Auch ein Mörder macht mal Urlaub - Michael Tosch - E-Book

Auch ein Mörder macht mal Urlaub E-Book

Michael Tosch

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Beschreibung

In der Nähe des Hafengebäudes auf Juist wird eine männliche Leiche im Watt gefunden. Kriminalhauptkommissar Markus Niemand und Kriminalkommissarin Helga Weilburger werden von der Polizeiinspektion Aurich/Wittmund nach Juist beordert und machen sich zusammen mit ihren Kollegen von der Polizeistation Juist auf die Suche nach dem Mörder. Bei ihren Ermittlungen stoßen sie auf weitere Straftaten, finstere Gestalten, krumme Hunde und liebenswerte Menschen. Sie sorgen dafür, dass am Ende das Töwerland wieder zur schönsten Insel der Welt wird.

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Seitenzahl: 216

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Michael Tosch

Auch ein Mörder macht mal Urlaub

Juist Krimi

Michael Tosch

Auch ein Mörder macht mal Urlaub

Niemand ermittelt

Juist Krimi

Die Personen und die Handlung des Romans sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Impressum

Texte: © 2022 Copyright by Michael Tosch

Umschlag:© 2022 Copyright by Michael Tosch

Verantwortlich

für den Inhalt:Michael Tosch

Gerichtsstraße 23a

65385 Rüdesheim am Rhein

[email protected]

Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Meiner Frau Ruth

Wärst Du nicht mit mir verheiratet, ich würde erneut um Deine Hand anhalten.

Ich liebe Dich. Danke für Alles.

Prolog

Kriminalhauptkommissar Markus Niemand und Kriminalkommissarin Helga Weilburger hatten sich an ihrem freien Samstag verabredet. Helga hatte ihn gefragt, ob er Lust hätte, sie an diesem Tag beim Shopping in Aurich zu begleiten.

Markus war eigentlich nicht der Typ, der gerne von Boutique zu Drogeriemarkt spazierte und in den Angeboten stöberte. Er überlegte, warum er überhaupt zu-gesagt hatte und kam zu dem Schluss, dass es mehrere Gründe gab. Erstens wohnte er erst seit gut einem Jahr in Ostfriesland und kannte Aurich nicht sonderlich gut, zweitens hatte er sich ohnehin entschlossen, seine Kollegin Helga etwas besser kennenzulernen. Im Dienst hatte er sie als sehr professionelle und kompetente Polizistin erlebt, aber er hätte auch gerne gewusst, wie sie im Privatleben tickte. Dann hatte er auch noch einen dritten Grund gefunden.

Er war alleinstehend, seine Lebensgefährtin Charlie, die eigentlich Charlotte hieß, hatte ihm vor vier Monaten den Laufpass gegeben und jetzt litt er immer noch unter dem Aus der Beziehung.

Kurz vor der Trennung hatte er ein Häuschen in Südbrookmerland erworben und versteckte sich jetzt privat mehr in seinem neuen Heim. Dort fand er genügend Aufgaben, die er erledigte und damit seine Einsamkeit vor sich selbst verbergen konnte.

Markus fand, dass es Zeit war, sein Leben neu zu organisieren und ergriff deshalb auch gerne die Gelegenheit, mit Helga zu shoppen und überwand daher seine Abneigung gegen das, wie er es nannte 'durch die Läden latschen'.

Natürlich hatte Markus, wie alle Menschen auch, seine Macken. Eine davon war seine Leidenschaft für die australischen Hardrocker AC/DC. Als Jugendlicher hörte er auf Partys die Songs der australischen Band und mit 22 besuchte er ein Konzert in London. Inzwischen hatte er AC/DC schon viermal live gesehen und besaß als Erwachsener fast alle Platten bzw. CDs.

Daher war es nicht verwunderlich, dass ihm auch ständig Lieder seiner Lieblingsband in den Kopf kamen und wenn er in guter Stimmung war, sang er auch gerne die Songtexte, die er kannte. Da er behauptete, dass man Musik von AC/DC auf keinen Fall leise summen könne, sang Markus, wenn er denn sang, auch gerne sehr laut. Allerdings waren meistens seine gewollten und auch die ungewollten Zuhörer der Meinung, dass er bei einem Song Contest nicht aufs Treppchen kommen würde.

