Studien über den Hinduismus - René Guénon - E-Book

Studien über den Hinduismus E-Book

René Guénon

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Beschreibung

Die "Studien über den Hinduismus" sammeln Artikel René Guénons, die zwischen 1912 und 1949 in verschiedenen Publikationen veröffentlicht wurden. Ihnen gemeinsam ist, dass sie sich jeweils detailliert mit einzelnen Aspekten der hinduistischen Lehre auseinandersetzen. Eingeleitet werden sie mit einer grundsätzlichen Einführung in die östliche Metaphysik. Es folgen Abhandlungen über das Prinzip von dharma, die Kasten und die so wichtige Lehre der kosmischen Zyklen. Die anschließenden Kapitel detaillieren die Lehre der fünf Elemente und die Bedeutung, die sie für die körperlichen Bedingungen haben. Diese bilden wiederum die Grundlage für die anschließenden Ausführungen zum Tantrismus und dessen Lehre des Kundalini Yoga. Wie aus dieser kurzen Übersicht deutlich wird, umfasst die vorliegende Studie eine sehr breite Themenvielfalt. Dank ihr erhält man Einblicke in ein Wissen, das man in dieser Tiefe und Dichte trotz der Flut an Veröffentlichungen über den Hinduismus in der modernen Zeit nirgendwo anders finden kann. Wer sich also tiefer mit dieser Jahrtausende alten Lehre beschäftigen möchte, für den stellt die vorliegende Studie Guénons eine unverzichtbare Quelle dar. In den Bänden "Einführung in das Studium der hinduistischen Lehre", "Der Mensch und sein Werden nach der Vedanta" und "Studien über den Hinduismus" sind die tiefen Kenntnisse René Guénons über die traditionelle hinduistische Lehre zusammengefasst. Zum besseren Verständnis sollten diese Werke in der vorgegebenen Reihenfolge gelesen werden. Nach über 20 Jahren der Vorbereitung macht die 14-bändige deutsche Ausgabe die meisten Veröffentlichungen René Guénons erstmals in deutscher Sprache zugänglich und ermöglicht es, dem interessierten deutschsprachigen Leser tiefer in die traditionelle Denkweise und die Lehre der metaphysischen Prinzipien vorzudringen.

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Französische Originalausgabe:

ÉTUDES SUR L‘HINDOUISME © Les Éditions Traditionelles 1966

Ergänzt um Kapitel aus:

FORMES TRADITIONNELLES ET CYCLES COSMIQUES © Éditions Gallimard 1970, Paris

MÉLANGES © Éditions Gallimard 1976, Paris

Deutsche Ausgabe:

BAND 7: STUDIEN ÜBER DEN HINDUISMUS

Übersetzung aus dem Englischen durch Ingo Steinke

Herausgeber der deutschen Ausgabe: Ingo Steinke

Kontakt: [email protected]

Inhalt

VORWORT DES HERAUSGEBERS

1. DIE ÖSTLICHE METAPHYSIK

2. DER GEIST INDIENS

3. DHARMA

4. VARNA

5. SANĀTANA DHARMA

6. ANMERKUNGEN ZUR LEHRE DER KOSMISCHEN ZYKLEN

7. DIE HINDUISTISCHE THEORIE DER FÜNF ELEMENTE

8. DIE BEDINGUNGEN DER KÖRPERLICHEN EXISTENZ

9. DIE FÜNFTE VEDA

10. TANTRISMUS & MAGIE

11. KUNDALINĪ YOGA

12. ĀTMA-GITA

13. NĀMA-RŪPA

14. MĀYĀ

15. GEIST UND VERSTAND

ÜBER RENÉ GUÉNON

DIE WERKE RENÉ GUÉNONS IN DEUTSCHER AUSGABE

Vorwort des Herausgebers

Die vorliegende Studie umfasst verschiedene Artikel René Guénons, die sich dem Hinduismus widmen. Sie wurden zwischen 1912 und 1949 in verschiedenen Publikationen veröffentlicht und 1966 posthum in der französischen Buchausgabe Études sur l‘Hindouisme zusammengefasst. Diese Ausgabe bildet wiederum die Grundlage für die vorliegenden Studien über den Hinduismus, wobei allerdings einige Anpassungen für die deutsche Veröffentlichung vorgenommen wurden, auf die wir im Folgenden eingehen möchten.

In der Originalausgabe wurden die Artikel weitgehend chronologisch wiedergegeben, für die deutsche Ausgabe haben wird die Reihenfolge zur besseren Verständlichkeit angepasst. Den Beginn der deutschen Ausgabe bildet die Niederschrift einer Vorlesung, die Guénon am 12.12.1925 an der Sorbonne hielt (Die östliche Metaphysik). In dieser Vorlesung versuchte Guénon, einem wohl recht unvorbereiteten Publikum eine Einführung in die Metaphysik im Allgemeinen zu geben. Wahrscheinlich dürfte er ratlose Zuhörer hinterlassen haben, da die Themen dieser Vorlesung doch weit über eine reine Einführung hinausgehen. Das folgende Kapitel Der Geist Indiens schlägt nun die Brücke zum Hinduismus. Ihm folgen Abhandlungen über dharma, die Kasten und die so wichtige Lehre der kosmischen Zyklen. Die anschließenden Kapitel detaillieren die Lehre der fünf Elemente und die Bedeutung, die sie für die körperlichen Bedingungen haben. Diese bilden wiederum die Grundlage für die folgenden Ausführungen zum Tantrismus und seiner Lehre des Kundalinī Yoga. Die abschließenden Kapitel vertiefen wiederum einzelne Aspekte des Hinduismus.

