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Schatten der verlorenen Tränen Ein Kunstkritiker besucht die Insel Juist und nimmt als Gast an einer Vernissage teil. Der ausstellende Künstler ist plötzlich verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Am nächsten Tag wird am Strand von Loog ein Leichnam gefunden. Die Kommissare Niemand und Weilburger übernehmen die Ermittlungen. Ist der Tote der verschwundene Künstler? Hat die geheimnisvolle Achat-Bruderschaft etwas mit dem Tod zu tun? Woher konnten sich die Täter auf der Insel Benzin besorgen? Wer gab die Schüsse auf den Radfahrer ab, der zur Domäne Bill unterwegs war? Wieso taucht eine in Aurich entwendete Pistole plötzlich in Juist auf? Welche Rolle spielt der verschwundene Kunstkritiker Alex Berger? Am Ende kann die Polizei das Knäuel entwirren und Juist wird wieder zur schönsten Insel der Welt.
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Seitenzahl: 198
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Michael Tosch
Schatten der verlorenen Tränen
Niemand ermittelt
Juist Krimi
Impressum
Auflage
1 / 24
Texte: © 2024 Copyright by Michael Tosch
Umschlag:© 2024 Copyright by Michael Tosch
Umschlagfotos© 2023 Ruth Hermann
Rückseite© 2023 Ruth Hermann
Verantwortlich
für den Inhalt:Michael Tosch
Gerichtsstraße 23a
65385 Rüdesheim am Rhein
Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Ich bedanke mich bei allen Freunden und Bekannten auf der Insel Juist, die damit einverstanden waren, dass sie in diesem Buch eine Rolle spielen.
Petra und Werner hatten mit Freunden gefeiert. Werner hatte Geburtstag und in das ‚Burnout‘ nach Aurich eingeladen. Das Burnout war eine Cocktailbar in Aurich und gut geeignet für ausgelassene Partys. Es war kurz vor drei Uhr, als Petra und Werner zusammen mit drei weiteren Freunden die Bar verließen. Alle hatten eine Menge getrunken und die Stimmung war ausgelassen und fröhlich, als sie sich an der Straßenecke voneinander verabschieden wollten.
»Nicht so laut«, reklamierte Petra, »die Leute schlafen. Es ist gleich drei.«
Doch ihre Mahnung verpuffte und Rosi, eine Freundin von Petra, kicherte und rief:
»Die meisten schlafen garantiert nicht, sondern machen was ganz anderes in ihren Betten.«
Der Spruch löste erneut große Heiterkeit bei allen aus; das Gelächter hallte durch den Straßenzug und kam als Echo zurück.
»Was war das denn?«, Werner stutzte plötzlich, »Habt ihr das auch gesehen?«
»Was meinst du? Was sollen wir gesehen haben?«, fragte Kurt und lallte dabei mehr, als dass er klar sprach.
»Da drüben ist gerade einer über die Mauer geklettert«, erklärte Werner, »dort die dunkle Mauer an der Ecke.«
»Das ist doch das Gymnasium, oder?«, fragte Heinz.
»Da ist einer zu spät zur Schule gekommen«, lachte Kurt.
»Oder er ist viel zu früh«, kicherte Rosi, »das war bestimmt ein Mann, Männer kommen immer zu früh.«
Alle brüllten wieder los vor lauter Lachen, nur Werner blieb ruhig und schaute suchend über die Fassade des Schulgebäudes.
»Komm, lass uns gehen«, forderte Kurt seine Freundin Rosi auf, »wir wollen heim. Ich bin müde.«
Rosi wollte sich gerade mit einem Küsschen von Petra verabschieden, als Werner rief:
»Schaut mal, da ist ein Licht.«
Hinter einer Fensterscheibe war der flackernde Schein einer Taschenlampe zu sehen und die Freunde konnten beobachten, wie das Licht von einem Fenster zum anderen wanderte.
