Die Herrschaft der Quantität und die Zeichen der Zeit - René Guénon - E-Book

Die Herrschaft der Quantität und die Zeichen der Zeit E-Book

René Guénon

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Beschreibung

Die Menschheit befindet sich seit einiger Zeit im "Dunklen Zeitalter", dem Kali-Yuga der hinduistischen Tradition. Es ist die letzte Phase eines größeren Zyklus, der damit sein Ende erreicht, bevor ein neuer Zyklus beginnen kann. Dieses "Dunkle Zeitalter" lässt sich durch zwei Phasen charakterisieren, die René Guénon in "Die Herrschaft der Quantität und die Zeichen der Zeit" untersucht. Die erste Stufe entspricht der Phase der "Verfestigung", in der sich alles zunehmend auf das rein Materielle ausrichtet. Das Geistige wird immer weiter zurückgedrängt und es wird alles abgeleugnet, was die Materie als solche übersteigt. Die anschließende Phase der "Auflösung" richtet sich an all jene, die dem rein materiellen Denken entfliehen möchten und bietet nun wieder etwas, das über dem materiellen Bereich liegt. Doch dabei wird auf Kräfte zurückgegriffen, die die wahren göttlichen Prinzipien imitieren und verfälschen. So wird einer falschen Geistigkeit der Weg geebnet, deren Absicht es ist, sich an die Stelle des höchsten Prinzips zu setzen. Guénon geht es in dieser Studie darum, die "Zeichen der Zeit" zu beschreiben, die für all jene deutlich erkennbar sind, die hinter die Trugbilder unseres modernen Lebens blicken können. Daher ist sie eine wesentliche Orientierung für all jene, die in Zeiten der "Herrschaft der Quantität" einerseits und im Chaos und in der "Auflösung" andererseits noch dazu fähig sind, ihren eigenen geistigen Weg zu gehen. Der vorliegende Band "Die Herrschaft der Quantität und die Zeichen der Zeit" stellt zusammen mit den Bänden "Osten und Westen", "Die Krise der modernen Welt" sowie "Der König der Welt / Geistige Autorität und weltliche Macht" Guénons grundlegende Kritik an der modernen westlichen Zivilisation dar. Gleichzeitig sind diese Bände auch die notwendige Grundlage, um die von Guénon vertretene traditionelle Geisteshaltung verstehen und verinnerlichen zu können, die er in seinen weiteren Werken über den Hinduismus, den Taoismus, das Christentum, den Islam sowie in Betrachtungen zur Metaphysik, Initiation und Symbolik im Allgemeinen vertieft. Nach über 20 Jahren der Vorbereitung sind die meisten dieser Werke nun erstmals in deutscher Sprache zugänglich und ermöglichen es, dem interessierten deutschsprachigen Leser tiefer in die traditionelle Denkweise und die Lehre der metaphysischen Prinzipien vorzudringen.

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Französische Originalausgabe:LE REGNE DE LA QUANTITE ET LES SIGNES DES TEMPS © Les Éditions Traditionelles 1945

Deutsche Ausgabe:BAND 4: DIE HERRSCHAFT DER QUANTITÄT & DIE ZEICHEN DER ZEIT

Übersetzung aus dem Englischen durch Ingo Steinke

Herausgeber der deutschen Ausgabe: Ingo Steinke

Kontakt: [email protected]

Inhalt

VORWORT DES HERAUSGEBERS

EINLEITUNG

1. QUALITÄT & QUANTITÄT

2. MATERIA, SIGNATA, QUANTITATE

3. MAß & MANIFESTATION

4. RÄUMLICHE QUANTITÄT & QUALITATIVER RAUM

5. DIE QUALITATIVEN FESTLEGUNGEN DER ZEIT

6. DAS PRINZIP DER INDIVIDUATION

7. GLEICHFÖRMIGKEIT ALS GEGENSATZ ZU EINHEIT

8. ANTIKES HANDWERK & MODERNE INDUSTRIE

9. DIE DOPPELTE BEDEUTUNG DER ANONYMITÄT

10. DAS TRUGBILD DER STATISTIK

11. EINHEIT & „EINFACHHEIT“

12. DER HASS AUF DAS VERBORGENE

13. DIE POSTULATE DES RATIONALISMUS

14. MECHANISMUS & MATERIALISMUS

15. DIE ILLUSION DES „GEWÖHNLICHEN LEBENS“

16. DER VERFALL DES MÜNZSYSTEMS

17. DIE VERFESTIGUNG DER WELT

18. WISSENSCHAFTLICHE MYTHEN UND IHRE POPULARISIERUNGEN

19. DIE GRENZEN DER HISTORIK

20. VON DER KUGEL ZUM WÜRFEL

21. KAIN & ABEL

22. DIE BEDEUTUNG DER METALLURGIE

23. AUS ZEIT WIRD RAUM

24. DER AUFLÖSUNG ENTGEGEN

25. RISSE IN DER GROßEN MAUER

26. SCHAMANISMUS & ZAUBEREI

27. PSYCHISCHE ÜBERRESTE

28. DIE AUFEINANDER FOLGENDEN STUFEN ANTI-TRADITIONELLER HANDLUNGEN

29. ABWEICHUNG & ZERSETZUNG

30. DIE UMKEHRUNG DER SYMBOLE

31. TRADITION & TRADITIONALISMUS

32. NEO-SPIRITUALISMUS

33. ZEITGENÖSSISCHER INTUITIONISMUS

34. DIE VERFEHLUNGEN DER PSYCHOANALYSE

35. DIE VERWECHSLUNG DES PSYCHISCHEN MIT DEM GEISTIGEN

36. PSEUDO-INITIATION

37. FALSCHE PROPHEZEIUNGEN

38. VON DER ANTI-TRADITION ZUR GEGEN-TRADITION

39. DIE GROßE PARODIE ODER DIE UMGEKEHRTE GEISTIGKEIT

40. DAS ENDE EINER WELT

ÜBER RENÉ GUÉNON

DIE WERKE RENÉ GUÉNONS IN DEUTSCHER AUSGABE

Vorwort des Herausgebers

Die Menschheit befindet sich nun seit einiger Zeit im „Dunklen Zeitalter“, das in der hinduistischen Tradition als Kali-Yuga bezeichnet wird. Es ist die letzte Phase eines größeren Zyklus, der damit sein Ende erreicht, bevor ein neuer Zyklus beginnen kann. Dieses „Dunkle Zeitalter“ ist von Entwicklungen charakterisiert, die Guénon in der vorliegenden Studie Die Herrschaft der Quantität und die Zeichen der Zeit untersucht. Die Auswirkungen dieser Entwicklungen beziehen sich auf alle Aspekte des Menschseins, also sein körperliches, psychisches und geistiges Dasein, aber auch auf die ihn umgebende Umwelt und Gesellschaft. Es fällt uns schwer, diese Auswirkungen bewusst wahrzunehmen, da sie seit unserer Kindheit ein untrennbarer Bestandteil unseres Lebens sind. Um sie zu durchschauen und ihnen entfliehen zu können, ist das notwendig, was in unserer heutigen Welt kaum noch zugänglich ist: wahres Wissen und echte Erkenntnis.

So ist es einfacher, „im Strom mitzuschwimmen“ und die vordergründigen Annehmlichkeiten einer Welt zu genießen, deren Hauptaugenmerk auf materiellen Dingen liegt. Die wenigen störenden Einflüsse, wie beispielsweise religiös-moralische Vorschriften einer im modernen Westen nur noch wenig präsenten christlichen Kirche, lassen sich einfach beiseite drängen. Und dennoch spüren immer mehr Menschen, dass dieses rein auf die Befriedigung materieller Bedürfnisse ausgerichtete Leben nicht das ist, was „richtig“ ist. Diesem Leben fehlt der „Sinn“, der in den traditionellen Lehren in einer das Menschliche und damit den bedingten Bereich übersteigenden, rein geistigen Kraft gefunden wird. Doch da diese Lehren im modernen Westen durch die zunehmende Materialisierung immer weiter zurückgedrängt und abgeleugnet werden, beginnt eine Suche nach einer Spiritualität, die diese Lücke füllen kann. Das Christentum ist in der heutigen Welt dafür nicht mehr geeignet, da seine gesellschaftliche Erscheinung, die insbesondere die der katholischen Kirche ist, schon zu sehr durch äußere Einflüsse in Misskredit gebracht wurde. Und auch im Inneren konnte die Kirche selbst den eigenen Niedergang nicht in ausreichendem Maße verhindern. So entsteht der Bedarf nach einer neuen „Esoterik“, die von selbsternannten „Wissenden“ aus falsch verstandenen Bruchstücken traditioneller Lehren zusammengewürfelt und mit viel frei erfundenen Vorstellungen ergänzt wird. Aus diesen leicht zugänglichen und völlig oberflächlichen Pseudolehren kann sich jeder „Suchende“ das herauspicken, was ihm persönlich am meisten zusagt und was für ihn am einfachsten umsetzbar ist.

Auch wenn diese Darstellung vereinfachend und überspitzt ist, so bildet sie doch das, was Guénon in seiner Studie Die Herrschaft der Quantität und die Zeichen der Zeit im Detail untersucht: Die erste Stufe dieser Entwicklung entspricht der Phase der „Verfestigung“, in der sich alles zunehmend auf das rein Materielle ausrichtet. Das Geistige und auch der Bereich der subtilen Kräfte werden immer weiter zurückgedrängt und als Fantasien dargestellt. So setzt sich der Materialismus in allen Bereichen immer weiter durch und man kann von einer „Herrschaft der Quantität“ sprechen, da alles abgeleugnet wird, was die Materie als solche übersteigt. Traditionelle Elemente, die wie die katholische Kirche noch überdauert haben, werden auf Schärfste bekämpft, so dass man wahrhaft von einer anti-traditionellen Haltung sprechen kann, die sich in dieser Phase des Niedergangs unter den Menschen verbreitet.