Er spazierte mit Helga am Rande des Marktplatzes in Aurich und ihm gefiel der Anblick der bunten Stände und das Treiben auf dem Wochenmarkt. Ihm wurde bewusst, dass er bisher erst einmal mit seiner Ex zum Einkaufen hier gewesen war. Die Gedanken an Charlie und die Erinnerung an die Trennung machten ihn nachdenklich und traurig.

Jetzt schlenderte er mit Helga an seiner Seite durch Aurich und genoss den Tag. Es war angenehm warm und er spürte eine sanfte Brise, die er hier im Norden so liebte. Richtig windstill hatte er es in dieser Region noch nicht erlebt. Das laue Windchen trug den typischen Geruch des Meeres mit sich und ließ erahnen, dass die Nordsee nicht sehr weit weg sein konnte.

Markus hatte in seinem ersten Jahr gelernt, dass die Ostfriesen eigene Wetter-regeln entwickelt haben.

Regen ist erst, wenn der Briefträger mit dem Schlauchboot kommt.

Schietwetter fängt erst bei Windstärke 12 an.

Sturm ist erst, wenn die Schafe keine Locken mehr haben.

Nirgends strahlt der Himmel so schön grau…

Die letzte Regel fand allerdings nicht seine Zustimmung. Es gab hier oben wunderschöne Tage mit Wärme und blauem Himmel, allerdings konnte sich das Wetter schnell ändern, und zwar in jede Richtung.

Helga hatte in einem Modegeschäft ein paar T-Shirts gekauft, die sie in einer Tasche mit dem Werbeaufdruck des Ladens spazieren führte. Ein neues davon hatte sie direkt angezogen. Über ihrer Schulter trug sie eine dunkelblaue Handtasche. Markus vergaß seine Ex und bewunderte seine Kollegin. Tolle Frau, dachte er und spontan sang er sofort los:

»When I see a pretty woman, you know it give me a thrill, and she's tailor made to order, you know I can't stand still, and you won't need a doctor, 'cause it'll cure all ills.«

Als Helga ihn verständnislos anschaute, erklärte er: »Das war 'Can't Stand Still', ein Song von AC/DC.«

»Kennst du den Song, weil du den immer auf einer alten Vinyl-Langspielplatte abspielst?«

»Wie meinst du das?«, Markus war etwas verwirrt.

»Weil du die Kratzer auf der LP alle mitgesungen hast!«, spottete Helga.

Bevor er antworten konnte, klingelte Helgas Handy. Sie nahm es aus ihrer Handtasche und sprach offensichtlich mit einer Freundin. Markus versuchte weg-zuhören, denn er gehörte nicht zu den Menschen, die andere belauschen würden.

In diesem Augenblick war hinter ihnen ein lautes Rufen, das Klingeln und das Bremsen eines Fahrrads zu hören. Markus drehte sich um und bekam nur noch mit, wie ein Mann mit immer noch recht hohem Tempo auf sich und seine Begleiterin zuraste und Helga erfasste. Helga und auch der Radfahrer stürzten zu Boden.

Der Mann fand sich auf dem Straßenpflaster wieder. Sein Drahtesel war mit verbogenem Vorderrad zum größten Teil auf dem Oberkörper des gestürzten Radfahrers gelandet. Helga lag auf dem Pflaster und rührte sich nicht, sie war mit ihrem Kopf offensichtlich auf einen Blumenkübel gestürzt. Aus einer Platzwunde auf der Stirn lief Blut über ihr Gesicht und tropfte zu Boden.

Markus versuchte sie anzusprechen und rief mehrmals laut ihren Namen. Da sie nicht reagierte, sprach er einen Mann aus der inzwischen entstandenen Gruppe von Neugierigen an.

»Ich bin von der Polizei. Bitte rufen sie einen Notarzt!«

Markus nahm wahr, dass inzwischen mehrere Personen mit ihren Handys telefonierten.

Er sah, dass Helga atmete und überprüfte ihren Puls, alles schien so weit ok zu sein und er legte sie in die stabile Seitenlage. Inzwischen hatte sich auch der Radfahrer wieder erhoben und stammelte so etwas wie eine Entschuldigung in die Richtung von Helga.

