Einführung in das Studium der hinduistischen Lehre - René Guénon - E-Book

Einführung in das Studium der hinduistischen Lehre E-Book

René Guénon

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Beschreibung

Bevor sich unsere westlich geprägte Gedankenwelt so weit öffnen kann, dass sich die Vorstellungen der hinduistischen Lehre erfassen lassen, muss man sich zuerst grundsätzlich vor Augen führen, was unter wahrer Tradition zu verstehen ist. Die vielen Hindernisse und Vorurteile müssen beiseite geräumt werden, die die moderne westliche Denkweise beschränken. Erst nach dieser Vorarbeit kann tatsächlich mit einer "Einführung in das Studium der hinduistischen Lehre" begonnen werden. Und genau dies tut René Guénon, indem er in Teil 1 der vorliegenden Studie fest verankerte Vorstellungen der westlichen Wissenschaft und Geisteshaltung in Frage stellt und in Teil 2 grundlegende Ausführungen zur traditionellen Lehre und der östlichen Denkweise darlegt. Erst Teil 3 beschäftigt sich dann mit der hinduistischen Lehre im Detail und in Teil 4 geht Guénon zum Abschluss noch auf die erfolglosen Auslegungsversuche dieser Lehre durch die westlich geprägten Orientalisten ein. Die vorliegende Studie ist daher nicht nur als ein Einstieg in den Hinduismus zu sehen, sondern auch in die traditionelle Lehre allgemein und ihre Wirkungen auf den verschiedenen Ebenen. Durch das Studium der weiteren Veröffentlichungen Guénons kann dieser Einblick vertieft und erweitert werden und dem unvoreingenommenen Leser in vielerlei Hinsicht die Augen öffnen. In den Bänden "Einführung in das Studium der hinduistischen Lehre", "Der Mensch und sein Werden nach der Vedanta" und "Studien über den Hinduismus" sind die tiefen Kenntnisse René Guénons über die traditionelle hinduistische Lehre zusammengefasst. Zum besseren Verständnis sollten diese Werke in der vorgegebenen Reihenfolge gelesen werden. Nach über 20 Jahren der Vorbereitung macht die 14-bändige deutsche Ausgabe die meisten Veröffentlichungen René Guénons erstmals in deutscher Sprache zugänglich und ermöglicht es, dem interessierten deutschsprachigen Leser tiefer in die traditionelle Denkweise und die Lehre der metaphysischen Prinzipien vorzudringen.

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Inhalt

VORWORT DES HERAUSGEBERS

VORWORT

TEIL 1: EINLEITENDE FRAGEN

1. OST & WEST

2. DIE ABWEICHUNG

3. DAS KLASSISCHE VORURTEIL

4. DIE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN DEN MENSCHEN IM ALTERTUM

5. FRAGEN ZUR ZEITLICHEN AUFEINANDERFOLGE DER DINGE

6. SPRACHLICHE SCHWIERIGKEITEN

TEIL 2: MERKMALE DER ÖSTLICHEN DENKWEISE

7. DIE GRUNDSÄTZLICHE EINTEILUNG DER ÖSTLICHEN WELT

8. DIE PRINZIPIEN DER EINHEIT DER ÖSTLICHEN GESELLSCHAFTEN

9. WAS UNTER TRADITION ZU VERSTEHEN IST

10. TRADITION & RELIGION

11. DIE WESENTLICHEN MERKMALE DER METAPHYSIK

12. DIE BEZIEHUNG ZWISCHEN METAPHYSIK UND THEOLOGIE

13. SYMBOLIK & ANTHROPOMORPHISMUS

14. METAPHYSISCHES UND PHILOSOPHISCHES DENKEN

15. ESOTERIK & EXOTERIK

16. METAPHYSISCHE VERWIRKLICHUNG

TEIL 3: DIE HINDUISTISCHE LEHRE

17. ÜBER DIE GENAUE BEDEUTUNG DES WORTES „HINDU“

18. DIE STETIGKEIT DER VEDA

19. ORTHODOXIE & HETERODOXIE

20. DEN BUDDHISMUS BETREFFEND

21. DAS GESETZ DES MANU

22. DIE KASTEN UND IHRE PRINZIPIEN

23. SHIVAISMUS & VISHNUISMUS

24. SICHTWEISEN INNERHALB DER LEHRE

25. NYĀYA

26. VAISHESHIKA

27. SĀŅKHYA

28. YOGA

29. MĪMĀNSĀ

30. VEDĀNTA

31. ERGÄNZENDE BEMERKUNGEN ZUR LEHRE ALS GANZES GESEHEN

32. DIE TRADITIONELLE LEHRE

TEIL 4: WESTLICHE AUSLEGUNGEN

33. DER OFFIZIELLE ORIENTALISMUS

34. RELIGIONSWISSENSCHAFT

35. THEOSOPHISMUS

36. DIE DEM WESTEN ANGEPASSTE VEDĀNTA

37. ZUSÄTZLICHE ANMERKUNGEN

38. SCHLUSSFOLGERUNGEN

ÜBER RENÉ GUÉNON

DIE WERKE RENÉ GUÉNONS IN DEUTSCHER AUSGABE

Vorwort des Herausgebers

Die vorliegende Studie René Guénons trägt den Titel Einführung in das Studium der hinduistischen Lehre. Dieser Titel kann einerseits als nicht exakt zutreffend und andererseits als wohl überlegt angesehen werden. Wie kommt es zu diesem Widerspruch? Auf den ersten Blick beschäftigt sich nur Teil 3 (Die hinduistische Lehre) mit den hinduistischen Vorstellungen im Detail und wird damit als einziger dem Anspruch des Titels gerecht. Er ist zwar der umfangreichste, aber eben nur einer von insgesamt vier Teilen. Die anderen drei Teile (Einleitende Fragen, Merkmale der östlichen Denkweise und Westliche Auslegungen) befassen sich mit Themen, die nichts oder nur indirekt mit dem Hinduismus zu tun haben. Bei näherer Betrachtung wird jedoch klar, dass das Verständnis der dort behandelten Themen unerlässlich für ein wahres Verständnis der hinduistischen oder auch anderer traditioneller Lehren ist. Bevor sich die Gedankenwelt des westlich geprägten Lesers so weit öffnen kann, dass er die Vorstellungen der hinduistischen Lehre erfassen und in sich aufnehmen kann, muss ihm zuerst grundsätzlich vor Augen geführt werden, was unter wahrer Tradition zu verstehen ist. Hinzu kommt, dass all die vielen Hindernisse und Vorurteile beiseite geräumt werden müssen, die die moderne westliche Denkweise beschränken. Und dies schließt auch ein, dass einige in heutiger Zeit unbekannte Wahrheiten ans Licht gebracht werden, während andere, in der modernen Welt verbreitete Dogmen in Frage zu stellen sind. Erst auf dieser Grundlage kann tatsächlich mit der Einführung in die hinduistische Lehre begonnen werden. Und genau dies tut Guénon, indem er in Teil 1 gewisse fest verankerte Vorstellungen der westlichen Wissenschaft und Geisteshaltung in Frage stellt und in Teil 2 grundlegende Ausführungen zur traditionellen Lehre und der östlichen Denkweise darlegt. Erst Teil 3 beschäftigt sich dann mit der hinduistischen Lehre im Detail und in Teil 4 geht Guénon zum Abschluss seiner Studie noch auf die westlich geprägten und damit zum Scheitern verurteilten Auslegungsversuche dieser Lehre ein.

Dieser breit gefasste Ansatz nimmt viele Themen vorweg, die Guénon in späteren Veröffentlichungen ausführlich und detailliert behandelt hat, wie beispielsweise das Verhältnis zwischen der östlichen und westlichen Gedankenwelt (Osten und Westen), die Kritik am modernen Westen (Die Krise der modernen Welt), detaillierte Betrachtungen zu weiteren Aspekten des Hinduismus (Der Mensch und sein Werden nach der Vedānta und Studien über den Hinduismus) sowie zu anderen traditionellen Lehren und der Metaphysik im Allgemeinen (wie in Aspekte der christlichen Symbolik, Einblicke in traditionelle Formen, Traditionelle Symbolik und anderen). Der Leser erhält mit der vorliegenden Studie also einen straffen Überblick über die Gedanken und Anschauungen, die wie ein roter Faden Guénons weitere Veröffentlichungen durchdringen und sicher auch sein persönliches Leben geprägt haben. Dies ist umso bemerkenswerter, da es sich um Guénons erste Veröffentlichung handelt und er somit im Gegensatz zu manch anderen Autoren seine Gedanken und Anschauungen nicht im Laufe der Zeit anhand seiner weiteren Werke entwickelt hat, sondern von Anfang an bereits über all die Kenntnisse verfügte, die er in seinen zeitlich nachfolgenden Werken detaillierter dargelegt hat.

