten Himmel dargestellt. Der Mond ist somit gleichzeitig Janua Coeli wie auch Janua Inferni – oder anders ausgedrückt Diana und Hekate.22 Die Menschen der Antike waren sich dieser beiden symbolischen Aspekte sehr wohl bewusst, was sicher auch für Dante galt. Wir nehmen nicht an, dass er sich so sehr geirrt hat, dass er den Weltlichen eine himmlische Wohnstätte zugesprochen hätte – und zwar selbst dann, wenn diese die niedrigste aller möglichen wäre.

Weit weniger fraglich ist die Zuordnung der von Dante benutzen symbolischen Bilder: das Kreuz im Himmel des Mars, der Adler im Himmel des Jupiters und die Leiter im Himmel des Saturns. Das Kreuz, das früher das Zeichen der Ritterorden war, ist auch das Zeichen einiger Grade der Freimaurerei. Und wenn es im Bereich des Mars verwendet wird, so kann dies als eine Anspielung auf den militärischen Charakter dieser Orden, der ja ihr eigentliches Wesen ausmachte, und ihre äußere Rolle verstanden werden, die sie im Rahmen der Kreuzzüge spielten.23 Bei den anderen beiden Symbolen ergibt sich eine direkte Verbindung zu den Symbolen des Grades des Kadosch bei den Tempelrittern. Und gleichzeitig ist der Adler, der in der klassischen Antike mit Jupiter und im Hinduismus mit Vishnu verbunden wird,24 das Abbild des antiken Römischen Reiches (das an die Gegenwart des Kaisers Trajan im Auge des Adlers erinnert)25 und heute noch das für das „Heilige Reich“. Der „Himmel des Jupiter“ ist die Wohnstätte der „weisen und gerechten Prinzen“ (Diligite justitiam, qui judicatis terram),26 was eine Entsprechung ist, die sich wie alle anderen, die Dante den Himmeln gab, mit astrologischen Begriffen deuten lässt. Der hebräische Name für den Planeten Jupiter ist Tsedek, was „gerecht“ bedeutet. Und zur „Leiter der Kadosch“ haben wir bereits gesagt, dass der Bereich des Saturns gerade über dem des Jupiters angesiedelt ist, so dass man das untere Ende dieser Leiter durch Gerechtigkeit (Tsedakah) erreicht und ihre Spitze durch Glaube (Emunah). Das Symbol der Leiter scheint chaldäischen Ursprungs zu sein und über die Mysterien von Mithra in den Westen gekommen zu sein. Zu dieser Zeit hatte sie sieben Sprossen, von denen jede aus einem anderen Metall gebildet war und zwar abhängig zur Entsprechung der Metalle mit den Planeten. In der biblischen Symbolik lässt sich die Leiter von Jakob finden, die die Erde mit den Himmeln verbindet und damit die gleiche Bedeutung hat.27

Nach Dante ist der achte Himmel des Paradieses, der als der sterngeschmückte Himmel (oder der Himmel der Fixsterne) gilt, auch der „Himmel des Rosenkreuzes“. Dort sind die Vollkommenen in weiß gekleidet und zeigen somit eine Symbolik, die der der „Ritter von Heredom“ entspricht.28 Sie bekennen die evangelische Lehre, die die von Luther ist und der römisch-katholischen Lehre entgegensteht.