Über den Marktplatz von Aurich schallte das Martinshorn. Mit eingeschaltetem Blaulicht kamen ein Rettungswagen und direkt dahinter ein Notarzt in seinem Einsatzfahrzeug um die Ecke und hielten am Unfallort.

Markus spürte, dass der Schock immer stärker Besitz von ihm ergriff. Helga erwachte aus ihrer Ohnmacht und wollte sich aufrichten.

»Bleib liegen, bitte!«, Markus sprach nicht sonderlich laut, aber bestimmend und das bewirkte, dass Helga sich gehorsam wieder zurücklegte.

Der Notarzt untersuchte Helga und veranlasste, dass die Sanitäter sie auf eine Trage betteten, um sie danach in den Rettungswagen zu bringen.

Zu Markus gewandt sagte er: »Anscheinend ist es nichts Ernstes, eventuell eine kleine Gehirnerschütterung. Wir nehmen sie vorsichtshalber mit und sie wird dann noch einmal untersucht. Wir bringen sie in die Ubbo-Emmius-Klinik.«

»Ich komme sofort hinterher, ich kenne den Weg.«

Gerade bemühte sich Markus um die Utensilien von Helga, die etwas verstreut am Unfallort lagen. Er wollte nach ihrer Handtasche greifen und sah plötzlich aus den Augenwinkeln, wie ein junger Mann aus der Gruppe der Schaulustigen sich bückte, Helgas Handy schnappte und blitzschnell davonrannte.

Der Adrenalinstoß, der durch Markus Körper fuhr, verhalf ihm zu neuer Aktivität. Blitzschnell nahm er die Einkaufstüte und Helgas Handtasche auf und rannte hinter dem Handy-Dieb her. Der hatte inzwischen einen kleinen Vorsprung und verschwand, ohne sich umzuschauen in der Markthalle. Markus hatte sich gemerkt, dass der Dieb helle Shorts und ein dunkelgrünes T-Shirt trug. Als er den Eingang der Halle erreichte, entdeckte er, dass der Radfahrer, der Verursacher des Unfalls, ihm gefolgt war.

»Ich will ihnen helfen, ich habe gesehen, wie der das Handy geklaut hat.«

Markus sagte: »Das ist nett von Ihnen, aber ich bitte sie, hier stehenzubleiben. Ich weiß nicht, ob der Kerl bewaffnet ist. Ich mache das schon.«

Direkt hinter dem Eingang war eine Imbisstheke, an der Speisen und Getränke angeboten wurden. Markus erkannte unschwer den jungen Mann in hellen Shorts und dem grünen Shirt. Der hatte sich inzwischen mit einem Tablett an der Theke angestellt und wartete, bis er bedient werden würde. Er fühlte sich offenbar sehr sicher. Wahrscheinlich hatte er keinen seiner Verfolger bemerkt.

Markus holte sein eigenes Smartphone aus der Tasche. Natürlich war darin auch die Rufnummer von Helga gespeichert, die er jetzt sofort anrief.

Kurz darauf klingelte ein Handy bei dem jungen Mann an der Theke. Markus musste grinsen, da er natürlich Helgas Klingelton sofort erkannte. Der Dieb war völlig überrascht und wollte sich umdrehen. Da hatte ihn Markus bereits am Arm ergriffen und verkündete ihm die Verhaftung.

»Sie haben das Recht, zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht, zu jeder Vernehmung einen Verteidiger hinzuzuziehen. Wenn Sie sich keinen Verteidiger leisten können, wird Ihnen einer gestellt. Haben Sie das verstanden?«

Natürlich bildete sich auch hier sofort eine Traube von Neugierigen und einige filmten die Szene sogar mit ihren Handys.

Irgendjemand hatte die Polizei verständigt. Zwei Polizisten drängten sich durch die Gaffer und kamen auf Markus und den Verhafteten zu.

Da er die Kollegen nicht kannte, wies sich Markus als Polizist aus und erklärte den Sachverhalt. Bevor der Dieb abgeführt wurde, wurde er aufgefordert, seine Taschen zu leeren. Dabei kamen vier weitere Handys zum Vorschein, offenbar alles Diebesgut.