Diese Phase ist jedoch nur die Vorbereitung für die letzte Phase des „Dunklen Zeitalters“. Guénon ist zu danken, dass er dies in der vorliegenden Studie in aller Klarheit deutlich macht. Die sich anschließende Phase der „Auflösung“ wird von den meisten Menschen fälschlicherweise bereits als der Beginn eines „neuen Zeitalters“ angesehen (siehe die New Age Bewegung und die mit ihr verbundene Pseudo-Esoterik). Sie richtet sich an all jene, die dem rein materiellen Denken entfliehen möchten und bietet nun wieder etwas, das über dem materiellen Bereich liegt. Doch dabei wird auf Kräfte zurückgegriffen, die ausschließlich dem subtilen und damit dem psychischen Bereich entspringen. Der geistige Bereich bleibt unzugänglich, weil durch die zuvor stattgefundene „Verfestigung“ die „Türen dorthin verschlossen“ wurden und das Wissen nicht mehr vorhanden ist, sie wieder öffnen zu können. Fatal ist, dass die Kräfte, die in dieser Phase aus dem subtilen Bereich eindringen, von einer niederen Natur sind, da sie nicht mehr von den höheren geistigen Kräften aufgehalten werden und nun ihrer Verwirklichung entgegenstreben. Durch die Ablehnung und Bekämpfung alles Geistigen fehlen den Menschen, die in dieser Phase leben, die Mittel und Kenntnisse, diesen „schlechten“ Neigungen entgegentreten zu können, wobei sie dies in den meisten Fällen gar nicht tun würden, da sie deren „teuflischen“ Charakter nicht mehr erkennen.

Mit anderen Worten gesagt führt diese Phase zu einer „Auflösung“, in der Chaos und Verwirrung entstehen. Sie ebnet gleichzeitig einer falschen Geistigkeit den Weg, deren Absicht es ist, sich an die Stelle des höchsten Prinzips zu setzen. Es beginnt die Zeit der „Pseudo-Initiation“, die die echte Initiation imitiert, indem sie frei erfundene Elemente oder einfach nur falsch verstandene Bruchstücke aus den Überbleibseln echter traditioneller Lehren zusammensetzt und aus ihnen eine mehr oder weniger zusammenpassende „Lehre“ bildet. Noch einen Schritt weiter geht dann die „Gegen-Initiation“, die bewusst mit Fälschungen arbeitet, um auch die letzten Reste einer verbliebenen Geistigkeit mit Kräften zu ersetzen, die aufgrund ihrer Herkunft aus dem niederen subtilen Bereich nur noch einen wahrhaft „satanischen“ Einfluss ausüben können. Es beginnt das, was in der Bibel als die „Herrschaft des Antichristen“ bezeichnet wird und das als die letzte Phase der Verdunkelung angesehen werden muss, bevor die wahre „Wiederherstellung“ stattfindet und ein neuer Zyklus beginnt.

Der große Verdienst Guénons ist es, dass er uns diese Entwicklung mit ihren beiden Phasen in aller Deutlichkeit vor Augen führt und ihre konkreten Auswirkungen darlegt. So ist eine zunehmende Hinwendung zu materiellen Dingen einerseits und ein Erblühen pseudo-esoterischer Vorstellungen andererseits zwar durchaus für all jene wahrnehmbar, die sich noch einen kritischen Blick auf die moderne Welt bewahrt haben. Doch die Einordung in die höheren Zusammenhänge, die mit dem Ablauf des menschlichen Zyklus verbunden sind und letztlich die Folgen, die sich daraus für die Menschheit ergeben, bleiben den meisten Betrachtern verborgen. Das „Gute“ kann daher nicht mehr vom „Schlechten“ unterschieden werden oder die „Spreu“ lässt sich nicht vom „Weizen“ trennen. Wie soll man unter diesen Bedingungen den Weg nicht verlassen und in die Irre gehen? Gerade in der heutigen Phase der „Auflösung“ lassen sich die täuschend echten Lehren der „Pseudo-Initiation“ und der „Gegen-Initiation“ kaum noch von wahren traditionellen Lehren unterscheiden, da das ausreichende Wissen dafür schlicht und einfach fehlt. Genau an diesem Punkt setzt Guénon dankenswerterweise an und vermittelt uns nicht nur im Rahmen dieser Studie, sondern im Prinzip in all seinen Werken dieses fehlende Wissen. In Die Herrschaft der Quantität und die Zeichen der Zeit legt er in besonderem Maße den Fokus darauf, all diese schädlichen Entwicklungen und ihre sichtbaren Spuren aufzuzeigen, so dass auch ohne tieferes traditionelles Wissen der Niedergang der Welt erkennbar wird. Metaphysische Zusammenhänge stellt Guénon dabei weitgehend zurück (wobei er dennoch in einer ungewohnten Klarheit jene behandelt, die zwischen Raum und Zeit bestehen). Sie bleiben in ihrer Tiefe seinen anderen Studien vorbehalten. Hier geht es ihm darum, die „Zeichen der Zeit“ zu beschreiben, die für all jene doch so deutlich erkennbar sind, die hinter die Fassaden und Trugbilder unseres modernen Lebens blicken können. So ist die vorliegende Studie Guénons eine ganz wesentliche Orientierung für den, der in Zeiten der „Herrschaft der Quantität“ einerseits und im Chaos und in der „Auflösung“ andererseits nach seinem Weg sucht. Wer im dunklen Zeitalter des Kali-Yuga nicht untergehen gehen will, sollte sich daher mit dieser Studie intensiv beschäftigen.

I. Steinke

München, im April 2021

Einleitung

Seit der Zeit, als wir unsere Studie Die Krise der modernen Welt geschrieben haben,1 wurde der in dieser Untersuchung dargelegte Ausblick auf die gegenwärtige Situation nur allzu schnell und nachhaltig durch den Lauf der Dinge bestätigt – und dies, obwohl die Themen jener Studie unabhängig von jeglicher Aktualität behandelt wurden. Wir hatten dabei auch nicht die Absicht, eine von vornherein vergebliche und unfruchtbare „Kritik“ zu üben, da derartige Überlegungen keinerlei Wert haben, außer dass sie eine Anwendung von Prinzipien auf gewisse, ganz spezielle Umstände darstellen. So ist auch klar, dass jene, die die ehrlichsten Beurteilungen über die Fehler und Unzulänglichkeiten der Geisteshaltung unserer Zeit gemacht haben, ihr gegenüber eine rein ablehnende Position eingenommen haben. Selbst wenn sie versucht haben, Gegenmittel vorzuschlagen, so sind diese doch unbedeutend und völlig ungeeignet dazu, der Unordnung Herr zu werden, die sich in allen Bereichen zunehmend ausbreitet. Dies liegt letztlich darin begründet, dass bei jenen Autoren die Kenntnis der wahren Prinzipien lückenhaft ist oder völlig fehlt, wie es auch bei jenen der Fall ist, die darauf beharren, im Zustand der heutigen Zeit einen „Fortschritt“ sehen zu können und sich seinen unheilvollen Folgen gedankenlos hingeben.

Es ist überdies unserer Meinung nach nicht ausreichend, Fehler anzuprangern und sie als das zu zeigen, was sie in Wirklichkeit sind, selbst wenn man eine unparteiische und rein theoretische Sichtweise einnimmt. So nützlich dies auch sein mag, es ist allemal interessanter und aufschlussreicher, diese Fehler zu erklären, also nachzuforschen, wie und warum sie entstanden sind. Schließlich hat alles, was existiert – und damit auch Fehler – notwendigerweise einen Grund für seine Existenz. Auch die Unordnung selbst muss letzten Endes ihren Platz unter den Elementen der universalen Ordnung finden. Selbst wenn die moderne Welt in sich eine Anomalie und sogar auf gewisse Art eine Ungeheuerlichkeit darstellt, lässt sich dennoch sagen, dass sie genau den Bedingungen entspricht, die zu einer bestimmten Phase dieses Zyklus gehören, wenn sie in Bezug zum gesamten historischen Zyklus gesehen wird, von dem sie ein Teil ist. Diese Phase wird in der hinduistischen Tradition als die letzte Periode des Kali-Yuga angesehen. Es sind jene Bedingungen, die als eine Folge der Entwicklung der Manifestation innerhalb des Zyklus entstehen. Sie legen dessen spezielle Kennzeichen fest, so dass es aus dieser Sichtweise klar ist, dass die heutigen Zeiten nichts anderes sein können, als sie es tatsächlich sind. Wer Unordnung als ein Element der Ordnung ansieht oder in Fehlern einen gewissen, wenn auch verzerrten Aspekt von Wahrheit findet, bewegt sich über der bedingten Ebene des Bereichs, zu dem diese Unordnung und diese Fehler gehören. Und auf ähnliche Weise ist es notwendig, sich völlig von der Geisteshaltung zu lösen, die das Kennzeichen der modernen Welt ist. Man darf sich von ihr nicht im geringsten Maß berühren zu lassen, um ihre wahre Bedeutung im Licht der zyklischen Gesetze erkennen zu können, die die Entwicklung der heutigen irdischen Menschheit bestimmen. Dies ist umso offensichtlicher, da die heute vorherrschende Geisteshaltung nach der Beschreibung der zyklischen Gesetze notwendigerweise die völlige Unkenntnis der fraglichen Gesetze umfasst. Ebenso sind auch alle anderen Wahrheiten nicht mehr länger bekannt, die einen wesentlichen Teil des traditionellen Wissens darstellen, da sie mehr oder weniger direkt von transzendenten Prinzipien abstammen. So stellen alle Anschauungen, die für die moderne Welt charakteristisch sind, bewusst oder unbewusst eine deutliche und uneingeschränkte Zurückweisung eben jenes Wissens dar.