Wie aus dieser kurzen Übersicht deutlich wird, umfassen die Studien über den Hinduismus eine sehr breite Themenvielfalt. So kann auch die thematische Neugliederung nicht dazu führen, dass aus einer Sammlung einzelner Artikel, die über einen Zeitraum von über 30 Jahren entstanden sind, ein zusammenhängendes Buch entsteht. Doppelungen, fehlende Zusammenhänge und mangelnde Übergänge müssen daher bei der Lektüre in Kauf genommen werden. Dafür erhält man Einblicke in ein Wissen, das man in dieser Tiefe und Dichte trotz der Flut an Veröffentlichungen über den Hinduismus in der modernen Zeit nirgendwo anders finden kann.

Um den Themenbereich Hinduismus abzurunden, haben wir gegenüber der Originalausgabe drei zusätzliche Kapitel in diese Sammlung aufgenommen. Sie behandeln ebenfalls Themen, die eng mit dem Hinduismus verbunden sind, aber ursprünglich in anderen Ausgaben veröffentlicht wurden. Es handelt sich um die Kapitel 8 Die Bedingungen der körperlichen Existenz und Kapitel 15 Geist und Intellekt, die dem Band Mélanges entnommen wurden, sowie um Kapitel 6 Anmerkungen zur Lehre der kosmischen Zyklen, das im Band Formes Traditionnelles et Cycles Cosmiques enthalten ist.

Die dritte und letzte Änderung gegenüber der französischen Originalausgabe Études sur l‘Hindouisme bezieht sich auf die dort enthaltenen Rezensionen, die Guénon zu einer Reihe von Büchern verfasst hatte, die sich mit dem Hinduismus beschäftigen und die einen beträchtlichen Teil der Originalausgabe ausmachen. Auf ihre Übersetzung und Wiedergabe in der deutschen Ausgabe wurde schlicht und einfach verzichtet, da die meisten dieser Veröffentlichungen nicht in deutscher Sprache erhältlich sind. Der diesbezüglich interessierte Leser sei auf die französische Originalausgabe oder die Übersetzung Studies in Hinduism der Sophia Perennis Reihe verwiesen, in der die Rezensionen auch in Englisch verfügbar sind.

Wie aus diesen einleitenden Anmerkungen deutlich geworden sein dürfte, stellen die Studien über den Hinduismus eine Ergänzung zu den beiden grundlegenden Arbeiten Guénons über den Hinduismus dar, also zu Einführung in das Studium der hinduistischen Lehre und Der Mensch und sein Werden nach der Vedānta. Beide erschienen in den zwanziger Jahren des letzten Jahrtausends und Guénon war praktisch bis zu seinem Tod damit beschäftigt, Fragen und Missverständnisse zu den Themen dieser beiden Werke in einzelnen Artikeln zu klären. Die vorliegende Studie kann daher die Lektüre dieser beiden Werke nicht ersetzen, hilft aber ungemein, sie besser zu verstehen und öffnet darüber hinaus auch noch einen Blick auf die wahre Metaphysik, die den Hinduismus wie auch alle anderen traditionellen Lehren durchdringt.

I. Steinke

München, im Juni 2019

1. Die östliche Metaphysik

Für das Thema dieser Abhandlung haben wir die östliche Metaphysik gewählt. Eigentlich wäre es besser, nur von Metaphysik ohne weitere Spezifikation zu sprechen, da die reine Metaphysik weder westlich noch östlich ist. Sie ist vielmehr universal und in ihrem Wesen über und jenseits aller Formen und Bedingtheiten. Nur durch ihre äußere Form, in die sie gekleidet ist, wird eine Auslegung möglich. Und erst dann kann das ausgedrückt werden, was sich überhaupt ausdrücken lässt und das sich auf diese Weise wiederum einer weiteren Spezifikation wie die in „östlich“ oder „westlich“ unterziehen lassen kann. Aber unter all ihrer Vielfalt gibt es immer und überall die gleiche Grundlage, solange es sich um wahre Metaphysik handelt. Der Grund dafür ist ganz einfach der, dass die Wahrheit immer und überall die gleiche ist.

Wenn dies nun so ist, welche Veranlassung gibt es dann, hier speziell von einer „östlichen Metaphysik“ zu sprechen? Der Grund dafür ist, dass im heutigen geistigen Zustand der westlichen Welt die Metaphysik etwas darstellt, das in Vergessenheit geraten ist und damit im Allgemeinen unbekannt und mehr oder weniger völlig verloren ist. Im Osten ist sie dagegen nach wie vor das Objekt tatsächlichen Wissens. Wenn man also mehr über Metaphysik erfahren möchte, muss man sich dem Osten zuwenden. Selbst wenn man den Wunsch hat, die metaphysischen Traditionen wiederzuentdecken, die im Westen einmal existiert haben – ein Westen, der übrigens in vieler Hinsicht dem Osten damals viel näher war als er es heutzutage ist – so kann dies nur mit der Hilfe der östlichen Lehren und durch Vergleiche mit ihnen zum Erfolg führen, da sie die einzigen Lehren im Bereich der Metaphysik sind, die heute noch direkt studiert werden können. Wenn man dies tun will, muss klar sein, dass sie auf dieselbe Weise studiert werden müssen, wie die Menschen aus dem Osten sie selbst studieren. Man darf sich nicht mehr oder weniger hypothetischen und teilweise sogar völlig phantastischen Auslegungen hingeben. Es wird auch zu oft außer Acht gelassen, dass die östlichen Zivilisationen noch immer existieren und dass sie qualifizierte Vertreter haben, an die man sich nur wenden muss, um die wahre Natur der Metaphysik erlernen zu können.