Aufgrund der Kürze, in der er all diese Themen im Rahmen einer einzigen Studie ausführen musste, kann es beim westlich geprägten Leser, für den diese Vorstellungen ja neu sind und der sie erst wiederentdecken muss, zu Verständnisproblemen kommen. Daher ist diese Studie nicht nur als ein Einstieg in den Hinduismus zu sehen, sondern auch in die traditionelle Lehre und ihre Wirkungen auf den verschiedenen Ebenen. Durch das Studium der weiteren Veröffentlichungen Guénons kann dieser Einblick vertieft und erweitert werden und dem unvoreingenommenen Leser werden sich sicherlich in vielerlei Hinsicht die Augen öffnen.

Abschließend möchten wir noch anmerken, dass die vorliegende Studie im Jahr 1921 veröffentlicht wurde. Natürlich befand sich die westliche, aber auch die östliche Welt vor 100 Jahren in einem völlig anderen Zustand als heute. Während im Westen der „Fortschritt“ im Sinne eines Niedergangs immer weiter an Geschwindigkeit zunahm und heute sowohl den gesellschaftlichen als auch geistigen Bereich völlig durchdrungen hat, war die östliche Welt zum Zeitpunkt, als Guénon diese Studie verfasst hat, noch weit von ihrem heutigen Zustand entfernt. Zwar sind die östlichen Gesellschaften auch im 21. Jahrhundert noch in ihren jeweiligen traditionellen Lehren weitaus tiefer verankert als es die westliche Gesellschaft ist, aber durch die vielen, meist vom Westen ausgehenden gewaltsamen Einmischungen wurden von außen viele Umbrüche herbeigeführt, die diese vormals bestehende Nähe zur Tradition und damit die Gesellschaft als solche aufgebrochen haben. Die von Guénon angestrebte Annährung auf geistiger Ebene ist somit noch schwieriger geworden, wenn man darunter mehr als nur politische und wirtschaftliche Beziehungen versteht. In Bezug auf historische Entwicklungen haben wir jedoch bewusst auf Anmerkungen im Text verzichtet, um den Lesefluss und die Gedankengänge Guénons nicht zu stören und denken, dass sich die Leser in dieser Hinsicht selbst ihre Schlüsse ziehen können.

I. Steinke

München, im November 2018

Vorwort

Den Menschen aus dem Westen stehen viele Hürden im Weg, wenn sie sich an einem ernsthaften und tiefgehenden Studium der östlichen Lehren im Allgemeinen und der hinduistischen Lehre im Speziellen versuchen wollen. Dabei haben die größten Hindernisse ihren Ursprung nicht einmal im Östlichen selbst. Die erste und die am meisten benötigte Bedingung ist der Besitz einer geistigen Qualifikation, die es ermöglicht, die fraglichen Lehren überhaupt grundsätzlich verstehen zu können. Dieses Verständnis muss wahrhaft und tiefgehend sein. Man kann es als eine Befähigung sehen, die im Westen außer bei einigen wenigen Ausnahmen nicht mehr vorhanden ist. Wird diese grundsätzliche Bedingung jedoch erfüllt, kann sie als ausreichende Qualifikation für das erforderliche Verständnis angesehen werden. Die Menschen im Osten erkennen dieses Verständnis an und geben unter dieser Voraussetzung ihre Zurückhaltung bei der Mitteilung ihrer Gedanken auf.

Wenn aber außer dem gerade erwähnten kein weiteres, schwerwiegendes Hindernis dem Studium der östlichen Lehren im Wege steht, muss man sich die Frage stellen, wie es möglich ist, dass Orientalisten, also Gelehrte aus dem Westen, die sich ausschließlich mit dem Studium östlicher Themengebiete befassen, es nie geschafft haben, diese Hürde zu überwinden. Diese Fragestellung kann kaum als Übertreibung gelten, denn bislang haben diese Personen nur Bücher der Gelehrsamkeit verfasst. Aus einer gewissen Sichtweise gesehen, mögen diese Bücher durchaus ihren Wert haben – sie sind aber trotzdem ohne Interesse, sobald es darum geht, auch nur die einfachste der geistigen Wahrheiten zu verstehen. Tatsache ist, dass die Kenntnis der Grammatik und die Befähigung, eine wörtliche Übersetzung anfertigen zu können, noch nicht ausreichend dafür sind, dass jemand den Geist einer Sprache erkennen oder die Gedanken von den Menschen aufnehmen kann, die diese Sprache lesen oder schreiben. Man kann sogar so weit gehen und sagen, dass je gewissenhafter eine Übersetzung wörtlich durchgeführt wird, desto weniger wahrheitsgetreu ist ihr Inhalt oder desto weniger ist diese Übersetzung in der Lage, die wahre Natur der ursprünglichen Gedanken zu offenbaren, da die Übereinstimmung von Wörtern, die zwei unterschiedlichen Sprachen angehören, weit davon entfernt ist, auch ihrem Sinn nach übereinstimmend zu sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn diese Sprachen nicht nur von einem philologischen Standpunkt aus gesehen sehr weit auseinander liegen, sondern auch wenn eine große Abweichung zwischen den Anschauungen besteht, die jeweils für die Menschen charakteristisch sind, die jene Sprachen sprechen. Das Wissen aus Büchern allein kann trotz aller Anstrengungen solche Unterschiede nicht überbrücken. Für diesen Zweck benötigt man mehr als eine bloße „Textkritik“, die sich in einem endlosen Irrgarten aus Details verliert, mehr als die Methoden der Grammatik oder der Gelehrsamkeit und sogar mehr als die sogenannte „historische Methode“, die unterschiedslos überall und auf alles angewendet wird. Ohne Zweifel haben Wörterbücher und ähnliche Hilfswerke ihren relativen Nutzen, über den sich niemand streiten will. Genauso wenig kann man sagen, dass diese ganze Arbeit verschwendete Zeit sei, besonders wenn man sich vor Augen führt, dass die, die sich dieser Arbeit widmen, für andere Studienzweige nicht ungeeignet wären. Unglücklicherweise wird aber Gelehrsamkeit, sobald sie in Form eines „Spezialgebiets“ auftritt, tendenziell als das Ziel selbst angesehen, anstatt als das Mittel, das zum Ziel führt, wie es normalerweise sein sollte. Dieses Vordringen der Gelehrsamkeit mit ihren speziellen Methoden in den geistigen Bereich stellt eine echte Gefahr dar, da sie die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zieht, die ansonsten möglicherweise dazu befähigt wären, sich einer anderen Art des Studiums zu widmen. Außerdem beengen die Angewohnheiten, die durch die Benutzung solcher Methoden erwachsen, den geistigen Horizont und führen zu unheilbarem Schaden bei jenen, die sich ihnen unterwerfen.

Aber dies ist nicht alles, noch liegt der schwerwiegendste Punkt dieser Problematik vor uns. Unter den vielen Erzeugnissen der Orientalisten sind die Arbeiten der reinen Gelehrsamkeit, obwohl sie zugegebenermaßen am Schwerfälligsten zu lesen sind, nicht die, die am Schädlichsten sind. Wir haben bereits über diese Studien gesagt, dass man ihnen noch nicht einmal in einem eingeschränkten Sinn irgendeinen Wert beimessen kann. Es gibt jedoch bestimmte Gelehrte, die darüber hinaus gehen wollten und es sich zum Ziel gesetzt haben, dieses Wissen mit ihren üblichen Methoden zu interpretieren, die allerdings zu diesem Bereich überhaupt nichts beitragen können. Gleichzeitig führen sie Begriffe ein, die ihren eigenen Gedanken entstammen und zwingen die Theorien, die sie untersuchen, mit offenkundiger Absicht in das übliche Gefüge der europäischen Gedankenwelt ein. Wenn man dies auf den Punkt bringt und dabei die Frage der Methode außen vorlässt, so ist der grundsätzliche Fehler dieser Orientalisten der, dass sie auf alles von ihrem eigenen, westlichen Standpunkt und durch ihr eigenes geistiges Prisma blicken, wohingegen die vordringlichste Bedingung für eine korrekte Auslegung jeglicher Lehre die ist, sich ernsthaft darum zu bemühen, sie in sich aufzunehmen, in dem man sich so weit wie möglich der Sichtweise derer annähert, die sie entwickelt haben. Wir haben „so weit wie möglich“ gesagt, da nicht jeder gleich erfolgreich darin sein kann – aber man kann wenigstens den Versuch unternehmen. Im Gegensatz dazu führt der Ausschließlichkeitsanspruch der Orientalisten, der nur ihre eigene Meinung gelten lässt und ihre Vorliebe für „Systeme“ dazu, dass sie aufgrund einer ganz außergewöhnlichen Verwirrung der Meinung sind, dass sie die östlichen Lehren besser verstehen als die Menschen aus dem Osten selbst – eine Annahme, die nicht viel mehr als lächerlich wäre, wenn sie nicht mit der starren Überzeugung verbunden wäre, eine Art „Monopol“ über diese Art von Studien zu besitzen. Derzeit gibt es in Europa außer diesen Spezialisten allerdings kaum jemand, der für solche Dinge Interesse zeigt, abgesehen von einigen extravaganten Träumern und kühnen Scharlatanen, die als unbedeutend angesehen werden könnten, wenn sie nicht in mehr als einer Hinsicht einen beklagenswerten Einfluss ausüben würden. Wir werden diese Seite des Themas aber noch detaillierter behandeln.

