Der Mensch und sein Werden nach der Vedanta - René Guénon - E-Book

Der Mensch und sein Werden nach der Vedanta E-Book

René Guénon

0,0

Beschreibung

Wie fremd und unzugänglich der Hinduismus für den vom modernen Westen geprägten Menschen ist, wird beim Lesen von René Guénons Studie "Der Mensch und sein Werden nach der Vedanta" deutlich. Die hier beschriebenen Stufen der Entwicklung des Menschen haben so gar nichts mit den wissenschaftlichen Theorien und philosophischen Anschauungen zu tun, denen wir seit Beginn unserer Schulausbildung ausgesetzt sind. Auch im christlich religiösen Bereich, dem trotz aller Rückentwicklung noch eine gewisse traditionelle Wahrhaftigkeit zugesprochen werden kann, finden sich kaum Anknüpfungspunkte, die das Verständnis der hinduistischen Lehren erleichtern würden. Wer jedoch bereit ist, sich ernsthaft mit metaphysischen Vorstellungen zu beschäftigen, findet in Guénons Ausführungen eine tiefreichende Erklärung der traditionellen hinduistischen Lehre. Wie der Titel bereits sagt, steht die Entwicklung des Menschen im Mittelpunkt und behandelt seine körperlichen, psychischen und geistigen Bestandteile. Von der Geburt bis zum Tod und darüber hinaus vollzieht das Sein im Menschen eine Reise, die in der hinduistischen Lehre detailliert beschrieben wird. Guénons präzise Übermittlung und Erläuterung dieses Wissens lässt uns trotz unserer westlichen Prägung an dieser Jahrtausende alten Erkenntnis teilhaben. In den Bänden "Einführung in das Studium der hinduistischen Lehre", "Der Mensch und sein Werden nach der Vedanta" und "Studien über den Hinduismus" sind die tiefen Kenntnisse René Guénons über die traditionelle hinduistische Lehre zusammengefasst. Zum besseren Verständnis sollten diese Werke in der vorgegebenen Reihenfolge gelesen werden. Nach über 20 Jahren der Vorbereitung macht die 14-bändige deutsche Ausgabe die meisten Veröffentlichungen René Guénons erstmals in deutscher Sprache zugänglich und ermöglicht es, dem interessierten deutschsprachigen Leser tiefer in die traditionelle Denkweise und die Lehre der metaphysischen Prinzipien vorzudringen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 325

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Französische Originalausgabe:L’HOMME ET SON DEVENIR SELON LE VEDĀNTA © Les Editions Traditionelles 1925

Deutsche Ausgabe:BAND 6: DER MENSCH UND SEIN WERDEN NACH DER VEDĀNTA

Übersetzung aus dem Englischen durch Ingo Steinke

Herausgeber der deutschen Ausgabe: Ingo Steinke

Kontakt: [email protected]

Inhalt

VORWORT DES HERAUSGEBERS

VORWORT

1. ALLGEMEINE ANMERKUNGEN ZUR VEDĀNTA

2. DIE GRUNDLEGENDE UNTERSCHEIDUNG ZWISCHEN „SELBST“ UND „ICH“

3. DAS LEBENSSPENDENDE ZENTRUM DES MENSCHEN: DER SITZ VON BRAHMA

4. PURUSHA & PRAKRITI

5. PURUSHA – DURCH INDIVIDUELLE ABWANDLUNGEN NICHT BERÜHRT

6. DIE STUFEN DER INDIVIDUELLEN MANIFESTATION

7. BUDDHI ODER DER HÖHERE VERSTAND

8. MANAS ODER DER INNERE SINN: DIE ZEHN ÄUßEREN VERMÖGEN DER WAHRNEHMUNG UND HANDLUNG

9. DIE HÜLLEN DES „SELBST“: DIE FÜNF VĀYUS ODER DIE LEBENSSPENDENDEN FUNKTIONEN

10. DIE WESENTLICHE EINHEIT UND IDENTITÄT DES „SELBST“ IN ALLEN ZUSTÄNDEN DES SEINS

11. DIE UNTERSCHIEDLICHEN BESCHAFFENHEITEN VON ĀTMĀ IM MENSCHEN

12. DER WACHZUSTAND ODER DIE BESCHAFFENHEIT VON VAISHVĀNARA

13. DER TRAUMZUSTAND ODER DIE BESCHAFFENHEIT VON TAIJASA

14. DER ZUSTAND DES TIEFSCHLAFES ODER DIE BESCHAFFENHEIT VON PRĀJŇA

15. DER UNBEDINGTE ZUSTAND VON ĀTMĀ

16. DIE SYMBOLISCHE DARSTELLUNG VON ĀTMĀ DURCH DIE HEILIGE SILBE OM

17. DIE NACH-MENSCHLICHE ENTWICKLUNG DES MENSCHEN

18. DIE WIEDERAUFNAHME DER INDIVIDUELLEN VERMÖGEN

19. DIE UNTERSCHIEDE ZWISCHEN DEN NACH-MENSCHLICHEN ZUSTÄNDEN

20. DIE KORONAR-ARTERIE UND DER „SOLARE STRAHL“

21. DIE „GÖTTLICHE REISE“ DES SEINS AUF DEM PFAD DER BEFREIUNG

22. ENDGÜLTIGE ERLÖSUNG

23. VIDEHA-MUKTI UND JĪVAN-MUKTI

24. DER GEISTIGE ZUSTAND DES YOGI: DIE HÖCHSTE IDENTITÄT

ÜBER RENÉ GUÉNON

DIE WERKE RENÉ GUÉNONS IN DEUTSCHER AUSGABE

Vorwort des Herausgebers

Wie fremd und unzugänglich der Hinduismus für den vom modernen Westen geprägten Menschen ist, wird beim Lesen von René Guénons Studie Der Mensch und sein Werden nach der Vedānta deutlich. Die hier beschriebenen Stufen der Entwicklung des Menschen haben so gar nichts mit den wissenschaftlichen Theorien und philosophischen Anschauungen zu tun, denen der Leser seit Beginn seiner Schulausbildung ausgesetzt ist. Auch im religiösen Bereich, dem trotz all der zersetzenden Angriffe, denen dieser in der Moderne gegenübersteht, noch eine gewisse Verbreitung und traditionelle Wahrhaftigkeit zugesprochen werden kann, finden sich wenige Anknüpfungspunkte, die das Verständnis der hinduistischen Lehren erleichtern würden. Dies ist seiner religiösen Charakteristik geschuldet, deren Reichweite zwar bis zu einer geistigen Ebene geht, die über der von der modernen Philosophie erreichten liegt, über die aber der Hinduismus als metaphysische Lehre hinausgeht. Der Leser sei also vorgewarnt, dass die vorliegende Studie keine leicht zu konsumierende Kost im Sinne einer „Schnelleinführung“ ist und sich die wenigen, ihm aus dem Hinduismus bekannten Begriffe wie yoga, guru, karma oder Brahma mit völlig anderen Sinnbedeutungen darstellen als jene, die damit heutzutage im Westen verbunden werden.