Wie die Bezeichnung „östliche Metaphysik“ sagt, handelt es sich dabei nicht allein um eine „hinduistische Metaphysik“, da Lehren dieser Art mit all dem, was sie einschließen nicht nur in Indien gefunden werden können, auch wenn manche westlichen Gelehrten das Gegenteil glauben und damit zeigen, dass sie nur ein geringes Verständnis für dieses Thema haben. Indien ist in dieser Hinsicht keinesfalls außergewöhnlich und gleiches gilt auch für alle anderen Zivilisationen, die etwas besitzen, was man eine traditionelle Grundlage nennen könnte. Außergewöhnlich und nicht normal sind dagegen jene Zivilisationen, die einer solchen Grundlage entbehren. Die einzige, auf die dies zutrifft, ist – ganz offen gesagt – die des modernen Westens. Wenn man nur die wichtigsten östlichen Zivilisationen betrachtet, so lässt sich für China das Gegenstück zur hinduistischen Zivilisation im Taoismus finden. In anderen Regionen sind es wiederum bestimmte esoterische Schulen des Islams.1 Der einzige Unterschied ist, dass diese Lehren mit Ausnahme von Indien nur einer relativ begrenzten und abgeschlossenen Elite vorbehalten sind. So verhielt es sich im Westen auch während des Mittelalters, als es dort eine Esoterik gab, die in vieler Hinsicht dem Islam glich und ebenso rein metaphysisch war. Doch die Menschen der Moderne können sich größtenteils nicht vorstellen, dass auch im Westen etwas Ähnliches existiert hat. Betrachtet man Indien, so ist es nicht möglich, im eigentlichen Sinne des Wortes von einer Esoterik zu sprechen, da man dort keine Lehre finden kann, die die beiden Aspekte Exoterik und Esoterik aufweist. Es lässt sich nur von einer natürlichen Esoterik sprechen, was heißt, dass jedes Individuum nur jene Tiefen erreichen oder nur so weit in die Lehre vorstoßen kann, wie es sein geistiges Vermögen zulässt. So bestehen für gewisse Individuen Schranken, die in ihrer Natur begründet sind und die sie unmöglich überwinden können.

Die äußere Form der Metaphysik unterscheidet sich natürlich von einer Zivilisation zur anderen, da sie sich jeweils auf unterschiedliche Bedingungen anpassen muss. Obwohl wir mit den hinduistischen Formen am Vertrautesten sind, haben wir keine Vorbehalte, auch andere anzuführen, wenn dadurch das weitere Verständnis von gewissen Punkten gefördert werden kann. Dies ist insofern auch nicht problematisch, da sie alle nur verschiedene Darstellungen der gleichen Sache sind. Die Wahrheit ist, um es noch einmal zu sagen, immer die gleiche, auf welchen Wegen auch immer Erkenntnis darüber erlangt wird.

Nachdem wir dies vorausgeschickt haben, möchten wir nun klarstellen, was das Wort „Metaphysik“ eigentlich bedeutet. Dies erscheint uns umso notwendiger, da die unterschiedlichsten Vorstellungen darüber verbreitet sind. Wir halten es daher für sinnvoll, missverständlichen Wörtern zuerst ihre anfängliche und etymologische Bedeutung wiederzugeben – zumindest soweit dies noch möglich ist. Das Wort „Metaphysik“ entspricht seiner Zusammenstellung nach wörtlich „jenseits der Physik“, wenn man das Wort „Physik“ in dem Sinne versteht, den es für die Menschen der Antike immer hatte, also wenn es als „Wissen über die Natur“ im weitesten Sinne verstanden wird. Physik ist das Studium all dessen, was dem Bereich der Natur angehört. Metaphysik ist dagegen das Studium all dessen, was jenseits der Natur liegt. Wie können dann manche Leute behaupten, dass metaphysisches Wissen das Wissen über die Natur sei – und zwar einerseits hinsichtlich des Objektes, das es untersucht und andererseits hinsichtlich des Vermögens, mit dem es erlangt wird? Hier stehen wir einem völligen Missverständnis und einem Widerspruch der Begriffe gegenüber. Und am Erstaunlichsten ist, dass diese Verwechslung sogar jene betrifft, die sich eigentlich eine gewisse Vorstellung von wahrer Metaphysik erhalten haben sollten und wissen müssten, wie deutlich sie sich von der Pseudo-Metaphysik der modernen Philosophen unterscheidet.

Wenn nun das Wort „Metaphysik“ zu solchen Missverständnissen führt, könnte man sagen, dass es vielleicht besser wäre, ganz darauf zu verzichten und es durch einen anderen Begriff zu ersetzen. Dies würde aber wiederum andere Probleme hervorrufen, da dieses Wort genau für das geeignet ist, was es eigentlich ausdrücken soll. Es wäre auch kaum möglich, ein anderes Wort zu finden, da die westlichen Sprachen keinen Begriff haben, der sich ebenso gut dafür verwenden lässt. Einfach das Wort „Wissen“ zu verwenden, wie dies in Indien getan wird, kommt nicht in Frage. Denn obwohl es sich um Wissen handelt – sogar dem einzigen Wissen, das diesen Namen zurecht trägt – würde es die Dinge nur noch komplizierter für die Menschen aus dem Westen machen, da sie dieses Wissen gewöhnlich mit nichts verbinden, das außerhalb des wissenschaftlichen Bereiches und der Vernunft liegt. Und ist es außerdem überhaupt notwendig, sich über den Missbrauch eines Wortes so viele Gedanken zu machen? Wenn all die Worte, die zu solchen Erklärungsnöten führen, nicht mehr verwendet werden können, wie viele blieben dann überhaupt noch übrig? Ist es nicht ausreichend, gewisse Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, um Missverständnisse und Falschaussagen zu verhindern? Wir sind dem Wort „Metaphysik“ nicht mehr als irgendeinem anderen Wort verbunden und solange kein besseres gefunden wird, werden wir dabei bleiben, es zu benutzen.