Schon seit geraumer Zeit haben wir den Gedanken getragen, unserer Studie Die Krise der modernen Welt eine Arbeit folgen zu lassen, die sich stärker an der traditionellen Lehre orientiert, um mit größerer Genauigkeit jene Abweichungen der heutigen Zeit darlegen zu können, die wir dort bereits angesprochen haben. Die hier nun vorliegende Studie steht so eng wie möglich in Übereinstimmung mit der traditionellen Sichtweise, die dem Standpunkt der traditionellen Lehre immer innewohnend ist. Sie ist nicht nur die einzig gültige Sichtweise, sondern man kann auch sagen, dass es sich dabei um die einzig mögliche Sichtweise handelt, da keine Erklärung vorstellbar ist, die außerhalb ihrer liegt. Verschiedene Umstände haben jedoch die Verwirklichung dieses Vorhabens bislang verzögert. Aber dies ist unwichtig für jemand, der sich gewiss ist, dass alles, was geschehen muss, auch notwendigerweise zur rechten Zeit geschieht und dazu noch oft auf eine Weise, die sowohl unvorhergesehen als auch völlig unabhängig von seinem Willen ist. Die fieberhafte Eile, mit der unsere Zeitgenossen alles angehen, was sie tun, ist gegen dieses Gesetz machtlos und kann nur Unruhe und Unordnung erzeugen, also Auswirkungen, die rein negativ sind. Die Hinweise, die von den jeweiligen Umständen gegeben wurden, sind weit davon entfernt, „zufällig“ zu sein. Aber wären jene Leute „modern“, wenn sie noch dazu fähig wären, die Vorteile verstehen zu können, die durch das Erkennen dieser Hinweise entstehen? Diese Hinweise sind im Grunde der spezielle Ausdruck einer allgemeinen Ordnung, die in der menschlichen wie auch kosmischen Ordnung ihre Gültigkeit hat und in die wir uns entweder freiwillig oder gezwungenermaßen einfügen müssen.

Von den Merkmalen, die charakteristisch für die moderne Geisteshaltung sind, werden wir die Neigung, alles auf eine ausschließlich quantitative Sichtweise zurückzuführen, als unser zentrales Thema für diese Studie wählen. Diese Neigung ist höchst bezeichnend für die wissenschaftlichen Anschauungen der letzten Jahrhunderte. Sie ist aber fast genauso auffällig in anderen Bereichen und zwar insbesondere dem der gesellschaftlichen Ordnung. Daher kann man unsere Periode mit einer Einschränkung, deren Natur und Notwendigkeit wir gleich erklären werden, fast schon als in ihrem Wesen als die „Herrschaft der Quantität“ definieren. Dieses Kennzeichen haben wir vor allen anderen nicht nur deshalb ausgewählt, weil es das ist, was am offensichtlichsten und am wenigsten abstreitbar ist, sondern hauptsächlich deshalb, weil es von wahrhaft grundlegender Natur ist. Die Unterwerfung unter das Quantitative entspricht genau den Bedingungen jener Phase des Zyklus, an dem die Menschheit gerade angekommen ist. Es handelt sich dabei um die Tendenz, die bis zum untersten Punkt des „Abstiegs“ führt und die sich fortwährend vom Anfang bis zum Ende eines manvantara mit immer weiter zunehmender Geschwindigkeit vollzieht und damit über den vollständigen Verlauf der Manifestation einer Menschheit wie der unseren gültig ist. Dieser „Abstieg“ ist, wie wir bereits zuvor bei verschiedenen Gelegenheiten erklärt haben, im Grunde eine fortschreitende Bewegung, die vom Prinzip wegführt und die jeglichem Vorgang der Manifestation innewohnend ist. In unserer Welt nimmt aufgrund der speziellen Existenzbedingungen, der sie unterliegt, der unterste Punkt den Aspekt der reinen Quantität an, die jeglicher qualitativen Unterscheidung beraubt ist. Es ist selbstverständlich, dass dieser Punkt streng genommen eine Grenze darstellt, weshalb man nur von einer „Tendenz“ sprechen kann, da im tatsächlichen Verlauf des Zyklus diese Grenze niemals erreicht werden kann. Sie ist und wird auch immer außerhalb und unterhalb jeglicher Existenz liegen, die verwirklicht oder verwirklichbar ist.

Wenden wir uns nun einer Angelegenheit von besonderer Wichtigkeit zu. Um mögliche Missverständnisse zu vermeiden und um uns von vornherein einer möglichen Quelle der Täuschung zu entledigen, möchten wir darauf gleich zu Beginn eingehen. Es handelt sich um die Tatsache, dass Kraft des Gesetzes der Analogie der unterste Punkt als solcher der verdunkelte Widerschein oder das umgekehrte Bild des höchsten Punktes ist. Die sich daraus ergebende, nur dem äußeren Anschein nach paradox klingende Schlussfolgerung ist, dass die vollständige Abwesenheit jeglichen Prinzips gleichzeitig auch eine Art der „Fälschung“ des Prinzips selbst ist. In theologische Worte gefasst bringt dies der Ausdruck „Satan ist der Nachäffer von Gott“ auf den Punkt. Die richtige Einschätzung dieser Tatsache kann überaus nützlich für das Verständnis einiger der dunkelsten Rätsel der modernen Welt dienlich sein – Rätsel, die diese Welt selbst verleugnet, denn obwohl sie diese in sich trägt, kann sie sie nicht begreifen. Und diese Verleugnung ist auch eine unerlässliche Bedingung für die Bewahrung der speziellen Geisteshaltung, die die Existenz der modernen Welt erst möglich macht. Wenn unsere Zeitgenossen erkennen könnten, was sie in Wahrheit führt und wohin sie tatsächlich gehen, würde die moderne Welt als solche aufhören zu existieren. Die „Richtigstellung“ oder „Wiederherstellung“, die wir in unseren Arbeiten oft erwähnen und die durch eine solche Erkenntnis ausgelöst wird, kann zu nichts anderem führen. Da diese „Richtigstellung“ aber auf der anderen Seite das Erreichen jenes Punktes voraussetzt, an dem der zyklische „Abstieg“ vollständig ist und an dem sich also „das Rad aufhört zu drehen“ (zumindest für den Augenblick, der den Übergang von einem Zyklus zum nächsten markiert), muss man notwendigerweise berücksichtigen, dass es für die Menschen im Allgemeinen unmöglich ist, jene Dinge zu verstehen, solange dieser Punkt nicht tatsächlich erreicht ist. Nur eine kleine Anzahl wird den wahren Stand der Dinge erfassen können und ist dadurch berufen, auf die eine oder andere Weise die Keime für den zukünftigen Zyklus zu legen. Es dürfte kaum notwendig sein zu betonen, dass alles, was wir in diesem Buch und anderswo dargelegt haben, dazu gedacht ist, sich ausschließlich an diese Minderheit zu wenden, wobei wir keine Rücksicht auf das unvermeidbare Unverständnis der anderen nehmen können. Diese stellen heutzutage und auf absehbare Zukunft die unverhältnismäßig große Mehrheit dar, so dass eben genau jene „Herrschaft der Quantität“ dazu führt, dass deren Meinungen vorherrschend sind.

Wie dies auch sein mag, wir erachten es für sinnvoll, das gerade angesprochene Prinzip noch auf einen eingeschränkteren Bereich anzuwenden als den, auf den wir es bisher bezogen haben. Dies ist dazu dienlich, jegliche Verwirrung zwischen der Sichtweise der traditionellen und der der weltlichen Wissenschaften zu zerstreuen, insbesondere weil gewisse äußere Ähnlichkeiten anscheinend solche Verwirrungen fördern. Solche Ähnlichkeiten entstehen oft aufgrund umgekehrter Überlegungen. Die traditionelle Wissenschaft betrachtet im Wesentlichen die höhere der Vorstellungen, die sich von einem wissenschaftlichen Gegenstand machen lässt und spricht der geringeren nicht mehr als einen relativen Wert zu – und dies auch nur Kraft ihrer Übereinstimmung mit der höheren Vorstellung. Die weltliche Wissenschaft berücksichtigt dagegen nur die geringere Vorstellung und spricht ihr alle Wirklichkeit zu, da sie nicht dazu fähig ist, die Grenze zu überschreiten, auf die sie sich bezieht. Um davon ein Beispiel zu geben, das sich direkt auf das Thema dieser Untersuchung bezieht, möchten wir die Lehre über die Zahlen von Pythagoras anführen. Sie sind als die Prinzipien der Dinge keinesfalls nur reine Zahlenwerte, wie sie die modernen Mathematiker und Physiker verstehen. Auf ähnliche Weise lässt sich auch die anfängliche Unveränderbarkeit keinesfalls mit der Unbeweglichkeit eines Steines vergleichen oder die wahrhafte Einheit nicht auf die Einförmigkeit von Dingen beschränken, die all ihrer Qualitäten beraubt sind. Nichtsdestotrotz haben die Anhänger der rein auf die Quantität bezogenen Wissenschaft es geschafft, die Pythagoräer als ihre „Vorgänger“ zu entdecken, weil in beiden Fällen Zahlen im Spiel sind. Um nicht weiter vorzugreifen, soll an dieser Stelle nur noch gesagt werden, dass es sich hier um ein Beispiel für die Tatsache handelt, dass die weltliche Wissenschaft, auf die die moderne Welt so stolz ist, tatsächlich und in Wahrheit nur die zurückgebildeten Überreste der antiken, traditionellen Wissenschaften sind. Auf gleiche Weise ist auch die Quantität, auf die die moderne Welt alles zu reduzieren versucht, aus ihrer speziellen Sichtweise heraus gesehen nichts anderes als das „Überbleibsel“ einer Existenz, die von all dem entleert ist, was ehemals ihr Wesen gebildet hat. Daher beweisen diese vorgeblichen Wissenschaften durch das Weglassen oder sogar absichtliche Entfernen dessen, was wahrhaft wesentlich ist, dass sie ungeeignet sind, die wahre Erklärung für irgendetwas liefern zu können.