Es gibt viele Gründe, die zu dieser Diskrepanz führen, so dass sie sich nicht nur auf eine falsche Übersetzung und ein mangelndes Verständnis der zugrunde liegenden traditionellen Texte zurückführen lässt. Unsere Zeitgenossen lieben Vereinfachungen und sind nicht bereit, sich mit derart komplexen Zusammenhängen auseinander zu setzen, wie sie in den metaphysischen Vorstellungen des Hinduismus zu finden sind. Wer sich schon von der Religion abwendet, die das Gebiet der Metaphysik allenfalls streift, von dem ist nicht zu erwarten, dass er bereit ist, die notwendigen Schritte zu tun, um darüber hinaus gehen zu können. Doch wie dem auch sei, wer bereit ist, sich ernsthaft mit metaphysischen Vorstellungen zu beschäftigen, findet in Guénons Ausführungen eine tiefreichende Erklärung der traditionellen hinduistischen Lehre, die weit über die oben genannten Schlagworte hinausreicht. Wie der Titel der Studie sagt, steht die Entwicklung des Menschen im Mittelpunkt: Dies beginnt bei der Menschwerdung als solcher, also dem Aufbau der menschlichen Existenz aus körperlichen und darüber hinausgehenden feinstofflichen Anteilen, führt weiter zu den über der menschlichen Daseinsform liegenden geistigen Teilen, betrachtet den Tod, der für das Individuum ja ein besonders einschneidendes Ereignis darstellt, und geht dann über zu dem, was danach passiert. Dabei muss sich der Leser immer vor Augen halten, dass dem Menschen als solchem keine besondere Stellung in der Hierarchie des gesamthaften Seins zukommt. Er wird lediglich deshalb in den Mittelpunkt gestellt, weil er uns am vertrautesten ist und als der Existenzzustand, den wir als Sein aktuell einnehmen, den Anfangspunkt für jegliche, im geistigen Sinne verstandene Weiterentwicklung darstellt. Diese Entwicklung kann bis zur „Erlösung“ führen, die das höchste Ziel jeglicher traditionellen Lehre ist. Und auch hier wird der westlich geprägte Leser überrascht sein zu erfahren, dass es im Gegensatz zur religiösen Vorstellung mehrere Möglichkeiten gibt, die „Erlösung“ zu erlangen: während des Lebens, im Moment des Todes oder in einer Phase, die dem Tod nachgelagert ist.

Dies führt uns allerdings auch direkt dazu, was diese Studie nicht ist: Sie ist kein Leitfaden zur Erlangung der „Erlösung“, wie dies unzählige andere moderne Veröffentlichungen von sich behaupten. Guénon fokussiert sich in seinen Darlegungen streng auf die Lehre der Vedānta und die in ihr zu findenden Aussagen über den Menschen und dessen Entwicklung. Zur Erlangung der „Erlösung“ gehört jedoch nicht nur die Erkenntnis von Wissen in der Theorie – und zwar auch dann, wenn es sich dabei um metaphysisches Wissen handelt. Die „Erlösung“ ist auch immer von einer im Praktischen verwurzelten Verwirklichung begleitet, die im Menschen die Umwandlungen und Änderungen herbeiführt, von denen in der theoretischen Lehre die Rede ist. Daher sollte der Leser, der nach einer Hilfe sucht, den Weg der Verwirklichung zu gehen, eher zu den Studien Einblicke in die Initiation und Initiation und geistige Verwirklichung greifen.

Aufgrund der Fülle und Komplexität des Themas und der alles in allem doch sehr knappen Darstellung Guénons wird sich der Leser Verständnisproblemen gegenübersehen, die insbesondere dann auftreten werden, wenn er noch keine Kenntnisse über den Hinduismus hat. Wir empfehlen daher, ergänzend die Studien Einführung in das Studium der hinduistischen Lehre und Studien über den Hinduismus heranzuziehen. Erstere enthält nicht nur eine Einführung in den Hinduismus, sondern verdeutlicht auch auf grundlegender Ebene die Unterschiede in der östlichen und westlichen Geisteshaltung, die ein wechselseitiges Verständnis so erschweren. In den Studien über den Hinduismus werden verschiedene Themen der hinduistischen Lehre vertieft, so dass sie als eine Ergänzung und Erweiterung für die beiden anderen Studien angesehen werden können.

Der Leser möge nun nicht vor der unbekannten und teilweise sehr fremden Vorstellungswelt der hinduistischen Lehre zurückschrecken, sondern sich unvoreingenommen darauf einlassen. Man wird mit einem Jahrtausende alten Wissen der Menschheit konfrontiert und das Beste, was einem dabei passieren kann, ist eine Erweiterung des eigenen geistigen Horizonts, die dabei hilft, den Weg zur eigenen geistigen Befreiung ein Stück weitergehen zu können.

I. Steinke

München, im März 2019

Vorwort

In unseren bisherigen Schriften haben wir bei verschiedenen Gelegenheiten unsere Absicht geäußert, eine Reihe von Betrachtungen durchzuführen, die je nach Anforderung entweder eine direkte Auslegung verschiedener Aspekte der metaphysischen Lehren des Ostens darstellen oder ihre Aussagen so anzupassen, dass ihre Verständlichkeit für den zeitgenössischen Leser erhöht wird. In beiden Fällen ist natürlich streng darauf zu achten, dass die Aussagen immer eng mit dem wahren Geist der Lehre verbunden bleiben. Die vorliegende Arbeit bildet den ersten Teil dieser Studien. Aus Gründen, die an anderer Stelle dargelegt wurden, haben wir die Lehre des Hinduismus und im speziellen die Lehren der Vedānta als unsere zentrale Autorität gewählt. Die Vedānta ist der Zweig der hinduistischen Lehre, der aus metaphysischer Sicht am reinsten ist. Bei dieser Verfahrensweise hindert uns jedoch nichts daran, von Fall zu Fall auch Analogien und Parallelen zu anderen Lehren unabhängig ihres Ursprungs zu ziehen. Im Besonderen werden wir uns auf die Lehren anderer orthodoxer Zweige der hinduistischen Lehre beziehen, um die Vedānta an verschiedenen Stellen zu verdeutlichen und zu vervollständigen. Da unsere Absichten in keiner Weise mit denen eines Historikers vergleichbar sind, können wir entsprechende Einwände ignorieren, die in dieser Hinsicht geäußert werden. Wir möchten an dieser Stelle nochmals nachdrücklich darauf hinweisen, dass unser Anspruch nicht in der Anhäufung von Fakten im Sinne der westlichen Gelehrsamkeit liegt, sondern als Ziel die Vermittlung von tatsächlichem Verständnis hat. Allein die Wahrheit der Idee ist daher von Interesse. Wenn es also an einer bestimmten Stelle sinnvoll erschien, detaillierte Verweise zu machen, haben wir dies aus Gründen getan, die nichts mit denen der westlichen Orientalisten zu tun haben. Wir möchten auf diese Weise zeigen, dass wir nichts erfunden haben, und dass die Ideen, die wir entwickeln, auf eine einzige, wahre und traditionelle Quelle zurückführbar sind. Gleichzeitig haben wir für all diejenigen, die davon profitieren können, durch die Verweise auf andere Texte die Mittel bereitgestellt, ergänzende Informationen zu erhalten, da wir selbstverständlich nicht behaupten möchten, eine vollständige Auslegung der gesamten Lehre, ja nicht einmal eines bestimmten Aspektes, vornehmen zu können.