Leider gibt es jedoch Menschen, die glauben, dass sie auch das, was sie nicht wissen, dennoch „beurteilen“ können. Genau diese Leute wenden das Wort „Metaphysik“ auf ein rein menschliches und auf den Verstand bezogenes Wissen an (was für uns lediglich gleichbedeutend mit Wissenschaft oder Philosophie ist) und können sich nicht vorstellen, dass die östliche Metaphysik mehr oder etwas ganz anderes bedeutet. Sie sind aufgrund ihrer logischen Schlussfolgerungen davon überzeugt, dass eine auf diese Art verstandene Metaphysik zu keinem speziellen Ergebnis führen könne. Und letztlich führt diese zu genau solchen Ergebnissen, aber nur deshalb, weil es sich dabei um etwas völlig anderes handelt, als jene Menschen es vermuten. Was sie sich darunter vorstellen, hat jedoch mit echter Metaphysik nichts zu tun, da ihre Vorstellung davon nur das Wissen einer natürlichen Ordnung umfasst und damit ein Wissen, das weltlich und oberflächlich ist. Und darüber möchten wir hier sicherlich nicht diskutieren. Für manche Leser mag nun der Eindruck entstehen, dass wir mit dieser Sicht „metaphysisch“ mit „übernatürlich“ gleichsetzen würden. Auch wenn dies nicht unsere Absicht ist, würden wir einer solchen Verschmelzung nicht widersprechen, denn solange wir nicht über die Natur hinausgehen, also über die manifestierte Welt in all ihrer Ausdehnung (und nicht nur über die wahrnehmbare Welt, die nur ein winziger Teil davon ist), verbleiben wir im Bereich des Physischen. Was aber metaphysisch ist, ist wie wir bereits erklärt haben, genau das, was über und jenseits der Natur liegt, so dass es im wahrsten Sinne des Wortes „übernatürlich“ ist.

Hier wird sich jedoch ohne Zweifel Widerspruch erheben: Ist es überhaupt möglich, über die Natur hinauszugehen? Wir zögern jedoch nicht, geradeheraus zu antworten: Es ist nicht nur möglich, sondern es wird auch gemacht. Nun wird sicher eingewendet werden, dass dies nur Worte sind und nach Beweisen gefragt werden. Es ist allerdings der falsche Weg, nach Beweisen zu fragen, die sich auf die Möglichkeit beziehen, eine Art des Wissens zu erwerben, anstatt dass nach diesem Wissen selbst gesucht wird. Es wird nur möglich, dies selbst nachzuprüfen, indem man die Arbeit auf sich nimmt, die dazu erforderlich ist, dieses Wissen zu erwerben. Denn was könnte jene, die dieses Wissen bereits besitzen, an einer solchen Diskussion interessieren? Das eigentliche Wissen mit einer „Theorie über das Wissen“ ersetzen zu wollen, ist vielleicht das größte Eingeständnis von Unvermögen, das die moderne Philosophie machen kann.

Überdies umfasst alle Gewissheit auch etwas, das nicht kommuniziert werden kann. Niemand kann Wissen im Sinne von Erkenntnis anders erlangen als durch eine rein persönliche Anstrengung. Alles, was man für die anderen tun kann, ist ihnen die Möglichkeit dazu aufzuzeigen und die Mittel näher zu bringen, mit deren Hilfe sie diese Erkenntnis erlangen können. Dies ist auch der Grund dafür, warum jeglicher Versuch vergeblich wäre, einer rein intellektuellen Anschauung den Glauben an Metaphysik aufzwingen zu wollen. Hier können auch nicht die überzeugendsten Gründe der Welt die direkte und tatsächliche Erkenntnis ersetzen.

Lässt sich nun die Metaphysik, so wie wir sie verstehen, überhaupt definieren? Nein, denn etwas zu definieren, heißt auch immer, es zu beschränken. Was wir aber hier betrachten, ist in sich und aus sich selbst heraus wahrhaft und vollständig grenzenlos. Daher lässt es sich nicht durch irgendeine Formel oder ein System umfassen. Man kann Metaphysik lediglich teilweise charakterisieren, in dem man zum Beispiel sagt, dass sie die Erkenntnis der universalen Prinzipien sei. Aber dies ist keine Definition im eigentlichen Sinne des Wortes, und sie vermittelt nur eine ziemlich vage Bedeutung, selbst wenn man anfügt, dass der Gültigkeitsbereich dieser Prinzipien weitaus größer als allgemein im Westen angenommen wird. Wer sich im Westen mit Metaphysik befasst hat, tat dies meist nur auf eine teilhafte und unvollständige Weise. Wenn also Aristoteles die Metaphysik als eine Erkenntnis des Seins vom Standpunkt des einzelnen Seins aus betrachtet hat, so hat er diese mit Ontologie gleichgesetzt, was letztlich heißt, dass er den Teil für das Ganze genommen hat. Für die östliche Metaphysik ist das reine Sein weder das erste noch das Universalste unter den Prinzipien, da es bereits eine Festlegung darstellt. Man muss also über das Sein hinausgehen, was von größter Bedeutung ist. Daher wird in jeder wahrhaft metaphysischen Vorstellung dem Unausdrückbaren Platz eingeräumt. So wie das, was ausgedrückt werden kann, nichts im Vergleich zu dem ist, was jenseits des Ausdrucks liegt, so ist das Endliche, was auch immer seine Größe sein mag (und sei es das Unendliche), nichts im Vergleich zum Unbegrenzten. Man kann es lediglich andeuten und nicht ausdrücken. Dies ist schließlich die Rolle, die äußerlich wahrnehmbare Formen wie Worte oder Symbole in dieser Hinsicht einnehmen. Sie stellen alle nichts anderes als Unterstützungen dar, also Stützen, von denen aus man zu Vorstellungsmöglichkeiten gelangen kann, die sie unermesslich übersteigen. Auf diesen Punkt werden wir aber später nochmals zurückkommen.