Wie auch die traditionelle Wissenschaft der Zahlen etwas völlig anderes ist als die normale Arithmetik der Moderne einschließlich all ihrer algebraischen oder sonstigen Erweiterungen, so gibt es auch eine „heilige Geometrie“, die sich nicht weniger tiefgreifend von der „akademischen“ Wissenschaft unterscheidet, die heutzutage mit dem gleichen Namen bezeichnet wird. Es gibt für uns jedoch keinen Grund, länger bei dieser Tatsache zu verweilen, da jene, die unsere früheren Arbeiten gelesen haben,2 sich viele Bemerkungen hinsichtlich dieser tiefergehenden Geometrie ins Gedächtnis rufen können. Aus den dort ausgeführten Hinweisen lässt sich erkennen, wie weit sich eine traditionelle Geometrie zur Darstellung von Wirklichkeiten einer höheren Ordnung eignet, zumindest soweit wie diese Wirklichkeiten überhaupt in irgendeiner Form dargestellt werden können, die den Sinnen zugänglich ist. Und sind nicht auch die geometrischen Formen grundsätzlich und notwendigerweise gerade die Grundlage aller darstellenden oder „anschaulichen“ Symbolik, von den alphabetischen oder numerischen Zeichen der Sprachen bis zu den komplexesten und fremdartig erscheinenden initiatischen yantras? Es lässt sich einfach nachvollziehen, dass diese Art der Symbolik zu einer unendlichen Vielfalt an Anwendungen führt. Und gleichermaßen sollte man sich verdeutlichen, dass eine solche Geometrie, die sehr weit davon entfernt ist, sich nur auf die reine Quantität zu beziehen, ganz im Gegensatz dazu in ihrem Wesen qualitativ ist. Das Gleiche kann über die wahre Wissenschaft der Zahlen gesagt werden, da die anfänglichen Zahlen, auf die man sich nur in Analogie als arithmetische Zahlen beziehen darf, relativ zu unserer Welt an dem Ende (oder Anfang) platziert werden müssen, zu dem die Zahlen der allgemeinen Arithmetik genau entgegengesetzt stehen. Die arithmetischen Zahlen sind die Zahlen, die den modernen Menschen bekannt sind und auf die sie all ihre Aufmerksamkeit richten. Auf diese Weise verwechseln sie den Schatten mit der Wirklichkeit, wie es auch die Gefangenen in Platons Höhle tun.

Die vorliegende Untersuchung ist dazu gedacht, eine weitergehende und vollständige Darstellung dessen zu sein, was allgemein gesagt die wahre Natur der traditionellen Wissenschaften ist. So wird auch die Kluft deutlich werden, die diese von den weltlichen Wissenschaften trennt, die nur eine Art von Karikatur oder Parodie davon darstellen. Dies macht es wiederum möglich, sich des Ausmaßes an Verfall bewusst zu werden, den die menschliche Geisteshaltung in moderner Zeit erfahren hat, als sie von der traditionellen Wissenschaft zur heute praktizierten übergegangen ist. Wenn man die Gegenstände, die von jeder dieser beiden Wissenschaften betrachtet werden, dort platziert, wo sie eigentlich hingehören, wird auch deutlich werden, wie dieser Verfall der abwärts gerichteten Bewegung des Zyklus folgt, dem die Menschheit insgesamt unterliegt. Wir müssen dazu aber anfügen, dass dies Fragen sind, die niemand vollständig behandeln kann, da sie von ihrer Natur her unerschöpflich sind. Dennoch werden wir den Versuch unternehmen, ausreichend viele Erklärungen zu geben, so dass jeder in der Lage ist, die notwendigen Schlussfolgerungen hinsichtlich dessen zu ziehen, was die Festlegung des „kosmischen Augenblicks“ betrifft, der die heutige Periode darstellt. Ein Teil der Themen, mit denen wir uns hier beschäftigen werden, wird manchen Leuten nicht verständlich sein. Dies liegt in erster Linie daran, dass die Sichtweise, die wir dabei einnehmen, nicht zu ihren geistigen Gewohnheiten passt und all dem fremd ist, was ihnen während ihrer Ausbildung beigebracht wurde und durch ihre gesamte Umgebung, in der sie sich bewegen, vorgelebt wird. Dies lässt sich jedoch nicht ändern, da es Dinge gibt, für die eine symbolische Art des Ausdrucks die einzig mögliche ist und die daher nie von jenen verstanden werden kann, für die die Symbolik keine Aussagekraft hat. Dabei muss man beachten, dass die symbolische Ausdrucksweise ein unerlässliches Mittel für alle Lehren initiatischen Charakters ist. Wirft man einen Blick auf die Überreste der Initiation, die noch im Westen existieren, kann man schnell erkennen, was manche Leute aufgrund ihrer fehlenden geistigen Eignungen aus den ihnen für ihre geistige Besinnung angebotenen Symbolen gemacht haben (und dabei beziehen wir uns noch nicht einmal auf die weltliche Daseinsweise und ihr offensichtliches, auf gewisse Weise ihr innewohnendes Unverständnis). Man kann sich jedoch sicher sein, dass jene Leute – mit welchen Titeln sie auch immer ausgestattet sind und welche initiatischen Grade sie auch theoretisch erreicht haben mögen – es nie schaffen werden, die wahre Bedeutung auch nur des kleinsten Fragments dessen zu verstehen, was als geheimnisvolle Geometrie der „Großen Architekten des Orients und Okzidents“ bezeichnet werden kann.

Die spezifische Geisteshaltung, die wir als „modern“ bezeichnen, hat sich in den letzten Jahren weit verbreitet und alles fest im Griff, dessen sie habhaft werden konnte. So beherrscht sie äußerlich betrachtet zwar fast die ganze Welt, ist in ihrem Kern jedoch rein westlich: Im Westen wurde sie geboren und dort war auch für lange Zeit ihr einziges Verbreitungsgebiet zu finden. Ihr Einfluss im Osten wird dagegen nie zu mehr als einer „Verwestlichung“ führen können. Wie weit sich dieser Einfluss im Verlaufe der Zeit auch ausbreiten mag, seine Ausdehnung kann doch nie dazu führen, das zu widerlegen, was wir in unseren früheren Studien als den Unterschied zwischen dem Geist des Ostens und dem des Westens dargelegt haben. Und dieser Unterschied ist nichts anderes als der zwischen dem traditionellen und dem modernen Geist. Es ist offensichtlich, dass ein Mensch unabhängig von der Rasse und seinem Herkunftsland bis zu dem Grad, dem er sich dem westlichen Geist hingibt, er geistig aufhört, ein Mensch der östlichen Welt zu sein und damit die Geisteshaltung und Sichtweise verliert, die hier allein von Interesse ist. Es handelt sich dabei auch nicht lediglich um eine Frage der geographischen Zugehörigkeit, solange man Geographie in keinem anderen Sinne versteht als in ihrer modernen Bedeutung und dabei die symbolische Geographie völlig außer Acht lässt. In dieser Hinsicht gibt es sogar eine sehr deutliche Übereinstimmung zwischen der Vorherrschaft des Westens und dem Ende des Zyklus: Der Westen ist der Ort, an dem die Sonne untergeht, also wo sie das Ende ihrer täglichen Reise erreicht und wo, der chinesischen Symbolik zu Folge, „die reife Frucht zu Fuße des Baumes fällt“. Die „Modernisierung“ einer mehr oder weniger großen Anzahl von Menschen aus dem Osten ist nur das neueste der Mittel, die der Westen dafür eingesetzt hat, seine Vorherrschaft zu festigen. Aber es ist eines, das zu den ärgerlichsten Folgen führt. In unseren anderen Arbeiten haben wir ausreichend bewiesen, dass diese Mittel rein auf einer materiellen Stärke beruhen, was letztlich darauf hinausläuft, dass die westliche Vorherrschaft in sich nicht mehr als ein Ausdruck der „Herrschaft der Quantität“ ist.

