Osten und Westen - René Guénon - E-Book

Osten und Westen E-Book

René Guénon

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Beschreibung

In seiner Studie "Osten und Westen" führt uns René Guénon die Wertlosigkeit und Gefahr jener Trugbilder vor Augen, auf denen sich die moderne westliche Zivilisation gründet. Dem Glauben an puren Materialismus, immerwährenden Fortschritt, uneingeschränkten Individualismus und die Unfehlbarkeit der modernen Wissenschaft stellt Guénon die unerschütterlichen Prinzipien einer traditionellen Denkweise gegenüber. Sie zeigt sich seit Jahrtausenden in den östlichen Traditionsformen wie dem Hinduismus, Taoismus und Islam und ist heute noch unverändert gültig. Wer sich ihr nährt und ihre Prinzipien versteht, wird die Trugbilder durchschauen, die die westliche Welt immer weiter dem Abgrund entgegenführen. Was notwendig ist, damit es nicht so weit kommt und was jeder Einzelne von uns dazu beitragen kann, legt Guénon im zweiten Teil seiner Studie dar. Der vorliegende Band "Osten und Westen" stellt zusammen mit den Bänden "Die Krise der modernen Welt", "Der König der Welt / Geistige Autorität und weltliche Macht" sowie "Die Herrschaft der Quantität und die Zeichen der Zeit" Guénons grundlegende Kritik an der modernen westlichen Zivilisation dar. Gleichzeitig sind diese Bände auch die notwendige Grundlage, um die von Guénon vertretene traditionelle Geisteshaltung verstehen und verinnerlichen zu können, die er in seinen weiteren Werken über den Hinduismus, den Taoismus, das Christentum, den Islam sowie in Betrachtungen zur Metaphysik, Initiation und Symbolik im Allgemeinen vertieft. Nach über 20 Jahren der Vorbereitung sind die meisten dieser Werke nun erstmals in deutscher Sprache zugänglich und ermöglichen es, dem interessierten deutschsprachigen Leser tiefer in die traditionelle Denkweise und die Lehre der metaphysischen Prinzipien vorzudringen.

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Französische Originalausgabe:

ORIENT ET OCCIDENT

© Les Éditions de la Maisnie 1924

Deutsche Ausgabe:

BAND 1: OSTEN UND WESTEN

Übersetzung aus dem Englischen durch Ingo Steinke

Herausgeber der deutschen Ausgabe: Ingo Steinke

Kontakt: [email protected]

Inhalt

VORWORT DES HERAUSGEBERS

VORWORT

TEIL 1: DIE TRUGBILDER DES WESTENS

1. ZIVILISATION & FORTSCHRITT

2. DER GLAUBE AN DIE WISSENSCHAFT

3. DER GLAUBE AN DAS LEBEN

4. EINGEBILDETE UND ECHTE GEFAHREN

TEIL 2: MÖGLICHKEITEN ZUR ÜBERBRÜCKUNG DER UNTERSCHIEDE

5. FRUCHTLOSE VERSUCHE DER ANNÄHERUNG

6. DIE ÜBEREINSTIMMUNG IN PRINZIPIEN

7. DIE BILDUNG DER ELITE UND IHRE ROLLE

8. DER AUFBAU EINES GEGENSEITIGEN VERSTÄNDNISSES

9. ABSCHLIEßENDE BETRACHTUNGEN

10. NACHTRAG

ÜBER RENÉ GUÉNON

DIE WERKE RENÉ GUÉNONS IN DEUTSCHER AUSGABE

Vorwort des Herausgebers

Bei der Lektüre der vorliegenden Studie Osten und Westen sollte sich der Leser stets vergegenwärtigen, dass sie unter den Werken René Guénons eine gewisse Besonderheit darstellt, da sie die meisten und konkretesten Bezüge auf historische Geschehnisse der modernen Welt enthält. Aus heutiger Sicht muss man sich dabei jedoch zwei Aspekte ständig vor Augen halten, um Verwirrungen und Missverständnisse zu vermeiden, die ansonsten unvermeidbar sind: Der erste Aspekt bezieht sich auf den im Titel genannten „Osten“. Damit ist nicht der „Ost-West-Konflikt“ und Russland gemeint, wie dies seit dem Kalten Krieg in der westlichen Sichtweise verankert ist, sondern vielmehr jene Zivilisationen, die geographisch von Westeuropa aus gesehen im Nahen, Mittleren und Fernen Osten beheimatet sind. Historisch gesehen ist dies das korrekte Verständnis, da der Konflikt mit Russland erst im letzten Jahrhundert an Bedeutung gewann. Dies führt wiederum direkt zum zweiten Aspekt, der ebenfalls zum besseren Verständnis beachtet werden muss: Guénon hat seine Studie 1924, also vor rund 100 Jahren verfasst. Zu diesem Zeitpunkt gab es den „Ost-West-Konflikt“ in dem Sinne, wie wir ihn heute kennen, noch nicht. Und es bedarf nur wenig Vorstellungsvermögen, sich zu verdeutlichen, welche umfassenden Änderungen die Welt in West und Ost innerhalb des letzten Jahrhunderts erfahren hat. Der Kolonialismus war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Studie noch sehr präsent. Länder wie Indien oder China, auf die Guénon näher eingeht, befanden sich zwar durch die Kolonialherrschaft unter westlichem Einfluss, allerdings spielte dieser nur in wenigen Bereichen eine größere Rolle. Die Gesellschaften dieser Länder waren in sich noch abgeschottet und ihre traditionelle Lebensweise war daher weitgehend intakt. Zwar ging Guénon in dem in später veröffentlichen Auflagen ergänzten Nachtrag noch kurz auf die Entwicklung der weiteren Jahre ein, aber auch für ihn war es wohl kaum absehbar, in welcher Geschwindigkeit sich der geistige Verfall im Westen fortsetzen und welch starken Einfluss dieser Wandel auch auf die damals noch traditionell geprägten Zivilisationen des Ostens haben würde.1

Doch historische Geschehnisse bilden nicht den Mittelpunkt von Guénons Arbeit. Sie sind nur illustrierende Belege für die Entwicklung, die der moderne Westen seit einigen Jahrhunderten durchläuft und die ihn immer weiter von den traditionellen Grundsätzen und wahren geistigen Prinzipien wegführt. Daher liegt der Fokus dieser Studie auf der Herausarbeitung der Unterschiede, die zwischen der westlichen und östlichen Zivilisation grundsätzlich bestehen und welche Faktoren dazu geführt haben, dass die westliche Zivilisation unter allen Zivilisationen eine einzigartige Abweichung darstellt, da nur sie ihre Tradition verleugnet und ihren Bezug zu den geistigen Prinzipien verloren hat.