Wir sprechen hier von metaphysischen Vorstellungen, weil es keinen anderen passenden Begriff gibt, der das ausdrückt, was wir hier meinen. Dies soll aber nicht bedeuten, dass es sich hier um etwas handelt, was mit wissenschaftlichen oder philosophischen Anschauungen vergleichbar ist. Es geht hier nicht darum, eine Art „Abstraktion“ zu erreichen, sondern um die Erlangung der direkten Erkenntnis der Wirklichkeit, so wie diese ist. Die Wissenschaft ist untrennbar mit dem Verstand verbunden und stellt eine diskursive, indirekte Erkenntnis dar, die durch Nachdenken gewonnen wird. Metaphysik liegt dagegen über dem Verstand und ist eine intuitive und unmittelbare Erkenntnis. Diese rein geistige Intuition, ohne die es keine wahre Metaphysik geben kann, hat keinerlei Verbindung mit der Intuition, von der gewisse zeitgenössische Philosophen sprechen und die im Gegensatz dazu unterhalb des Verstandes liegt. Es gibt eine geistige und eine gefühlsbedingte Intuition. Die eine ist jenseits der Vernunft, die andere spielt sich innerhalb ihrer ab. Die letztere kann sich daher nur auf die Welt der Veränderungen und des Werdens beziehen, also die Natur oder besser gesagt einen kleinen Teil der Natur. Der Bereich der geistigen Intuition ist dagegen der der ewigen und unveränderlichen Prinzipien, also der metaphysische Bereich.

Um die universalen Prinzipien direkt verstehen zu können, muss der transzendente Geist selbst von einer universalen Ordnung sein. Er ist dann nicht mehr länger ein individuelles Vermögen – und ihn als solches zu betrachten, wäre widersprüchlich, denn es liegt nicht innerhalb der Macht des Individuums, über die eigenen Grenzen hinauszugehen oder die Bedingungen zu verlassen, die es als Individuum beschränken. Vernunft ist ein spezifisch menschliches Vermögen. Was daher jenseits der Vernunft liegt, ist wahrhaft „nicht-menschlich“. Es ist das, was metaphysische Erkenntnis möglich macht, und diese Erkenntnis ist keine menschliche Erkenntnis. Mit anderen Worten gesagt, kann der Mensch sie nicht als Mensch erlangen, sondern nur als ein Sein, das in einem seiner Aspekte menschlich und zur gleichen Zeit aber auch noch viel mehr ist, das weit über das menschliche Wesen hinausgeht. Das Erlangen eines wirksamen Bewusstseins über-individueller Zustände ist der tatsächliche Gegenstand der Metaphysik oder besser formuliert der metaphysischen Erkenntnis. Nun sind wir bei einem der wesentlichsten Punkte angelangt, der unbedingt betont werden muss: Wenn das Individuum ein vollständiges Sein wäre und ein geschlossenes System im Sinne einer Monade von Leibnitz darstellen würde, wäre eine metaphysische Erkenntnis nicht möglich. Ein solches Sein wäre unabänderlich in sich geschlossen und könnte sich nichts außerhalb seiner eigenen Existenzordnung bewusst machen. Aber so verhält es sich nicht: In Wirklichkeit ist das Individuum nur eine vorübergehende und bedingte Manifestation des wahren Seins. Es ist nur ein spezieller Zustand unter einer unzähligen Vielfalt an Zuständen dieses Seins. Das Sein ist von all seinen Manifestationen völlig unabhängig, so wie auch die Sonne von den vielen Bildern, in denen sie sich spiegelt, völlig unabhängig ist, um hier eine Analogie zu benutzen, die oft in hinduistischen Texten zu finden ist. Dies ist die grundlegende Unterscheidung zwischen dem „Selbst“ und dem „Ego“, also der Persönlichkeit und der Individualität. Und so wie die Abbilder durch die leuchtenden Strahlen der Sonne mit ihrer Quelle verbunden sind, ohne die sie keine Existenz in der Wirklichkeit hätten, so ist die Individualität – sei sie menschlich oder ein anderer analoger Zustand der Manifestation – durch die Persönlichkeit mit dem Zentrum des Seins verbunden, die diesen transzendenten Geist darstellt, von dem wir bereits gesprochen haben. Innerhalb der Grenzen, die wir uns mit dieser Darstellung gesetzt haben, ist es jedoch nicht möglich, diese Überlegungen weiter zu entwickeln oder von der Theorie der vielfältigen Zustände des Seins eine genauere Vorstellung zu vermitteln. Aber wir glauben dennoch, dass wir genug gesagt haben, um zumindest einen Eindruck von der überragenden Bedeutung jeglicher wahrhaft metaphysischen Lehre vermitteln zu können.