So kommt man, von welcher Seite man auch auf die Dinge blicken mag, immer wieder auf die gleichen Überlegungen zurück und kann sie in allen möglichen Anwendungen bestätigt finden. Dies ist insofern nicht überraschend, da die Wahrheit notwendigerweise in sich übereinstimmend ist, was aber nicht bedeutet, dass die Wahrheit „systematisch“ ist, wie die rein weltlichen Philosophen und Gelehrten allzu schnell bereit sind, es sich vorzustellen. Sie sind in ihren eng begrenzten Vorstellungen gefangen, auf die allein das Wort „System“ korrekterweise angewendet werden kann und die nur die Unzulänglichkeit des individuellen Geistes beweisen, wenn er auf seine eigenen Mittel zurückgeworfen wird. Dies trifft auch selbst auf jene zu, die üblicherweise als „Genies“ bezeichnet werden, da selbst die am weitesten ausgeführten Gedankengänge dieser Leute einer wahren Erkenntnis nicht gleichwertig sind, selbst wenn dabei Teile einer traditionellen Wahrheit beinhaltet sind. Wir haben bereits an anderer Stelle genügend darüber gesagt, da wir es bereits früher als notwendig erachtet haben, die Fehler des „Individualismus“ offen zu legen, zumal dieser eines der charakteristischsten Merkmale des modernen Geistes ist. In diesem Zusammenhang soll noch angefügt werden, dass die falsch verstandene Einheit des Individuums, das als in sich eine Einheit bildend betrachtet wird, als der falsch verstandenen Einheit eines so genannten „Atoms“ auf der kosmischen Ordnung entsprechen soll. Sowohl das eine als auch das andere sind lediglich Elemente, die aus einer rein quantitativen Sichtweise als „einfach“ angesehen werden und denen man eine Art unendliche Wiederholung zuspricht. Dies ist jedoch schlicht weg unmöglich, da dies mit der Natur der Dinge nicht vereinbar ist. Eine solche unendliche Wiederholung ist nichts anderes als die reine Quantität, nach der die heutige Welt in all ihrer Macht strebt, ohne dass es ihr jedoch möglich ist, sich darin völlig zu verlieren. Die reine Quantität ist unterhalb der Ebene der manifestierten Existenz angesiedelt und stellt das genaue Gegenteil zur anfänglichen Einheit dar. Die abwärts führende zyklische Bewegung muss daher zwischen diesen beiden Polen stattfinden, ausgehend von der Einheit oder besser gesagt dem Punkt, der der Einheit im Bereich der Manifestation relativ zum betrachteten Existenzzustand gesehen am nächsten ist. Diese Bewegung führt schrittweise zur Quantität, also einer Vielzahl, die rein analytisch und ohne Bezug zu einem Prinzip zu verstehen ist, da es selbstverständlich ist, dass in der anfänglichen Ordnung jegliche Vielfalt in der Einheit selbst enthalten ist. Man kann es auch so sehen, dass auf gewisse Weise die Vielfalt in den beiden gegensätzlichen Punkten gleichzeitig existiert und zwar so, dass die Einheit auf der einen Seite und viele „Einheiten“ auf der anderen existieren, worauf wir bereits hingewiesen haben. Aber auch hier lässt sich die Bedeutung der umgekehrten Analogie anwenden, so dass man sagen kann, dass die anfängliche Vielzahl in der metaphysischen Einheit enthalten ist und auf ähnliche Weise arithmetische oder mengenmäßige „Einheiten“ in der anderen, untergeordneten Quantität umfasst werden. Zeigt nicht schon die bloße Möglichkeit, von „Einheiten“ im Plural sprechen zu können deutlich genug, wie weit die Sache, von der auf diese Weise gesprochen wird, von der wahren Einheit entfernt sein muss? Die Quantität der unteren Ordnung ist bereits gemäß ihrer Definition rein mengenmäßig, so dass man von ihr sagen könnte, dass sie eine Quantität ist, der jegliche Qualität fehlt. Auf der anderen Seite ist die Quantität der höheren Ordnung – oder das, was man analog als solches bezeichnen kann – wirklich eine qualitative Vielzahl, also die Gesamtheit der Qualitäten oder Merkmale, die das Wesen der Daseinsformen und Dinge bilden. So lässt sich sagen, dass der Abstieg, auf den wir uns beziehen, immer von der reinen Qualität aus zur reinen Quantität geht, wobei sowohl die eine als auch die andere Grenze außerhalb der Manifestation liegt – die eine darüber, die andere darunter. In Bezug auf die speziellen Bedingungen, die für unsere Welt oder unseren Existenzzustand gelten, sind diese beiden Grenzen im Ausdruck der beiden universalen Prinzipien enthalten, die als „Wesen“ und als „Stofflichkeit“ bezeichnet werden. Sie sind die beiden Pole, zwischen denen die gesamte Manifestation erzeugt wird. Diesen Punkt müssen wir noch detaillierter erläutern, bevor wir weitergehen können, da er ein unerlässlicher Schlüssel für das bessere Verständnis dessen ist, was wir in dieser Studie noch alles darlegen wollen.

1 Die Studie erschien 1927, während die vorliegende Studie 1945 veröffentlicht wurde (Anmerkung des Herausgebers).

2 Siehe insbesondere unsere Studie DIE SYMBOLIK DES KREUZES.

1. Qualität & Quantität

Qualität und Quantität werden üblicherweise als gegensätzliche Begriffe angesehen, obwohl der tiefergehende Grund für ihre Gegensätzlichkeit oft nicht verstanden wird. Dieser Grund liegt in der „polaren“ Gegenüberstellung, auf die wir uns am Ende unserer Einleitung bezogen haben. Diese erste aller kosmischen Dualitäten ist der Ausgangspunkt, da er das Prinzip der Existenz oder auch der universalen Manifestation bildet und da ohne ihn keine Manifestation in irgendeiner Art möglich wäre. Es handelt sich dabei nach der hinduistischen Lehre um die Dualität von Purusha und Prakriti, oder – um andere Bezeichnungen zu verwenden – um die des „Wesens“ und der „Stofflichkeit“. Die beiden Begriffe müssen als universale Bezeichnungen verstanden und als die beiden Pole jeglicher Manifestation vorgestellt werden. Auf einer anderen oder noch besser gesagt auf einer gewissen Anzahl von Ebenen (da es viele Ebenen gibt, die den mehr oder weniger spezifischen Bereichen entsprechen, die sich in der universalen Manifestation vorstellen lassen) – können diese beiden Begriffe aber auch auf analoge Weise und in einem relativen Sinn dazu verwendet werden, das zu bezeichnen, was den beiden Prinzipien entspricht oder was sie am direktesten hinsichtlich einer gewissen, mehr oder weniger beschränkten Art der Manifestation darstellen. So kommt es, dass man von „Wesen“ und „Stofflichkeit“ entweder in Bezug auf eine Welt sprechen kann, also einen Existenzzustand, der durch spezielle Bedingungen festgelegt ist, oder auch in Bezug auf ein Sein, das als eine eigene Daseinsform angesehen wird und schließlich auch noch in Bezug auf die Zustände eben jenes Seins, also seiner Manifestation in jedem seiner Existenzgrade. Im zuletzt genannten Fall gibt es natürlich eine Übereinstimmung zwischen dem, was das Wesen und die Stofflichkeit im Mikrokosmos darstellen und dem, was sie aus makrokosmischer Sichtweise in der Welt sind, in der die Manifestation des Seins beheimatet ist. Sie sind mit anderen Worten gesagt dann nur die Spezifikation der relativen Prinzipien, die die Festlegung des universalen Wesens und der universalen Stofflichkeit hinsichtlich der Bedingungen der fraglichen Welt festlegen.

Wenn man Wesen und Stofflichkeit in diesem relativen Sinn und insbesondere in Bezug zu den einzelnen Wesen versteht, so sind sie letztlich nichts anderes als die „Form“ und „Materie“ der scholastischen Philosophen. Es ist aber besser, diese Begriffe zu vermeiden, da sie die Vorstellungen, die sie ausdrücken sollen, nur ungenau wiedergeben, was höchstwahrscheinlich an einer in dieser Hinsicht bestehenden Unvollkommenheit der lateinischen Sprache liegt.3 Außerdem wurden sie in neuerer Zeit immer doppeldeutiger aufgrund der unterschiedlichen Bedeutungen, die ihnen in der heutigen Sprache allgemein gegeben werden. Wenn man sagt, dass jedes manifestierte Sein aus „Form“ und „Materie“ zusammengesetzt sei, so läuft dies darauf hinaus zu sagen, dass seine Existenz sowohl aus dem Wesen als auch der Stofflichkeit ausgeht. Daraus folgt wiederum, dass es in jedem Sein etwas geben muss, das sowohl dem einen als auch dem anderen dieser beiden Prinzipien entspricht und zwar auf solche Weise, dass das Sein das Ergebnis ihrer Vereinigung – oder genauer gesagt – das Ergebnis der Handlung ist, die durch das aktive Prinzip, das Wesen, auf das passive Prinzip, die Stofflichkeit, ausgeführt wird. Wenn diese Betrachtung auf den speziellen Fall des Individuums beschränkt wird, so sind die „Form“ und „Materie“, aus denen ein solches Wesen aufgebaut ist, jeweils das, was die hinduistische Tradition als nāma („Name“) und rūpa („Stoff“) bezeichnet. Berücksichtigt man die Ähnlichkeiten, die zwischen verschiedenen Fachsprachen zu finden sind und die es erlauben, gewisse Vorstellungen in eine Sprache zu übertragen, die dem eigenen Begriffsvermögen besser vertraut ist, so lässt sich noch ergänzen, dass die Bezeichnungen „Einfluss“ und „Möglichkeit“ von Aristoteles ebenfalls dem Wesen und der Stofflichkeit entsprechen. Diese Begriffe Aristoteles lassen jedenfalls eine weiter gefasste Anwendung zu als die Begriffe „Form“ und „Materie“. Wenn man allerdings sagt, dass in allen Wesen eine Mischung aus „Einfluss“ und „Möglichkeit“ vorherrscht, läuft dies schlussendlich auf das Gleiche hinaus, da der „Einfluss“ das ist, mit dem es am Wesen Teil hat, und die „Möglichkeit“ das darstellt, mit dem es in der Stofflichkeit verwurzelt ist. Der reine „Einfluss“ und die reine „Möglichkeit“ können jedoch in der Manifestation nicht existieren, da sie die Gegenstücke des universalen Wesens und der universalen Möglichkeit sind.

Sobald dies klar verstanden wird, ist es möglich, vom Wesen und der Stofflichkeit unserer Welt zu sprechen, also der Welt, die der Bereich des menschlichen Seins in seiner Individualität ist. Es lässt sich dann sagen, dass in Übereinstimmung mit den speziellen Bedingungen, die diese Welt bestimmen, die beiden Prinzipien unter den Aspekten der Qualität und der Quantität auftreten. Dies mag auf den ersten Blick für die Qualität einleuchtend sein, da das Wesen die anfängliche Zusammenfassung all der Merkmale ist, die einem Sein angehören und aus ihm das machen, was es ist. Merkmale und Qualitäten könne synonym zueinander zu gesehen werden. Man kann auch beobachten, dass Qualitäten, wenn man sie als „Inhalt“ des Wesens betrachtet, sofern so ein Ausdruck zulässig ist, nicht ausschließlich auf unsere Welt beschränkt sind, sondern auch eine Übertragung erlauben, die ihre Bedeutung universal macht. Eigentlich ist dies nicht weiter bemerkenswert, da das Wesen das übergeordnete Prinzip darstellt. Aber nach einer derartigen Übertragung ist die Qualität nicht mehr das Gegenstück zur Quantität, da diese im Gegensatz zur Qualität strikt mit den spezifischen Bedingungen unserer Welt verbunden ist. Überdies wird auch aus theologischer Sichtweise die Qualität in eine Beziehung zu Gott selbst gesetzt, wenn von seinen Merkmalen gesprochen wird, wogegen es nahezu unmöglich ist, ihm irgendeine Art quantitativer Festlegung zuzuordnen.4 Zu diesem Punkt mag man vielleicht einwenden, dass Aristoteles die Qualität wie auch die Quantität im Rahmen seiner „Kategorien“ aufführt, die lediglich spezielle Daseinsweisen sind, sich aber nicht über das gesamte Wesen erstrecken. Er tut dies, ohne die Übertragung zu berücksichtigen, die wir zuvor erwähnt haben. Und tatsächlich braucht er sie auch gar nicht zu beachten, da sich die Aufzählung seiner „Kategorien“ nur auf unsere Welt und ihre Bedingungen bezieht. Die Qualität kann also bei ihm nur auf eine Art und Weise verstanden werden, die uns in unserem Zustand als Individuum unmittelbar zugänglich ist, was nichts anderes heißt, als dass die Qualität als das Gegenstück zur Quantität erscheint.