Beim Verlassen der Markthalle entdeckte er den Radfahrer, der vor der Tür gewartet und auch die Verhaftungsaktion beobachtet hatte. Markus ging auf ihn zu und sagte: »Sie haben inzwischen wahrscheinlich mitbekommen, dass ich von der Polizei bin. Sie haben mit ihrem Fahrrad einen Unfall gebaut und sind dabei gestürzt, genau wie meine Kollegin. Ist bei ihnen alles in Ordnung?«

Der Mann nickte. »Ja, ich weiß. Bei mir ist alles in Ordnung, ich bin nicht verletzt, nur mein Fahrrad ist leicht demoliert.«

Markus fuhr fort: »Das beruhigt mich sehr, dass es ihnen gut geht. Normalerweise würde ich jetzt ein Auge zudrücken und sie verwarnen. Aber in diesem Fall kann ich das leider nicht. Meine Kollegin wurde bei dem Unfall verletzt und bei einem Personenschaden muss ich in jedem Fall eine Anzeige erstatten. Bitte geben sie mir ihre Personalien.«

»Ich weiß das«, entgegnete der Radfahrer, »ich bin selbst Anwalt. Deshalb habe ich hier auch auf sie gewartet. Hier ist meine Visitenkarte.«

Markus schaute kurz auf die ihm überreichte Karte mit den Daten. Er prägte sich den Namen und den Wohnort ein und sprach dann wieder zu seinem Gegenüber.

»Herr Dahlmann, ich finde es sehr gut, dass sie gewartet haben. Enttäuschenderweise kommt das sehr selten vor. Ich werde ihr Verhalten in meinem Unfallbericht positiv für sie vermerken. Danke, sie werden demnächst von der Justiz Post bekommen. Alles Gute für sie.«

Die Polizisten nahmen Markus in ihrem Auto mit und setzten ihn an der Ubbo-Emmius-Klinik ab. An der Rezeption erkundigte er sich nach Helga und erfuhr, dass sie noch in der Unfallaufnahme sei.

Dort angekommen, sah er seine Kollegin schon von weitem. Sie saß auf einer Bank und erhob sich, als Markus sie erreichte. Ein stattlicher Verband zierte ihren Kopf und bevor Markus eine Frage stellen oder etwas sagen konnte, ergriff Helga das Wort.

»Ich habe eine Platzwunde an der Stirn, die wurde genäht und eine Gehirnerschütterung liegt wohl nicht vor. Ich kann mich an alles erinnern, habe kein Schwindelgefühl und Übelkeit auch nicht. Also alles gut, wir können gehen, wenn du mich mitnimmst.«

Helga lächelte und Markus hatte das Gefühl, dass sie wieder ganz die Alte war, so voller Tatendrang. Ihre Worte hatten bei ihm ein positives Gefühl ausgelöst. Markus freute sich riesig, dass der Unfall so glimpflich ausgegangen war. Er umarmte sie, benutzte dabei allerdings nur seinen rechten Arm.

»Ich hatte Angst um dich. Jetzt bin ich froh, dass du wieder einsatzfähig bist.«

»Einsatzfähig? Ich?«, Helga strahlte ihn an. »Heute ist Samstag, da kann ich mich für den Rest des Tages und auch für Sonntag noch erholen. Meine Rekonvaleszenz endet also erst am Montagmorgen. Da beginnt auch offiziell mein Dienst wieder. Erst dann bin ich auch wieder voll einsatzfähig.«

»Ach übrigens«, Helga fuhr fort, »weißt du eigentlich, wo meine Handtasche und meine Einkäufe geblieben sind?«

Mit der linken Hand hatte er die Einkaufstüte und Helgas Handtasche hinter seinem Rücken verborgen. Er reichte ihr beides.