Wir haben zuvor das Wort „Theorie“ verwendet, aber es handelt sich nicht um Theorie allein. Diesen Punkt möchten wir als nächstes klären. Theoretisches Wissen, das nur indirekt und auf gewisse Weise symbolisch ist, kann nur eine – wenn auch unerlässliche – Vorbereitung für echte Erkenntnis sein. Es ist im Grunde das einzige Wissen, das auf irgendeine Weise kommunizierbar ist. Daher ist jegliche Art der Auslegung ein Hilfsmittel dafür, der eigentlichen Erkenntnis näher zu kommen, die zu Beginn noch nicht verwirklicht ist, in einem späteren Stadium dann aber tatsächlich verwirklicht werden muss. Dies ist ein weiterer Unterschied im Hinblick zur eingeschränkten Metaphysik, auf die wir uns bereits bezogen haben, als wir beispielsweise von Aristoteles sprachen. Diese bleibt unzulänglich, da sie sich nur auf das Sein beschränkt. Darüber hinaus stellt sie die Theorie als für sich selbst genügend dar, anstatt ausdrücklich mit einer entsprechenden Verwirklichung verbunden zu sein, wie es bei den östlichen Lehren der Fall ist. Und doch findet man auch in dieser unvollkommenen Metaphysik – man mag sich fast dazu veranlasst fühlen, in ihr eine „halbe“ Metaphysik zu sehen – Aussagen, die, wenn sie richtig verstanden worden wären, zu gänzlich anderen Schlussfolgerungen geführt hätten. Hat Aristoteles nicht ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein Sein all das ist, was es erkennt? Damit bestätigte er die Gleichsetzung des Seins mit der Erkenntnis, was wiederum genau das Prinzip der metaphysischen Verwirklichung ist. Hier bleibt aber das Prinzip isoliert und sein Wert ist nicht mehr als der einer rein theoretischen Aussage. Es erhält kein Gewicht und man hat den Eindruck, dass es nach seiner Erwähnung nicht mehr länger berücksichtigt wird. Wie kam es, dass Aristoteles und seine Nachfolger nicht erkannt haben, was in dieser Aussage alles enthalten war? Dies gilt auch für viele andere Fälle, bei denen sie anscheinend ebenfalls ähnlich wesentliche Dinge vergessen haben, wie zum Beispiel die Unterscheidung zwischen reinem Geist und Vernunft, obwohl sie sie nicht weniger deutlich definiert haben. Solche Unterlassungen muten doch recht seltsam an. Muss man darin die Auswirkung von gewissen Beschränkungen sehen, die dem westlichen Geist innewohnen, wenn man von einigen wenigen, aber immer möglichen Ausnahmen absieht? Dies könnte bis zu einem gewissen Grad zutreffen, obwohl daraus nicht notwendigerweise folgt, dass der westliche Geist immer schon so eng begrenzt war, wie er es heutzutage ist. Letztlich beziehen sich Lehren wie die gerade angesprochenen nur auf das Äußere. Sie sind zwar vielen anderen überlegen, enthalten aber trotz allem nur einen gewissen Anteil an wahrer Metaphysik, selbst wenn dies auch immer nur in Verbindung mit Betrachtungen einer anderen Ordnung geschieht, die nichts mit wahrer Metaphysik zu tun haben. Wir sind uns sicher, dass es in der Antike und im Mittelalter des Westens mehr als diese Art von Lehren gegeben hat. Der Elite standen sicherlich Lehren rein metaphysischer Natur zur Verfügung, die vollständig erhalten waren, da sie auch die Verwirklichung umfassten, die für die meisten modernen Menschen eine Sache ist, die kaum noch vorstellbar ist. Wenn der Westen nun seine Erinnerung an solche Lehren fast vollständig verloren hat, so liegt dies daran, dass er mit seiner eigenen Tradition gebrochen hat. Dies ist der Grund, warum die moderne Zivilisation als abgewichen und als nicht normal gelten muss.

Wenn rein theoretisches Wissen selbst das Ziel wäre und die Metaphysik nicht darüber hinausgehen würde, hätte dies zwar einen gewissen Wert, wäre aber trotz allem nicht ausreichend. Anstatt eine zu einer solchen Erkenntnis gehörende echte Gewissheit zu vermitteln, die sogar noch größer als mathematische Gewissheit ist, bliebe sie vergleichbar zu jener Art von Gewissheit, die auf einer untergeordneten Ebene die irdischen und menschlichen, wissenschaftlichen und philosophischen Mutmaßungen vermitteln. Dies ist aber nicht das, was Metaphysik ist. Sollen sich die Leute doch mit dieser Art des „geistigen Sportes“ – oder wie auch immer man es bezeichnen will – beschäftigen, es ist ihre Angelegenheit. Aber solche Dinge interessieren uns nicht. Wir glauben, dass die Wissbegier eines Psychologen dem Metaphysiker völlig fremd bleiben wird. Für diesen zählt alleine zu erkennen, was wirklich ist und zwar so, dass man wahrhaft und tatsächlich die Summe dessen ist, was man erkennt.