Die Auslegung der gesamten Lehre wäre geradezu unmöglich: Entweder würde sie zu einer unendlichen Arbeit führen oder es wäre notwendig, sie in eine so zusammengedrängte Form zu bringen, dass sie für Leser aus der westlichen Welt nahezu unverständlich wäre. Bei einer derartigen Arbeit wäre es auch sehr schwierig, den Anschein von Systematik zu vermeiden, die völlig unverträglich mit den wesentlichen Merkmalen metaphysischer Lehren ist. Selbst wenn nur ein solcher Eindruck dem Anschein nach hervorgerufen wird, besteht die Gefahr, dass weitere, sehr schwere Fehler folgen, da die Menschen der westlichen Welt durch ihre geistigen Angewohnheiten allzu anfällig sind, überall „Systeme“ zu entdecken, selbst wenn dort gar keine existieren. Man muss daher immer auf der Hut sein, um nicht den kleinsten Vorwand für solche nicht zu rechtfertigende Angleichungen zu bieten. Daher sollte man lieber gänzlich von der Auslegung einer Lehre absehen, anstatt dazu beizutragen, sie ihrer wahren Natur entfremdet darzustellen und sei es auch nur durch bloße Ungeschicklichkeit. Glücklicherweise gibt es jedoch einen Ausweg aus dieser Problematik: Man beschränkt sich für einen gewählten Zeitpunkt auf ein spezielles Thema oder einen mehr oder weniger abgeschlossenen Aspekt der Lehre, was die Freiheit lässt, danach weitere Themen zu behandeln, um diese wiederum in den Mittelpunkt weiterer, voneinander unabhängiger Studien zu stellen. So wird man auch nicht Gefahr laufen, dass diese Studien das werden, was unter Gelehrten und Spezialisten „Monographien“ genannt wird, da die grundlegenden Prinzipien nie aus dem Auge verloren werden. Nachrangige Themen können überdies auf diese Weise nur als direkte oder indirekte Anwendung der Prinzipien auftreten, von denen alles entwickelt und abgeleitet wird. In der metaphysischen Ordnung spricht man in diesem Fall davon, dass im Bereich des Universalen kein Platz für irgendeine Spezialisierung sein kann.

Aus den vorangegangenen Bemerkungen sollte nun klar geworden sein, warum wir den Betrachtungsbereich der vorliegenden Studie auf die Natur und Konstitution des Menschen beschränken. Um unsere Kommentare klar verständlich zu machen, fühlen wir uns verpflichtet, auch andere Themen zu berühren, die sich auf den ersten Blick vielleicht nicht ganz auf den gleichen Aspekt beziehen, aber immer in Relation zu dem Gebiet stehen, zu dem wir sie erwähnen. Die Prinzipien selbst besitzen einen Umfang, der das gesamte Feld denkbarer Anwendungen bei weitem überschreitet. Trotzdem erscheint es uns berechtigt, sie – wo immer es möglich ist – auch auszulegen und zwar in Beziehung zu dieser oder jener Anwendung. Dieses Vorgehen eröffnet einige beachtliche Vorteile und es ist sogar so, dass jede Frage, egal wonach, mit den Prinzipien mehr oder weniger verbunden ist, so dass sie sich auch entsprechend metaphysisch auffassen lässt. Diese Tatsache darf nicht aus den Augen verloren werden, solange man beabsichtigt, die echte Metaphysik und nicht die Pseudometaphysik der europäischen Philosophen zu behandeln.

Wenn wir uns nun mit der Auslegung von Fragen beschäftigen, die den Menschen betreffen, so tun wir dies nicht deshalb, weil diesen Fragen vom rein metaphysischen Standpunkt her eine besondere Bedeutung zufällt. Diese Sichtweise ist völlig frei von jeder Bedingtheit, und der Bereich, zu dem die Menschheit zählt, kann ihr nie als privilegiert erscheinen. Wir haben mit der Diskussion dieser Fragen einfach deshalb begonnen, weil sie im Verlauf unserer früheren Studien bereits gestellt wurden und es daher an der Zeit war, eine ergänzende Arbeit wie diese zu unternehmen. Die Reihenfolge, in der mögliche nachfolgende Studien erscheinen mögen, wird auf ähnliche Weise von den Umständen abhängen und sehr stark von Überlegungen hinsichtlich ihrer Zweckmäßigkeit bestimmt sein. Wir sind der Meinung, dass es ratsam ist, dies gleich zu Beginn zu erwähnen, damit niemand versucht ist, eine Art hierarchische Ordnung in unseren Arbeiten zu sehen, weder in Bezug auf die Wichtigkeit der behandelten Fragen noch in Bezug auf die Abhängigkeit voneinander. Dies würde uns eine Absicht unterstellen, die wir nie verfolgt haben. Aber wir wissen nur zu gut, wie schnell solche Missverständnisse aufkommen können, weshalb wir alle Maßnahmen ergreifen, um ihnen zuvorzukommen, wann immer es in unserer Macht liegt.