Für den Moment möchten wir unsere Kritik auf jene unter den Orientalisten beschränken, die man am ehesten „offiziell“ nennen könnte. Wir möchten die Aufmerksamkeit auf einen Missbrauch lenken, den die Anwendung der „historischen Methode“ in sich birgt: Dieser Fehler besteht darin, die östlichen Zivilisationen so zu studieren, als würde man eine längst erloschene Zivilisation betrachten. In einem solchen Fall ist klar, dass man aus Mangel einer besseren Alternative darauf angewiesen ist, ungefähre Annäherungen an die Vergangenheit zu machen, ohne sich jemals sicher zu sein, ein genaues Abbild von dem erschaffen zu können, was früher existiert hat, da man keinerlei Möglichkeit hat, einen echten Beweis zu erhalten. Es scheint aber in Vergessenheit geraten zu sein, dass die östlichen Zivilisationen – oder zumindest jene, mit denen wir uns hier beschäftigen – ohne Unterbrechung bis zum heutigen Tag existieren und dass sie immer noch ihre autorisierten Vertreter haben, deren Rat einen unvergleichlich höheren Wert für das Verstehen jener Zivilisationen hat als all das akademische Wissen der Welt. Wenn man diese Vertreter allerdings befragen will, sollte man dies nicht von dem lächerlichen Standpunkt aus tun, dass man selbst besser über die wahre Bedeutung ihrer Vorstellungen Bescheid weiß als sie selbst.

Hinzu kommt noch, dass die Menschen aus dem Osten eine etwas unglückliche, aber nachvollziehbare Meinung über die europäische Intellektualität haben und sich im Allgemeinen wenig dafür interessieren, was die Menschen aus dem Westen über sie denken oder auch nicht denken. Daher unternehmen sie keine Versuche, sie aufzuklären, sondern ziehen sich im Gegenteil auf eine etwas verächtlich wirkende Höflichkeit zurück und hüllen sich in Schweigen, was die westliche Eitelkeit jedoch nicht davon abhält, dies als ein Zeichen der Zustimmung auszulegen. Tatsächlich ist jedoch jegliche Art von Bekehrungseifer im Osten so gut wie unbekannt, da dieser dort als zwecklos und ganz einfach als Zeichen der Unwissenheit und des mangelnden Verständnisses ausgelegt wird. Diese Aussage werden wir noch später in angemessener Weise erklären. Das vor diesem Hintergrund so gerechtfertigte Schweigen wird dem Osten oft vorgeworfen. Es wird jedoch nur in seltenen Fällen zugunsten von einzelnen Individuen gebrochen, die mit den erforderlichen Qualifikationen ausgestattet sind und die die richtige geistige Befähigung zeigen. Über die, die diese Zurückhaltung aus anderen als den gerade angeführten Gründen aufgeben, kann nur Folgendes gesagt werden: In der Regel stellen sie Elemente dar, die von keinem größeren Interesse sind, da sie Personen darstellen, die es sich aus dem ein oder anderen Grund zum Ziel gesetzt haben, die Lehren zu übermitteln, wobei sie diese unter dem Vorwand einer Anpassung an die westliche Mentalität mehr oder weniger verfälschen. Wir werden über diese Personen später noch mehr sagen. Der Punkt, den wir für den Augenblick betonen und auf den wir die Aufmerksamkeit lenken möchten, ist der, dass allein die westliche Geisteshaltung für die derzeitige Situation verantwortlich ist. Diese stellt dem die größten Schwierigkeiten in den Weg, der durch außergewöhnliche Umstände dazu befähigt wäre, bestimmte Vorstellungen in sich aufnehmen zu können und diese so verständlich wie nur möglich und ohne Verzerrungen wiedergeben könnte. Eine solche Person müsste im Rahmen des Möglichen dazu willens sein, diese Vorstellungen, die sie verstanden hat, für sich auszulegen, während sie sorgfältig darauf achtet, jeden Gedanken der Popularisierung zu vermeiden und auch keinen Versuch unternimmt, die Überzeugung von anderen Menschen gewinnen zu wollen.

Wir haben nun genug gesagt, um unsere Absichten klarzustellen: Es ist nicht unser Vorhaben, mit dieser Studie ein weiteres Werk der Gelehrsamkeit vorzulegen, da uns die Sichtweise, die wir hier eingenommen haben, weit darüber hinausträgt. Für uns ist es zudem von geringer Bedeutung, jeweils die genaue Quelle dieser oder jener Vorstellung, auf die wir uns beziehen werden, genau zu bestimmen, da die Wahrheit für uns nicht allein in historischen Tatsachen zu finden ist. Eine Vorstellung kann uns nur dann interessieren, wenn wir sie verstanden haben und erkennen, dass sie im Sinne der traditionellen Lehren wahr ist. Einige unserer Anmerkungen zur wahren Natur der östlichen Gedanken werden vielleicht einige Menschen nachdenklich machen. Dieses an sich geringe Ziel wäre für uns von größerer Bedeutung als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Aber auch selbst wenn dieses Ziel nicht erreicht werden kann, gibt es noch einen weiteren guten Grund, eine Untersuchung wie diese zu unternehmen: Die Menschen aus dem Osten können in ihr eine Würdigung all dessen sehen, was wir ihnen auf geistiger Ebene schulden, denn aus dem Westen hat bisher niemand etwas Vergleichbares bekundet, noch nicht einmal bruchstückhaft oder auf unvollständige Art und Weise.

Nachdem wir nun zu Anfang einige wenige einleitende, aber unerlässliche Fragen beantwortet haben, werden wir im Folgenden so klar wie nur möglich die wesentlichen und grundlegenden Unterschiede zwischen der östlichen und westlichen Denkweise aufzeigen. Danach werden wir uns spezieller auf die Fragen konzentrieren, die sich aus den hinduistischen Lehren aufgrund der Tatsache ergeben, dass sie spezielle Merkmale aufweisen, die sie von anderen östlichen Lehren unterscheiden. Nichtsdestotrotz besitzen die Lehren des Ostens insgesamt genügend gemeinsame Merkmale, um die gegensätzliche Aufteilung zwischen Ost und West zu rechtfertigen. Schließlich werden wir im Hinblick auf die hinduistischen Lehren die Aufmerksamkeit auf die Unangemessenheit – um nicht in manchen Fällen zu sagen auf die Absurdität – der Auslegungen lenken, die davon derzeit im Westen geläufig sind. Als Abschluss unserer Studie werden wir mit aller gebotenen Vorsicht die Bedingungen für eine geistige Annäherung zwischen Ost und West aufzeigen. Diese Bedingungen werden auf Seite des Westens momentan allzu offensichtlich bei weitem noch nicht erfüllt. Aber wir möchten auch nur auf die reine Möglichkeit aufmerksam machen, da wir nicht daran denken, dass diese Annäherung in nächster Zeit oder gar sofort stattfinden wird.

TEIL 1: Einleitende Fragen

1. Ost & West

Die erste Aufgabe, mit der wir uns in der vorliegenden Studie befassen werden, ist die Festlegung der genauen Art des Gegensatzes, der Ost und West teilt und die Bedeutung zu definieren, die man diesen beiden gegensätzlichen Begriffen beimessen kann. Als eine grobe Annäherung kann schon gesagt werden, dass der Osten für uns hauptsächlich Asien und der Westen hauptsächlich Europa ist. Diese Aussage benötigt aber weitere Erklärungen.