»Da ist jemand eingestiegen«, rief Werner, »ich rufe die Polizei.«
Er griff zu seinem Handy, wählte die 110 und schilderte der Polizei die Beobachtung.
Drei Minuten später bog ein Streifenwagen der Polizei um die Ecke. Das Blaulicht und das Martinshorn hatten die Polizisten ausgeschaltet, um einen möglichen Täter nicht zu warnen.
Zwei Polizisten stiegen aus und Werner schilderte seine Beobachtung. Einer der Beamten nahm das Funkgerät und forderte Verstärkung an. Nach wenigen Minuten erschien ein zweiter Streifenwagen.
Drei Polizisten kletterten über die Mauer der Schule und drangen dann in das Gebäude ein. Der Polizist, der draußen bei den Freunden stand, hatte die Personalien von ihnen aufgenommen und hielt den Funkkontakt zu seinen Kollegen.
Ein weiterer Streifenwagen fuhr vor und zwei Beamte stiegen aus. Einer holte einen Spürhund aus dem Wagen und fragte:
»Ist der Hausmeister schon da, den wir verständigt haben?«
Inzwischen hatte der Polizeieinsatz eine beträchtliche Zahl von Zuschauern angelockt und ein Mann löste sich aus der Gruppe und meldete sich.
»Mein Name ist Bormann, ich bin der Hausmeister.«
Er zog einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete das Tor der Schule. Die beiden Polizisten mit dem Hund gingen hinein.
Zwanzig Minuten später verließen alle Polizisten die Schule. Einer kam zu den wartenden Freunden herüber und erklärte:
»Wir haben ihn leider nicht erwischt. Wir haben festgestellt, dass im Innenhof der Schule eine Tür aufgebrochen wurde. Der Täter oder die Täterin hatte tatsächlich ein klares Ziel vor Augen. Die Tür zum Chemielabor wurde gewaltsam geöffnet und dort wurde offensichtlich etwas gestohlen. Der Täter oder die Täterin konnten entkommen. Wir gehen davon aus, dass der Einbrecher sich sehr gut auskannte. Wir müssen noch die Spuren des Einbruchs sichern und möchten von Ihnen wissen, was Sie wirklich gesehen haben. Wer von Ihnen hatte etwas beobachtet?«
»Ich habe nur eine dunkle Gestalt gesehen«, erklärte Werner, »ich konnte nicht erkennen, ob das ein Mann oder eine Frau war. Die Person kletterte dort über die Mauer. Da es dunkel war, konnte ich keine Details wahrnehmen. Also weder Haarfarbe noch Kleidung oder sonst etwas. Tut mir leid.«
»Und Ihre Freunde hier, was haben die gesehen?«
»Von dem Einbrecher nichts. Ich sah den über die Mauer steigen und habe die anderen darauf aufmerksam gemacht. Als alle hinschauten, war der schon über der Mauer verschwunden.«
»Wir haben dann das Licht einer Taschenlampe hinter den Fenstern gesehen«, erklärte Rosi.
»Hinter welchen Fenstern war das?«, fragte der Polizist.
»Zuerst sahen wir das dort hinter dem dritten Fenster von links«, schaltete sich Kurt ein, »dann ging es weiter bis zum fünften Fenster und dann sahen wir nichts mehr.«
»Danke«, meinte der Beamte, »wahrscheinlich müssen wir Ihre Aussagen noch einmal schriftlich festhalten. Sie hören dann von uns.«
Alex Berger hatte sich entschieden. Er hatte viel über die Ostfriesischen Inseln gelesen und schwankte zwischen Langeoog, Borkum und Juist. Bisher kannte er nur ein paar Nordfriesische Inseln, nämlich Sylt, Amrum und Pellworm. Hauptsächlich war er auf Sylt gewesen, doch seine Begeisterung wurde jedoch Jahr für Jahr geringer. Sylt war nicht mehr die Insel, die er einst so liebte. Die Gäste, die heute die Insel besuchten, hatten die Atmosphäre verändert, fand er. Alex wollte nicht mehr nach Sylt. Gelegentlich dachte er darüber nach, dass es vielleicht gar nicht die Touristen waren, sondern seine eigenen Ansprüche. Hatte er sich eventuell geändert?