Helga untersuchte ihr Eigentum und fragte sofort: »Mein Handy, das Handy ist weg. Weißt du, wo das ist?«

»Ja, das weiß ich«, Markus holte ihr Smartphone aus seiner Tasche, reichte es ihr und erklärte, »während du dich ganz gemütlich durch Aurich kutschieren ließest, habe ich gearbeitet. Du hast dich hier verwöhnen und auf hohem Niveau pflegen lassen. Ich habe in der Zeit sämtliche Verbrecher in Aurich gejagt und verhaftet.«

Helga schaute irritiert zu ihrem Kollegen. »Was hast du? Das verstehe ich jetzt nicht.«

Markus wollte sie nicht länger auf die Folter spannen und erzählte ihr die ganze Geschichte.

»Ist das wirklich wahr? Dass ausgerechnet mir das passiert ist, kaum zu glauben.«

»Ich wollte, das wäre alles nicht passiert. Erst wirst du verletzt, musst leiden und dann beklaut dich auch noch so ein Mistkerl.«

»Weißt du was? Für deinen Einsatz muss ich dich belohnen, was hältst du davon, wenn ich dich für heute zum Abendessen einlade? Übrigens, ein Nein werde ich nicht akzeptieren.«

»Ich überlege, ob das jetzt Beamtenbestechung ist.« Und nach einer kleinen Pause: »Du hast mich überzeugt, ich werde mich von dir bestechen lassen. Aber erzähle es bitte nicht weiter, es könnte meiner Karriere schaden.«

Markus grinste und fand, dass es doch gut war, Helga auf der Shopping-Tour begleitet zu haben.

Mittwoch, 1. Juli

Bei einem Spaziergang auf der Insel Juist hatte der Mann die Kneipe in unmittelbarer Nähe des Kurhauses in einer Seitenstraße zum ersten Mal gesehen. Der Stil des alten Bauwerks war typisch für die Insel. Rote Klinker und verwinkelte Steine am Giebel zierten das Gebäude. Diese Kneipe wäre ihm nicht besonders aufgefallen, wenn da nicht über der Eingangstür ein ovales Holzschild mit dem Namen 'Krullerkopp' gestanden hätte. Der Name machte ihn neugierig, denn er war auf der Suche nach einer richtigen Bierkneipe. Schickimicki-Restaurants gab es hier, seiner Meinung nach, genug.

Krullerkopp, komischer Name, dachte er und versuchte, den Sinn des Wortes zu verstehen. Er schaute von außen durch ein Fenster und konnte erkennen, dass das Lokal in einem maritimen Stil gehalten war. Diverse Bilder von Schiffen und ein paar Seemannsknoten zierten die Wände. Im Lokal standen ein paar Tische mit Stühlen und dann war da eine lange Theke mit Barhockern davor. Er las die Speisekarte am Eingang und entdeckte, dass gar keine Speisen, sondern nur Getränke angeboten wurden. Diese Kneipe, war im Prinzip genauso, wie er es sich vorgestellt hatte. Sein Entschluss, abends dort hinzugehen, stand fest.

Seinem Kollegen hatte er erklärt, dass er einen alten Bekannten treffen wolle und mit ihm abgestimmt, dass er ihn an diesem Abend mit den Schülern allein lassen würde.

Nach dem Abendessen schwang er sich auf sein Fahrrad und fuhr ins Dorf, wie man den Ort Juist allgemein nannte. Kurz vor seinem Ziel stellte er sein Stahlross in einen Fahrradständer an der Straße und lief die letzten Meter bis zum Lokal Krullerkopp.

Die Dämmerung nahm langsam Besitz vom Töwerland. Ein leichter Wind strich durch die Dünen und Straßen im Dorf, obwohl die Ostfriesen behaupten würden, dass das dieses Lüftchen kein richtiger Wind sei. Es war ein schöner Tag gewesen, warm war es, richtiges Badewetter, obwohl der Himmel eher grau war.

Als er eintrat, scannte er mit suchendem Blick die Szenerie. Es war nicht sonderlich voll. Trotz der wenigen Gäste war es relativ laut, denn die Musik, die zu hören war, wurde durch die Stimmen der Gäste noch übertönt. Die Luft war schwanger von typischem Duft nach Bier. Richtige Bierkneipen riechen immer so, dachte er.