Wenn wir zum Beispiel von der westlichen oder europäischen Geisteshaltung sprechen und diese beiden Begriffe ohne Unterschied benutzen, meinen wir eigentlich die Geisteshaltung der europäischen Rasse als Ganzes. Wir werden daher alles, was mit dieser Rasse verbunden ist, als europäisch beschreiben, und wir werden diese allgemeine Benennung all jenen Individuen geben, die daraus hervorgegangen sind, in welchem Teil der Welt sie auch wohnen mögen: Daher zählen nach dieser Auffassung auch Amerikaner und Australier zu den Europäern, um nur zwei Beispiel zu nennen. Sie werden also unter dem gleichen Oberbegriff zusammengefasst wie die Menschen, die in Europa leben. Es ist offensichtlich, dass die Tatsache, dass man in eine andere Gegend gezogen ist oder sogar dort geboren wurde, weder die Rasse noch die ihr zugehörige Mentalität ändern kann. Auch wenn der Wechsel der Umgebung mit einiger Wahrscheinlichkeit früher oder später zu einigen Änderungen führen wird, werden diese doch nur von nachrangiger Wirkung sein und die grundsätzlichen Merkmale der Rasse nicht wirklich ändern können, sondern im Gegenteil vielleicht noch eher einige bestimmte davon stärker hervortreten lassen. So lässt es sich auch besser verstehen, dass bestimmte Neigungen, die einen Teil der modernen europäischen Geisteshaltung bilden, im Falle der Amerikaner ins Extreme geraten sind.

An diesem Punkt drängt sich jedoch eine Frage auf, bei der wir es uns nicht erlauben können, sie gänzlich zu übergehen: Wir haben von einer europäischen Rasse und ihrer eigenen, speziellen Mentalität gesprochen – aber gibt es denn wirklich eine europäische Rasse? Wenn damit eine ursprüngliche Rasse, die ihre Einheit und Homogenität gewahrt hat, gemeint ist, muss diese Frage verneint werden. Niemand wird die Tatsache bezweifeln, dass die heutige europäische Bevölkerung eine Mischung aus Geschlechtern sehr unterschiedlicher Rassen ist und dass es recht ausgeprägte ethnische Unterschiede nicht nur zwischen den Ländern selbst gibt, sondern auch in ihrem Inneren zwischen den unterschiedlichen ethnischen Gruppen. Dennoch ist es richtig zu sagen, dass die Europäer genügend gemeinsame Merkmale besitzen, um sie recht einfach von den anderen Völkern unterscheiden zu können. Diese Einheit, auch wenn sie nur auf erworbenen und nicht ursprünglichen Eigenschaften beruht, ist ausreichend dafür, von einer europäischen Rasse sprechen zu können – mit der Einschränkung, dass diese Rasse in ihrer Natur weniger gefestigt und beständig als eine reine Rasse ist. Daher werden die europäischen Elemente, wenn sie sich mit einer anderen Rasse vermischen, einfacher absorbiert und ihre ethnischen Merkmale werden schneller verschwinden. Dies trifft aber nur im Fall einer echten Vermischung zu. Wenn es sich um ein bloßes Nebeneinanderleben handelt, treten ihre geistigen Merkmale umso schärfer hervor. Und gerade diese geistigen Merkmale kennzeichnen die europäische Einheit als solche: Was auch immer die ursprünglichen Unterschiede in dieser oder jener Hinsicht waren, im Laufe der Geschichte hat sich Stück für Stück eine gemeinsame Geisteshaltung gebildet, die allen Europäern gemein ist. Dies bedeutet nicht, dass die einzeln betrachteten Völker keine eigene, spezielle Mentalität besitzen. Aber die Eigenheiten, die sie voneinander unterscheiden, sind von nachrangiger Bedeutung, wenn sie mit der gemeinsamen Grundlage verglichen werden, vor der sie sich zeigen. Sie verhalten sich kurz gesagt so, wie die Spezies zur gemeinsamen Gattung in Beziehung steht. Überdies wird niemand daran zweifeln, dass eine europäische Zivilisation existiert – und zwar selbst jene nicht, die Bedenken haben, ob es zulässig sei, von einer europäischen Rasse zu sprechen. Allerdings ist eine Zivilisation nichts anderes als das Produkt und der Ausdruck einer bestimmten Mentalität.

Wir werden an dieser Stelle jedoch nicht versuchen, die kennzeichnenden Merkmale der europäischen Mentalität einfach aufzulisten, da diese sich deutlich genug im weiteren Verlaufe der Untersuchung enthüllen werden. Es sei jedoch angemerkt, dass eine Anzahl an unterschiedlichen Einflüssen zu deren Bildung beigetragen hat, am Überwiegendsten zweifellos der griechische (oder wenn man es bevorzugt, der griechisch-römische). Soweit man philosophische und wissenschaftliche Themen betrachtet, ist der griechische Einfluss überragend, ungeachtet des Auftauchens bestimmter spezieller Tendenzen, die vollkommen modern sind und auf die wir später noch zurückkommen werden. Der römische Einfluss ist mehr im Bereich des Gesellschaftlichen als in dem des Geistes wirksam und hat sich hauptsächlich in der Auffassung des Staates, der Gesetze und der staatlichen Institutionen durchgesetzt. Auf geistiger Ebene haben die Römer nahezu alles von den Griechen entliehen, so dass sich der griechische Einfluss zu großen Teilen auch indirekt bei den Römern bemerkbar gemacht hat. Aus religiöser Sicht muss man besonders den jüdischen Einfluss auf die europäische Geisteshaltung hervorheben, der auf ähnliche Weise auch in einem Teil des Ostens gegenwärtig ist. Hier haben wir es mit einem Element zu tun, dessen Ursprung außerhalb Europas liegt, obwohl ein Teil davon die heutige europäische Geisteshaltung herausgebildet hat.

Wenn wir uns nun dem Osten zuwenden, können wir nicht auf die gleiche Weise von einer östlichen oder asiatischen Rasse sprechen, noch nicht einmal unter all den Vorbehalten, die wir erwähnt haben als wir die europäische Rasse betrachtet haben. Wir befassen uns hier mit einer ausgedehnteren Gesamtheit, die eine viel größere Bevölkerungsanzahl umfasst und deren ethnische Unterschiede viel ausgeprägter sind. In dieser Gesamtheit können einige mehr oder weniger reine Rassen unterschieden werden, die gut bestimmbare Merkmale aufweisen und die jeweils eine Zivilisation besitzen, die sich von denen der anderen merklich unterscheidet. Man kann jedoch nicht sagen, dass es eine „einzige“ östlichen Zivilisation gebe, so wie man von einer „einzigen“ westlichen Zivilisation sprechen kann, da wie bereits gesagt im Osten unterschiedliche Zivilisationen existieren. Wir werden zu jeder dieser Zivilisationen genügend Zeit für spezielle Anmerkungen finden, und in diesem Zusammenhang werden wir dann auch auf eine allgemeine Einteilung des Ostens eingehen. Wenn man aber davon ganz abgesehen sich weniger an die äußere Form, sondern an die innere Bedeutung hält, können genügend gemeinsame Elemente oder besser gesagt Prinzipien gefunden werden, die es möglich machen, von einer östlichen Geisteshaltung zu sprechen, die ein Gegensatz zur westlichen Geisteshaltung darstellt.

Als wir gerade darauf hingewiesen haben, dass jede dieser östlichen Rassen ihre eigene, charakteristische Zivilisation besitze, war dies nicht vollkommen korrekt. Eigentlich trifft dies nur auf die chinesische Rasse zu, deren Zivilisation in der ethnischen Einheit ihre wahre Grundlage findet. Bei den anderen asiatischen Rassen sind die Prinzipien ihrer Einheit, auf denen sie beruhen, von einer völlig unterschiedlichen Natur, wie wir später noch erklären werden. Andererseits erlauben es gerade diese Prinzipien, dass sie in ihrer Einheit Elemente umfassen, die völlig verschiedenen Rassen angehören. Wir sprechen hier von asiatischen Zivilisationen, da die, an die wir dabei denken, dies durch ihren Ursprung sind, auch wenn sie sich auf andere Gebiete verteilt haben, wie dies hauptsächlich bei der islamischen Zivilisation der Fall ist. Aber wir möchten klar betonen, dass wir abgesehen von den muslimischen Elementen keinesfalls die Menschen, die den Osten von Europa oder die angrenzenden Gebiete bewohnen, als Menschen aus dem Osten betrachten: Man darf einen Menschen aus dem Osten nicht mit einem Levantinen verwechseln, der gerade das Gegenteil zu ihm ist und der, soweit es seine Mentalität betrifft, die meisten Merkmale eines typischen Menschen aus dem Westen aufweist.