Was die Mittel der metaphysischen Verwirklichung betrifft, so sind wir uns den Einwänden jener sehr wohl bewusst, die glauben, dass es ihre Aufgabe sei, die Möglichkeit einer solchen Verwirklichung zu bestreiten. Die Mittel zur Verwirklichung müssen in der Reichweite der Menschen liegen und zumindest in den ersten Stadien an die Bedingungen des menschlichen Zustandes angepasst sein, da es ja jener Zustand ist, in dem sich das Sein gerade befindet und von dem aus es in aufsteigender Form den Besitz der höheren Zustände ergreifen muss. Daher wird das Sein Formen verwenden, die der Welt angehören, in der sich die derzeitige Manifestation des Seins befindet, um sich über diese Welt zu erheben. Entsprechende Worte, symbolische Zeichen, Riten oder andere vorbereitende Methoden unterschiedlicher Art haben keine andere Daseinsberechtigung oder Funktion als ein solches Hilfsmittel zu sein. Es wird sicher die Frage aufkommen, wie es möglich ist, dass rein bedingte Mittel Wirkungen erzielen, von denen sie unermesslich übertroffen werden und die einer völlig anderen Ordnung angehören als die, zu der sie selbst gehören. Als erstes möchten wir darauf hinweisen, dass es sich dabei tatsächlich nur um nebensächliche Mittel handelt, und dass die Ergebnisse, die durch diese erreicht werden können, in keiner Weise durch sie beeinflusst werden. Sie versetzen das Sein in einen bestimmten Geisteszustand, der es erlaubt, dieses Ergebnis leichter zu erreichen – und nicht mehr. Ähnliches lässt sich auch in Bezug auf religiöse Riten wie die Sakramente beobachten, bei denen der Unterschied zwischen den Mitteln und dem Ziel nicht weniger groß ist. Vielleicht haben einige jener, die diese Frage stellen, dies nicht ausreichend betrachtet. Was uns angeht, so verwechseln wir nicht ein einfaches und bedingtes Mittel mit einem Grund im wahren Sinne des Wortes, und wir betrachten die metaphysische Verwirklichung nicht als eine Auswirkung von derartigen Dingen. Diese Verwirklichung ist nicht die Erzeugung von etwas, das noch nicht existiert, sondern das Bewusstwerden dessen, das fortwährend und unveränderlich jenseits aller zeitlicher oder anderer Aufeinanderfolge existiert, da alle Zustände des Seins in ihrem Prinzip als in vollkommener Gleichzeitigkeit in der ewigen Gegenwart vorkommend angesehen werden müssen.

Daher lässt sich ohne Schwierigkeit erkennen, dass es kein gemeinsames Maß zwischen metaphysischer Verwirklichung und den Mitteln gibt, die zu ihr führen oder, wenn man so will, auf sie vorbereiten. Dies ist auch der Grund, warum keines dieser Mittel tatsächlich wirklich notwendig ist – außer der theoretischen Erkenntnis, die als die einzige unerlässliche Vorbereitung gelten muss. Allerdings kann diese nicht erfolgreich sein, wenn das eine dieser Mittel fehlt, das als besonders wichtig erachtet wird: die Konzentration. Diese ist freilich etwas, was den geistigen Gewohnheiten der Menschen aus dem modernen Westen völlig fremd ist und zu diesen sogar im Gegensatz steht, da dort alles eine Neigung zur Zerstreuung und unaufhörlichen Veränderung hat. Aber alle anderen Mittel sind in Bezug zur Konzentration gesehen nur zweitrangig. Sie dienen in erster Linie dazu, die Konzentration zu fördern und die verschiedenen Elemente der menschlichen Individualität zu harmonisieren, um eine tatsächlich wirksame Verbindung zwischen dieser Individualität und den höheren Zuständen des Seins zu ermöglichen.

Die Mittel, von denen wir gerade sprechen, können nahezu unendlich variiert werden, da sie auf die Vorbereitung jedes Individuums und seine bestimmten Begabungen und Neigungen angepasst werden müssen. Mit zunehmendem Fortschritt verringern sich jedoch diese Unterschiede, da es sich bei ihnen um verschiedene Pfade handelt, die alle zum gleichen Ziel führen. Ab einem gewissen Stadium löst sich alle Vielfalt auf. Dann haben auch die individuellen und bedingten Mittel ihren Zweck erfüllt. Ihre Rolle, die wir hier nicht weiter ausführen möchten, wird in bestimmten hinduistischen Schriften mit einem Pferd verglichen, das dem Menschen dabei hilft, das Ziel seiner Reise schneller und leichter zu erreichen, ohne das er es aber auch erreichen könnte. Riten und unterschiedliche Übungsmethoden zeigen den Weg zur metaphysischen Verwirklichung auf, aber man kann sie letztlich auch außer Acht lassen. Indem man seinen Geist und all seine Kraft unerschütterlich auf das Ziel der Verwirklichung richtet, kann man ebenfalls dieses höchste Ziel erreichen. Wenn es aber Mittel gibt, die die Anstrengung weniger schwer machen, warum sollte man dann auf sie verzichten? Man darf nur nicht das Bedingte das Bedingte mit dem Absoluten verwechseln, wenn man die Bedingungen des menschlichen Zustandes als Ausgangspunkt heranzieht. Dieser bedingte Zustand ist es ja, von dem man aus die Suche nach den höheren Zuständen beginnen muss, um letztlich zum höchsten und unbedingten Zustand gelangen zu können.