Schon beim Verfassen seiner Studie sah Guénon wenige Möglichkeiten, die immer weiter wachsende Kluft zwischen Westen und Osten überbrücken zu können. Die Entwicklung einer geistigen Elite, die mit Unterstützung geistiger Vertreter des Ostens die westliche Tradition wiederherstellen und so die westliche Zivilisation vor ihrem Untergang bewahren könnte, lässt sich aus heutiger Sicht als fehlgeschlagen angesehen, falls es überhaupt einen solchen Versuch gab. Eine derartige Elite ist im Westen nicht existent oder falls sie es ist, zeigt sie zu wenig Präsenz, um eine Umkehr oder zumindest ein Einhalten der abwärts gerichteten Entwicklung zu bewirken.

Die Alternativen, die Guénon aufführt, sind für die Menschen des Westens nachteiliger: Entweder wird der westlichen Zivilisation am tiefsten Punkt ihrer Entwicklung quasi eine noch intakte Tradition aufgezwungen, so dass sie damit zwangsweise in eine andere Zivilisation integriert wird oder – falls dies nicht geschieht – wird die westliche Zivilisation vollständig untergehen. Beide Szenarien sind für die Menschen mit Verlusten und gewaltsamen Umbrüchen verbunden. Daher sollte im eigenen Interesse des Westens nichts unversucht gelassen werden, um dieses vollständige Verschwinden der westlichen Zivilisation und der mit ihr verbundenen Tradition zu verhindern. Auch wenn der heutige Zustand der westlichen Welt wenig Anlass zur Hoffnung gibt, ist es nie für eine Umkehr zu spät, da es immer auch die Möglichkeit unerwarteter Eingriffe und Unterstützungen gibt, sei es durch Vertreter anderer Traditionen oder höherer Mächte. Dies setzt aber eine gewisse geistige Offenheit und „Durchlässigkeit“ voraus, die jedoch durch die im Westen vorherrschende materielle Verbohrtheit und geistige Deformation nicht gegeben sind.

Jeder Einzelne, der in sich den Ruf der Tradition spürt, darf nicht den bequemen Weg wählen und sich mit materiellen Zeitvertreiben ablenken lassen, sondern muss diesem Ruf folgen, soweit es seine Fähigkeiten und die äußeren Umstände zulassen. Jeder Schritt auf diesem Weg ist nicht nur ein persönlicher Gewinn, sondern hinterlässt auch Spuren in seiner Umgebung und der gesamten Gesellschaft. Und solange diese Spuren oder auch nur ihr entfernter Widerhall über Zeit und Raum erkennbar für andere sind, ist nicht jegliche Hoffnung verloren. Jeder, der berufen ist, hat damit auch eine Verpflichtung, seine Gabe entsprechend der ihm anvertrauten Fähigkeiten einzusetzen. Dabei gilt es nicht zu warten, bis andere den ersten Schritt tun, sondern selbst mit den eigenen Fähigkeiten tätig zu werden. Es spielt keine Rolle, ob die Tat groß oder klein wirkt, ob sie sich als praktische Handlung in der bedingten Ordnung zeigt oder ob sie eine Tätigkeit in der geistigen Ordnung darstellt. Solange sie in Übereinstimmung mit den höheren oder göttlichen Prinzipien erfolgt und der Natur des Wesens entspricht, das sie ausführt, wird sie ihre Wirkung entfalten: Im Inneren kann das ausführende Sein den „Sinn seines Lebens“ erfahren und wird eine Erfüllung spüren, die weit über das hinausgeht, was die materielle Erfüllung seiner Bedürfnisse ihm bieten kann. Im Äußeren wird sie sich auf die verschiedensten Weisen zeigen und möglicherweise andere anregen, Ähnliches zu tun. Daher sei jeder aufgerufen, auch im scheinbar Kleinen seinen Beitrag zu leisten, um den geistigen Verfall der modernen westlichen Welt abzuschwächen. So wie aus einem kleinen Samen ein mächtiger Baum wächst, kann auch aus kleinen Zeichen eine geistige Elite entstehen, die eine Umkehr bewirken und damit die Grundlage für einen Neuaufbau einer wahrhaft traditionellen Zivilisation im Westen legen kann.

I. Steinke

München, im Dezember 2022

1 Es sei auch auf die 1927 veröffentlichte Studie DIE KRISE DER MODERNEN WELT verwiesen, in der Guénon einige der in der vorliegenden Studie behandelte Themen noch weiter vertieft und neue Aspekte ergänzt.

Vorwort

Rudyard Kipling schrieb einmal folgende Worte: „Der Osten ist Osten und der Westen ist Westen und beide werden nie zusammenfinden.“ Er gibt dieser Aussage in seinen weiteren Ausführungen jedoch einen anderen Sinn, indem er sagt, dass dieser Unterschied verschwinde, „wenn zwei starke Menschen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, die von den Enden der Erde gekommen sind“. Doch auch dieser geänderte Sinn ist nicht wirklich zufriedenstellend, da es sehr unwahrscheinlich ist, dass er dabei an eine Stärke gedacht hat, die sich auf die geistige Ordnung bezieht. Wie auch immer dies sein mag, meist wird nur der erste Absatz für sich alleinstehend zitiert, so dass dem Leser lediglich die Vorstellung einer unüberbrückbaren Spaltung zwischen Ost und West vermittelt wird. Die meisten heute in Europa lebenden Menschen hängen dieser Vorstellung an, da sie zwar nicht davor zurückschrecken, sich als „Eroberer“ des Ostens zu fühlen, aber doch gleichzeitig auch erkennen, dass jene, von denen sie glauben, sie vollständig unterworfen zu haben, in sich etwas haben, über das sie niemals die Kontrolle gewinnen können. Was auch immer die Gefühle und Befürchtungen waren, die zu dieser Ansicht geführt haben, ist uns an dieser Stelle gleichgültig, da wir uns im Rahmen dieser Studie nur damit beschäftigen, ob dies wahr ist oder bis zu welchem Grad dies zutreffend ist. Betrachtet man den heutigen Zustand der Dinge, so gibt es allerdings viele Zeichen, die diese Ansicht unterstreichen. Wären wir jedoch der Meinung oder gar Überzeugung, dass keine engeren Beziehungen zwischen Ost und West möglich sind, hätten wir es nicht auf uns genommen, die vorliegende Studie zu verfassen.