Auf den ersten Blick ist man gezwungenermaßen von dem Ungleichgewicht beeindruckt, das zwischen den beiden Ausprägungen herrscht, die das bilden, was wir „Ost und West“ genannt haben. Obwohl sie im Gegensatz zueinanderstehen, gibt es dennoch weder eine Gleichwertigkeit noch gar eine Symmetrie zwischen diesen beiden Begriffen. Der Unterschied ist vergleichbar zu dem, der in geographischer Hinsicht zwischen Asien und Europa besteht, wo Europa nur eine einfache Verlängerung von Asien darstellt. Auf die gleiche Weise lässt sich die Position des Westens in Bezug zum Osten als die eines Zweiges sehen, der aus einem Stamm wächst. Es ist nun unsere Aufgabe, diesen Punkt im Detail zu erklären.

2. Die Abweichung

Wenn wir das, was normalerweise als das klassische Altertum angesehen wird, mit den östlichen Zivilisationen vergleichen, wird man zumindest in mancher Hinsicht leicht erkennen, dass dieses mehr mit den östlichen Zivilisationen gemeinsam hatte als es das moderne Europa heute hat. Die Unterschiede zwischen Ost und West scheinen also immer größer zu werden. Diese zunehmende Abweichung voneinander kann in dem Sinne als einseitig verursacht bezeichnet werden, dass es nur der Westen ist, der sich verändert, während der Osten in allgemeiner Hinsicht in etwa so geblieben ist wie in Zeiten, die wir gewohnt sind als altertümlich zu bezeichnen, die aber nichtsdestotrotz vergleichsweise jung sind. Stabilität, vielleicht sogar Unveränderbarkeit, ist eine Qualität, die man im Allgemeinen den östlichen Zivilisationen und besonders der chinesischen Zivilisation zugesteht, aber es ist wohl nicht ganz so einfach, deren Wert übereinstimmend zu beurteilen. Die Europäer sehen seit jener Zeit, als sie damit begonnen haben, an „Fortschritt“ und „Evolution“ zu glauben, also seit etwa Anfang des 19. Jahrhunderts, in dem Fehlen von Veränderungen ein Zeichen der Unterlegenheit. Wir für unseren Teil bewerten dies als einen ausgeglichenen Zustand, den der Westen nicht erreicht hat. Diese Stabilität zeigt sich sowohl im Kleinen wie im Großen. Ein auffälliges Beispiel dafür kann man in der Tatsache finden, dass „Mode“ mit ihren andauernden Änderungen nur im Westen zu finden ist. Kurz gesagt scheinen insbesondere die Menschen des modernen Westens mit einer schnell änderbaren und inkonstanten Natur ausgestattet zu sein, die nach Bewegung und Anregung verlangt, wogegen die östliche Natur annähernd die gegenteiligen Merkmale aufweist.

Wenn man diese Abweichung, die wir gerade besprechen, in einem Diagramm darstellen wollte, wäre es falsch, zwei Linien zu zeichnen, die von einer Achse weg in gegensätzlicher Richtung gezogen werden. Der Osten müsste als die Achse selbst dargestellt werden, während der Westen eine Linie wäre, die ausgehend von dieser Achse sich immer weiter und weiter entfernen würde, ähnlich wie der bereits erwähnte Vergleich des aus einem Stamm herauswachsenden Zweiges dies versinnbildlicht hat. Die Verwendung dieser Symbolik ist umso gerechtfertigter als der Westen zumindest vom Beginn der Epoche, die als die historische bezeichnet werden kann, davon gelebt hat, entweder direkt oder indirekt seine Ideen vom Osten zu entleihen, soweit man überhaupt davon ausgehen kann, dass der Westen ein eigenes geistiges Leben hatte. Die griechische Zivilisation war weit davon entfernt, jene Ursprünglichkeit zu besitzen, die ihr von Menschen mit eingeschränkter Vorstellungskraft zugeschrieben wird – Menschen, die auch bereit wären zu behaupten, dass sich die Griechen selbst verleumdet haben, als sie ihre Schuld gegenüber den Ägyptern, Phöniziern, Chaldäern, Persern und sogar gegenüber Indien anerkannt haben. All diese Zivilisationen sind unvergleichlich älter als die der Griechen, was aber einige Leute, die von einer Art „klassischem Vorurteil“ geblendet sind, nicht davon abhält, fortwährend die Theorie zu vertreten, dass gerade jene Zivilisationen in der Schuld der Griechen stünden und sich unter deren Einfluss weiterentwickelt hätten, obwohl dies im Gegensatz zu jeglichem Beweis steht. Es ist äußerst schwer, mit solchen Menschen eine Diskussion zu führen, da ihre Ansichten auf tief verwurzelten und vorgefassten Meinungen beruhen. Wir werden aber auf dieses Thema noch später zurückkommen, um es ausführlicher zu behandeln. Trotz allem ist es auch richtig zu sagen, dass die Griechen ein gewisses Maß an Ursprünglichkeit besaßen – wenn auch nicht von der Art, die im Allgemeinen angenommen wird. Diese Ursprünglichkeit beschränkt sich hauptsächlich darauf, Formen zu finden, über die die von anderen Zivilisationen entliehenen Vorstellungen dargestellt werden konnten. Dabei wurden diese Vorstellungen mehr oder weniger gelungen an ihre eigene Mentalität anpasste, die sehr verschieden von der der Menschen aus dem Osten war und die in vieler Hinsicht zu ihr sogar direkt im Gegensatz stand.

Bevor wir nun weitergehen, möchten wir klarstellen, dass wir kein Verlangen danach haben, die Ursprünglichkeit der hellenischen Zivilisation hinsichtlich für uns als zweitrangig anzusehende Gesichtspunkte zu erörtern, wie zum Beispiel bezüglich der Kunst. Wir bestreiten ihre Ursprünglichkeit aus Sicht des rein metaphysischen Standpunktes, der überdies bei den Griechen um ein Vielfaches eingeschränkter war als bei den Menschen aus dem Osten. Diese Beschränkung, zu der man auch „Verengung der Geistigkeit“ sagen könnte, tritt ganz offensichtlich zu tage, wenn wir die Hellenen mit den östlichen Zivilisationen vergleichen, die bis heute überdauert haben und über die wir direkte Erkenntnisse besitzen. Und das Gleiche würde auch bei einem Vergleich mit den untergegangenen Zivilisationen des Ostens zutreffen, nach allem, was über diese bekannt ist und hinsichtlich der Merkmale, die diese mit den anderen östlichen Zivilisationen sowohl des Altertums als auch der Neuzeit gemeinsam haben. Das Studium des Ostens, wie wir ihn heute kennen, wäre tatsächlich eine große Hilfe, um das Altertum besser verstehen zu können, insbesondere hinsichtlich der Qualität der Unveränderbarkeit und Stabilität, auf die wir uns bereits bezogen haben. Auch das Verständnis für die griechische Antike würde dadurch gefördert werden. Hierzu können wir ja nicht auf direkte Zeugnisse zurückgreifen, da es sich auch hier um eine Zivilisation handelt, die erloschen ist. Die Griechen unserer Zeit können kaum für sich beanspruchen, die Vertreter der antiken Hellenen zu sein, von denen sie vielleicht nicht einmal die direkten Nachfahren sind.

Man sollte nicht vergessen, dass die griechische Gedankenwelt in ihrem Wesen bereits westlich war, und dass sie neben ihren anderen Merkmalen den Ursprung und den Keim der meisten jener Neigungen in sich trug, die sich später bei den modernen Menschen des Westens entwickelt haben. Wir dürfen daher den Vergleich zwischen der griechischen und den östlichen Zivilisationen nicht zu weit führen. Wenn er jedoch im rechten Verhältnis bleibt, kann er eine beträchtliche Hilfe für jene bieten, die ein echtes Verlagen danach verspüren, die Antike zu verstehen und daran Interesse haben, sie unter Zuhilfenahme von möglichst wenigen Mutmaßungen auslegen zu können. Wenn wir nur das berücksichtigen, was mit Sicherheit über den Charakter der griechischen Geisteshaltung bekannt ist, laufen wir letztlich nicht Gefahr, uns in Mutmaßungen zu verlieren. Alle neueren Neigungen, auf die wir in der griechisch-römischen Welt treffen, sind fast ausschließlich von einer einschränkenden und begrenzenden Natur. Daher sind die Vorbehalte, die bei einem Vergleich mit dem Osten entstehen, allein aus der Befürchtung abgeleitet, den Gedanken der Menschen des antiken Westens eine Qualität zuzuschreiben, die sie in Wahrheit niemals besessen haben. Sobald man etwas findet, das diese vom Osten übernommen haben, darf man sich jedoch nicht vorstellen, dass sie dies völlig aufgenommen hätten, noch ist es gerechtfertigt, aus dieser Anleihe zu schließen, dass es sich dabei um die gleichen Gedanken handeln würden. Man kann viele Ähnlichkeiten finden, zu denen es im modernen Westen keine Parallele mehr gibt. Dennoch ist es eine Tatsache, dass sich das Wesen der östlichen Gedankenwelt deutlich vom dem des Westens – selbst von dem der Antike – unterscheidet. Daher wird man, solange man seinen Geist nicht von den westlichen Weltanschauungen befreit – was auch die des Altertums einschließt, – unweigerlich jene Aspekte der östlichen Gedankenwelt übersehen oder falsch beurteilen, die am wichtigsten und charakteristischsten sind. Da es klar ist, dass das „Höhere“ nicht aus dem „Geringen“ hervorgegangen sein kann, sollte es nachvollziehbar sein, welcher Kategorie eine Zivilisation angehört, die von anderen ihre wesentlichen Merkmale entliehen hat.