Es gibt einen wichtigen Punkt, der von zu großer Bedeutung ist, um ohne Bemerkung in diesen einleitenden Betrachtungen bleiben zu können – obwohl wir dachten, dass wir uns dazu bereits klar genug bei anderen Gelegenheiten geäußert hätten. Aber wir haben bemerkt, dass es gewissen Leuten nicht möglich ist, unserem Verständnis zu folgen, so dass es uns daher ratsam erscheint, diesen Punkt nochmals zu betonen: Wahres Wissen, das uns hier allein interessiert, hat wenig bis nichts gemein mit weltlichem Wissen. Die Studien, die sich mit letzterem befassen, können nicht einmal als indirekter Pfad zur Annäherung an die „Heilige Wissenschaft“ dienen. Sie bilden im Gegenteil manchmal sogar ein Hindernis, da sie zu einer oft nicht mehr gut zu machenden geistigen Missbildung führen, die die am weitesten verbreitete Auswirkung einer bestimmten Art von Ausbildung ist. Zum Verständnis von Lehren wie solchen, die wir hier auslegen möchten, ist eine Studie, die bloß „von außen“ durchgeführt wird, von keinem Nutzen. Wie wir bereits erwähnt haben, ist dies keine Aufgabe der Geschichtswissenschaft, Philologie oder Literaturwissenschaft und, wie wir zum wiederholten Male hinzufügen möchten, auch nicht ein Thema für die Philosophie. All diese Disziplinen gehören zu jener Art des Wissens, die wir als weltlich oder „äußerlich“ klassifizieren – und zwar nicht aus Geringschätzung, sondern weil sie tatsächlich nichts weiter sind. Man darf nicht überlegen, wessen Gunst man möglicherweise mit seiner Veröffentlichung gewinnen kann, man hat die Dinge vielmehr einfach so zu beschreiben, wie sie tatsächlich sind und jedem den Namen und Rang zu geben, der ihm zusteht. Die Tatsache, dass im modernen Westen die „Heilige Wissenschaft“ von mehr oder minder bewussten Verleumdern übel verzerrt wurde, ist kein Grund dafür, darüber Stillschweigen zu wahren oder sie zu ignorieren, wenn nicht gar in Abrede zu stellen. Wir erklären im Gegenteil ohne zu zögern nicht nur, dass diese Wissenschaft existiert, sondern dass sie auch unsere einzige Beschäftigung ist. Jeder kann selbst nachlesen, was wir bereits über die Extravaganzen der Okkultisten und Theosophisten geschrieben haben und wird sich vorstellen können, dass wir hier auf etwas von einer ganz anderen Ordnung Bezug nehmen. Die Haltung von Leuten, die sich mit jenen Themen befassen, kann nie als etwas anderes als weltlich angesehen werden. Sie verschlimmern ihren Fall noch dadurch, dass sie ein Wissen vorgeben, das überhaupt nicht das ihre ist, was einer der Hauptgründe dafür ist, dass wir es so notwendig finden, die Absurdität ihrer vorgetäuschten Lehren darzulegen, wann immer sich dazu Gelegenheit findet.

Durch die vorangegangenen Bemerkungen sollte es auch klar sein, dass die Lehren, die wir hier beabsichtigen zu besprechen, sich durch ihre spezielle Natur jeglicher „Popularisierung“ widersetzen. Es wäre töricht zu versuchen, sie jedem zugänglich machen zu wollen, was ja eine Vorstellung ist, die in unserer Zeit auf alles bezogen wird. Diese Prinzipien können jedoch nur von einer Elite ergriffen werden, denn alle Versuche, sie der breiten Masse näher bringen zu wollen, wären der sicherste Weg, sie zu entstellen. Wir haben an anderer Stelle erklärt, was wir unter der geistigen Elite verstehen und was für eine Rolle ihr zugedacht sein wird, wenn sie sich jemals im Westen formiert. Ein echtes und tiefgehendes Studium der östlichen Lehren ist jedoch unerlässlich, um ihre Bildung vorzubereiten. Mit Blick auf diese Arbeit, deren Resultate ohne Zweifel erst nach einem langen Intervall bemerkbar sein werden, glauben wir, dass es notwendig ist, bestimmte Ideen zum Vorteil jener auszulegen, die dazu fähig sind, sie sich anzueignen. Dabei werden wir jedoch darauf achten, sie gegen den Trend zur „Popularisierung“ weder zu modifizieren noch zu vereinfachen, was ein klarer Widerspruch zu unserer erklärten Zielsetzung wäre. Die Lehre darf nicht auf die Ebene des begrenzten Verständnisses der Masse reduziert und damit erniedrigt werden. Nur aus denen, die dazu fähig sind, die Lehre in ihrer gesamthaften Reinheit zu verstehen, wird sich eine echte geistige Elite formen. Wenn unterschiedliche Personen die gleiche Erklärung erhalten, wird jeder Einzelne diese Erklärung mehr oder weniger komplett und tief aufnehmen und im Rahmen der ihm innewohnenden geistigen Möglichkeiten verstehen. So findet die Selektion, ohne die es keine echte Hierarchie geben kann, auf ganz natürliche Weise statt. Diese Fragen haben wir bereits alle schon früher behandelt, aber es war notwendig, sie sich wieder ins Gedächtnis zu rufen, bevor wir uns auf eine strikte Auslegung der erwähnten Lehre einlassen. Auch wenn diese Punkte für das westlich geprägte Denken heutzutage ungewöhnlich sein mögen, so ist es doch notwendig, sie hier in den Mittelpunkt zu stellen.

1. Allgemeine Anmerkungen zur Vedānta

Die Vedānta ist im Gegensatz zur weit verbreiteten Meinung der Orientalisten weder Philosophie noch Religion noch lässt sie sich zu einem mehr oder weniger großen Ausmaß einem dieser Gebiete zuordnen. Einer der schwersten Fehler überhaupt ist es, die Lehre unter diesen Gesichtspunkten zu sehen, da sie dazu führen, dass sich von Anfang an kein korrektes Verständnis über sie entwickeln kann. Tatsächlich stellt man sich auf diese Weise als ein dem wahren Charakter der östlichen Gedankenwelt Außenstehender bloß. Diese Gedankenwelt unterscheidet sich völlig von der des Westens und kann daher auch nicht in die gleichen Kategorien eingeordnet werden. Wir haben bereits in einer früheren Arbeit erklärt, dass Religion etwas für den Westen Charakteristisches ist. Wenn man den gleichen Begriff auf östliche Lehren übertragen würde, müsste seine Bedeutung zu einem solchen Grad ausgedehnt werden, dass es unmöglich wird, davon auch nur die vagste Definition zu geben. Auch die Philosophie spiegelt einen rein westlich orientierten Blick wider, der im Vergleich zum religiösen Blickwinkel noch sehr viel stärker „von außen“ angelegt wird und daher noch weiter entfernt von den Themen ist, die wir hier studieren möchten. Wie wir bereits gesagt haben, ist die Philosophie eine völlig weltliche und vielleicht sogar komplett illusorische Art des Wissens.1 Wenn wir daran denken, was aus ihr in der Moderne geworden ist, kommen wir nicht umhin festzustellen, dass das Nichtvorhandensein von Philosophie kein Grund zur Besorgnis für eine Zivilisation ist. In einem kürzlich erschienenen Buch behauptet ein Orientalist, dass die „Philosophie überall Philosophie ist“ – eine Erklärung, die die Tür zu unerwünschten Gleichsetzungen jeglicher Art öffnet, wobei auch jene einbegriffen sind, gegen die er sich selbst bei anderer Gelegenheit wehrt. Dass Philosophie überall gefunden werden könne, ist genau die Behauptung, gegen die wir ankämpfen. Wir bestreiten, etwas als „universalen Gedanken“ (um eine Wendung des Autors zu benutzen) zu akzeptieren, was in Wahrheit ein sehr spezielles Denkmodell ist. Ein anderer Forscher der östlichen Lehre hat zwar im Prinzip anerkannt, dass die westlichen Begriffe, die andauernd den östlichen übergestülpt werden, nicht angemessen und exakt sind, aber trotzdem erklärt, dass er keinen Weg sieht, um auf diese Begriffe verzichten zu können und er sie daher trotz dieser Kritik wie seine Vorgänger auch benutzen müsse. Dies erscheint umso überraschender als wir für unseren Teil nie das geringste Bedürfnis verspürt haben, Zuflucht in dieser philosophischen Fachsprache suchen zu müssen, die unter dem Nachteil leidet, dass sie zu einem gewissen Grad abstrakt und unnötig kompliziert ist, selbst wenn sie einmal nicht wie meist unter solchen Umständen falsch angewendet wird. Aber wir möchten uns jetzt nicht auf eine solche Diskussion einlassen, die diese Fragen leicht hervorrufen kann. Wir möchten durch diese Beispiele hauptsächlich zeigen, wie schwierig es für manche Menschen ist, aus ihrem „klassischen Gefüge“ auszubrechen, das sie durch die westliche Prägung ihre Gedanken von Anfang an einschränkt.