An ein paar Tischen saßen Pärchen und an einem der Tische eine Vierergruppe. Ein junges Paar hatte an einer Seite der langen Theke Platz genommen und am anderen Ende hockte eine jüngere Frau auf einem Barhocker und nahm gerade einen Schluck aus einem Bierglas. Sie schien offenbar allein zu sein. Er setzte sich auf einen Barhocker am Ende der Theke, ließ aber bewusst einen Platz zwischen sich und der einzelnen jungen Frau frei.

Er schaute zu ihr rüber und als diese zu ihm aufsah, lächelte er und schaute in ihre Augen. Es dauerte einen kurzen Augenblick, dann lächelte sie zurück.

Hinter der Theke zapfte ein Mann mit einer prächtigen Glatze gerade ein Glas Bier, schaute dann zu ihm herüber und fragte nach seinen Wünschen.

»Geben sie mir ein Alt!«, sagte der Mann.

»Altbier habe ich nicht. Da liegt 'ne Getränkekarte.«

Der Wirt wies auf eine in Folie laminierte Karte hin. Der Mann las die Karte und entdeckte darauf mehrere Biersorten, Cocktails, Hochprozentiges, Whiskys und auch Rum. Ich mag keinen Rum, dachte er.

Nach kurzem Nachdenken bestellte er sich dann ein Hefeweizen.

»Ist allerdings nicht so typisch für die Gegend hier«, versuchte er zu kommunizieren, doch sein Gegenüber verzog keine Miene. Unfreundlicher Idiot, dachte der Mann und sah zu, wie der Wirt den Inhalt einer Flasche kunstvoll mit gluckerndem Geräusch in ein Glas zauberte.

Als der Wirt ihm das Hefeweizen auf die Theke stellte, fragte er ihn: »Sagen sie, was bedeutet eigentlich der Name des Lokals? Krullerkopp, das habe ich noch nie gehört.«

»Krullerkopp? Das bin ich«, jetzt schmunzelte der Wirt, »damit bin ich gemeint.«

Nach einer kurzen Pause ergänzte er: »Ich hatte schon in jungen Jahren eine Glatze. Krullerkopp ist plattdeutsch und bedeutet hier bei uns Lockenkopf, so haben mich halt alle auf den Arm genommen. Mein richtiger Name ist Jan Everts, aber das weiß hier kaum noch jemand. Krullerkopp, das wurde dann zu meinem Spitznamen, also mien Ökelnaam, wie es hier auf Platt heißt.«

Die junge Dame neben ihm schaltete sich ein: »Ein Bekannter von mir, der hatte auch eine Glatze. Den haben alle immer Festplatte genannt.«

Keiner lachte über ihren Spruch, sie wirkte deshalb etwas verlegen und nahm wieder einen Schluck aus ihrem Glas. Er trank ebenfalls von seinem Bier und beobachtete sie dabei aus den Augenwinkeln. Sie trug eine blaue Jeans und ein rotes T-Shirt. Ihm gefiel, was er wahrnahm. Dann drehte sich die Frau wieder zu ihm herüber und lächelte erneut.

»Sind sie zum ersten Mal auf Juist?«, fragte er sie und lächelte seinerseits zurück.

»Nein, ich komme schon seit Jahren mit meiner Freundin hier her, aber in diesem Jahr konnte sie nicht. Daher bin ich allein da, ich will mir doch das Töwerland nicht entgehen lassen«, erklärte sie ihm und fragte zurück, »Und sie?«

»Ich bin zum ersten Mal hier, aber nicht allein. Wir sind achtzehn.«

Dabei betonte er das Wort achtzehn. Er schaute sie an und wartete auf ihre Reaktion.

»Da haben sie aber eine große Familie«, meinte sie spöttisch.

»Ich bin Lehrer, ein Kollege, der mich unterstützt und sechzehn Schüler«, klärte er das Rätsel auf.

Sie schaute ihn an. »Ach so, ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass sie so viele eigene Kinder haben.«

»Achtzehn eigene Kinder? Wenn das so wäre, dann ist es mir allerdings nicht bekannt«, grinste er sie an.

Sie rief in Richtung Krullerkopp: »Ich hätte gern noch einen Drink.«

»Noch'n Bier?«

Bevor sie antworten konnte, schaltete sich der Mann ein und fragte seine Nachbarin: »Darf ich sie zu einem Cocktail einladen?«

Sie überlegte einen Augenblick.