Dann lernte er Menschen kennen, die von den Ostfriesischen Inseln schwärmten. Von Langeoog hörte er gelegentlich. Andere schwärmten von Borkum. Alex war verunsichert und er beschloss, sich eine eigene Meinung zu bilden und sich Informationen zu beschaffen. Prospekte, die er sich von mehreren Inseln besorgte, lobten ihr Eiland jeweils in den höchsten Tönen. Ihm wurde schnell klar, es handelte sich um wohlformulierte Werbeaussagen und war nicht gerade objektiv. In sozialen Medien war es schon anders. Hier ließen sich Menschen mit Lob und Kritik aus, die die Inseln kannten, und wenn er von den überschwänglichen Begeisterungen einerseits und gruseligen Verrissen andererseits entsprechende Abstriche machte, ergaben sich ganz brauchbare Grundlagen für seine Entscheidung, die er treffen wollte. In die engere Wahl kamen schließlich Norderney, Borkum und Juist. Norderney schied als Erstes raus. Zu viel Trubel auf einer wohl sonst schönen Insel. Juist fand er sehr reizvoll. Dort fuhren keine Autos und wo gibt es sonst schon einen siebzehn Kilometer langen Strand? Borkum hatte auch seine Reize. Er war noch immer unsicher.
Seine Entscheidung stand fest, als er in der Zeitung von der Kunstausstellung im Haus des Kurgastes auf Juist las. Da wurden Bilder von Viktor Stern angekündigt und das machte ihm die Entscheidung mehr als leicht.
Alex Berger hatte Kunst und Theologie studiert und verließ die Akademie der Bildenden Künste in München mit einem Master-Abschluss. Das Thema Theologie wählte er deshalb, weil ihn die Bibel faszinierte. Er wollte Gottes Wort erforschen und sehnte sich danach, seinem Herrn näherzukommen. Dann begann er, sich für das Thema Journalismus zu interessieren. Nach einem Volontariat bei der überregionalen deutschen Wochenzeitung ‚Die Zeit‘ arbeitete er mehrere Jahre für das Kunstmagazin und entwickelte sich zu einem angesehenen Kunstkritiker.
Alex mochte Viktor Stern. Genaugenommen waren es die Bilder, die er liebte. Vor fünf Jahren lernte er Viktor Stern auf einer Vernissage in Stuttgart persönlich kennen und war von dessen Persönlichkeit sehr beeindruckt.
Seine Kritik der Vernissage hatte er immer noch im Kopf.
Die Bilder von Viktor Stern zeigen Figuren in Landschaften und in Innenräumen, welche den Bildraum sowohl nach klassischen als auch nach innovativen Kompositionsregeln strukturieren. Seine Kunst ist abstrakt, experimentell und prozessorientiert. Er versucht traditionelle Werte und Konventionen infrage zu stellen, und seine Arbeit kann sehr wohl religiös provokativ als auch kontrovers sein. In welchem Verhältnis stehen Religion und Kunst heute? Um Bilder herzustellen, die seine Verbundenheit zu Gott ausdrücken, lässt der Künstler tief sitzende Glaubensgrundsätze erkennen. Besonders hervorzuheben sind Symbole, die er in seinen Werken unterbringt und den Betrachter zum Hinterfragen und Nachdenken anregen.
Das schrieb er damals und bis heute hätte er keine Abstriche daran machen können.
Nach seinem Ausscheiden im Zeitverlag begann er als freischaffender Kunstkritiker für mehrere Publikationen zu schreiben. Dadurch traf er mehrfach mit Viktor Stern zusammen. Er schrieb eine Reportage über den Künstler und fand damit auch international unter Fachleuten große Beachtung und Anerkennung.