Kehren wir nun zu unserem eigentlichen Thema zurück, also zur Vedānta: Sie muss als eine rein metaphysische Lehre angesehen werden, die völlig uneingeschränkte Möglichkeiten des Verstehens eröffnet und als solche in keiner Weise von einem mehr oder weniger engen Rahmen irgendeines Systems umfasst werden kann. In dieser Hinsicht und ohne vorgreifen zu wollen, kann man einen tiefen und nicht überbrückbaren Unterschied zwischen dem erkennen, was die Europäer unter der Bezeichnung Philosophie einschließen und einer traditionellen Lehre wie die der Vedānta. Das erklärte Ziel aller philosophischer Sichtweisen – und speziell der der modernen Vertreter, die die individualistische Neigung und die daraus resultierende Suche nach Originalität um jeden Preis auf die Spitze treiben wollen – ist das Etablieren präziser Systeme, die vollständig und in sich abgeschlossen sind. Man kann dies auch anders sehen und sagen, dass sie relativ und nach allen Richtungen hin eingeschränkt sind. Ein System ist grundsätzlich nicht mehr als eine in sich abgeschlossene Sichtweise, deren mehr oder weniger enge Grenzen durch den „geistigen Horizont“ ihres Autors bestimmt werden. Jegliche Systematisierung ist aber in Bezug auf die reine Metaphysik unmöglich, da in ihr alles, das sich zur individuellen Ebene zählen lässt, nicht vorhanden ist. Metaphysik ist völlig von aller Relativität und Eventualität losgelöst, seien sie philosophischer oder anderer Natur. Dies ist darin begründet, dass die Metaphysik in ihrem Wesen das Wissen vom Universalen ist und sich ein solches Wissen nicht in irgendwelche Formeln zwingen lässt, wie umfangreich sie auch sein mögen.

Die verschiedenen metaphysischen und kosmischen Anschauungen aus Indien sind nicht im engeren Sinne verschiedene Lehren, sondern nur Entwicklungen, die von einer einzigen Lehre ausgehen und die sich auf verschiedene Sichtweisen und unterschiedliche, aber keinesfalls unvereinbare Richtungen zurückführen lassen. Übrigens hat das Sanskrit Wort darshana, das den Bezeichnungen all dieser Sichtweisen nachgestellt wird, die Bedeutung von „Sicht“ oder „Standpunkt“. Das Verb drish, auf das es zurückzuführen ist, hat als primäre Bedeutung „sehen“. Daher kann darshana keinesfalls „System“ bedeuten und wenn Orientalisten es tatsächlich auf diese Weise übersetzen, ist dies nur das Resultat westlicher Denkgewohnheiten, die sie allerorten zu falschen Gleichsetzungen verleiten. Wenn man schon überall Philosophie entdecken will, ist es nur natürlich, dass man dann auch überall Systeme finden kann.

Die Lehre, auf die wir gerade hingewiesen haben, bildet im wesentlich die Veda, was dem wörtlichen Sinne nach die geheiligte und traditionelle Wissenschaft in ihrer vollkommenen Gesamthaftigkeit bedeutet.2 Sie bildet das Prinzip und die gemeinsame Basis von all den mehr oder weniger sekundären und abgeleiteten Zweigen, die wiederum die unterschiedlichen Sichtweisen ausmachen, in denen gewisse Gelehrte meinten, eine große Anzahl rivalisierender und gegensätzlicher Systeme erkennen zu können. Tatsächlich können sich diese Sichtweisen aber nicht widersprechen, solange sie in Übereinstimmung mit ihrem Ursprungsprinzip bleiben. In Wahrheit sind sie im Gegenteil alle miteinander verbunden, um sich wechselseitig zu ergänzen und aufzuhellen. Es gibt nun allerdings keinen Grund, in diese Bemerkung den Vorschlag eines mehr oder weniger künstlichen Synkretismus hineinzulesen, da die gesamte Lehre als von Anfang an vollständig in der Veda zusammengefügt angesehen werden muss. Tradition in ihrer Gesamthaftigkeit formt ein vollkommenes, zusammenhängendes Ganzes. Da alle Sichtweisen, die sie umfasst, sowohl als gleichzeitig als auch als aufeinander nachfolgend angesehen werden können, ist die Frage nach der historischen Reihenfolge, in der sie entwickelt und ausformuliert wurden, ohne Sinn. Abgesehen davon macht die Praxis der mündlichen Überlieferung, die wahrscheinlich über einen sehr langen Zeitraum angedauert hat, jede mögliche Lösung dieser Frage unmöglich. Obwohl die Auslegung der Lehre möglicherweise bis zu einem gewissen Grad an die jeweils geltenden äußeren Umstände einer Periode angepasst wurde, bleibt die Grundlage der Tradition trotzdem immer exakt die gleiche, da diese rein äußerlichen Änderungen in keiner Weise den Wesenskern der Lehre erreichen oder beeinflussen konnten.