Diese Erklärung von Aroux zeigt einmal mehr die bei ihm oft vorkommende Verwechslung des esoterischen und des exoterischen Bereiches. Die wahre Esoterik liegt jenseits der Gegensätze, die in der äußeren Welt als sich widersprechende Vereinigungen auftreten. In manchen Fällen werden sie von mächtigen initiatischen Organisationen hervorgerufen oder im Verborgenen geleitet, so dass sie diese beherrschen, ohne davon selbst ein Teil zu sein. Dies kann sogar so weit gehen, dass sie ihren Einfluss gleichermaßen auf jede der sich scheinbar widersprechenden Parteien ausüben. Die Protestanten und insbesondere die Lutheraner verwenden üblicherweise das Wort „evangelisch“, um ihre Lehre zu bezeichnen. Luthers Siegel war ein Kreuz, in dessen Zentrum sich eine Rose befand. Und die Organisation der Rosenkreuzer, die sich 1604 gegenüber der Öffentlichkeit enthüllte, stellte sich gegen den Papst. Allerdings darf man nicht vergessen, dass Anfang des 17. Jahrhunderts die Rosenkreuzer bereits sehr äußerlich und weit entfernt von der ursprünglichen und echten „Bruderschaft des Rosenkreuzes“ waren, die nie eine Gesellschaft im eigentlichen Sinne des Wortes gewesen war. Und Luther scheint möglicherweise nur ein untergeordneter Interessensvertreter gewesen zu sein, der sich seiner ihm zugeordneten Rolle kaum bewusst gewesen sein dürfte. Aber leider sind diese Punkte bisher nie vollständig untersucht worden.

Wenden wir uns nun den weißen Roben der Auserwählten oder der Vollkommenen zu, die ganz offensichtlich einen Bezug zu den apokalyptischen Bibeltexten haben, sich in diesem Zusammenhang aber insbesondere auf die Kleidung der Tempelritter beziehen.29 In der Göttlichen Komödie ist dazu folgender Text zu finden:

Geleitete Beatrice mich, der schwieg

Und reden wollte, doch sie sagte: Schaue

Wie groß die Zahl der weißen Kleider ist.30

Dieser Bezug auf die Tempelritter macht es überdies möglich, dem Ausdruck „heilige Streiterschar“, auf den man wenig später stoßen kann, eine besondere Bedeutung geben zu können. In diesem Text wird auch die Umwandlung der Lehre der Tempelritter in die Lehre der Rosenkreuzer angedeutet:

So zeigte denn in einer weißen Rose

Gestalt sich mir die heilige Streiterschar,

Die Christus durch sein Blut zur Braut sich machte.31

Um die Symbolik besser verstehen zu können, die in diesem, auch von Aroux erwähnten Zitat verborgen ist, möchten wir die Beschreibung des Himmlischen Jerusalems wiedergeben, die im Chapter of the Sovereign Princes Rosicrucian des Order of Heredom of Kilwinning oder des Royal Order of Scotland zu finden ist, die auch Knights of the Eagle and the Pelican genannt werden:

Am Ende (des letzten Raumes) befindet sich ein Bild, das einen Berg zeigt, von dem ein Fluss herabfließt und an dessen Ufer ein Baum wächst, der zwölf verschiedene Arten von Früchten trägt. Auf dem Gipfel des Berges befindet sich eine Plinthe, die aus zwölf Edelsteinen besteht, die in zwölf Reihen übereinander gelagert sind. Auf der Plinthe ist ein goldenes Quadrat und an jeder Seite befinden sich drei Engel, von denen jeder einen der Namen der zwölf Stämme Israels trägt. Innerhalb dieses Quadrates befindet sich ein Kreuz, in dessen Zentrum ein Lamm liegt.32

Hier stoßen wir wieder auf eine apokalyptische Symbolik. Und aus dem, was weiter folgt, wird deutlich, wie eng die Vorstellung der Zyklen, auf die sie sich bezieht, mit dem Aufbau von Dantes Arbeit verbunden ist:

Im Abschnitt Paradies in den Kapiteln XXIV und XXV der Göttlichen Komödie werden ein dreifacher Kuss des Prinzen des Rosenkreuzes, ein Pelikan, weiße Tuniken (die die gleichen sind, die auch in der Offenbarung erwähnt werden), ein Wachssiegel und die drei theologischen Tugenden der Freimaurer (Glaube, Hoffnung und Nächstenliebe) genannt.33 Die symbolische Blume der „Bruderschaft des Rosenkreuzes“ (die Rosa candida des Kapitels XXX und XXXI) wurde von der römischen Kirche als das Bild der Mutter des Erlösers (Rosa mystica der Litaneien) übernommen und auch die Albigenser nahmen es als das Zeichen für die Gemeinschaft der Fedeli d’Amore. Diese symbolischen Bilder wurden bereits von der Gemeinschaft der Paulaner verwendet, die die Vorgänger der Katharer im 10. und 11. Jahrhundert waren.