Es gab eine Zeit, in der Alex den Wunsch entwickelte, sich mehr mit religiösen Fragen zu beschäftigen. Das wurde durch den Tod eines Freundes ausgelöst, der mit seinem Motorrad verunglückte. Schon während des Theologiestudiums hatte er sich mit dem Thema ‚Leben nach dem Tod‘ beschäftigt. Und plötzlich träumte er von seinem Freund und hatte das Gefühl, dass der Verstorbene ihm etwas Wichtiges mitteilen wollte. Wenn er aus diesen Träumen erwachte, benötigte er jeweils Zeit, um in die Realität zurückzukehren. Über dieses Thema hatte er sich bei Treffen mit Viktor Stern mehrfach unterhalten. Der nahm diese Thematik freudig auf und schuf zwei Bilder, in denen er sich mit dem Leben im Jenseits befasste.
Als Alex sich in eine junge Frau aus seiner Nachbarschaft verliebte und seine Gedanken fast ausschließlich bei der Liebe seines Lebens waren, war es mit einem Schlag mit dem Ausflug in die Esoterik vorbei. Der großen Liebe folgte bereits nach sechs Monaten eine tiefgehende Enttäuschung, als die junge Frau sich einem anderen Mann zuwandte. Nur langsam konnte er den Seelenschmerz verdrängen und kehrte wieder zum Thema Kunst zurück.
Inzwischen hatte er Viktor Stern schon fast drei Jahre nicht mehr gesehen. Jetzt freute er sich, dass es ihm gelungen war, Urlaub auf Juist zu buchen und in dieser Zeit die Vernissage der Viktor-Stern-Ausstellung besuchen zu können. Er war sicher, dass auch Viktor Stern sich über das Treffen freuen würde. Den Gedankenaustausch mit dem Künstler hatte Alex immer als Inspiration erlebt.
Man hatte ihm das Romantik Hotel Achterdiek auf Juist empfohlen und Alex buchte sich dort für zwei Wochen ein Zimmer. Sein Urlaub auf der Insel sollte am Montag, 8. Mai, beginnen. So hatte er den Termin geplant. Die Vernissage zur Ausstellung fand einen Tag später am Dienstag statt. Das war ausreichend Zeit, Viktor Stern vorher zu treffen. Er freute sich schon darauf, den Künstler mit seiner Anwesenheit zu überraschen.
Eike Haferland war jetzt schon seit drei Jahren der Leiter der Polizeistation Juist und hatte den Dienstgrad eines Polizeihauptkommissars. Er hatte einen guten Kontakt zur Juister Bevölkerung und wurde von allen ‚Dorfsheriff‘ genannt. Auf der Insel ist immer nur ein Beamter ganzjährig im Dienst. Vom Frühjahr bis zum Herbst wird der Leiter der Polizeistation allerdings von einem Kollegen unterstützt, da es einfach wesentlich mehr Einsätze gibt, wenn die vielen Gäste die Insel bevölkern. Seit zwei Jahren versah Polizeioberkommissar Hanke Hinrich schon diesen Dienst während der Saison.
Heute am frühen Morgen waren beide unterwegs. Sie waren auf dem Weg zum Billriff, denn dort sollte es einen Dünenabbruch geben, so hatte jemand gemeldet.
Sie fuhren mit dem Elektro-Quad über die Billstraße in Richtung Bill und durch den Ort Loog, vorbei an der Domäne Loog und folgten dem Dünenweg.
Es kündigte sich an, ein traumhaft schöner Tag zu werden. Der Himmel war blau, die Sonne schien und bereits zu dieser Morgenstunde war der Wind als warmes Lüftchen auf der Haut zu spüren. Sogar ein paar Pferde, die Eike auf einer Weide auf den Salzwiesen entdeckte, wälzten sich voller Lebensfreude im Gras. Etwas später sahen sie, wie ein Mann eine Koppel öffnete und die Pferde begannen vollkommen eigenständig zu ihrem Stall zu laufen.