Die notwendige und hinreichende Bedingung für die Orthodoxie einer Sichtweise ist die Übereinstimmung mit dem grundlegenden Prinzip der Tradition. Der Begriff „Orthodoxie“ darf in diesem Zusammenhang keinesfalls auf seine religiöse Bedeutung reduziert werden, die heute oftmals mit ihm verbunden wird. Um fehlerhafte Interpretationen zu verhindern, ist es notwendig, diesen Punkt zu betonen, da im Westen die Orthodoxie nur von einem rein religiösen Standpunkt aus gesehen wird. Bei allem, das sich auf die Metaphysik bezieht oder von ihr mehr oder weniger direkt abgeleitet ist, lässt sich die Heterodoxie einer Sichtweise prinzipiell daran messen, wie weit sie von den wesentlichen Prinzipien der Tradition abweicht. Da diese Prinzipien in der Veda enthalten sind, ist die Übereinstimmung mit der Veda somit das Kriterium für den Grad der Orthodoxie. Heterodoxie entsteht also dann, sobald ein Widerspruch zur Veda besteht. Sie zeigt damit, bewusst oder unbewusst, eine mehr oder weniger starke Abweichung von der Lehre an. Diese lässt sich hauptsächlich bei auf gewisse Weise begrenzte Schulen finden und berührt in der Regel lediglich spezielle Punkte, die zum Teil nur von sekundärer Wichtigkeit sind. Die Kraft, die der Tradition innewohnt, führt dazu, dass das Ausmaß und die Tragweite von individuellen Fehlern eingeschränkt werden und dass Fehler, die ein bestimmtes Ausmaß überschreiten, quasi automatisch wieder korrigiert werden. Auf diese Weise wird verhindert, dass sie sich weiterverbreiten und eine echte Autorität gewinnen können. Sogar wenn eine teilweise heterodoxe Schule bis zu einem gewissen Grad repräsentativ für ein darshana wurde, wie beispielsweise die Schule der Atomisten im Falle der Sichtweise des Vaisheshika, wird die Glaubwürdigkeit dieses darshana davon nicht berührt. Um sie in den Bereich der Orthodoxie zurückzuführen, ist es nur notwendig, sie auf ihren wahrhaft wesentlichen Kern zu reduzieren. An dieser Stelle bietet es sich an, eine Passage aus Sāņkhya-Pravachana-Bhashya von Vijňāna-Bhikshu als allgemeinen Hinweis anzuführen:

In der Lehre von Kaņāda [also der Sichtweise, die Vaisheshika genannt wird] und in der Sāņkhya [von Kapila] muss der Teil, der der Veda widerspricht von denen abgelehnt werden, die streng an der orthodoxen Tradition festhalten. In der Lehre von Jaimini und der von Vyāsa [die die beiden Sichtweisen bilden, die Mīmānsās genannt werden] gibt es nichts, was nicht mit den Heiligen Schriften übereinstimmt [die als Grundlage der Tradition angesehen werden].

Der Name Mīmānsā, der von der Verbwurzel man, „(nach)denken“, stammt, bezeichnet das reflexive Studium der „Heiligen Wissenschaft“: Er ist die geistige Frucht der Meditation über die Veda. Das erste Mīmānsā (Pūrva-Mīmānsā) wird Jaimini zugeschrieben. Wir müssen uns aber anlässlich dieser Verbindung darüber im Klaren sein, dass die Namen, die der Formulierung der verschiedenen darshanas zugeordnet werden, in keiner Weise zu bestimmten Individuen in Beziehung gesetzt werden dürfen. Sie wurden symbolisch dazu benutzt, um die „geistige Gruppierung“ zu beschreiben, deren Mitglieder sich der jeweils gleichen Studie für die Dauer einer gewissen Periode gewidmet haben, deren Länge ebenso wie deren Beginn nicht abgeschätzt werden kann. Das erste Mīmānsā wird auch Karma-Mīmānsā oder „Mīmānsā der Praxis oder Ausübung“ genannt, da es sich mit Handlungen und spezieller mit der Durchführung von Riten beschäftigt. Das Wort karma besitzt tatsächlich eine doppelte Bedeutung: Im allgemeinen Sinn bedeutet es Handlung in all ihren Ausprägungen, im speziellen und eher technischen Sinn bedeutet es rituelle Handlung wie sie in der Veda vorgeschrieben ist. Dieses „Mīmānsā der Ausübung“ hat als Ziel, wie der Kommentator Somanatha sagt, „auf exakte und präzise Weise den Sinn der Heiligen Schriften festzulegen“, hauptsächlich insoweit, als es Unterweisungen enthält und nicht im Hinblick auf reines Wissen oder jňāna verfasst wurden, das oft als Gegensatz zu karmagesehen wird – ein Gegensatz, der genau der Unterscheidung zwischen den beiden Mīmānsās entspricht.

Das zweite Mīmānsā (Uttara-Mīmānsā) wird Vyāsa zugeschrieben, also der Gemeinschaft, die die traditionellen Texte, die die Veda bilden, geordnet und schließlich zusammengestellt hat. Diese Zuschreibung ist besonders bedeutsam, da man durch sie recht einfach erkennen kann, dass wir es hier nicht mit einer historischen oder sagenhaften Person zu tun haben, sondern mit einer wahren „geistigen Funktion“. Sie wird ohne zeitliches Ende weitergeführt, da Vyāsa als einer der sieben chiranjīvīs beschrieben wird, was wörtlich „Wesen, die Langlebigkeit besitzen“ bedeutet und deren Existenz sich nicht auf eine bestimmte Epoche beschränken lässt.3 Um das zweite Mīmānsā in Beziehung zum ersten zu beschreiben, kann man es als der rein geistigen und kontemplativen Ordnung zugehörig sehen. Wir können allerdings dazu nicht „Mīmānsā der Theorie“ sagen, was aus Gründen der Symmetrie zu „Mīmānsā der Praxis“ vielleicht wünschenswert wäre, aber nur zu Unklarheiten führen würde. Obwohl das Wort „Theorie“ tatsächlich etymologisch synonym zu Kontemplation ist, vermittelt es im heutigen Sprachgebrauch eine weitaus eingeschränktere Bedeutung. Im Rahmen einer Lehre, die vom metaphysischen Standpunkt aus gesehen in sich abgeschlossen ist, kann Theorie, im gewöhnlichen Sinne verstanden, nur als abhängig von einer sie begleitenden oder folgenden Verwirklichung gesehen werden, von der sie, in aller Kürze gesagt, die unentbehrliche Grundlage ist und aus deren Sicht sie ihre Weihe erhält, so wie der Zweck die Mittel heiligt.