Wir möchten betonen, dass uns vielleicht mehr als anderen die Entfernung voll bewusst ist, die den Osten und Westen voneinander trennt – und zwar insbesondere, wenn man den modernen Westen betrachtet. In unserer Studie Einführung in das Studium der hinduistischen Lehre haben wir die Unterschiede so stark hervorgehoben, dass manche unserer Leser wohl geneigt waren zu denken, dass wir diesbezüglich übertreiben würden. Wir möchten dem entgegenhalten, dass wir lediglich in aller Offenheit das beschrieben haben, was der Wahrheit entspricht. Gleichzeitig haben wir in unseren abschließenden Betrachtungen dargelegt, unter welchen Voraussetzungen eine Wiederherstellung geistiger Beziehungen möglich ist – und zwar trotz aller Unterschiede und der offensichtlichen Entfernung, die beide voneinander trennt. Und wenn wir uns in dieser Studie gegen die westlichen Versuche gestellt haben, Ähnlichkeiten zwischen dem Osten und Westen zu sehen, wo es in Wahrheit keine gibt, so liegt dies daran, dass derartige Illusionen nichts anderes als ein weiteres Hindernis auf dem Weg sind, ein echtes Verständnis zwischen Ost und West herbeizuführen. Ein Anfang, der auf einer falschen Annahme beruht, führt oft in eine Richtung, die entgegengesetzt zu der liegt, in die man ursprünglich gehen wollte. Die Weigerung, die Dinge so zu sehen, wie sie sind und vorhandene, deutlich sichtbare Unterschiede zu ignorieren, deutet auch auf ein Versagen hin, die östliche Geistesverfassung verstehen zu können und macht dadurch die Missverständnisse nur noch größer und dauerhafter. Es wäre besser, von Anfang an alle Anstrengungen auf die Beilegung dieser Missverständnisse auszurichten. So lange aber die Menschen des Westens glauben, dass es nur einen einzigen Typ von Menschheit und nur eine Zivilisation gibt, die sich lediglich in ihrer jeweils aktuellen Entwicklungsstufe unterscheiden, ist kein gegenseitiges Verständnis möglich. In Wahrheit gibt es viele Zivilisationen, die sich gleichzeitig auf sehr unterschiedlichen Wegen entwickeln. Und man muss sagen, dass unter ihnen die moderne westliche Zivilisation aufgrund einiger ihrer Charakteristika sehr außergewöhnlich ist. Es sollte bei derartigen Vergleichen jedoch nie um eine Überlegenheit oder Unterlegenheit gehen, es sei denn, man betrachtet die Dinge aus einer Sichtweise, aus der ein derartiger Vergleich tatsächlich möglich ist. Dabei ist natürlich vorauszusetzen, dass sich die auf diese Weise betrachteten Dinge überhaupt vergleichen lassen. Man kann aber gleich von vorneherein sagen, dass es keine Zivilisation gibt, die den anderen in jeder Hinsicht überlegen ist, da der Mensch sich nicht in alle Richtungen gleichzeitig und gleich gut entwickeln kann. Manche Entwicklungsrichtungen lassen sich auch gar nicht miteinander vereinbaren. Eines muss man dabei jedoch beachten: Es gibt eine gewisse Hierarchie, so dass sich sagen lässt, dass die Dinge aus einer geistigen Ordnung beispielsweise mehr wert sind als jene, die rein materiell sind. Eine Zivilisation, die aus diesem Blickwinkel als niederwertig eingeschätzt wird, bleibt dies auch dann, wenn es andere Maßstäbe gibt, die sie überlegen erscheinen lassen. Und so verhält es sich mit der westlichen Zivilisation, wenn sie im Vergleich zur östlichen betrachtet wird: Der niedere Grad an Geistigkeit bleibt ein Makel unabhängig von den sonstigen Leistungen, die die westliche Zivilisation auch erreicht haben mag. Wir sind uns bewusst, dass derartige Gedanken den Großteil der westlichen Menschen überraschen, da sie sich gegen all ihre eigenen Maßstäbe richten. Aber selbst, wenn man die Frage nach einer Über- oder Unterlegenheit außer Acht lässt, so müssen auch sie früher oder später verstehen, dass die Dinge, die in ihren Augen von höchstem Wert sind, nicht für alle Menschen diesen Stellenwert haben. Manche davon werden sogar als unnütz eingeschätzt, denn es gibt auch andere Wege, Intelligenz zu zeigen, als beispielsweise Maschinen zu erfinden. Es wäre zumindest ein Fortschritt, wenn die modernen Menschen des Westens dies verstehen und sich entsprechend danach ausrichten würden, da sich dann ihre Beziehungen zur restlichen Welt zum Vorteil aller ändern würden.

Dies bezieht sich jedoch nur auf die äußerlich sichtbare Seite dieses Aspekts. Wenn die Menschen des Westens den Gedanken zulassen würden, dass andere Zivilisationen nicht notwendigerweise deshalb schlechter sind, weil sie von der eigenen abweichen, gäbe es kein Hindernis mehr, diese Zivilisationen ohne Vorbehalte zu studieren – also ohne sie herabzusetzen und ohne eine vorgefasste Feindseligkeit ihnen gegenüber einzunehmen. Mit diesem unvoreingenommenen Blickwinkel würden sicher einige von ihnen durch entsprechende Studien selbst schnell erkennen, was ihnen insbesondere in geistiger Sicht fehlt. Dabei setzen wir voraus, dass diese wenigen, aber besonders begabten Menschen zu einem gewissen Grad ein wahres Verständnis über den Geist unterschiedlicher Zivilisationen erlangt haben. Um dies erreichen zu können, ist jedoch etwas anderes notwendig als Bemühungen, die sich auf reiner Gelehrsamkeit gründen. Dabei ist einzuschränken, dass nicht jeder gleichermaßen für ein derartiges Verständnis geeignet ist. Doch selbst, wenn diese Gruppe nur wenige Menschen umfasst, kann dies früher oder später zu positiven Folgen führen, die heute nicht abzusehen sind.