Zu dem Bild, das wir vorhin benutzt haben, bleibt noch anzumerken, dass sein größtes Defizit wie bei allen schematischen Darstellungen darin liegt, dass es die zugrundeliegenden Themen zu sehr vereinfacht, in dem es die Abweichung als sich kontinuierlich vergrößernd von den Zeiten der Antike bis in die Gegenwart darstellt. Tatsächlich aber gab es Stillstände in dieser Zunahme und sogar Zeiten der Annäherung, als der Westen wieder unter dem direkten Einfluss des Ostens gelangt war: Wir weisen hier hauptsächlich auf die Periode Alexanders des Großen hin sowie zu den Beiträgen, die die Araber während des Mittelalters zur europäischen Gedankenwelt geleistet haben, von denen einige ihre eigenen waren, während sie den Rest aus indischem Wissen abgeleitet hatten. Ihr Einfluss auf die Entwicklung der Mathematik ist bekannt, aber bei weitem nicht auf dieses spezielle Gebiet beschränkt gewesen. Die Abweichung wurde in der Renaissance wieder größer und der Unterschied zur vorangegangenen Periode ist sehr deutlich bemerkbar. In Wahrheit war die sogenannte „Wiedergeburt“ in der Renaissance der Tod vieler Dinge vornehmlich auf geistigem Gebiet, aber auch in der Kunst. Für den modernen Menschen ist es schwierig, sich ein Bild von dem Ausmaß zu machen, was in dieser Periode alles verloren ging. Der Versuch, zur klassischen Antike zurückzukehren, führte zu einem Rückgang der Geistigkeit. Dieses Phänomen ist bereits in früherer Zeit bei den Griechen in vergleichbarer Weise aufgetreten, allerdings mit dem großen Unterschied, dass es sich jetzt im Verlauf des Daseins von ein und derselben Rasse zeigte, anstatt wie damals während der Übertragung gewisser Vorstellungen von einem Volk zum anderen. Es scheint fast so, dass die Griechen in dem Moment, als sie die Bühne der Geschichte verließen, sich noch für ihre eigene Unfähigkeit wahres Wissen zu erlangen, rächen wollten, indem sie einem Teil der nachfolgenden Menschheit die Beschränkungen ihres eigenen geistigen Horizonts auferlegten. Als dann noch die Reformation ihre Wirkung in die Renaissance einbrachte, wobei die beiden wahrscheinlich nicht völlig voneinander getrennt zu sehen sind, haben die grundsätzlichen Neigungen der modernen Welt ihre endgültige Gestalt angenommen. Die Französische Revolution, die mit der Zurückweisung jeglicher Tradition gleichzusetzen ist, folgte und hinterließ als logische Konsequenz aus der Weiterentwicklung dieser Neigungen in den unterschiedlichsten Gebieten ihre Spuren. Hier ist allerdings nicht der Platz dafür, diese Fragen im Detail zu betrachten, da dies das Risiko birgt, zu weit vom eigentlichen Thema abzukommen. Es ist hier nicht unsere Absicht, eine Historie der westlichen Geisteshaltung zu schreiben, sondern nur insoweit darauf einzugehen, damit sich aufzeigen lässt, wie sehr sie von der östlichen Geistigkeit abweicht. Bevor wir allerdings diese Frage in Bezug auf die modernen Menschen vollständig beantworten können, müssen wir uns nochmals den Griechen zuwenden und einige Dinge detaillierter betrachten, auf die wir bisher nur kurz hingewiesen haben. Diese weiteren Erläuterungen werden uns eine solide Grundlage verschaffen und Einwänden vorbeugen, die man bereits vorhersehen kann.

Zum Abschluss möchten wir hinsichtlich der Abweichung zwischen Ost und West nur noch eine Sache anfügen: Wird diese Abweichung unendlich weiter anwachsen? Allem Anschein nach ist diese Annahme berechtigt und in Anbetracht des aktuellen Zustandes der Welt gehört diese Frage zweifellos zu denen, die man offen diskutieren muss. Trotzdem denken wir für unseren Teil, dass so etwas nicht möglich ist und werden für diese Einschätzung am Ende der Untersuchung unsere Gründe darlegen.

3. Das klassische Vorurteil

Wir haben bereits angedeutet, was wir unter dem „klassischen Vorurteil“ verstehen: Es besteht im Wesentlichen in der Neigung, den Ursprung aller Zivilisation den Griechen oder Römern zuschreiben zu wollen. Diese Ansicht lässt sich eigentlich kaum nachvollziehen, außer man stimmt folgender Argumentation zu: Da die westliche Zivilisation kaum weiter als die griechisch-römische Periode zurück reicht und sich von ihr ableitet, wird angenommen, dass dies bei allen anderen Zivilisationen auch so sein muss. Die Menschen aus dem Westen haben Schwierigkeiten zu begreifen, dass es auch völlig andere und viel ältere Zivilisationen neben der ihren gegeben hat und noch gibt. Man könnte auch sagen, dass sie geistig nicht dazu in der Lage sind, die mediterrane Einflusssphäre hinter sich zu lassen. Außerdem bekräftigt die Angewohnheit, von der „Zivilisation“ als von etwas Absolutem zu sprechen dieses Vorurteil. „Zivilisation“ in diesem Sinne und als eigenes „Wesen“ verstanden, ist etwas, das in dieser Form nie existiert hat. Tatsächlich gab und gibt es unterschiedliche „Zivilisationen“ unter denen die westliche mit ihren speziellen Merkmalen nur eine unter den anderen ist. Was so pompös als „Evolution der Zivilisation“ bezeichnet wird, ist nicht mehr als die Entwicklung dieser speziellen Zivilisation von ihrem vergleichsweise jungen Ursprung aus gesehen. Diese Entwicklung ist übrigens weit davon entfernt, immer entlang eines geradlinigen und gesamthaften „Fortschritts“ zu verlaufen: Die Anmerkungen, die wir gerade bezüglich der sogenannten Renaissance und ihrer Konsequenzen gemacht haben, können als passendes Beispiel für den intellektuellen Rückschritt dienen, der überdies bis heute noch anhält und sich zunehmend weiterentwickelt.

Für den unparteiischen Beobachter liegt es klar auf der Hand, dass die Griechen zumindest aus geistiger Sichtweise sehr viel vom Osten entliehen haben, wie sie es selbst oft genug eingestanden haben. Wenn die Griechen auch in manchen Dingen nicht immer wahrheitsgetreu waren, so haben sie in diesem Punkt nicht gelogen, da sie keinen Grund gehabt hätten, dies zu tun – ganz im Gegenteil. Wie wir bereits festgestellt haben, lag ihre Ursprünglichkeit eher in der Art und Weise, wie sie die Dinge ausgedrückt haben. Dabei kann man ihnen die Fähigkeit, Dinge auf sich anzupassen, nicht absprechen – aber sie war notwendigerweise auf den Grad ihrer eigenen Verständnisfähigkeit begrenzt. Kurz gesagt war ihre Ursprünglichkeit von rein dialektischer Form. Es gab auch entsprechende Unterschiede in der Art der verwendeten Argumentation, da die Denkweise der Menschen aus dem Osten anders als die der Griechen war. Dies sollte man immer berücksichtigen, wenn wir auf bestimmte Analogien hinweisen, auch wenn sie tatsächlich existieren wie beispielsweise die zwischen dem griechischen Syllogismus und dem, was man auf ähnliche Weise den hinduistischen Syllogismus nennen kann. Man kann nicht einmal sagen, dass sich die griechische Argumentation durch eine außerordentliche Stringenz unterscheidet. Sie erscheint nur den Menschen, die sie selbst ausschließlich verwenden, stringenter als andere Methoden der Argumentation. Diese Illusion ergibt sich allein durch die Tatsache, dass sie auf ein engeres und eingegrenzteres Gebiet beschränkt ist und sich daher leichter definieren lässt. Andererseits ist die Fähigkeit, die am Charakteristischsten für die Griechen ist – wobei sie ihnen aber nicht zum Vorteil reicht – die einer bestimmten dialektischen Feinheit, von der die Dialoge Platons unzählige Beispiele liefern. Man kann darin einen gewissen Gefallen erkennen, jede Frage endlos in allen Aspekten und bis ins kleinste Detail zu untersuchen, um dann letzten Endes zu einem eher unbefriedigenden Abschluss zu kommen. Es scheint also, dass nicht erst die modernen Menschen des Westens an einer „geistigen Kurzsichtigkeit“ gelitten hätten.