Das zweite Mīmānsā wird auch Brahma-Mīmānsā genannt, da es sich im Wesentlichen und auf direkte Weise mit dem „Göttlichen Wissen“ (Brahma-Vidyā) beschäftigt. Es ist dieses Wissen, das die Vedānta im engeren Sinne ausmacht und nach der etymologischen Herkunft dieses Begriffes das „Ende der Veda“ bedeutet und prinzipiell auf den Lehren basiert, die in dem als Upanischaden bezeichneten Teil enthalten sind. Der Ausdruck „Ende der Veda“ sollte in einem doppelten Sinne sowohl als Abschluss als auch als Ziel verstanden werden. Auf der einen Seite bilden die Upanischaden tatsächlich den letzten Teil der vedischen Texte, auf der anderen Seite ist das, was dort gelehrt wird, zumindest insoweit es überhaupt vermittelbar ist, das endgültige und höchste Ziel des traditionellen Wissens in seiner Gesamtheit, losgelöst von all den mehr oder weniger speziellen und bedingten Anwendungen, die von ihm abgeleitet werden können. Mit der Vedānta befinden wir uns, mit anderen Worten gesagt, im Bereich der reinen Metaphysik.

Die Upanischaden, die einen wesentlichen Teil der Veda bilden, sind eine der wichtigsten Stützen der orthodoxen Tradition. Diese Tatsache hat aber trotzdem einige Orientalisten wie Max Müller nicht von der Behauptung abhalten können, in ihnen die Keime eines nach moderner Art interpretierten Buddhismus und damit Spuren einer Heterodoxie entdecken zu können. Eine solche Aussage führt offensichtlich zu Widersprüchen und sie zeigt deutlich das Unverständnis ihrer Urheber. Man kann nicht stark genug auf der Tatsache beharren, dass es die Upanischaden sind, die hier die ursprüngliche und grundlegende Tradition darstellen und konsequenterweise die Vedānta in ihrem Wesen bilden. Daraus folgt, dass im Zweifelsfall bei der Auslegung der Lehre immer die Autorität der Upanischaden als letzte Instanz angerufen werden muss.

Die grundlegenden Lehren der Vedānta, die von den Upanischaden extrahiert wurden, sind in einer Sammlung von Aphorismen abgestimmt und zusammenfassend formuliert worden, die entweder als die Brahma-Sūtras oder die Shāriraka-Mīmānsā bekannt sind.4 Der Autor dieser Aphorismen, der Bādarāyana oder Krishna-Dwaipāyana genannt wird, wird als mit Vyāsa identisch angesehen. Es ist wichtig festzuhalten, dass die Brahma-Sūtras zu der Klasse von traditionellen Schriften gehören, deren Herkunft smriti genannt wird, während die Upanischaden, wie all die anderen vedischen Texte auch, einen Teil der shruti Überlieferung bilden. Smriti basiert auf shruti, daher wird die Autorität von smriti auch von diesem hergeleitet. Dabei darf shruti nicht als „Offenbarung“ im religiösen und westlichen Sinne verstanden werden, wie dies die meisten Orientalisten tun und damit wieder einmal zwei völlig verschiedene Sichtweisen vermengen. Es handelt sich hierbei vielmehr um die Frucht der direkten Eingebung oder Intuition, so dass die Autorität aus ihrem Inneren begründet wird. Shruti, sagt Shankarāchārya,

ist ein Mittel der direkten Wahrnehmung [in dem Bereich des transzendenten Wissens], da es um als wahre Autorität anerkannt zu werden, unabhängig von jedweder anderen Autorität ist. Smriti spielt dagegen eine Rolle, die analog zu einer Herleitung gesehen werden kann, da es seine Autorität von einer Quelle herleitet, die außerhalb seiner selbst liegt.5

Um Missverständnisse in Bezug auf die angedeutete Analogie zwischen transzendentem und sinnlich wahrnehmbaren Wissen zu vermeiden, ist es notwendig, die Analogie wie jede wahre Analogie umgekehrt anzuwenden.6 Während die Herleitung es erlaubt, sich über die sinnliche Wahrnehmung zu erheben und auf eine höhere Ebene aufzusteigen, ist es auf der anderen Seite der direkten Wahrnehmung oder Eingebung allein vorbehalten, in der transzendenten Ordnung das Höchste Prinzip zu erreichen, über dem nichts weiter mehr ist und aus dem heraus die mannigfaltigen Anwendungen abgeleitet sind. Man kann auch sagen, dass die Unterscheidung zwischen shruti und smriti grundsätzlich gleichwertig zu der ist, die zwischen direkter geistiger Intuition und reflektierendem Bewusstsein besteht. Wenn man Intuition mit der ursprünglichen Bedeutung von „hören“ versteht, zeigt dies exakt dessen unmittelbar erkennenden Charakter an, denn nach der kosmologischen Lehre des Hinduismus wird dem Ton der anfängliche Rang unter den sinnlichen Qualitäten zugesprochen. Die ursprüngliche Bedeutung von smriti ist wiederum „Erinnerung“. Tatsächlich kann Erinnerung als ein Widerschein der Wahrnehmung im erweiterten Sinne alles umfassen, das den Charakter von reflektierendem oder diskursivem, also indirektem Wissen hat. Wenn Wissen mit Licht symbolisiert wird, wie dies oft der Fall ist, können reiner Verstand und Gedächtnis, mit anderen Worten das intuitive und diskursive Vermögen, durch die Sonne und den Mond dargestellt werden. Diese Symbolik, auf die wir hier nicht weiter eingehen können, lässt unzählige Anwendung zu.7