In unseren früheren Studien haben wir bereits auf eine geistige Elite hingewiesen, die diese Rolle möglicherweise einnehmen könnte, wenn sie sich einmal in der westlichen Welt herausgebildet hat. Aus ihr heraus könnte eine breite Basis entstehen und zu einer geistigen Umformung führen, die – ob sie nun gewollt ist oder nicht – eines Tages unvermeidlich sein wird. Manche Leute spüren bereits jetzt, dass die Dinge nicht für immer so weitergehen können wie bisher und sprechen von einem „Bankrott“ der westlichen Zivilisation, was vor ein paar Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Aber die wahren Gründe, die möglicherweise zu diesem „Bankrott“ führen, sind ihnen nicht bewusst. Da diese Gründe aber gleichzeitig auch genau jene sind, die ein Verständnis zwischen Ost und West verhindern, gibt es einen doppelten Nutzen, sofern man sich ihrer bewusst wird: Die Anstrengung, sie zu verstehen ist gleichzeitig auch ein Mittel, die Katastrophe abzuwenden, die den Westen aufgrund seiner eigenen Fehler bedroht. Und beide Ziele sind enger miteinander verbunden, als viele unserer Zeitgenossen dies annehmen würden. Wenn wir also die Fehler und Illusionen des modernen Westens aufzeigen, stellt dies keine vergebliche Mühe dar oder soll auch nicht als rein negative Kritik verstanden werden. Uns treibt dabei etwas weitaus Tieferes an und wir beabsichtigen auch keinesfalls, so etwas wie eine „Satire“ zu schreiben, da dies überhaupt nicht zu unseren Absichten passen würde. Und wenn es Stimmen gibt, die behaupten, dergleichen in unserer Arbeit entdeckt zu haben, so liegen sie damit völlig falsch. Aus persönlicher Sicht würden wir es vorziehen, dass wir uns überhaupt nicht mit etwas Derartigem beschäftigen müssten, da es sich dabei um eine sehr undankbare Aufgabe handelt: Vielmehr würden wir uns lieber auf die Darlegung gewisser Wahrheiten konzentrieren, ohne uns dabei mit falschen Auslegungen beschäftigen zu müssen, die diese unnötig kompliziert machen und alles durcheinanderbringen. Auf der anderen Seite können wir die heutzutage vorherrschenden Umstände jedoch auch nicht einfach ignorieren, da wir ansonsten Gefahr laufen, dass all unsere Ausführungen nicht verstanden werden, wenn wir nicht die richtige Grundlage herstellen. Und auch wenn es auf den ersten Blick so aussieht, dass wir lediglich Fehler richtigstellen oder auf gewisse Einwände antworten, so werden wir diese Gelegenheiten auch dafür nützen, auf gewisse Dinge aufmerksam zu machen, die eine positive Bedeutung haben. In diesem Sinne werden wir zeigen, warum Bemühungen gescheitert sind, den Westen und Osten einander näher zu bringen und dabei aber auch gleichzeitig die Bedingungen aufführen, unter denen ein solches Unterfangen mehr Erfolg haben könnte. Wir hoffen daher, dass unsere Absichten nicht missverstanden werden, wenn wir nicht davor zurückschrecken, jene Schwierigkeiten und Hindernisse aufzuzeigen, die man zuerst erkennen muss, bevor man sie aus dem Weg schaffen und sie überwinden kann. Dabei können wir uns jedoch nicht mit nachrangigen Überlegungen aufhalten oder berücksichtigen, was dem einen oder anderen gefallen oder missfallen mag. Die Fragen, die wir hier betrachten, sind für solche Vorbehalte zu schwerwiegend – und zwar auch dann, wenn sie nur unter den Gesichtspunkten untersucht werden, die man als ihre äußerlichen Aspekte bezeichnen kann und die nicht der rein geistigen Ordnung angehören.

An dieser Stelle möchten wir gleich klarstellen, dass wir in dieser Studie nicht vorhaben, eine bestimmte traditionelle Lehre auszulegen. Das, worüber wir hier sprechen werden, liegt in der Reichweite einer größeren Anzahl von Menschen als jene Themen, die wir in unserer Studie Einführung in das Studium der hinduistischen Lehre behandelt haben (wobei wir ergänzen möchten, dass auch diese Studie nicht nur für wenige „Spezialisten“ ist). Wenn manche aufgrund des Titels vor jener Studie zurückgeschreckt sind, so liegt dies möglicherweise daran, dass derartige Themen im Allgemeinen als das Monopol von Gelehrten angesehen werden, die diese Dinge auf eine Weise studieren und auslegen, die andere ausschließt. Ihre Gedanken und Verfahrensweisen sind diesbezüglich jedoch ohne Interesse, da unser Blickwinkel ein anderer ist: Uns geht es nicht um Gelehrsamkeit, sondern um ein echtes Verständnis – und dies ist etwas völlig anderes, da man nicht davon ausgehen kann, dass Spezialisten ein derart weites und tiefes Verstehen herausbilden können, wie wir es hier vor Augen haben. Denkt man an die bereits erwähnte Elite, so sind es nicht diese Gelehrten, die wir mit ihr verbinden. Einige unserer Leser mögen sich abgestoßen fühlen, wenn wir so über Gelehrte sprechen, obwohl wir bewusst polemischen Äußerungen vermeiden. Aber der Missbrauch, den sie betreiben und die Gefahren, die von ihnen ausgehen, müssen klar aufgezeigt werden. Einer unserer Gründe, so über diese „Gelehrtenschaft“ zu sprechen, ist die Tatsache, dass sie mit ihren eigentümlichen Methoden jene Personen ablenken, die am besten dafür geeignet wären, ein wahres Verständnis der traditionellen Zusammenhänge zu entwickeln. Dies führt dazu, dass gewisse Leute im Zusammenhang mit der hinduistischen Lehre sofort an die Arbeiten bestimmter westlicher Orientalisten denken und daraus voreilig schließen, dass dieses Thema für sie uninteressant sei. Doch einige unter ihnen liegen mit dieser Einschätzung sicher falsch und könnten sich ohne große Anstrengung ein Wissen erwerben, dass jene Orientalisten nie erlangt haben und mit ihren Methoden auch nie erlangen werden. Man kann nur sagen, dass Gelehrsamkeit das eine ist, wahre Erkenntnis aber etwas völlig anderes darstellt und beide zwar nicht völlig unvereinbar miteinander sind, aber beide auch nicht voneinander abhängen. Wenn die Gelehrsamkeit sich mit dem Rang eines Hilfsmittels zufriedengeben würde, wie es eigentlich der Fall sein sollte, so würden wir sie dafür nicht kritisieren. Unter dieser Voraussetzung wäre sie nicht gefährlich und innerhalb dieser Grenzen sogar von einem gewissen Nutzen, zumal es auch bestimmte Fälle gibt, in denen ein Vorgehen nach der „historischen Methode“ gerechtfertigt ist. Der Fehler, gegen den wir Stellung beziehen, besteht darin, dass man glaubt, sie überall anwenden zu können und von ihr etwas zu erhalten, was sie in Wahrheit nicht geben kann. Wir haben in unserer Studie Le Théosophisme: Histoire d’une Pseudo-Religion gezeigt, dass wir in sinnvollen Fällen diese Methode wie jeder andere auch anwenden können und keine speziellen Vorurteile ihr gegenüber hegen. Jeder Frage sollte mit der zu ihr am besten passenden Methode nachgegangen werden. Die Vermischung unterschiedlicher Ordnungen und unterschiedlicher Bereiche ist jedoch ein einzigartiges Phänomen, auf das man im Westen heutzutage immer öfters stoßen kann. Um diesen Fehler nicht zu begehen, ist es kurz gesagt notwendig zu wissen, wie man jeder Sache ihren richtigen Platz zuordnet. Um dies aber tun zu können, ist man gezwungen sich klarzumachen, dass es trotz der unter unseren Zeitgenossen so verbreiteten Neigung zur Gleichmacherei Dinge gibt, die gegenüber anderen nachrangig und untergeordnet sind. Deshalb kann die Gelehrsamkeit selbst da, wo sie ihre Berechtigung hat, nur ein Mittel zum Zweck sein, aber nie das Ziel selbst darstellen.