Die Griechen sollten trotz allem nicht zu sehr für die Beschränkung der menschlichen Geistigkeit verantwortlich gemacht werden. Einerseits war dies ein unvermeidliches Ergebnis ihrer geistigen Anlage, für die sie nicht verantwortlich gemacht werden können und andererseits brachten sie dennoch auf diesem Wege ein bestimmtes Wissen in die Reichweite eines großen Teiles der Menschheit, der ansonsten der Gefahr ausgesetzt gewesen wären, diesem Wissen völlig fremd zu bleiben. Welche Bedeutung diese Leistung hatte, kann man sehr schnell abschätzen, wenn man vergleicht, was die Menschen aus dem Westen heute zustande bringen, wenn sie die Möglichkeit haben, in direkten Kontakt mit bestimmten östlichen Anschauungen zu kommen. Im Gegensatz zu den Griechen beginnen sie, diese Anschauungen in einer Weise auszulegen, die nur ihrer eigenen, speziellen Geisteshaltung entspricht: Alles, was sie nicht mit ihrer „klassischen“, vorgefassten Ausdrucksweise verbinden können, entgeht ihnen völlig und alles, was nur auf irgendeine Weise mit ihr übereinstimmend gemacht werden kann, wird dadurch so entstellt, dass es fast unkenntlich wird.

Kurz gesagt lässt sich das „griechische Wunder“, wie es von seinen enthusiastischen Bewunderern genannt wird, auf etwas von vergleichsweise geringer Bedeutung reduzieren. Wenn man jedoch darin unbedingt einen grundsätzlich neuen Anfang sehen will, so weist dieser Anfang wohl eher die Natur einer Degeneration auf. Er steht für die Individualisierung von Anschauungen, für die Ersetzung der wahrhaft geistigen durch die rationale Geisteshaltung sowie des Wechsels von der metaphysischen zur wissenschaftlichen oder philosophischen Sichtweise. Es sagt überdies wenig aus, ob die Griechen erfolgreicher als andere waren, bestimmte Arten des Wissens in eine praktische Anwendung zu überführen oder ob sie aus ihren Kenntnissen bestimmte Ableitungen machen konnten, die von jenen, die ihnen vorangegangen waren, nicht gemacht wurden. Man kann in dieser Hinsicht sogar sagen, dass sie sich dem Wissen in einer weniger reinen Weise zugewendet haben, da ihre Geisteshaltung es ihnen nur mit einigen Schwierigkeiten und in Ausnahmefällen erlaubte, im Bereich der Prinzipien zu bleiben. Die Auswirkung zeigt sich in der Vorliebe zum „Praktischen“ im gewöhnlichsten Sinne des Wortes, die eine jener Neigungen ist, die dazu bestimmt war, im Verlauf der westlichen Zivilisation zunehmend betont zu werden, bis sie in der heutigen modernen Zeit offen vorherrschend wurde. Nur über das Mittelalter lässt sich sagen, dass es dieser Tendenz widerstand, da es viel offener für die reine Betrachtungsweise war.

Man kann ganz allgemein sagen, dass die Menschen aus dem Westen eine sehr geringe Neigung zur Metaphysik haben. Ein Vergleich ihrer Sprachen mit jenen des Ostens wäre schon ausreichend, um diese Aussage zu bekräftigen, was aber natürlich voraussetzt, dass die Philologen wirklich dazu fähig wären, den Geist der Sprachen, die sie untersuchen, zu verstehen. Die Menschen aus dem Osten zeigen eine stark ausgeprägte Neigung, jegliche Form der praktischen Anwendung zu übergehen. Dies lässt sich gut aus der Tatsache ersehen, dass jeder, der vor allem anderen dem Wissen der universalen Prinzipien nachgeht, gegenüber speziellen Wissenschaften nur ein geringes und höchstens vorübergehendes Interesse hervorbringen kann, da diese Wissenschaften auf der Ebene der universalen Prinzipien nur äußerst unwahrscheinlich zu einer großen Zahl an Ideen führen würden. Wenn man mit mathematischer und sogar darüberhinausgehender Sicherheit weiß, dass die Dinge nicht anders sein können als sie sind, schätzt man Experimente gering ein, da das Überprüfen einer bestimmten Tatsache unabhängig von ihrer Natur niemals etwas anderes als die bloße Existenz dieser Tatsache beweisen kann. Das Beobachten von Tatsachen kann gelegentlich ein Beispiel liefern, um eine Theorie zu unterstützen, aber sie kann dadurch niemals beweisen werden. Jeglicher Glaube an das Gegenteil bedeutet, dass man sich einer schweren Selbsttäuschung hingibt. Vor diesem Hintergrund ist es ganz offensichtlich sinnlos, die experimentelle Wissenschaft um ihrer selbst willen zu verfolgen, da sie vom metaphysischen Standpunkt aus gesehen nur einen beiläufigen und bedingten Wert hat, genau wie die Objekte, die sie untersucht. Oftmals wird auch nicht die Möglichkeit gesehen, bestimmte Gesetze aus den Prinzipien selbst abzuleiten, vorausgesetzt der Aufwand dafür wäre zu rechtfertigen. Das eigentliche Ausmaß, das östliches „Wissen“ von der westlichen „Forschung“ trennt, wird auf diese Weise erst deutlich erkennbar. Trotz allem ist und bleibt es erstaunlich, dass die Forschung im Westen als ein Ziel in sich selbst angesehen wird und zwar unabhängig von jeglichen Ergebnissen, die diese vielleicht finden wird oder nicht.

Ein weiterer Punkt sollte nicht übersehen werden, der sich als Folgeerscheinung aus dem bereits Gesagten ergibt: Kaum eine andere Zivilisation als die der Menschen des Ostens hat weniger Neigung dazu gezeigt, dem Kult der Natur nachzueifern, wie er in den griechisch-römischen Zeiten verfolgt wurde. Für sie ist mit der Natur immer die Welt der Erscheinungen verbunden. Die Erscheinungen besitzen zwar eine gewisse ihnen eigene Wirklichkeit, aber diese ist vergänglich und nicht dauerhaft, bedingt und nicht universal. Daher stellt sich den Menschen, die in ihrem Geist Metaphysiker sind, ein „Naturalismus“ in welchen Verkleidungen er sich auch immer versteckt, nur als eine Verwirrung dar oder vielleicht sogar als eine geistige Ungeheuerlichkeit.

Die Griechen haben trotz ihrer Neigung zum Naturalismus dem Experiment nie die maßlose Bedeutung beigemessen, wie dies der Westen tut. Man kann in der Antike – und sogar in der westlichen Antike – eine gewisse Verachtung dem Experiment gegenüber finden, die sich nur schwer erklären lässt, wenn man darin nicht eine Spur des östlichen Einflusses erkennt. Diese Haltung lässt sich wohl kaum auf die Griechen zurückführen, deren Beschäftigungen einen geringen metaphysischen Charakter aufweisen und bei denen ästhetische Überlegungen oft den Platz einnahmen, der eigentlich tieferen Gründen vorbehalten sein sollte, die sie jedoch nicht zu fassen vermochten. Die Menschen des heutigen Westens berufen sich daher gerne auf diese ästhetischen Betrachtungen, um ihr fehlendes Interesse an der Anwendung und experimentellen Überprüfung zu rechtfertigen, obwohl wir eher davon überzeugt sind, dass zumindest in früherer Zeit die Gründe in der mangelnden Durchführbarkeit zu suchen sind. Dies ändert jedoch nicht die Tatsache, dass man bei den Griechen bereits auf gewisse Weise den Startpunkt für die experimentellen Wissenschaften finden kann, wie sie von den modernen Menschen verstanden werden, bei denen die „praktische“ mit der „naturalistischen“ Neigung verbunden ist und keine der beiden ihre völlige Entwicklung erreichen kann, außer zu Lasten des reinen Gedankens und Wissens. Daher ist die Tatsache, dass sich die Menschen aus dem Osten nie bestimmten Wissenschaftszweigen gewidmet haben auch kein Zeichen der Unterlegenheit. Aus der geistigen Sichtweise heraus gesehen, ist dies eher von Vorteil, da es nichts anderes als die logische Konsequenz aus der Tatsache ist, dass ihre Hauptaktivität einer anderen Richtung und völlig anderen Zielen zugewendet war. Gerade diese unterschiedlichen Richtungen, in denen die Menschen ihre geistigen Aktivitäten ausüben, prägen jeder Zivilisation ihren eigenen Charakter auf, da sie die grundsätzliche Richtung ihrer Entwicklung festlegen. So lässt sich bei denen, die nur mit ihrer Art der Zivilisation vertraut sind und die sich keine andere Entwicklungsrichtung vorstellen können, verstehen, warum sie der Illusion von Fortschritt anhängen. Sie glauben, dass dies der einzig richtige Weg sei und berücksichtigen dabei in keiner Weise die Tatsache, dass eine Entwicklung, die ausschließlich in eine Richtung geht, durch eine Rückentwicklung in anderer Richtung wieder neutralisiert werden kann.