Die Brahma-Sūtras, deren Text sehr kurz und prägnant ist, gaben Anlass zu vielen Kommentaren, von denen die von Shankarāchārya und Rāmānuja am bedeutendsten sind. Sie sind beide streng orthodox, so dass wir die Bedeutung ihrer offensichtlichen Abweichungen voneinander nicht überbewerten dürfen, da diese mehr in der Natur der unterschiedlichen Art der Bearbeitung liegen. Jede Schule neigt natürlich dazu, ihrer Sichtweise die meiste Aufmerksamkeit zu schenken, und auch wenn dabei andere Sichtweisen nicht völlig ausgeschlossen werden, so wird der eigenen doch Vorrang gegeben. Um diese Problematik in aller Unparteilichkeit beizulegen, muss man diese unterschiedlichen Sichtweisen einzeln untersuchen und feststellen, wie weit sich der Horizont, den sie jeweils umfassen, ausdehnt. Dabei dürfte es selbstverständlich sein, dass keine Schule für sich behaupten kann, die Lehre in gesamthafter Weise und unter dem Ausschluss anderer Schulen allein zu vertreten. Es ist recht offensichtlich, dass Shankarāchāryas Sichtweise tiefer und weiter reicht wie die von Rāmānuja. Man kann dies auch daran feststellen, dass Shankarāchārya den Blickwinkel des Shivaismus einnimmt und Rāmānuja den des Vishnuismus. Ein kurioses Argument wurde von Thibaut aufgebracht, der die beiden Kommentare ins Englische übersetzt hat. Er ist der Meinung, dass Rāmānuja mehr der Lehre der Brahma-Sūtras treu bleibt, erkennt aber gleichzeitig an, dass Shankarāchārya mehr mit dem Geist der Upanischaden übereinstimmt. Um an solch einer Meinung Vergnügen zu finden, muss man sich vergegenwärtigen, dass es in Bezug auf die Lehre Unterschiede zwischen den Upanischaden und den Brahma-Sūtras gibt. Wo dies auch der Fall ist, muss immer, wie wir bereits erklärt haben, die Autorität der Upanischaden ausschlaggebend sein. Dies bekräftigt die Überlegenheit von Shankarāchāryas Kommentar, obwohl dies wahrscheinlich nicht die Absicht von Thibaut war, der sich die Frage nach der inneren Wahrheit der Ideen kaum gestellt haben wird. Es ist jedoch auch eine Tatsache, dass die Brahma-Sūtras, die direkt und allein auf den Upanischaden basieren, in keiner Weise von ihnen abweichen. Nur ihre Kürze, die sie möglicherweise etwas unklarer erscheinen lassen, wenn sie von jedem Kommentar losgelöst gesehen werden, kann so etwas wie eine Entschuldigung für die bieten, die behaupten, in ihnen noch etwas anderes als eine maßgebliche und kompetente Auslegung der traditionellen Lehre finden zu können. Im Grunde genommen ist diese Erörterung ziemlich nutzlos und alles, was wir daraus schließen sollten, ist die Beobachtung, dass Shankarāchārya die wesentlichen Inhalte der Upanischaden vollständiger hergeleitet und weiterentwickelt hat. Seine Autorität kann folglich nur von denen in Frage gestellt werden, die die orthodoxe Tradition des Hinduismus nicht kennen und deren Meinung in diesem Zusammenhang von keinem weiteren Wert ist. Daher geben wir im Folgenden eher seinem Kommentar den Vorzug gegenüber all den anderen.

An dieser Stelle möchten wir nochmals klar zum Ausdruck bringen, dass es nicht richtig ist, den Upanischaden das Etikett „Esoterischer Brahmanismus“ anzuheften, wie dies von manchen getan wurde. Die Unzulässigkeit dieses Ausdrucks rührt speziell von der Tatsache her, dass die Benutzung des Wortes „Esoterik“ notwendigerweise die entsprechende Existenz einer „Exoterik“ impliziert. Eine solche Teilung kann aber nicht auf die hinduistische Lehre angewendet werden. Exoterik und Esoterik existierten in gewissen Schulen der griechischen Antike, wo sie jedoch nicht als zwei voneinander getrennte und damit mehr oder weniger gegensätzliche Lehren angesehen wurden, sondern als zwei Aspekte der gleichen Lehre. Auch die islamische Tradition kann in dieser Hinsicht als ein deutliches Beispiel herangezogen werden, wogegen sich auf die reineren Lehren des Ostens diese Beziehung nicht anwenden lässt. In ihrem Fall kann man nur von einer Art „natürlicher Esoterik“ sprechen, die jeder Lehre insbesondere aus dem metaphysischen Bereich innewohnt, da es unvermeidbar ist, auch immer dem Unausdrückbaren Rechnung zu tragen, was ja genau das eigentlich Wichtige einer Lehre ist. Wörter und Symbole können nur als Hilfsmittel für dessen Übertragung dienen, so dass sie eine Unterstützung bieten können, die eigentliche Erkenntnisleistung aber immer eine streng persönliche bleibt. Aus dieser Sichtweise heraus beläuft sich die Unterscheidung zwischen Exoterik und Esoterik auf nicht mehr als die Unterscheidung zwischen „Buchstabe“ und „Geist“. Man kann sie auch auf die Vielfalt der kleineren oder größeren Bedeutungsunterschiede anwenden, die sich in den traditionellen Texten oder heiligen Schriften aller Völker finden lassen. Dabei muss man sich aber auch ganz klar vor Augen führen, dass die gleiche Lehre nicht von allen, die sie empfangen, bis zum selben Grad verstanden wird. Unter diesem Personenkreis wird es daher einige geben, die in einer gewissen Weise den esoterischen Gehalt erkennen, während andere auf den exoterischen Anteil beschränkt bleiben. Dies entspricht aber nicht der Art und Weise, wie die Leute, die von einem „Esoterischem Brahmanismus“ reden, diesen verstehen. Im Brahmanismus ist die Lehre in ihrer Vollständigkeit für all die zugänglich, die geistig „qualifiziert“ (adhikārī) sind, also die fähig sind, aus ihr einen echten Vorteil ziehen zu können. Wenn es nun trotzdem Lehren gibt, die für einige wenige Auserwählte vorbehalten bleiben, so geschieht dies deshalb, dass sichergestellt werden kann, dass die Instruktionen mit Diskretion und unter Berücksichtigung der Übereinstimmung mit der Eignung der Personen weitergegeben werden. Die traditionelle Lehre ist nicht nur esoterisch, sondern auch „initiatisch“ und sie unterscheidet sich in all ihren Methoden erheblich von der weltlichen Ausbildung, deren Bedeutung im modernen Westen überschätzt wird. Diesen Sachverhalt haben wir bereits thematisiert, als wir von der „Heiligen Wissenschaft“ und der Unmöglichkeit sprachen, sie zu popularisieren.

Wir möchten in diesem Zusammenhang ergänzen, dass im Osten die mündliche Überlieferung die gebräuchlichste Methode zur Weitergabe der traditionellen Lehren ist – und zwar selbst dann, wenn in bestimmten Fällen schriftliche Texte vorhanden sind. Hierfür gibt es tiefgehende Gründe, da es nicht nur bloße Worte sind, die übermittelt werden müssen, sondern vor allem die echte Teilnahme an der Tradition sichergestellt werden muss. Unter diesen Umständen ist es belanglos, wenn Max Müller und andere Orientalisten sagen, dass das Wort Upanischad Wissen bedeute, das durch „das Sitzen am Fuße eines Lehrers“ gewonnen wird. Dieser Titel, wenn dies denn seine Bedeutung wäre, ließe sich dann ohne Unterschied auf alle Teile der Veda anwenden. Darüber hinaus ist dies eine Interpretation, die kein kompetenter Hindu je vorschlagen oder zulassen würde. Tatsächlich deutet der Titel der Upanischaden an, dass sie zur Beseitigung von Unkenntnis durch die Bereitstellung von Mitteln dienen, die zu höchstem Wissen führen. Man kann hier nur von einem Hinführen sprechen, da das höchste Wissen in seinem Wesen nicht kommunizierbar ist. Jemand, der für sich alleine versucht, es zu verstehen, kann nicht sicher sein, es auch tatsächlich zu erreichen.