Auf der anderen Seite ist es von Interesse, dass die „Form“ der Scholastik das ist, was Aristoteles είδος, eidos, nennt und dass dieser Begriff auch als „Spezies“ verwendet wird, was streng genommen die Natur oder das Wesen bezeichnet, die einer unbestimmten Anzahl an Individuen gemeinsam ist. Eine solche Natur ist von einer rein qualitativen Ordnung, da sie wahrhaft „unzählbar“, unteilbar und überdies vollständig in jedem Individuum enthalten ist, das zu dieser Spezies gehört. Sie ist somit nicht von der Anzahl der Individuen abhängig, die ihr angehören, was sie von der Quantität löst, auf die sie nicht übertragbar ist. Darüber hinaus ist είδος etymologisch gesehen die „Idee“ und zwar nicht nur im modernen, psychologischen Sinne verstanden, sondern auch in einem ontologischen Sinne, der dem von Platon näher ist, als allgemein vermutet wird. Was auch immer die wahren Unterschiede in dieser Hinsicht zwischen den Vorstellungen von Platon und Aristoteles waren, sie wurden wie viele andere von ihren Anhängern und Kommentatoren höchst übertrieben dargestellt. So beziehen sich die Vorstellungen bei Platon ebenfalls auf das Wesen. Platon drückt eher den transzendenten Aspekt und Aristoteles eher den nach innen gekehrten Aspekt aus, was aber nicht heißt, dass diese beiden Aspekte nicht miteinander vereinbar wären. Es handelt sich dabei nur um eine unterschiedliche Betrachtungsebene, was auch immer die Schlussfolgerungen des modernen Geistes sein mögen, der sich von seinen Systemen nicht lösen kann. In beiden Fällen werden „Archetypen“ oder die Prinzipien des Wesens betrachtet, die manifestierten Dingen zu eigen sind. Diese Prinzipien stellen das dar, was man die qualitative Seite der Manifestation nennen könnte. Überdies sind die platonischen Ideen durch eine direkte Abstammung mit den Zahlen der Pythagoräer verbunden und stellen diese nur unter einem anderen Namen vor. Dies zeigt auch deutlich, dass die Zahlen der Pythagoräer zwar auf analoge Weise als Zahlen betrachtet werden, sie aber keinesfalls Zahlen im mengenmäßigen Sinne des Wortes sind. Sie müssen ganz im Gegenteil als rein qualitativ betrachtet werden und entsprechen auf umgekehrte Weise auf der Seite des Wesens dem, was die mengenmäßigen Zahlen auf der Seite der Stofflichkeit darstellen.5

Wenn der Heilige Thomas von Aquin andererseits sagt numerus stat ex parte materiae, so spricht er von den Zahlen im mengenmäßigen Sinn und bestätigt damit ganz entschieden, dass die Quantität eine direkte Verbindung mit der stofflichen Seite der Manifestation aufweist. Wir verwenden hier das Wort „stofflich“, weil materia im scholastischen Sinne des Wortes keineswegs das gleiche wie „Materie“ im Sinne der modernen Physiker ist, sondern in diesem Zusammenhang die „Stofflichkeit“ darstellt. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Wort in seiner relativen Bedeutung verstanden wird, wenn es in Bezug zu forma gesetzt und auf ein spezielles Sein bezogen wird, oder ob es, wenn es um die materia prima geht, als das passive Prinzip der universalen Manifestation verstanden wird, also als reine Möglichkeit und damit als das Gegenstück zu Prakriti aus der hinduistischen Lehre. Sobald es um „Materie“ geht – in welchem Sinne das Wort auch verwendet wird –, wird der ganze Sachverhalt verdunkelt und unklar, was nicht ohne Grund so ist.6 Es war zwar möglich, eine angemessene Darstellung der Beziehung der Qualität zum Wesen zu geben, ohne eine lange Argumentationskette aufbauen zu müssen. Um jedoch ein klareres Bild von den unterschiedlichen Aspekten zu bekommen, die die westliche Vorstellung von „Materie“ hat – und zwar auch schon vor dem Beginn der Abweichung in der Moderne, die dem Wort eine so große Bedeutung gibt –, ist es notwendig, tiefer die Beziehung zwischen Quantität und Stofflichkeit zu untersuchen. Dies ist auch deshalb so notwendig, weil diese Frage auf gewisse Weise die Wurzel für das Hauptthema unserer Untersuchung bildet.

3 Diese Begriffe übersetzen auf eine nicht befriedigende Weise die griechischen Begriffe είδος (eidos) und ύλη (hyle), die mit der ursprünglichen Bedeutung von Aristoteles verwendet wurden. Wir werden uns noch später auf diese Begriffe beziehen.

4 So ist es in der hinduistischen Lehre möglich, in Bezug auf Brahmā von Qualitäten und Merkmalen zu sprechen, aber nicht von quantitativen Dingen. In Bezug auf den höchsten Brahma ist beides jedoch nicht zulässig, da es eine Begrenzung darstellen würde.

5 Es sollte beachtet werden, dass der Name eines Seins, soweit dieser ein Ausdruck von dessen Wesen ist, genau genommen als eine Zahl in ihrem qualitativen Sinne verstanden wird. Dies führt zu einer engen Verbindung zwischen der Anschauung der Zahlen der Pythagoräer – und folglich auch der platonischen Ideen – und der Verwendung des Sanskrit Wortes nāma, um die Seite des Wesens eines Seins zu bezeichnen.

6 Es sei noch in Verbindung mit dem Wesen und der Stofflichkeit darauf hingewiesen, dass die Scholastiker oftmals das griechische Wort oύσία als substantia übersetzt haben, was im Gegenteil aber eigentlich wörtlich „Wesen“ bedeutet. Dies trägt einen nicht unerheblichen Teil zu den vorliegenden sprachlichen Verwirrungen bei. Daher ist ein Ausdruck wie beispielsweise „stoffliche Form“ sehr schlecht dazu geeignet, die Idee dessen wiederzugeben, was eigentlich das Wesen ist und nicht den stofflichen Teil darstellt.

2. Materia, Signata, Quantitate

In der Lehre der Scholastik wurde dem, was Aristoteles ϋλη, hyle, genannt hatte, die Bezeichnung materia gegeben. Aber diese materia darf, wie wir bereits gesagt haben, keinesfalls mit der „Materie“ im Sinne der Moderne verwechselt werden, da die Vorstellung von Materie, so komplex und in gewisser Weise auch widersprüchlich sie ist, den Menschen aus dem antiken Westen so fremd war, wie sie es heute noch für die Menschen aus dem Osten ist. Selbst wenn in einigen speziellen Fällen materia mit Materie gleichgesetzt werden kann – oder um genauer zu sein, wenn man die Vorstellung von Materie zu materia passend macht – so umfasst materia gleichzeitig noch viele andere Dinge, die man genauestens von Materie unterscheiden muss. Um diese durch einen umfassenden Begriff wie ϋλη oder materia bezeichnen zu können, haben wir in den westlichen Sprachen keine bessere Bezeichnung als „Stofflichkeit“ zur Verfügung. So ist jedenfalls ϋλη als ein universales Prinzip die reine Möglichkeit, in der nichts unterschieden oder „verwirklicht“ ist. Es bildet die passive Grundlage aller Manifestation. Daher handelt es sich in diesem Sinne verstanden um Prakriti oder um die universale Stofflichkeit. Alles, was über Prakriti an anderer Stelle gesagt wurde, lässt sich in diesem Sinne auch über ϋλη sagen.7 Wenn man aber die Stofflichkeit in einem relativen Sinn als das versteht, was auf analoge Weise das stoffliche Prinzip darstellt und seine Rolle auf eine mehr oder weniger eng begrenzte Existenzordnung reduziert, so wird der Begriff ϋλη mit einer zweitrangigen Bedeutung ausgestattet. Dies gilt insbesondere dann, wenn dieser Begriff in einer Wechselbeziehung zu είδος, eidos, steht, um die beiden Seiten einer bestimmten Existenz zu bezeichnen, nämlich die des Wesens und die der Stofflichkeit.

Die Scholastiker, die Aristoteles diesbezüglich gefolgt sind, unterschieden diese beiden Bedeutungen, indem sie von materia prima und materia secundasprachen. So lässt sich sagen, dass materia prima die universale Stofflichkeit ist und materia secunda die Stofflichkeit in einem relativen Sinne. Da aber die beiden Begriffe, sobald man sich dem Relativen zuwendet, verschiedene Anwendungen auf unterschiedlichen Ebenen gefunden haben, wird aus dem, was materia auf der einen Ebene ist, forma auf der anderen und umgekehrt, entsprechend der mehr oder weniger speziellen Hierarchie der Grade der manifestierten Existenz, die dabei betrachtet wird. In keinem dieser Fälle ist materia secunda allerdings die reine Möglichkeit, obwohl sie andererseits die potentiellen Aspekte einer Welt oder eines Seins umfassen kann. Die universale Stofflichkeit, also die materia prima, allein ist die reine Möglichkeit. Sie ist nicht nur unterhalb unserer Welt angesiedelt, sondern auch unter der Gesamtheit aller Welten und aller Zustände, die die universale Manifestation umfasst.8 Man kann noch anfügen, dass die universale Stofflichkeit als reine Möglichkeit völlig ununterscheidbar und homogen ist und aus diesem Grund das einzige Prinzip ist, über das korrekterweise gesagt werden kann, dass es sich nicht „begreifen“ lässt. Dies ist nicht nur darin begründet, weil wir nicht dazu fähig sind, es zu erkennen, sondern weil es tatsächlich auch nichts in ihm gibt, das „erkannt“ werden könnte. Alle relativen Stofflichkeiten sind Teil dieser „Unbegreifbarkeit“, insoweit sie an der Möglichkeit der universalen Stofflichkeit teilhaben. Daher darf auch die Erklärung der Dinge nicht im stofflichen Aspekt gesucht werden, sondern ganz im Gegenteil im Aspekt des Wesens. Wenn man dies in die Begriffe der räumlichen Symbolik überträgt, so ist dies gleichwertig zu der Aussage, dass jede Erklärung von oben nach unten erfolgen muss und nicht von unten nach oben. Dieser Grundsatz zeigt den Grund dafür auf, warum der modernen Wissenschaft tatsächlich jeglicher wahrhaft erklärende Charakter fehlt.