Diese einleitenden Bemerkungen sind trotz ihrer Ausführlichkeit aus unserer Sicht dringend notwendig: Zuallererst möchten wir betonen, dass wir nur das sagen, wovon wir wirklich überzeugt sind und jegliche Missverständnisse aus dem Weg räumen möchten, die trotz aller Vorkehrungen bei den folgenden Betrachtungen unvermeidlich aufkommen werden. Manche Leute haben uns Absichten zugeschrieben, die wir nie hatten, obwohl sie gleichzeitig auch die Klarheit unserer Ausführungen anerkannt haben. Daher möchten wir die Gelegenheit nutzen, in der vorliegenden Studie einiges von diesem Unverständnis zu klären und manche Punkte deutlicher zu machen, die wir zuvor anscheinend nicht klar genug behandelt hatten. Die Vielfalt der Themen, die wir hier betrachten werden, steht nicht im Gegensatz zur Einheit der Lehre, die über ihnen allen steht. Daher möchten wir unseren Lesern unbedingt diese Einheit vergegenwärtigen, die all jenen entgeht, die sich mit diesen Dingen nur oberflächlich beschäftigen. Diese Themen sind tatsächlich so eng miteinander verbunden, dass wir bei vielen Gelegenheiten auf ähnliche und weiterführende Informationen verweisen können, die sich in anderen Studien von uns finden lassen. Wir haben dies aber nur dann getan, wenn es uns unbedingt notwendig erschien, so dass wir es bei diesem allgemeinen Hinweis belassen möchten und unsere Leser nicht mit zu vielen Querverweisen ablenken müssen. Wir möchten die Gelegenheit auch nutzen und darauf aufmerksam machen, dass wir uns nicht immer ausdrücklich auf eine traditionelle Lehre beziehen werden. Aber auch in diesen Fällen beruhen unsere Aussagen auf einer Verbindung, die sich direkt aus diesen Lehren ableitet. Es geht dabei hauptsächlich um die Lehren der östlichen Tradition, die uns selbst verdeutlicht haben, was dem Westen fehlt und wie falsch manche Vorstellungen sind, die in der modernen westlichen Welt als gemeingültige Wahrheit gelten. So können wir sagen, dass wir beim Studium dieser Lehre Dinge gefunden haben, denen der Westen nichts Vergleichbares entgegenstellen konnte.

Wir behaupten nicht, dass wir all die Fragen, die in diesem Zusammenhang wichtig sind, in der vorliegenden Studie vollständig und erschöpfend behandeln können. Es sollte uns jedoch kein Vorwurf gemacht werden, dass wir nicht alles in ein einziges Buch packen konnten, da dies nicht möglich gewesen wäre. Jene Themen, auf die wir hier nicht näher eingehen können, werden wir eines Tages hoffentlich in einer anderen Studie untersuchen. Falls uns dies nicht möglich ist, können sie als Anregungen dienen, über die sich andere Gedanken machen können, damit sie für sich daraus Gewinn erzielen. In manchen Fällen ist es ausreichend, kurz auf ein Thema einzugehen, ohne es dabei jedoch in gebührender Länge behandeln zu können. Somit gibt es auch in dieser Studie Verweise, die an anderer Stelle ausgearbeitet werden müssen. In Anbetracht der Geisteshaltung bestimmter Menschen, die möglicherweise auch zu unseren Lesern zählen, möchten wir jedoch ausdrücklich darauf hinweisen, dass in einem derartigen Vorgehen keine besondere Bedeutung zu finden ist. Wir sind uns der Wirkung der so genannten „Mysterien“ voll bewusst, über die in unserer Zeit so viel gesprochen wird. Sie sind jedoch hauptsächlich nur deshalb so geheimnisvoll, weil jene, die darüber sprechen, nur sehr wenig davon verstehen. Es gibt kein wahres „Mysterium“ oder „Geheimnis“ außer dem, das sich aufgrund seiner Natur nicht ausdrücken lässt. Und die Allgemeinheit ist nicht immer reif, alle Wahrheiten zu erfahren, so dass es gerade in diesem Bereich gute Gründe gibt, warum es in manchen Fällen angebracht ist, eine gewisse Zurückhaltung zu üben und nicht alles gleichermaßen publik zu machen. Diese Einschränkung bezieht sich jedoch nur auf gewisse Grade der Erkenntnis, die als solche begrenzt zugänglich sind. Wenn wir bei Gelegenheit auf derartige Dinge stoßen, so werden wir dies auch ausdrücklich erwähnen und uns nicht hinter jenen Widersprüchen verstecken, die manche Autoren gewisser Schulen bei jeder sich bietenden Gelegenheit einfließen lassen, um entweder die Neugier ihrer Leser zu wecken oder ihre eigenen Verständnisschwierigkeiten zu übertönen.2 Ein derartiges Vorgehen ist uns genauso fremd wie das Schreiben rein literarischer Fiktion. Wir beabsichtigen einzig und allein die Wahrheit darzulegen, soweit wie wir sie selbst kennen. Dabei können wir nicht alles sagen, was wir denken, da uns dies oft zu weit von unserem Thema entfernen würde. Auch reichen die Gedanken im Allgemeinen immer weit über die Grenzen des Ausdrückbaren hinaus, in das wir unsere Worte kleiden müssen. Wir möchten unseren Lesern jedoch versichern, dass wir nie etwas sagen, von dem wir nicht überzeugt sind. Dies ist auch der Grund dafür, dass wir es nicht zulassen können, dass unsere Absichten verfälscht werden oder dass wir so ausgelegt werden, dass ein anderer Sinn entsteht als der, den wir beabsichtigt haben. Wer unsere Worte einzeln untersucht, um in ihnen erfundene oder verborgene Bedeutungen zu finden, tut uns unrecht und dagegen werden wir uns zur Wehr setzen. Andererseits sind wir all jenen dankbar, die unsere Aufmerksamkeit auf Punkte richten, die umfangreicher oder klarer erklärt werden sollten. Wir werden versuchen, dies in unseren weiteren Arbeiten zu berücksichtigen, möchten aber um Geduld bitten, bis wir eine passende Gelegenheit dafür gefunden haben. Sie sollten vermeiden, Schlussfolgerungen auf einer unsicheren Grundlage zu ziehen und aus den Lücken, die in unseren Studien zu finden sind, nicht auf eine Unvollkommenheit der zugrundliegenden traditionellen Lehren zu schließen.

2 Wir haben dies in unserer Studie L’ERREUR SPIRITE im Hinblick auf gewisse experimentelle Methoden näher untersucht, die zwar in einem begrenzen Umfang interessant sind, was aber aus unserer Sicht nicht die negativen Folgen ausgleicht, die mit ihnen verbunden sind. Wir fühlten uns jedoch verpflichtet, ihre Möglichkeit aus Vollständigkeitsgründen und im Hinblick auf die Wahrheit in dieser Studie erwähnen zu müssen.