»Das ist schon ein herrlicher Anblick. Ich habe so etwas zum ersten Mal hier auf Juist erlebt, dass Pferde ganz allein von der Weide in den Stall laufen.«
Eike war immer wieder begeistert, wenn er diese Bilder sah. Ein einsamer Mann auf einem Fahrrad kam ihnen entgegen und noch ein Stück entfernt fuhr ein anderer Radfahrer in Richtung Bill.
Eike entdeckte, dass dieser Mann eine Kappe trug und den Schirm nach hinten gedreht hatte. Darauf war der Name ‚Fritz‘ deutlich lesbar.
Eike bat Hanke, der am Steuer saß, langsam an dem Radfahrer vorbeizufahren. Als sie den Mann passierten, drehte sich Eike auf seinem Sitz um und sprach ihn an.
»Sagen Sie, sind Sie nicht der Fritz?«, fragte er und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Ja, das bin ich«, antwortete der Mann verdutzt, überlegte einen Moment, dann fiel ihm seine verdrehte Kappe ein und er musste lachen.
»Nichts für ungut«, lachte Eike, »das war ein Scherz von mir.«
Auch Hanke lachte und meinte:
»Es ist doch schön, wenn mein Chef schon so früh am Morgen gute Laune hat.«
»Ich habe doch meistens gute Laune. Oder?«, wollte Eike wissen und um das zu untermauern, fiel ihm ein Witz ein, den er gerade erst gehört hatte.
»Meine Frau und ich wollten in diesem Jahr mal einen anderen Urlaubsort als sonst üblich wählen. Ich hängte also in der Küche eine Weltkarte auf und gab meiner Frau einen Dartpfeil, den sie auf die Karte werfen sollte. Wir wollten dort hinfahren, wo der Pfeil stecken bleibt«, behauptete Eike.
»Und? Was kam raus? Wo fahrt ihr hin?«
»Wir machen Urlaub zwischen Türpfosten und Kühlschrank.«
Hanke schüttete sich aus vor Lachen, denn der Witz gefiel ihm wirklich gut.
Auch Eike lachte.
»Das erzählte jemand gestern Abend beim Stammtisch. Wir haben alle sehr gelacht.«
Sie passierten die Kläranlage Juist und setzten ihren Weg Richtung Bill fort.
Am Billriff trafen die beiden Polizisten auf Mitarbeiter der Feuerwehr, die bereits den Dünenabbruch dokumentiert hatten und ließen sich den Schaden an den Dünen zeigen.
»Das sieht zum Glück nicht so dramatisch aus wie vor zwei Jahren«, stellte Eike fest.
»Wir verständigen den Küstenschutz, damit die Düne an der Stelle repariert und wieder verstärkt wird«, erklärte der Leiter des Feuerwehreinsatzes.
In diesem Augenblick klingelte das Handy von Eike.
»Hier liegt ein Mann, der offensichtlich mit dem Fahrrad gestürzt ist. Der Mann ist schwer verletzt, habe ich festgestellt. Wahrscheinlich hat er sich beim Sturz einige Knochen gebrochen. Er trug wohl auch keinen Fahrradhelm.«
Eike fragte sofort nach:
»Wo haben Sie den Mann gefunden? Wo sind Sie jetzt?«
»Ich fuhr mit meinem Fahrrad auf der Straße zur Domäne Bill. Etwa auf der Höhe der Kläranlage Juist, dort am Hammersee, lag der Mann neben der Straße im Gras. Ich stehe jetzt genau neben ihm.«
»Bitte bleiben Sie dort, wir kommen sofort. Wir sind in ein paar Minuten da, bitte bleiben Sie dort, wir müssen mit Ihnen reden.«
Sofort informierte Eike per Telefon den Notarzt und verständigte die Rettungswache.