Bevor wir hier fortfahren, sei noch erwähnt, dass die Materie der Physiker nichts anderes sein kann als eine materia secunda, da die Physiker sie als mit Eigenschaften ausgestattet ansehen. Über die Natur dieser Eigenschaften sind sie sich nicht einig, so dass ihre „Materie“ weder die reine Möglichkeit oder die „Ununterscheidbarkeit“ noch irgendetwas anderes ist. Da sich ihre Auffassungen rein auf die sinnlich wahrnehmbare Welt beziehen und nicht darüber hinausgehen, wüssten sie auch gar nicht, was sie mit der Vorstellung einer materia prima anfangen sollten. Nichtsdestotrotz sprechen sie aufgrund einer seltsamen Verwirrung die ganze Zeit von einer „trägen Materie“. Sie bemerken dabei nicht, dass diese, wenn sie tatsächlich in dem von ihnen verstandenen Sinne „träge“ wäre, keine Eigenschaften haben würde und in keiner Weise manifestiert wäre, so dass sie auch nicht ein Teil dessen sein könnte, was von ihren Sinnen erfasst wird. Trotzdem bestehen sie darauf, dass alles, was in Reichweite ihrer Sinne kommt, Materie sein muss. Trägheit kann dagegen nur der materia prima zugeschrieben werden, da sie synonym zu Passivität und reiner Möglichkeit ist. Von den „Eigenschaften der Materie“ zu sprechen, während man gleichzeitig behauptet, Materie sei „träge“, ist ein unlösbarer Widerspruch. Überhaupt beschäftigt sich die moderne Wissenschaft, die für sich behauptet, alle „Geheimnisse“ aufdecken zu können, mit einer gewissen Ironie in ihren vergeblichen Erklärungsversuchen gerade mit den Dingen, die im wahrsten Sinne des Wortes am „geheimnisvollsten“ sind, also am dunkelsten und am wenigsten verständlich.

Nachdem wir nun erklärt haben, dass die angenommene „Trägheit der Materie“ ein Widerspruch ist, stellt sich die Frage, ob Materie, die ja mit mehr oder weniger festgelegten Qualitäten ausgestattet sein muss, damit es unseren Sinnen überhaupt möglich wird, sie wahrzunehmen, das gleiche ist wie die materia secunda in unserer Welt, wenn diese im Sinne der Scholastik verstanden wird. Es werden sich jedoch sofort Zweifel über die Gültigkeit einer solchen Gleichsetzung erheben, wenn man berücksichtigt, dass die betrachtete materia secunda keinesfalls in unserer Welt selbst manifestiert sein darf – sofern sie in unserer Welt eine Rolle analog zu der spielen soll, die die materia prima oder die universale Stofflichkeit in Bezug auf die gesamte Manifestation spielt. Sie kann nur als „Grundlage“ oder „Wurzel“ für all das dienen, was in dieser Welt manifestiert ist. Daraus folgt, dass ihr selbst keine sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten innewohnen können. Diese müssen vielmehr aus den „Formen“ ausgehen, die in ihr ihren Ursprung finden. Dies läuft aber wiederum darauf hinaus zu sagen, dass Qualität notwendigerweise auf das Wesen bezogen werden muss. An dieser Stelle tritt jedoch eine weitere Verwirrung auf: Die modernen Physiker sind durch ihre Anstrengungen, Qualität auf Quantität zu reduzieren, aufgrund einer Art von „logischem Fehler“ so weit gegangen, dass sie die beiden miteinander verwechseln und nun die Qualität der von ihnen definierten „Materie“ selbst zuschreiben. Schlussendlich ordnen sie damit sämtliche Wirklichkeit der „Materie“ zu – oder zumindest all das, wozu sie fähig sind, es als Wirklichkeit zu erkennen. Und genau aus dieser Geisteshaltung entsteht der so genannte „Materialismus“.

Trotz allem kann die materia secunda unserer Welt nicht ohne jegliche Festlegung sein. Wäre sie dies, könnte man sie in ihrer vollständigen „Ununterscheidbarkeit“ nicht mehr von der materia prima trennen. Sie kann auch ebenso wenig eine Art allgemeingültige materia secunda sein, da sie in Übereinstimmung mit den speziellen Bedingungen dieser Welt festgelegt sein muss und zwar auf solche Weise, dass sie die Rolle der Stofflichkeit in Bezug auf diese Welt und auf nichts anderes übernehmen kann. Die Natur dieser speziellen Festlegung muss noch näher spezifiziert werden. Genau dies hat der Heilige Thomas von Aquin getan, als er diese spezielle materia secunda mit materia signata quantitate bezeichnet hat. Qualität ist ihr daher nicht innewohnend und ist auch nicht das, was sie im eigentlichen Sinne ausmacht, selbst wenn die Qualität hier nur in Bezug zur sinnlichen Ordnung betrachtet wird. Ihr Platz wird von der Quantität eingenommen, die dadurch tatsächlich ex parte materiæ ist. Die Quantität ist also eine der charakteristischsten Existenzbedingungen der sinnlich wahrnehmbaren oder körperlichen Welt. Sie ist sogar die Bedingung, von der man sagen kann, dass sie am ausschließlichsten von allen dieser Welt angehört. Aus diesem Grund kann die Definition der materia secunda, so wie wir sie hier vorstellen, auf nichts anderes als diese Welt bezogen sein. Sie muss sich dabei aber auf die Welt als Ganzes beziehen, da alles, was in dieser Welt existiert, notwendigerweise dem Aspekt der Quantität unterliegt. Die Definition, die wir gemacht haben, ist daher völlig ausreichend und es ist nicht notwendig, der materia secunda Merkmale zuzuschreiben, die ihr in keiner Weise angehören – wie dies bei der modernen Materie geschehen ist. Über die Quantität lässt sich also sagen, dass sie die stoffliche Seite unserer Welt bildet und damit eine grundlegende Bedingung für diese Welt ist. Man darf hierbei aber nicht zu weit gehen und ihr die Bedeutung einer höheren Ordnung geben. Insbesondere sollte man auch nicht versuchen, aus ihr die Erklärung für unsere Welt abzuleiten. Das Fundament des Gebäudes darf nicht mit seinem Überbau verwechselt werden: Solange es nur ein Fundament gibt, fehlt noch das Gebäude, obwohl das Fundament für das Gebäude natürlich unerlässlich ist. Auf die gleiche Weise lässt sich sagen, dass noch keine sinnlich wahrnehmbare Manifestation existiert, solange es nur Quantität gibt, obwohl diese ihre Wurzel in der Quantität hat. Wenn Quantität für sich betrachtet wird, ist sie nur eine notwendige „Voraussetzung“, erklärt aber als solche überhaupt nichts. Sie ist tatsächlich eine Grundlage, aber auch nicht mehr. Und man darf nicht vergessen, dass die Grundlage schon aufgrund ihrer Definition das ist, was sich auf der untersten Ebene befindet. So ist die Reduzierung der Qualität auf die Quantität in sich nichts anderes als eine „Herabsetzung des Höheren zum Niederen“. Diese Denkweise wird auch völlig zurecht dem Materialismus zugesprochen. Wenn man behauptet, das „Größere“ vom „Geringeren“ ableiten zu können, ist dies tatsächlich eine jener Verwirrungen, die für die moderne Welt am charakteristischsten ist.