Wenn wir uns der geistigen Ordnung zuwenden, die alleine für die östlichen Zivilisationen wesentlich ist, kann man mindestens zwei Gründe dafür erkennen, dass die Griechen fast alles, was dieser Ordnung angehört, von den östlichen Zivilisationen entliehen haben müssen. Dies trifft zumindest für das zu, was in ihren Anschauungen von wirklichem Wert zu finden ist. Einer der Gründe, den wir bereits genannt haben, folgt aus der in dieser Hinsicht eher begrenzten Begabung der griechischen Mentalität. Der andere Grund ist der, dass die griechische Zivilisation viel jüngeren Datums ist als die östlichen Zivilisationen. Dies tritt insbesondere im Vergleich zu Indien zu Tage. Dennoch treiben bestimmte Personen ihr „klassisches Vorurteil“ so weit, dass sie von vornherein behaupten, dass jegliche Verbindung zwischen diesen beiden Zivilisationen auf den griechischen Einfluss zurückzuführen sei. Falls je ein Einfluss dieser Art in der hinduistischen Zivilisation zum Tragen kam, kann dies jedoch erst sehr spät geschehen sein, und die Auswirkungen sind recht oberflächlich geblieben. Man kann beispielsweise gelegentlich einen Einfluss auf die Kunst erkennen, obwohl sich selbst von dieser speziellen Sichtweise aus die hinduistischen Anschauungen immer sehr von jenen der Griechen unterscheiden. Jedenfalls lassen sich unverwechselbare Spuren eines solchen Einflusses nur in einer speziellen Periode der buddhistischen Zivilisation finden, die sehr in Raum und Zeit eingegrenzt war. Diese Zivilisation darf jedoch nicht mit der hinduistischen Zivilisation verwechselt werden. Hinsichtlich dieser Thematik fühlen wir uns verpflichtet, im Folgenden mehr über die Beziehungen zwischen unterschiedlichen, mehr oder minder weit voneinander entfernt lebenden Völkern des Altertums zu sagen. Außerdem werden wir noch einige Gedanken über die Schwierigkeiten hinzufügen, die durch die Frage nach der Zeitmessung entsteht, die in den Augen der Unterstützer der „historischen Methode“ so wichtig ist.

4. Die Beziehungen zwischen den Menschen im Altertum

Die Beziehungen zwischen Griechenland und Indien erreichten, wie gemeinhin geglaubt wird, keine spürbare Bedeutung bis zur Zeit der Eroberungen durch Alexander des Großen. Alles, was unzweifelhaft einem früheren Datum zugeordnet werden kann, wird daher als zufällige Ähnlichkeit zwischen den beiden Zivilisationen abgetan, während alles, was sich später begeben haben soll, allein auf den Einfluss der Griechen zurückgeführt wird, um den Anforderungen der des „klassischen Vorurteils“ innewohnenden Logik gerecht zu werden. Hier treffen wir wieder einmal auf eine Meinung, die wie so viele andere jeglicher ernsthaften Grundlage entbehrt, da der Austausch zwischen den Völkern der Antike, selbst wenn sie durch große Entfernungen voneinander getrennt waren, viel üblicher war, als normalerweise angenommen wird. Die Kommunikation war damals nicht viel schwieriger als sie es noch einige wenige Jahrhunderte vor unserer Zeit war oder, um genauer zu sein, bis zur Erfindung der Eisenbahn und Dampfschifffahrt. Reisen war in früherer Zeit ohne Zweifel weniger verbreitet und vor allem langsamer als heutzutage, aber die Menschen hatten insgesamt mehr von ihren Reisen, da sie sich mehr Zeit nahmen, die bereisten Länder zu studieren. Solche Reisen wurden auch oftmals aus gerade diesem Grund unternommen, damit entsprechende Untersuchungen gemacht werden konnten, aus denen sich dann Vorteile für die eigene, geistige Sichtweise ableiten ließen. Es gibt daher keine einleuchtenden Gründe, die Reiseberichte der griechischen Philosophen als „Legenden“ abzutun, zumal diese Reisen viele Dinge erklären, die man ansonsten nicht verstehen könnte. In Wahrheit hat sich lange vor der Frühzeit der griechischen Philosophie eine Kultur der Kommunikation zwischen den Völkern entwickelt, über deren Entwicklungsstand die modernen Menschen es nicht geschafft haben, sich ein korrektes Bild zu machen. Diese Reisen waren normal und regelmäßig und auch unabhängig von der Migration von Menschen, die nur stoßweise und unter außergewöhnlichen Umständen stattfand.

Unter den vielen Beweisen, die man zur Untermauerung des gerade Gesagten anführen könnte, möchten wir nur einen erwähnen, der speziell die Beziehungen der mediterranen Völker untereinander betrifft. Wir tun dies deshalb, weil er sich auf eine wenig bekannte Tatsache bezieht, der nie die Beachtung geschenkt wurde, die sie eigentlich verdient hätte und die bisher fast ausschließlich falsch interpretiert wurde. Die Tatsache, auf die wir uns beziehen, ist die, dass im gesamten Mittelmeerraum ein in den Grundsätzen gemeinsames Münzsystem zur Anwendung kam, das sich nur in zweitrangigen Merkmalen, die als lokale Kennzeichnungen dienten, voneinander unterschied. Obwohl es nicht möglich ist, ein exaktes Datum für die Aufnahme dieses einheitlichen Geldsystems festzulegen, so muss es doch sehr weit zurückreichen, zumindest wenn man die Periode betrachtet, die man meist als Antike bezeichnet. Diese Tatsache wurde oft als eine einfache Nachahmung des griechischen Münzsystems gedeutet, das zufälligerweise seinen Weg auch in entfernte Länder gefunden haben soll, was wiederum ein weiteres Beispiel für die übertriebene Bedeutung ist, die den Griechen so gerne zugeschrieben wird. Es ist aber auch ein Beispiel für die unglückliche Neigung, alles als Zufall zu sehen, das auf anderem Wege nicht erklärt werden kann, fast als ob „Zufall“ nur ein Wort dafür ist, unsere Unkenntnis der wirklichen Gründe zu verstecken. Als sicher erscheint, dass der gemeinsame Typ des fraglichen Geldes, dessen wesentliches Merkmal die Prägung eines menschlichen Kopfes auf der einen Seite und ein Pferd oder einen Streitwagen auf der anderen Seite ist, weder für die Griechen, noch für die Italiener, Karthager oder gar die Gallier oder Iberianer spezifisch ist. Diese übereinstimmende Prägung muss mit Sicherheit ein mehr oder weniger klares Abkommen zwischen den verschiedenen mediterranen Völkern erfordert haben, auch wenn uns die Umstände und Einzelheiten dieses Abkommens für uns nicht mehr greifbar sind. Was für dieses gemeinsame Geldsystem zutrifft, gilt auch für bestimmte Symbole und Bräuche, die immer wieder in weit auseinanderliegenden Regionen entdeckt werden können und dabei unverändert zur Anwendung kommen. Warum sollten Beziehungen zwischen den Griechen und anderen Völkern bezweifelt werden, wenn unbestritten ist, dass beständige Beziehungen zwischen den griechischen Kolonien und ihren Ursprungsstädten unterhalten wurden? Selbst wenn ein Abkommen wie das gerade erwähnte aus Gründen unterschiedlichster Natur, auf die wir hier nicht näher eingehen wollen, niemals existiert haben sollte – was überdies schwierig wäre, endgültig festzustellen – beweist dies keinesfalls, dass die Einrichtung eines mehr oder minder regelmäßigen Austauschs zwischen diesen Völkern nicht möglich gewesen wäre. Die Mittel waren damals einfach aus der Notwendigkeit, sich anderen Umständen anzupassen, anders als heute gewesen.