Eike drehte sich zum Leiter des Feuerwehreinsatzes um und fragte:
»Wir haben einen Unfall. In der Nähe des Klärwerks wurde ein Mann gefunden, der offensichtlich verunglückt ist. Könnt ihr mit eurem MTW dorthin fahren und die Unfallstelle sichern? Wir fahren jetzt ebenfalls dorthin.«
»Das machen wir. Keine Frage. Wir sind hier ohnehin fertig.«
»Am Klärwerk?«, fragte Hanke, »da sind wir doch gerade vorbeigefahren. Rufst du den Arzt an?«
»Das habe ich schon«, erklärte Eike.
Die beiden Polizisten stiegen wieder in das E-Quad und fuhren in Richtung Klärwerk zurück.
Als die beiden Polizisten den Fundort erreichten, traf gleichzeitig der verständigte Notarzt ein. Die Männer der Feuerwehr kamen hinzu und begannen sofort damit, den Platz, an dem der Verletzte lag, abzusperren.
Hanke stieß Eike an und fragte:
»Hast du gesehen, wer der Mann ist?«
»Nein«, antwortete Eike, »wer ist das?«
»Es ist der Fritz von vorhin. Du hast ihn nicht erkannt, weil er bei dem Sturz seine Kappe verloren hat, die liegt dahinten.«
»Tatsächlich, jetzt sehe ich es auch. Das gibt es doch gar nicht«, Eike schüttelte den Kopf.
Als der Arzt etwas später eintraf, hatte die Feuerwehr einen Sichtschutz errichtet und der verletzte Radfahrer wurde vor den neugierigen Blicken der Zuschauer verdeckt. Inzwischen hatten sich bereits mehrere Gaffer eingefunden.
Der Arzt erklärte nach der Untersuchung:
»Ich kann feststellen, dass er sich einen Arm gebrochen hat und wahrscheinlich sind Nackenwirbel vom Sturz verletzt, er ist nicht bei Bewusstsein. Am rechten Oberschenkel sind sehr starke Abschürfungen, da ist die Haut aufgerissen bis auf das Fleisch. Da ist er wohl über die Straße gerutscht. Sieht nicht sehr gut aus. Ich werde den Einsatz eines Rettungshubschraubers veranlassen und ihn ins nächste Krankenhaus fliegen lassen.«
Der Arzt telefonierte und erklärte dann das weitere Vorgehen.
»Der Rettungshubschrauber kommt, das kann allerdings noch etwas dauern. Wir transportieren den Mann mit dem Rettungswagen direkt zum Landeplatz am Leuchtturm. Das ist der schnellste Weg.«
Inzwischen war der Rettungswagen eingetroffen und der Verletzte wurde verladen und in Richtung Leuchtturm gefahren.
»Ihren Namen hätte ich gern«, erklärte Eike dem Mann, der den gestürzten Radfahrer fand.
»Ich heiße Lehmann, Dieter Lehmann. Ich komme aus der Nähe von Münster in Westfalen. Meine Frau und ich wohnen im Hotel Freese. Meine Daten hat Ihr Kollege bereits notiert.«
»Bitte schildern Sie mir, wie Sie den Mann gefunden haben.«
»Ich fahre normalerweise jeden Morgen nach dem Frühstück zusammen mit meiner Frau ein paar Kilometer mit dem Fahrrad. Heute Morgen wollte meine Frau nicht mit, ich fuhr also allein. Ich fuhr bis zur Bill und war auf dem Rückweg. Plötzlich sah ich dort am Straßenrand etwas liegen. Ich habe zunächst nicht erkannt, dass es sich um einen Menschen handelt. Zuerst sah ich das Fahrrad und als ich näher herankam, fand ich den Mann, der neben seinem Rad im Gras lag. Ich habe ihn angesprochen und als ich keine Antwort bekam, fühlte ich seinen Puls und dachte zunächst, dass er tot sei, ich merkte dann jedoch, dass er atmete. Dann rief ich bei Ihnen an. Mehr weiß ich nicht.«
»Vielen Dank, Herr Lehmann, wenn sich noch Fragen ergeben, werden wir uns mit Ihnen in Verbindung setzen.«
Inzwischen hatte Hanke einen Ausweis und ein Handy des Verunglückten gefunden.