Teil 1: Die Trugbilder des Westens

1. Zivilisation & Fortschritt

Im Lichte der geschichtlichen Betrachtung stellt sich die Zivilisation des modernen Westens als eine außergewöhnliche Abweichung dar: Unter den Zivilisationen, die uns mehr oder weniger bekannt sind, ist diese Zivilisation die einzige, die sich ausschließlich entlang einer Linie entwickelt hat, die rein auf materiellen Gesichtspunkten basiert. Diese ungeheuerliche Entwicklung, deren Anfang mit der Renaissance zusammenfällt, ist eng mit einer entsprechenden geistigen Rückentwicklung verbunden. Wir meinen damit eine entsprechende und nicht gleichwertige Rückentwicklung, da es hier um zwei Ordnungen von Dingen geht, zwischen denen es kein gemeinsames Maß gibt. Diese Rückentwicklung war so stark, dass die Menschen des Westens heutzutage nicht mehr wissen, was reine Geistigkeit ist. Sie vermuten nicht einmal mehr, dass etwas Derartiges überhaupt existieren kann. Dies führt wiederum zu ihrer Geringschätzung der östlichen Zivilisation und ist auch der Grund für die Abwertung des europäischen Mittelalters, dessen Geistigkeit ihnen ebenfalls völlig verborgen bleibt. Es lässt sich unter diesen Bedingungen fragen, wie man ein auf Nachsinnen beruhendes Wissen jemandem nahebringen kann, für den sich Intelligenz nur dadurch äußert, materielle Dinge immer weiter fortzuentwickeln, um sie zur Verwirklichung rein praktischer Ziele einzusetzen. Für derartige Leute ist jegliche Wissenschaft nur insoweit wichtig, wie sie für industrielle Zwecke eingesetzt werden kann. Wir übertreiben hier nicht, da man sich nur mit einer entsprechenden Aufmerksamkeit umschauen muss, um erkennen zu können, dass dies tatsächlich die Geisteshaltung der überwiegenden Mehrheit unserer Zeitgenossen ist. Und ein Blick auf die moderne Philosophie beginnend mit Francis Bacon und Descartes unterstreicht diesen Eindruck noch. Dazu sei nur kurz erwähnt, dass Descartes aufgrund einer mangelnden Verständnisfähigkeit das als Metaphysik angesehen hat, was richtigerweise lediglich als Grundlage für die Physik betrachtet werden darf. Er war auch der Ansicht, dass diese Physik den Weg für die angewandte Wissenschaft aus den Bereichen der Mechanik, der Medizin und sogar auch der Moral ebnete, die er als die letztendlichen Grenzen des menschlichen Wissens ansah. Man kann sich nun fragen, ob die von ihm vertretenen Ansichten nicht genau jenen entsprechen, die allem Anschein nach auch die Entwicklung der modernen Welt charakterisieren. Durch die Leugnung des reinen, über dem Verstand liegenden Wissens wurde ein Weg geebnet, der einerseits zum Positivismus und Agnostizismus führen musste (und mit denen eine starke Begrenzung der Verstandesfähigkeiten eng einherging), und andererseits zu gefühlsbetonenden Theorien, die fieberhaft im unter dem Verstand liegenden Bereich das suchen, was ihnen die Vernunft nicht geben kann. So stimmen selbst jene unserer Zeitgenossen, die sich gegen den Rationalismus äußern, einer Gleichsetzung der Intelligenz mit der Vernunft zu und sehen darin nicht mehr als ein rein auf das Praktische ausgerichtetes Vermögen, das nicht über den Bereich der Materie hinausreicht. Henri Bergson hat dazu folgendes geschrieben:

Betrachtet man die Intelligenz ihrem ursprünglichen Zwecke nach, so ist sie das Vermögen, künstliche Objekte zu schaffen und zwar insbesondere Werkzeuge, um andere Werkzeuge zu erschaffen und den Schaffungsprozess unendlich zu variieren.

Auch wenn die Intelligenz nicht mehr auf dem ihr zugeordneten Gegenstand ausgeübt wird, folgt sie Gewohnheiten, die sich bei dieser Ausübung gebildet haben: Sie wendet Formen an, die jene der unorganisierten Materie sind, so dass sich sagen lässt, dass sie für eine derartige Arbeit vorgesehen ist. Mit dieser Art der Arbeit lässt sie sich vollständig zufriedenstellen. Und dies ist das, was die Intelligenz ausdrückt, indem sie sagt, dass sie nur auf diese Weise unterscheiden und damit Klarheit gewinnen kann.3

Aus diesen Aussagen wird jedoch ganz klar ersichtlich, dass es hier nicht um die Intelligenz im Allgemeinen geht, sondern um die kartesianische Vorstellung über die Intelligenz im Speziellen. Die „neue Philosophie“, wie sie von ihren Anhängern genannt wird, ersetzt den „Glauben an die Vernunft“ durch etwas anderes, dass noch viel gröber ist: Es geht ihnen um den „Glauben an das Leben“. Der Rationalismus, über den es nicht möglich ist, bis zur tatsächlichen Wahrheit vorzudringen, ermöglichte zumindest noch die Erlangung einer relativen Wahrheit. Der „Glaube an das Leben“, der heutzutage mit seinen auf Eingebung beruhenden Vorstellungen vorherrscht, setzt diese Wahrheit jedoch so weit herab, dass sie nur noch eine Darstellung der sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit mit all ihren Unvereinbarkeiten und ihrem unveränderlichen Wandel ist. Der damit verbundene Pragmatismus führt dazu, dass die Bedeutung der Wahrheit mit der der Nützlichkeit gleichgesetzt wird, so dass sie letztlich gleichgültig wird. Wir haben diese Dinge bei dieser kurzen Ausführung zwar vereinfachend, aber nicht verfälschend dargestellt. Was auch immer die dazwischenliegenden Schritte dieser Entwicklung waren, es bleibt festzuhalten, dass die grundsätzlichen Tendenzen jene sind, die wir genannt haben. Jene Pragmatiker, die diese Ansichten bis zum Äußersten treiben, offenbaren sich damit selbst als die authentischsten Vertreter der modernen westlichen Gedanken. Was hat die Wahrheit noch für eine Bedeutung in einer Welt, deren Anstrengungen sich nur noch auf das Materielle und das Gefühlsbedingte ausrichten und nicht mehr auf das Geistige? Es geht anscheinend nur noch um den industriellen Fortschritt und um moralische Vorstellungen, die zwei Bereiche sind, die auch sehr gut ohne die Wahrheit auskommen können. Man muss sich jedoch vor Augen führen, dass eine derartige einseitige Übertreibung nicht auf einen Schlag erreicht wurde und viele Zeitgenossen es abstreiten, dass sie sich selbst schon derart weit zurückentwickelt haben. Vor unseren Augen sehen wir hier jedoch in erster Linie die modernen Amerikaner, die sich bereits in einem weit fortgeschrittenen Zustand dieser Art von Zivilisation befinden. Geistig wie auch geographisch ist Amerika der „ferne Westen“. Europa wird dieser Richtung jedoch folgen, wenn nicht etwas passiert, was diese Entwicklung und die mit ihr verbundenen Folgen aufhalten wird.