Aber es stellt sich noch eine weitere Frage. Wir treffen die Quantität auf zwei unterschiedliche Arten an und zwar einerseits als nicht zusammenhängende Quantität, die nichts anderes als reine Anzahl ist und andererseits als zusammenhängende Quantität, die in erster Linie als räumliche und zeitliche Größe dargestellt wird.9 Welche dieser beiden Arten kann nun korrekterweise als reine Quantität bezeichnet werden? Diese Frage ist durchaus von Wichtigkeit, da Descartes, dessen Platz am Anfangspunkt von vielen modernen philosophischen und wissenschaftlichen Anschauungen zu finden ist, versucht hat, die Materie mittels der Ausdehnung zu definieren. Überdies wollte er aus dieser Definition das Prinzip für die mengenbezogene Physik machen, die damals vielleicht noch nicht reiner Materialismus war, aber doch zumindest „mechanistische“ Züge trug. Man mag so zu der Schlussfolgerung neigen, dass die Ausdehnung, die der Materie direkt innewohnt, auch die grundsätzliche Ausdrucksform der Quantität ist. Auf der anderen Seite hat der Heilige Thomas von Aquin mit seiner Aussage numerus stat ex parte materiae wohl eher daran gedacht, dass die Zahl die grundlegende Basis für diese Welt sei, und dass damit die Zahl das darstellt, was als reine Quantität angesehen werden müsse. Den Zahlen einen grundlegenden Charakter zuzuschreiben, steht auch in völliger Übereinstimmung mit der Tatsache, dass in der Lehre der Pythagoräer durch eine umgekehrt angewandte Analogie die Zahlen als das Symbol für die wesentlichen Prinzipien der Dinge angesehen werden. Man sollte in diesem Zusammenhang noch anfügen, dass die Materie von Descartes nicht mehr länger mit der materia secunda der Scholastiker übereinstimmt. Descartes Materie ist vielmehr vielleicht das früheste Beispiel für die Materie der modernen Physiker, obwohl Descartes Anschauung zu jener Zeit noch nicht all das umfasst hat, was seine Nachfolger ihr allmählich hinzufügt haben, um schließlich bis zu den neuesten Theorien über den „Aufbau der Materie“ zu gelangen. Dies gibt daher Anlass für den Verdacht, dass in der kartesianischen Definition der Materie vielleicht ein Fehler oder eine Verwechslung vorliegt, und dass ein gewisses Element, das nicht der rein quantitativen Ordnung angehört, zu diesem Zeitpunkt hinzugeraten ist – vielleicht auch unbewusst durch seinen Verursacher. Die Natur dieses Fehlers wird in Kapitel 4 deutlicher, wo wir sehen werden, dass Ausdehnung – obwohl sie offensichtlich von quantitativem Charakter wie alles ist, was der sinnlich wahrnehmbaren Welt angehört –, nicht als reine Quantität betrachtet werden kann. Es lässt sich auch beobachten, dass die Theorien, die am weitesten in die Richtung des Quantitativen gehen, im Allgemeinen auf die eine oder andere Weise „atomistisch“ sind, so dass sie in ihre Betrachtung der Materie eine Art Unterbrechung einführen, indem sie diese der Natur der voneinander getrennten Zahlen stärker annähern als der Natur der ununterschiedenen Ausdehnung. Wenn man allerdings die Tatsache berücksichtigt, dass die Grundlage, aus der die Körper geformt sind, nur als ausgedehnt aufgefasst werden kann, so stellt dies eine Quelle beständigen Widerspruchs in jeglichem „Atomismus“ dar. Ein weiterer Grund für Verwirrungen ist die Angewohnheit, „Körper“ und „Materie“ als nahezu gleichbedeutend zu sehen. Aber in Wirklichkeit stellen Körper in keiner Weise die materia secunda dar, die man überdies nirgendwo in den manifestierten Existenzen dieser Welt antreffen kann. Die Körper gehen lediglich von ihr als ihrem stofflichen Prinzip aus. Aber die materia secunda ist wie auch die Zahl nie direkt wahrnehmbar und in einem reinen Zustand in der körperlichen Welt nicht zu finden. Und dennoch ist es die Vorstellung der Zahl, die die grundlegende Daseinsform im Bereich der Quantität bildet. Die anderen Arten der Quantität lassen sich aus der Zahl ableiten, was letztlich heißt, dass sie nur deshalb zur Quantität gehören, weil sie an der Zahl teilhaben. Genau dies wird unausgesprochen anerkannt, wenn behauptet wird, dass alles Quantitative sich in Zahlen ausdrücken lässt. In den anderen Daseinsweisen ist die Quantität, selbst wenn sie das vorherrschende Element ist, immer mehr oder weniger stark auch mit Qualität vermischt. Dies ist der Grund dafür, dass die Bedingungen des Raumes und der Zeit trotz der Anstrengungen der modernen Mathematiker nie rein quantitativ sein können oder man akzeptiert, dass sie auf völlig leere Bedeutungen reduziert werden, die jeglichen Bezug zur Wirklichkeit verlieren. Aber ist nicht gerade die heutige Wissenschaft zu einem großen Ausmaß aus solchen leeren Bedeutungen aufgebaut, die in ihrem Charakter völlig oberflächlich sind und keine wirkliche tiefergehende Wirkung haben? Diese Frage müssen wir noch weiterverfolgen, insbesondere in wie weit sie die Natur des Raumes betrifft. Ein solcher Aspekt ist auch sehr eng mit den Prinzipien der geometrischen Symbolik verbunden, wobei er gleichzeitig auch ein gutes Beispiel für den Niedergang liefert, dem die traditionellen Anschauungen unterliegen, um zu weltlichen Vorstellungen zu werden. Wir werden im Folgenden nun zuerst untersuchen, wie die Vorstellung des „Maßes“, die die wichtigste Grundlage für jegliche Geometrie ist, in einem traditionellen Sinn so übertragen werden kann, dass ihr eine Bedeutung gegeben wird, die sich deutlich von der unterscheidet, die die modernen Wissenschaftler ihr geben. Sie sehen im Maß lediglich ein Mittel, mit dessen Hilfe sie so nahe wie nur möglich an ihr auf den Kopf gestelltes „Ideal“ kommen können, das danach trachtet, alle Dinge auf die reine Quantität zu reduzieren.

7 Die Hauptbedeutung des Wortes ϋλη bezieht sich auf das vegetative Prinzip. Es stellt damit einen Bezug zur „Wurzel“ her (in Sanskrit mūla, ein Begriff, der auch auf Prakriti angewendet wird), die der Ausgangspunkt der Manifestation ist. Darin lässt sich eine Verbindung zu dem sehen, das seine Wurzeln in das stützt, was die verdunkelte Grundlage unserer Welt darstellt. Die Stofflichkeit ist tatsächlich der dunkle Pol der Existenz, wie wir später noch deutlicher sehen werden.

8 Das Wort substantia, ist von sub stare abgeleitet und bedeutet wörtlich „das, was unterhalb steht“. Dies ist eine Bedeutung, die auch den Vorstellungen von „Grundlage“ und „Nährboden“ innewohnend ist.

9 Die Vorstellung der Anzahl ist im Wesentlichen auf der der ganzen Zahlen begründet. Es liegt auf der Hand, dass die Folge der ganzen Zahlen eine unterbrochene Serie bildet. Alle Erweiterungen dieser Vorstellung, die zu Brüchen oder irrationalen Zahlen führen, sind letztlich nur Abwandlungen, die den Versuch aufzeigen, die Abstände innerhalb der numerischen Unterbrechung zu reduzieren, um die Unvollkommenheit zu verringern, die zu Tage tritt, wenn die Zahlen auf fortlaufende Größen angewendet werden.

3. Maß & Manifestation

Im Folgenden werden wir nun aus den genannten Gründen den Ausdruck „Materie“ vermeiden, es sei denn, wir befassen uns mit modernen Anschauungen. Ein weiterer Grund dafür liegt in den Verwirrungen, die dieser Ausdruck unvermeidlich hervorruft, da es unmöglich ist, das Wort zu benutzen, ohne gleichzeitig auch die Vorstellung dessen zu beschwören, was die modernen Physiker „Materie“ nennen – und zwar selbst bei denen, die sich der Bedeutung bewusst sind, die die Scholastiker diesem Ausdruck gegeben haben. Die Vorstellung, die sich in der Moderne durchgesetzt hat, ist auch jene, die in der heutigen Sprache mit diesem Wort verbunden ist. Wir haben jedoch gesehen, dass diese Vorstellung in keiner traditionellen Lehre gefunden werden kann, sei es im Osten oder Westen. Dies deutet darauf hin, dass sie – selbst wenn sie sich als rechtmäßig bestätigen würde, wenn sie von gewissen nicht miteinander übereinstimmenden und sich schlicht widersprechenden Elementen bereinigt werden würde –, nichts wirklich Wesentliches umfasst und sich nur auf eine äußerst spezialisierte Weise bezieht, die Dinge zu betrachten. Gleichzeitig kann diese Vorstellung aber nicht schon immer im Begriff „Materie“ enthalten sein, da sie erst kürzlich entwickelt wurde, während der Begriff schon um einiges länger existiert. Die ursprüngliche Bedeutung dieses Wortes war damit eine andere als die heutige. Allerdings lässt sich die wahre etymologische Abstammung dieses Wortes nur sehr schwer festlegen, so als ob eine mehr oder weniger undurchdringbare Verdunkelung all das verhüllt, was mit Materie zu tun hat. Man kann in dieser Hinsicht kaum mehr tun, als gewisse Anschauungen voneinander zu lösen, die mit diesen Wurzeln verbunden sind. Dies ist zwar nicht ohne Interesse, aber selbst dann lässt sich nicht genau festlegen, welche der verschiedenen Anschauungen der ursprünglichen Bedeutung dieses Wortes am nächsten kommt.

Am öftesten kann man auf die Verbindung zwischen materia und mater treffen. Dies passt sehr gut zur Vorstellung, die die Stofflichkeit mit dem passiven Prinzip und dem symbolischen Weiblichen gleichsetzt. So lässt sich sagen, dass Prakriti die „mütterliche“ Rolle in Bezug zur Manifestation spielt, während Purusha die „väterliche“ übernimmt. Das Gleiche trifft auch auf alle Ebenen zu, bei denen in analoger Weise eine Wechselbeziehung zwischen Wesen und Stofflichkeit vorgestellt werden kann.10 Andererseits ist es auch möglich, das Wort materia auf das lateinische Verb metiri, „messen“, zu beziehen (und wir werden später noch zeigen, dass es in Sanskrit eine Form gibt, die sich noch enger darauf bezieht). Das „Maß“ beinhaltet einen gewissen Grad an Bestimmung. Aber eine Bestimmung kann hinsichtlich der absoluten Unbestimmbarkeit der universalen Stofflichkeit oder materia prima nicht durchgeführt werden. Damit kann es sich nur auf eine andere, eingeschränktere Bedeutung beziehen. Diesen Sachverhalt wollen wir im Folgenden näher betrachten.

Zu diesem Thema hat Ananda K. Coomaraswamy folgendes geschrieben:

Für alles, was in der Manifestation wahrgenommen oder empfunden werden kann, hat Sanskrit nur den Ausdruck nāma-rūpa. Die beiden Begriffe, aus denen das Wort zusammengesetzt ist, entsprechen dem, was durch den Verstand „begreifbar“ und dem, was mit den Sinnen „wahrnehmbar“ ist. Sie werden als zwei wechselseitige Aspekte angesehen und beziehen sich entsprechend auf das Wesen und die Stofflichkeit der Dinge.11 Es ist richtig, das Wort mātra, das wörtlich „messen“ bedeutet, als das etymologische Gegenstück zu materia zu sehen. Aber das, was auf diese Weise „gemessen“ wird, ist nicht die Materie der Physiker, sondern die Möglichkeiten der Manifestation, die dem Geist (Ātmā