Nachdem wir nun die Lehren betrachtet haben, die allen Traditionsformen gemeinsam sind, möchten wir uns den grundlegenden Zuständen der metaphysischen Verwirklichung zuwenden. Der erste, der zu einem gewissen Maße nur vorbereitend ist, bleibt im menschlichen Bereich und geht nicht über die Grenzen der Individualität hinaus. Er besteht aus der unendlichen Ausdehnung dieser Individualität, von der die körperliche Daseinsweise selbst nur einen kleinen Teil darstellt, auch wenn sie die einzige Daseinsweise ist, die vom gewöhnlichen Menschen entwickelt werden kann. Auf dem Weg zur metaphysischen Verwirklichung beginnt man als Mensch mit der körperlichen Daseinsweise, weshalb am Anfang auch Mittel verwendet werden, die der sinnlich wahrnehmbaren Ordnung entstammen. Diese Mittel müssen jedoch ihren Widerhall in allen anderen Daseinsweisen des menschlichen Wesens wiederfinden. Kurz gesagt, stellt die fragliche Phase die Verwirklichung oder Entwicklung von all den Möglichkeiten dar, die als Keim in der menschlichen Individualität vorhanden sind und die auf diese Weise beliebig viele Ausdehnungen bilden können, die jeweils in die unterschiedlichsten Richtungen über den körperlichen und sinnlich wahrnehmbaren Bereich hinausgehen. Durch diese Ausdehnungen wird es möglich, die Verbindung zu den anderen Zuständen aufzunehmen.

Diese Verwirklichung der gesamthaften Individualität wird von allen Traditionen als die Wiederherstellung des so genannten „ursprünglichen Zustandes“ beschrieben. Dieser Zustand wird als der Zustand des „wahren Menschen“ angesehen und lässt bereits einige der Beschränkungen hinter sich, die für den gewöhnlichen individuellen und menschlichen Zustand charakteristisch sind, insbesondere die der zeitlichen Bedingung. Das Sein, das diesen „ursprünglichen Zustand“ erreicht hat, ist trotzdem noch ein menschliches Individuum und nicht im Besitz irgendeines über-individuellen Zustandes. Dennoch ist es fortan von der Zeit befreit, so dass sich die augenscheinliche Aufeinanderfolge der Dinge für es in eine Gleichzeitigkeit verwandelt hat. Es ist im Bewusstsein eines Vermögens, das den gewöhnlichen Menschen unbekannt ist und das man den „Sinn der Ewigkeit“ nennen kann. Dies ist von höchster Bedeutung, da der, der sich nicht über die Sichtweise der zeitlichen Aufeinanderfolge erheben kann und nicht alle Dinge als gleichzeitig erkennt, auch nicht dazu fähig ist, sich eine Vorstellung der metaphysischen Ordnung als solcher zu machen. Das erste, das also von jenen erreicht werden muss, die ein wahres metaphysisches Verständnis erreichen wollen, ist es, aus der Zeit herauszutreten – wir wären auch bereit zu sagen, in die „Nicht-Zeit“ einzutreten, wenn dieser Ausdruck nicht zu eigentümlich und ungewöhnlich wäre. Die Erkenntnis des Nicht-Zeitlichen kann überdies auch bis zu einem gewissen, wenn auch unvollkommenen Grad erreicht werden, bevor die Gesamtheit des „ursprünglichen Zustandes“ verwirklicht wurde.

Man wird vielleicht fragen, warum dieser Zustand als „ursprünglich“ bezeichnet wird. Dies kommt daher, dass alle Traditionen inklusive der des Westens (auch die Bibel sagt hier nichts Abweichendes) darin übereinstimmen, dass dies der normale Zustand für die Menschheit ist, während der heutige Zustand einen Rückschritt darstellt, der die Auswirkung einer Materialisierung ist, die in zunehmendem Maße während der Dauer eines Zyklus stattfindet. Dazu möchten wir anfügen, dass wir nicht an „Evolution“ in dem Sinne glauben, den die Menschen aus dem Westen diesem Wort gegeben haben. Die so genannten wissenschaftlichen Hypothesen, die sie erdacht haben, stimmen in keiner Weise mit der Wirklichkeit überein. Hier bleibt uns jedoch nicht mehr als die Möglichkeit, die Theorie der kosmischen Zyklen kurz zu erwähnen, die insbesondere in den hinduistischen Lehren näher beschrieben wird. Wenn wir hier näher darauf eingehen würden, müssten wir unser eigentliches Thema verlassen, denn Kosmologie ist keine Metaphysik, obwohl sie sehr eng davon abhängt. Kosmologie ist nicht mehr als eine Anwendung der Metaphysik in der physischen Ordnung, wobei die wahren natürlichen Gesetze nur die Folgen von universalen Prinzipien in einem relativen und bedingten Bereich sind.

Wenden wir uns nun aber wieder der metaphysischen Verwirklichung zu. Ihre zweite Phase entspricht den über-individuellen Zuständen, die aber noch immer beschränkt sind, obwohl ihre Beschaffenheit völlig unterschiedlich zu jener des menschlichen Zustandes ist. In ihrem Fall wird die menschliche Welt, in der wir bei den vorangegangenen Stadien verblieben sind, völlig und restlos hinter sich gelassen. In diesem Zusammenhang sei angefügt, dass man dann auch die Welt der Formen, die man hier in ihrem weitesten Sinne sehen muss, hinter sich gelassen hat. Sie umfasst alle möglichen individuellen Zustände, da die Form die Bedingung ist, die all diesen Zuständen gemeinsam ist und durch die die Individualität als solche definiert wird. Das Sein, das nun nicht mehr länger menschlich genannt werden kann, ist sodann frei vom „Strom der Formen“, um einen fernöstlichen Ausdruck zu benutzen. Es sind allerdings noch weitere Unterscheidungen zu machen, da man dieses Stadium weiter unterteilen kann: In Wirklichkeit umfasst es verschiedene Zustände, die einerseits die Erlangung von Zuständen umfassen, die obwohl sie nichtformhaft sind, dennoch zur manifestierten Existenz gehören und andererseits bis hin zum Zustand der Universalität reichen, der der des reinen Seins ist.