Am Absonderlichsten ist jedoch der Anspruch, diesen unnormalen Typus von Zivilisation als Maßstab für alle Zivilisationen anzulegen und ihn als die am höchsten entwickelte Form der Zivilisation anzusehen, so als ob nur sie diesen Namen verdient hätte. Genauso absonderlich und eng mit dieser Sichtweise verbunden ist der „Glaube an den Fortschritt“. Er wird einfach mit dieser materiellen Entwicklung verbunden, die den ganzen Tätigkeiten des Westens ihren Sinn gibt. Es ist erstaunlich, wie schnell und erfolgreich sich unter diesen Voraussetzungen gewisse Vorstellungen verbreiten können, vorausgesetzt sie entsprechen bestimmten allgemeinen Vorlieben, die sich in ihrer Umgebung und Epoche finden lassen. Dies ist genau der Fall bei den gerade behandelten Vorstellungen über die „Zivilisation“ und den „Fortschritt“, die so viele Menschen bereitwillig als universal und notwendig erachten. In Wahrheit wurden sie aber historisch gesehen erst vor kurzer Zeit erfunden und auch heute kennen noch mindestens dreiviertel der Menschen diese Vorstellungen entweder gar nicht oder schätzen sie als vernachlässigbar ein. Jacques Bainville hat in diesem Zusammenhang das Folgende geschrieben:

Selbst wenn das Verb „zivilisieren“ bereits von Autoren des 18. Jahrhunderts in dem Sinne verwendet wurde, den wir heute damit verbinden, so ist das Nomen „Zivilisation“ erst in den wirtschaftlichen Theorien jener Jahre aufgetaucht, die der französischen Revolution unmittelbar vorausgingen. Littré zitiert diesbezüglich ein Beispiel von Turgot. Jener durchstöberte nahezu die gesamte französische Literatur und konnte es nicht weiter zurückverfolgen. Das Wort „Zivilisation“ gibt es daher nicht länger als eineinhalb Jahrhunderte. Erst im Jahre 1835, also vor weniger als 100 Jahren, wurde es in das Wörterbuch der Akademie aufgenommen.

Die Menschen der Antike, auf die wir ja immer unsere Abstammung zurückführen, hatten keinen Begriff für das, was wir unter „Zivilisation“ verstehen. Wenn man einem Schuljungen dieses Wort geben würden, um es ins Lateinische zu übersetzen, hätte er daher größte Schwierigkeiten, dies zu tun.

Die Bedeutung von Wörtern ist nicht unabhängig von gelebten Vorstellungen. Das Wort „Zivilisation“, ohne das unsere Vorfahren gut leben konnten, da sie vielleicht genau die Sache hatten, die damit ausgedrückt werden soll, verbreitete sich im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss neuer Vorstellungen. Die Entwicklungen in der Wissenschaft, der Industrie und der Wirtschaft sowie der wachsende Wohlstand und Reichtum hatten eine Art Schwärmerei und sogar eine Art von „Prophezeiung“ hervorgerufen. Die Vorstellung eines unendlich voranschreitenden Fortschritts lässt sich erstmals in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts feststellen. Sie half der Menschheit zu glauben, in eine neue Ära eingetreten zu sein, die als die der voll ausgeprägten „Zivilisation“ angesehen wurde. Der heutzutage fast vergessene Fourier, der als früher Utopist gelten kann, war der erste, der das heutige Zeitalter als das „Zeitalter der Zivilisation“ ausgerufen hat und die „Zivilisation“ mit dem gleichgesetzt hat, was in modernen Zeiten darunter verstanden wird.

Die „Zivilisation“ wurde mit dem Grad der Entwicklung und Vollkommenheit gleichgesetzt, den die europäischen Nationen im 19. Jahrhundert erreicht hatten. Dieser Begriff, den jeder versteht, obwohl er nie definiert wurde, umfasst gleichermaßen den materiellen wie auch den moralischen Fortschritt. Der eine führt zum anderen und umgekehrt. Beide sind so eng miteinander verbunden, dass man sie nicht voneinander trennen kann. Kurz gesagt, die Zivilisation ist mit Europa selbst gleichzusetzen: Sie ist die Grundlage, durch die sich Europa die eigene Existenz versichert.4

Dies ist genau das, was auch wir denken. Obwohl der zitierte Text sehr lang ist, haben wir uns dennoch entschlossen, ihn aufzuführen, um zu zeigen, dass wir mit unseren Gedanken nicht allein sind. Die Entstehung der beiden eng miteinander verbundenen Vorstellungen der „Zivilisation“ und des „Fortschritts“ lassen sich also historisch auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zurückführen. Dies ist gerade auch die Zeit, in der der Materialismus geboren wurde.5 Besonders die sozialistischen Träumer des beginnenden 19. Jahrhunderts machten sich diese Ideen zu eigen und verbreiteten sie weiter. Wir möchten in diesem Zusammenhang anmerken, dass das historische Studium von Vorstellungen manchmal zu erstaunlichen Beobachtungen führt und es möglich macht, gewisse allzu fantastische Ideen auf den Boden der Tatsachen zurückzuführen. Dies wäre noch viel öfters möglich, wenn die Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung nicht durch voreingenommene Auslegungen verfälscht wäre oder aufgrund einer übertriebenen Gelehrsamkeit sich auf unwichtige Details beschränken würde. Eine wahre Geschichtsschreibung kann jedoch gewissen politischen Interessen gefährlich werden, so dass sich fragen lässt, ob dies nicht der Grund dafür ist, dass gewisse Methoden bei derartigen Nachforschungen als „offiziell“ gelten, während andere ausgeschlossen werden. Ob dies nun bewusst geschieht oder nicht, derartige Methoden beginnen meist damit, dass sie all das unterdrücken, was es möglich machen würde, gewisse Dinge klarer sehen zu können. Auf diese Weise wird dann die „öffentliche Meinung“ gebildet.