»Ja, gern, ich weiß nur noch nicht welchen.« Sie warf einen Blick in die Getränkekarte.

»Ich nehme eine Margarita«, bestellte sie. Der Mann entschied sich für einen Mojito. Als die Getränke kamen, prosteten sie sich zu und stießen an.

»Ich heiße Heike, Heike Wolfram«, stellte sie sich vor, »hier im Urlaub ist es mit dem Vornamen und dem Du doch üblich und ich finde, das ist auch einfacher zum Quatschen.«

Er zögerte einen Augenblick. »Burkhard Waller«, sagt er, »ich heiße Burkhard.«

»Ich bin aus Braunschweig, genaugenommen aus der Nähe von Braunschweig, aus Peine. Und wo kommst du her?«, wollte sie wissen, schaute ihn fragend an und nahm dabei einen Schluck von ihrer Margarita.

»Ja, Braunschweig, da war ich auch schon mal«, kam es von ihm, ohne auf ihre Frage nach seiner Herkunft zu antworten. Ich habe ohnehin schon zu viel von mir verraten, dachte er.

»Was machst du beruflich?«, wollte er wissen.

»Ich arbeite in der Stadtverwaltung. Bin im Einwohnermeldeamt. Und du? Du bist Lehrer, habe ich doch richtig verstanden?«

»Stimmt«, antwortete er einsilbig.

»Und wo bist du Lehrer?«, bohrte Heike nach.

»An einer Gesamtschule in der Nähe von Köln.«

»Nähe von Köln, wo denn genau?«, sie ließ nicht locker.

Ihm fiel der Ortsname von Brühl ein, weil ein Bekannter dort studierte. »Brühl«, sagte er, »der Ort heißt Brühl.«

»Kenne ich nicht, habe ich auch noch nicht gehört«, stellte Heike fest.

Bevor sie weiterfragen konnte, wechselte er das Thema. »Die haben hier auf der Insel ganz schön gepfefferte Preise, findest du nicht auch?«

»Es geht so, ich finde es aber nicht überteuert. Sind halt viele Gäste hier und wenn viele Touristen kommen, nimmt man auch gern etwas mehr Kohle. Außerdem musst du daran denken, da ist noch das logistische Problem. Alles, was es hier zu kaufen gibt, muss man erst einmal hierher auf die Insel transportieren.«

Er nickte und schwieg, weil er sich im Grunde mit dem Thema gar nicht auseinandersetzen wollte.

Heike sagte plötzlich: »Ich bin gleich wieder da.«

Aus den Lautsprechern klang ein Lied von Santiano: »Alle, die mit uns auf Kaperfahrt fahren«.

Sie glitt von ihrem Barhocker herunter und ging beschwingt in Richtung Toilette.

Er schaute sich um, niemand blickte in seine Richtung. Daraufhin holte er ein Fläschchen aus der Hose und schüttete ein paar Tropfen daraus in ihren Cocktail.

Er schaute sich erneut um, aber niemand schien ihn beobachtet zu haben. Danach verschwand das Fläschchen blitzschnell wieder in seiner Tasche.

Das Pärchen am vorderen Teil der Theke tuschelte miteinander. Der Mann hatte aus den Augenwinkeln beobachtet, wie der Kerl am anderen Ende etwas in den Cocktail der Frau geschüttet hatte.

»Ich habe das ganz genau gesehen, das waren bestimmt KO-Tropfen!«, hörte seine Begleiterin ihn flüstern.

»Rolf hör auf, bist du wirklich sicher, vielleicht irrst du dich ja«, versuchte sie ihn zu bremsen.

Rolf antwortete: »Wir werden ja sehen, was passiert, wenn sie von dem Zeug was trinkt. Mensch, schau nicht so auffällig rüber.«

Kurz darauf kam Heike zurück, kletterte wieder auf den Barhocker, nahm ihr Glas, stieß mit dem Spender an und beide tranken.

Zwanzig Minuten später stöhnte Heike leise: »Tut mir leid, mir ist nicht gut. Ich möchte heimgehen.« Sie kam nur mühsam von ihrem Barhocker herunter.