»Der Mann heißt Fritz Breitner und wohnt offensichtlich in der Pension Regenbogen in Loog. Den Schlüssel zu seiner Wohnung hatte er in der Hosentasche.«
Um 11:30 Uhr fuhr die Fähre pünktlich in Norddeich ab und erreichte anderthalb Stunden später den Hafen der Insel Juist. Bis zum Hotel war es nur ein Katzensprung. Da Alex Berger zum ersten Mal auf der Insel war und den Weg nicht kannte, hatte er das Romantik Hotel Achterdiek als Ziel in sein Handy eingegeben. Er folgte einfach dem Navi auf dem Smartphone und stand nach zehn Minuten vor dem Hotel.
Nachdem er sein Zimmer bezogen hatte, ging Alex wieder herunter an den Empfang und erkundigte sich, ob Viktor Stern im gleichen Hotel ein Zimmer gebucht hätte, aber dieser Gast war dort nicht bekannt. Man riet ihm, bei der Kurverwaltung nachzufragen. Leider erfuhr Alex, dass man ihm aus Datenschutzgründen keine Auskunft geben könne.
Die Idee, jetzt alle Hotels nach Viktor abzuklappern, hatte er schnell verworfen. Irgendwo musste der Maler doch wohnen und so entschloss sich Alex, als Nächstes ins Haus des Kurgastes zu marschieren, denn vielleicht hatte Viktor Stern bereits die Vorbereitungen seiner Vernissage begonnen.
Als Alex das Haus des Kurgastes erreichte, war es geschlossen. Vergeblich versuchte er jemanden im Haus zu finden, der ihm Auskunft zu Viktor Stern erteilen konnte, aber es gab keine Möglichkeit hineinzugelangen.
Enttäuscht drehte er ab und erreichte die Strandpromenade. Als er das Kurhaus passierte, entdeckte er die Aussichtsplattform und begeisterte sich am Rauschen der Nordsee, dem nicht enden wollenden Strand und den Dünen. Hier könnte ich stundenlang stehen, dachte er und genoss den Wind und die Salzkristalle, die er auf den Lippen spürte und schmeckte.
Nach ungefähr dreißig Minuten verließ er die Plattform und ging die Strandstraße hinunter. Er hatte keinen Plan und fragte einen Passanten, ob er ihm ein gutes Café empfehlen könne. Der zeigte auf die nächste Straßenkreuzung und erklärte:
»Wenn Sie da vorn in die Friesenstraße nach rechts abbiegen, ungefähr nach 50 Metern dort ist ein hervorragendes Café, das ich Ihnen empfehlen kann.«
Alex bedankte sich und erreichte das Café Meeresleuchten. Die Tische und Stühle vor dem Meeresleuchten waren alle besetzt und er beschloss in das Café hineinzugehen. Denn erstens fühlte er ein menschliches Rühren und wollte die Toilette benutzen und zweitens spürte er ein starkes Verlangen nach einer Tasse Kaffee.
Er ging die drei Stufen hinauf und fragte eine Frau, die ein Tablett mit Getränken am ihm vorbeitrug, nach dem Weg zur Toilette. Als er zurückkam, wurden gerade an einem voll besetzten Tisch zwei Stühle frei und er freute sich, endlich einen Platz erobert zu haben.
Die Dame mit dem Tablett kam und fragte nach seinem Begehr.
»Ich hätte gern eine Tasse Kaffee«, bestellte er, »und ein Stück Kuchen wäre auch nicht schlecht.«
»Sie können wählen«, sagte die Frau und zeigte auf eine Vitrine, in der diverse Kuchen präsentiert wurden.