Kommen wir nun aber wieder zu den Vorstellungen über die Wissenschaft und den Fortschritt zurück, die wir in diesem Kapitel ja näher behandeln möchten: Gibt man ihnen einen derart eng begrenzten historischen Ursprung, so wird die aus unserer Sicht illusorische Auslegung umso deutlicher, die ihnen heutzutage gegeben wird. Dabei ist aber zu ergänzen, dass diese Wörter in ihrer relativen Bedeutung durchaus verwendet werden können, wobei man dann allerdings nicht von Vorstellungen ausgehen darf, die zu einem bestimmten Zeitpunkt entstanden sind. Es spielt letztlich keine Rolle, wie derartige Vorstellungen ausgedrückt werden und solange ein Begriff gebräuchlich ist, sehen wir keinen Nachteil darin, dass er möglicherweise noch nicht lange in Benutzung ist. Daher greifen auch wir ohne zu zögern darauf zurück und sagen, dass es viele unterschiedliche Zivilisationen gegeben hat und heute noch gibt. Es ist allerdings schwer, diese komplexe Ansammlung von Elementen unterschiedlicher Ordnungen genauer zu definieren, die das bilden, was als eine Zivilisation bezeichnet wird. Aber auch ohne diese exakte Definition weiß jeder, was darunter zu verstehen ist. Wir halten es auch nicht für erforderlich, in einer eng umgrenzten Formel die allgemeine Charakteristika einer Zivilisation als Ganzes oder die speziellen Eigenschaften bestimmter Zivilisationen zu definieren. Dies wäre ein auf gewisse Weise künstlicher Prozess und wir misstrauen diesen Kategorien, in die die Anhänger von Systematiken die Welt einordnen möchten. So wie es Zivilisationen gibt, so treten auch während ihrer Entwicklung – oder innerhalb gewisser mehr oder weniger begrenzter Perioden dieser Entwicklung – „Fortschritte“ auf, die sich nicht auf alle Bereiche unterschiedslos auswirken, sondern nur in diesem oder jenem Teilbereich ihre Wirkung entfalten. Dies ist jedoch nur eine andere Art und Weise zu sagen, dass eine Zivilisation sich entlang gewisser Linien und einer bestimmten Richtung entwickelt. Aber so wie es Fortschritte gibt, gibt es auch Rückschritte und manchmal treten beide gleichzeitig in unterschiedlichen Bereichen auf. Wir müssen aber betonen, dass dies alles nur als relativ zu bewerten ist. Wenn man diese Begriffe nun in einem absoluten Sinn versteht, entsprechen sie keiner Wirklichkeit mehr, so dass sie dann für diese neuen Vorstellungen stehen, die vor erst kaum eineinhalb Jahrhunderten im Westen aufgekommen sind. Spricht man von Zivilisation und Fortschritt, so kann dies sehr intelligent klingen, ist meist aber hohl und rhetorisch gemeint und dient dazu, der Menge zu imponieren. Für die breite Masse der Menschen sind Wörter eher ein Ersatz für eigene Gedanken als das Hilfsmittel, diese auszudrücken. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass diese beiden Begriffe mit die wichtigsten Bestandteile im Arsenal der Formulierungen derer darstellen, die heute „die Kontrolle haben“: Sie benutzen sie dazu, diese Massen zu beeinflussen, da ansonsten die Geisteshaltung, die für die heutige Zeit so charakteristisch ist, nur von sehr kurzer Überlebensdauer wäre. In dieser Hinsicht möchten wir auf die Ähnlichkeiten verweisen, die zwischen den Vorgehensweisen eines demagogischen Redners, denen eines Hypnotiseurs und denen eines Tiertrainers bestehen. Dies wäre überdies auch ein interessantes Untersuchungsobjekt für Psychologen und wir können ihnen nur empfehlen, sich diesen Zusammenhängen näher zu widmen. Die Macht der Worte wurde natürlich nicht nur in heutiger Zeit eingesetzt. Die gigantische kollektive Halluzination, durch die ein ganzer Teil der Menschheit dazu gebracht wird, völlig eingebildete Fantasien als unbestreitbare Tatsachen zu verstehen, ist jedoch ohne Parallele in der Geschichte. Und unter den Götzen der modernen Gesellschaft sind die beiden Vorstellungen, die wir in diesem Kapitel behandeln, vielleicht jene, die am schädlichsten von allen sind.

Wir müssen uns nun nochmals der Geburt jener Vorstellung zuwenden, die den Fortschritt als etwas Absolutes und unendlich Fortwährendes betrachtet. Damit möchten wir sie von jenen Vorstellungen ausschließen, die sich nur auf begrenzte Teilbereiche beziehen. In den Schriften von Pascal lässt sich eine erste Ahnung dieser Vorstellung finden, die dort jedoch noch auf einen einzigen Blickwinkel angewendet wird: Es handelt sich um die bekannte Passage, in der er die Menschheit mit „einem Menschen vergleicht, der immer existiert und der fortwährend im Verlaufe der Jahrhunderte lernt“.6 Dort wird auch seine gegen die Tradition gerichtete Geisteshaltung deutlich, die ja eine der Eigentümlichkeiten des modernen Westens ist: Er erklärt, dass jene, „die wir als antik bezeichnen, in Wahrheit neu in allem waren“, woraus folgt, dass ihre Ansichten und Erkenntnisse wenig Gewicht für uns hätten. In dieser Hinsicht hat Pascal sogar selbst einen Vorgänger, da Bacon mit dem Ausspruch antiquitas saeculi, iuventus mundi („Das Alter der Antike ist die Jugend der Welt.“) ähnliches ausgedrückt hat. Die unbewusste Spitzfindigkeit, auf der eine solche Vorstellung beruht, lässt sich leicht erkennen: Sie besteht in der irreführenden Annahme, dass die Menschheit sich als Ganzes entlang der gleichen Linien entwickeln würde. Die verfälschende Vereinfachung dieser Betrachtungsweise liegt jedoch auf der Hand, da sie im Widerspruch zu allen bekannten Tatsachen steht. Die Geschichte zeigt uns, dass die Zivilisationen sich unabhängig voneinander entwickeln: Manche werden neu geboren und entwickeln sich, während andere sich in einem Zustand des Verfalls befinden und aussterben oder auf einen Schlag bei einer großen Naturkatastrophe ausgelöscht werden. Die neuen Zivilisationen sammeln sich jedoch immer im Vermächtnis der älteren. Wer würde es ernsthaft anzweifeln, dass der heutige Westen nicht auf die eine oder andere Weise von den Kenntnissen der Chaldäer oder Ägypter profitiert habe? Dabei lassen wir all jene Zivilisationen außen vor, deren Namen noch nicht einmal bis in unsere Zeit überdauert haben. Wir müssen uns für diese Betrachtung noch nicht einmal allzu weit in die Vergangenheit begeben, da es auch im Mittelalter in Europa Wissenschaften gab, von denen bis in die heutige Zeit nicht das geringste Wissen überdauert hat. Wenn man bei Pascals Vorstellung über den „Wissen ansammelnden Menschen“ bleibt, so muss man präzisieren, dass es wohl Perioden gibt, in denen er lernt und andere, in denen er wieder vergisst (oder zumindest, dass er während seines Lernens anderes vergisst). Die Wirklichkeit ist jedoch noch komplexer, da es zur gleichen Zeit Zivilisationen gibt, die voneinander nichts wissen und die sich unterschiedlich voneinander entwickeln. Wer dies nur in die Vergangenheit überträgt, liegt falsch, da dies heute auch noch so ist, wenn man die Situation der westlichen Zivilisation im