»Das ist sicher nur die schlechte Luft hier in der Kneipe«, meinte er beruhigend, »komm, ich bringe dich vor die Tür.«

Er winkte dem Krullerkopp zu und legte ein paar Scheine auf die Theke. Er fasste Heike unter den Arm und stützte sie beim Verlassen des Lokals. Vor ihren Augen schien sich alles zu drehen. Sie bekam gar nicht mit, was mit ihr geschah.

Er führte die völlig willenlose Frau von der Kneipe aus, am Kurhaus vorbei, in Richtung Strand hinunter. Heike konnte kaum allein laufen, er musste sie stützen. Es war ziemlich dunkel, er schaute sich um, als er feststellte, dass sie nicht beobachtet wurden, zerrte er sie ein Stück hinter der öffentlichen Toilette in die Dünen.

Das andere Paar in der Kneipe hatte inzwischen ebenfalls gezahlt. Rolf und Karin, seine Begleiterin, hatten sich entschlossen, den Beiden zu folgen und der Frau, wenn nötig, zu helfen. Sie verließen ebenfalls den Krullerkopp.

»Lass uns beeilen«, sagte Karin und beschleunigte ihre Schritte.

Auf der Straße versuchten sie vergeblich, die Gesuchten zu finden. Sie liefen die Strandstraße hinunter bis zum Kurplatz, aber sie hatten die Beiden aus den Augen verloren.

Der Mann hatte die wehrlose Heike in eine Mulde geschleppt und sie hingelegt. Er zerrte ihr die Kleider vom Leib, zog sich ein Kondom über und vergewaltigte die junge Frau.

Heike kam ein wenig zu sich und bemerkte, dass er auf ihr lag und offensichtlich mit ihr Sex hatte. Sie wollte ihn von sich stoßen, schaffte es aber nicht. Schreien ging auch nicht und dann verlor sie wieder das Bewusstsein. Nach einiger Zeit kam sie erneut zu sich. Sie spürte, noch völlig benommen, wie der Wind über ihren entblößten Körper strich. Das kühle Gefühl hatte sie geweckt. Sie sah sich um und merkte, dass sie allein war. Es war immer noch ziemlich dunkel. Heike entdeckte, dass ihr Jeanshose und Slip ausgezogen waren, das T-Shirt war fast zerrissen. Die Kleidungsstücke lagen verstreut im Dünengras. Sie suchte ihre Sachen zusammen und zog sich mühsam wieder an.

Heike war immer noch sehr benommen und konnte kaum laufen. Mühsam schleppte sie sich zu ihrer Unterkunft.

Donnerstag, 2. Juli

Heike lag in ihrem Bett. Sie hatte nicht richtig geschlafen, immer wieder erwachte sie kurz und schlief dann vor Erschöpfung wieder ein. Am späten Vormittag kam sie erneut wieder langsam zu sich. Als sie versuchte sich zu erinnern, war das nur in Fragmenten möglich und als sie realisierte, was mit ihr geschah, fing sie bitterlich an zu weinen.

Heike machte sich schwere Vorwürfe, gab sich selbst die Schuld an der Vergewaltigung. Tausend Fragen gingen ihr durch den Kopf. Wieso ist mir das passiert? Habe ich den Kerl irgendwie zu der Tat provoziert? Warum habe ich mich nicht wehren können? Sie weinte hemmungslos, am liebsten hätte sie laut geschrien. Sie hatte ihr Zeitgefühl völlig verloren. Irgendwann schlief sie wieder ein.

Gegen Mittag wurde sie wieder wach, sie fasste sich ein wenig und rief dann ihre Freundin Elke Mormann in Peine an und erzählte, was ihr passiert war. Elke hörte ihr sehr gut zu und ließ Heike reden. Hin und wieder stellte sie eine Frage und hörte dann wieder zu. Dann versuchte Elke ihrer Freundin vorsichtig klarzumachen, dass sie keine Schuld an dem Verbrechen hatte.

»Hör doch bitte auf, dir Vorwürfe zu machen. Du bist das Opfer. Schuld hat ausschließlich dieses Dreckschwein, das dir das angetan hat. Am liebsten würde ich jetzt sofort zu dir kommen.«