»Da oben der Kuchen«, meinte Alex, »was ist das für einer?«
»Das ist ein Birnenkuchen mit Mascarpone.«
»Den nehme ich«, entschied Alex.
Während er auf seine Bestellung wartete, hatte er Gelegenheit, sich im Lokal umzusehen. Mit viel Liebe zum Detail hatten die Inhaber ihr Café gestaltet. Alles verbreitete eine angenehme Atmosphäre.
»Mir gefällte es ausgezeichnet hier bei Ihnen«, erklärte er der Dame, die seinen Kaffee und den Kuchen servierte.
»Übrigens, den Kuchen habe ich selbst gebacken.«
Alex trank einen Schluck von seinem Kaffee und wollte gerade den Kuchen probieren, als eine Stimme von hinten rief:
»Alex?«
Er drehte sich um und war freudig überrascht, denn hinter ihm stand Viktor Stern. Viktor Stern war mit einer dunklen Jeanshose bekleidet, darüber trug er ein offenes Hemd. An einer silbernen Halskette hing eine circa fünf Zentimeter große Scheibe eines Achats.
Alex sprang von seinem Stuhl auf und umarmte den Künstler.
»Da bist du ja, ich habe dich schon überall gesucht.«
»Wieso hast du mich gesucht?«, fragte Viktor, »Wusstest du, dass ich auf Juist bin?«
»In der Tat, ich wusste das. Ich las in der Zeitung von deiner Ausstellung hier. Und da ich ohnehin Ferien an der Nordsee machen wollte, habe ich das gut miteinander verbinden können. Urlaub zu haben und dabei dich zu treffen, das ist doch wunderbar.
Aber sag mir, wo du wohnst. Ich habe schon ein paar Hotels abgeklappert, aber konnte dich nirgends finden.«
»Das ist klar, ich wohne hier auch nicht unter meinem Namen.«
»Musst du dich verstecken?«, fragte Alex und ahnte nicht, wie nahe er der Wahrheit kam.
»Silvia, bitte bring mir auch einen Kaffee«, rief Viktor zu der Frau mit dem Tablett und ging weiter nicht auf die Anmerkung von Alex ein.
»Oh, du kennst die Bedienung«, fragte Alex, »bist du häufiger hier?«
»Erstens, die Bedienung ist die Inhaberin. Sie heißt Silvia Harms. Ihr gehört zusammen mit Torben, ihrem Mann, das Café Meeresleuchten. Und zweitens, ja, ich bin häufiger hier. Ich komme ungefähr alle sechs bis acht Wochen hierher auf die Insel, und wenn ich dann auf Juist bin, kann man mich auch oft hier im Meeresleuchten treffen. Das ist nämlich mein Lieblingscafé.«
»Hallo Viktor«, Silvia Harms begrüßte den Maler, als sie ihm die Tasse Kaffee auf den Tisch stellte, »heute keinen Kuchen?«
»Danke«, schmunzelte Viktor und schüttelte den Kopf, »aber ich liebe deine Kuchen zu sehr. Ich muss etwas auf meine Figur achten. Vielleicht morgen wieder.«
Dann wurde Viktor plötzlich ernst, er senkte den Kopf und schwieg. Alex bemerkte die Veränderung, die in dem Künstler vorging, und er überlegte, ob er Viktor daraufhin ansprechen sollte.
»Was ist mit dir?«, fragte er schließlich, »Du wirkst so bedrückt.«
»Ach, nicht so schlimm«, wiegelte Viktor ab, »nichts Besonderes.«
Alex entschloss sich, nicht weiter nachzufragen und aß seinen Kuchen zu Ende.
»Ich muss mich um meine Ausstellung kümmern. Ich werde jetzt ins Haus des Kurgastes gehen, da gibt es noch einiges zu klären«, machte Viktor klar und wollte seinen Kaffee bezahlen.
Doch Alex kam ihm zuvor.