Wir hielten es für nützlich, all diese Parallelen und Verbindungen aufzuzeigen, da wir sie für sehr interessant erachten. Es können zweifellos noch viele weitere derartige Entsprechungen gefunden werden. Man sollte aber nicht voreilige Schlüsse im Hinblick auf eine gemeinsame Abstammung der Hermetik und Freimaurerei ziehen, selbst wenn sich unten ihnen wie dargestellt eine gewisse Gemeinsamkeit der verwendeten Symbolik entdecken lässt – abgesehen von den Tempelrittern und der ursprünglichen „Bruderschaft des Rosenkreuzes“, wo diese Verwandtschaft recht offensichtlich ist. Die Grundzüge der Lehren wahrer initiatischer Traditionen sind überall gleich und auch die verschiedenen Ausdrucksweisen sind ebenfalls oft auf überraschende Weise ähnlich. Dies gilt auch für Traditionen, die in Zeit oder Raum so weit entfernt voneinander liegen, dass eine direkte Beeinflussung ausgeschlossen werden kann. Um hier eine Verbindung finden zu können, wäre es notwendig, in der Zeit viel weiter zurückzugehen als es die überlieferte Geschichte erlaubt.

Zum Abschluss möchten wir nicht unerwähnt lassen, dass sich viele der Kommentatoren, die wie Rossetti und Aroux die Symbolik von Dantes Arbeit studiert haben, auf Aspekte beschränkten, die wir als „äußerlich“ bezeichnen. Damit meinen wir, dass sie nicht über das hinausgingen, was man rituelle Formen nennen kann. Dies sind jedoch Formen, die gerade für jene, die nicht über sie hinausgehen können, ihre wahre Bedeutung eher verhüllen, als dass sie sie offenlegen. In diesem Sinne möchten wir dieses Kapitel mit folgendem Zitat abschließen:

Es ist völlig natürlich, dass dies so ist, da es nur dann möglich ist, die Anspielungen und Verweise verstehen zu können, wenn man mit dem Gegenstand, auf den sich diese Anspielungen und Verweise beziehen, selbst vertraut ist. Und in diesem Fall bedeutet dies ein Verständnis der mystischen Erfahrungen, durch die die wahre Initiation den myste und den épopte schreiten lässt. Für jeden, der in dieser Beziehung über eigene Erfahrungen verfügt, kann es keinen Zweifel darüber geben, dass sich in der Göttlichen Komödie und auch in Aeneid metaphysisch-esoterische Sinnbilder finden lassen, die gleichzeitig die verschiedenen aufeinander folgenden Phasen verhüllen und enthüllen, durch die das Bewusstsein des Initiierten geht, um zur Unsterblichkeit zu gelangen.34

9 Wir zitieren aus der Zusammenfassung von Aroux Werken, die in HISTOIRE DES ROSE-CROIX von Paul Sédir zu finden ist. Die Titel der Werke von Aroux sind im Einzelnen: DANTE HÉRÉTIQUE: REVOLUTIONNAIRE ET SOCIALISTE, REVELATIONS D’UN CATHOLIQUE SUR LE MOYEN AGE (Paris: J. Renouard, 1854) und LA COMÉDIE DE DANTE, TRADUITE EN VERS SELON LA LETTRE ET COMMENTÉE SELON L’ESPRIT, SUIVIE DE LA CLEF DU LANGAGE SYMBOLIQUE DES FIDÈLES D’AMOUR (Paris: Heritiers J. Renouard, 1856).

10 GÖTTLICHE KOMÖDIE, Paradies, VIII.

11 Es ist bemerkenswert, dass diese Farben in moderner Zeit zu den Farben der italienischen Nationalflagge wurden. Diesen Farben wird im Allgemeinen ein freimaurerischer Ursprung zugesprochen, obwohl es nicht nachvollziehbar ist, wie er sich begründet.

12 Zu diesen eindeutigen Zeichen möchten wir noch die „Krone aus goldenen Pfeilspitzen“ ergänzen.

13 Siehe LIGHT ON MASONRY