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Christoph Schönberger

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Beschreibung

Die Regierungsbank? Oft hat man sie in den Nachrichten gesehen, sie gehört zum politischen Inventar. Dennoch sollten wir uns hüten, in ihr nichts weiter als belangloses Funktionsmobiliar zu sehen. An der deutschen Regierungsbank lässt sich vielmehr ablesen, wie sehr Prägungen aus der langen Epoche der Monarchie noch hundert Jahre nach deren Untergang in unserer Demokratie nachwirken. Obwohl dort heute gewählte Politiker sitzen, haben die Regierungsplätze auf ihre Weise den früheren Thronraum beerbt und partizipieren weiter an dessen Aura einer überparteilichen Neutralität. Ihre Ansiedlung in hervorgehobener Randlage behindert bis heute den Dialog zwischen Parlamentariern und Regierungsmitgliedern: Sie gibt einer kommunikativen Gehemmtheit Ausdruck, die den Alltag der deutschen Demokratie nach wie vor belastet. In seiner Studie über die Regierungsbank präsentiert Christoph Schönberger eine ebenso ungewöhnliche wie erhellende Perspektive auf die zentrale Institution unserer Demokratie. Er untersucht, wie verschieden parlamentarische Plenarsäle ihre Regierung in Szene setzen und so jeweils ein besonderes Verständnis von Demokratie ausdrücken: Ob die Regierungsvertreter in die vorderen Abgeordnetenreihen integriert sind (wie in Großbritannien und Frankreich), ob man sie von den Parlamentariern absondert (wie in Deutschland) oder gleich ganz aus dem Plenarsaal verbannt (wie in den USA); ob die ganze Saalarchitektur autoritär auf eine erhöhte Regierungsbank ausgerichtet wird (wie in China) oder die Regierung sich mitten in der Kampfarena der parlamentarischen Debatte wiederfindet (wie in Italien): In ihrer räumlichen Vielfalt erzählen die Plenarsäle eigenwillige Geschichten, denen Schönbergers Buch gewidmet ist.

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Christoph Schönberger

Auf der Bank

Die Inszenierung der Regierung im Staatstheater des Parlaments

C.H.Beck

Zum Buch

Die Regierungsbank? Oft hat man sie in den Nachrichten gesehen, sie gehört zum politischen Inventar. Dennoch sollten wir uns hüten, in ihr nichts weiter als belangloses Funktionsmobiliar zu sehen. An der deutschen Regierungsbank lässt sich vielmehr ablesen, wie sehr Prägungen aus der langen Epoche der Monarchie noch hundert Jahre nach deren Untergang in unserer Demokratie nachwirken. Obwohl dort heute gewählte Politiker sitzen, haben die Regierungsplätze auf ihre Weise den früheren Thronraum beerbt und partizipieren weiter an dessen Aura einer überparteilichen Neutralität. Ihre Ansiedlung in hervorgehobener Randlage behindert bis heute den Dialog zwischen Parlamentariern und Regierungsmitgliedern: Sie gibt einer kommunikativen Gehemmtheit Ausdruck, die den Alltag der deutschen Demokratie nach wie vor belastet.

In seiner Studie über die Regierungsbank präsentiert Christoph Schönberger eine ebenso ungewöhnliche wie erhellende Perspektive auf die zentrale Institution unserer Demokratie. Er untersucht, wie verschieden parlamentarische Plenarsäle ihre Regierung in Szene setzen und so jeweils ein besonderes Verständnis von Demokratie ausdrücken: Ob die Regierungsvertreter in die vorderen Abgeordnetenreihen integriert sind (wie in Großbritannien und Frankreich), ob man sie von den Parlamentariern absondert (wie in Deutschland) oder gleich ganz aus dem Plenarsaal verbannt (wie in den USA); ob die ganze Saalarchitektur autoritär auf eine erhöhte Regierungsbank ausgerichtet wird (wie in China) oder die Regierung sich mitten in der Kampfarena der parlamentarischen Debatte wiederfindet (wie in Italien): In ihrer räumlichen Vielfalt erzählen die Plenarsäle eigenwillige Geschichten, denen Schönbergers Buch gewidmet ist.

Über den Autor

Christoph Schönberger ist Professor für Staatsrecht, Staatsphilosophie und Recht der Politik an der Universität zu Köln. Zuletzt veröffentlichte er mit Sophie Schönberger den Band Die Reichsbürger. Eine neue verfassungsfeindliche Bewegung zwischen Staatsverweigerung und Verschwörungstheorie (Frankfurt am Main 2020). Zuvor hat er gemeinsam mit Matthias Jestaedt, Oliver Lepsius und Christoph Möllers eine kritische Studie zum Bundesverfassungsgericht publiziert (Das entgrenzte Gericht, Berlin 2011).

Inhalt

Prolog Die Frau im weißen Blazer

Einführung Siebenunddreißig blaue Stühle

1. Der Plenarsaal als symbolischer Ort

2. Die Regierung im Plenarsaal

Warum Regierungsplätze? Reden, Zuhören, Antworten, Dabeisein

Dreierlei Regierungsbänke

3. Auf dem Weg zur Topographie der Regierungsplätze

Erster Teil: Vom Thron zur Bank

I. Zu Füßen des Throns

1. Am Ende des alten Europas: Versailles, 5. Mai 1789

2. Spuren des Throns in der parlamentarischen Sitzordnung

II. London Zwischen Thronübermacht und Thronabstoßung

1. Das symbolische Zentrum von Westminster

2. Der Eigensinn des Unterhauses

3. Auf den Stufen des Throns

4. Die Treasury bench des Unterhauses

5. Beamte im Kabäuschen

6. Innere statt äußerer Hierarchie

7. Ein deutscher Sehnsuchtsort

III. Paris Die Verdrängung des Throns durch die Rednertribüne

1. Vom Thron zum Rednerpult

Nachwirkungen des Throns in der frühen Sitzordnung 1789–1793

Der Übergang zum Halbkreis im Mai 1793

Wohin mit König und Regierung?

2. Autoritäre Anfänge der Regierungsplätze: Napoleons Staatsrat in der ersten Reihe

3. Inmitten der Abgeordneten

Die Anbiederung: Der Thron unter Restauration und Julimonarchie

Die Etablierung der Ministerbank im Palais Bourbon

4. Ein letztes bonapartisches Intermezzo

5. Wirkungen in Deutschland

IV. Washington Weder Thron noch Bank

1. Das Gegenmodell der Vereinigten Staaten: Plenarsäle ohne Regierung

2. Präsenz ohne Plätze: «State of the Union Address» und Kongressanhörungen

3. Eine Regierungsbank auf dem Kapitol?

4. Parlamentarisierung der USA?

V. Berlin Die Regierungsbank als Thronersatz

1. Zweierlei Regierungsbänke in den deutschen Plenarsälen vor der Reichsgründung

Interaktive Plenarsäle: Gegenüber von Parlament und Regierung

Interaktionsarme Plenarsäle: Die Regierungsbank zur Rechten des Throns

2. Nur das Provisorische ist von Dauer

3. Der Reichstag im Reich ohne Krone

4. Französischer Halbkreis mit Regierungsbank für preußische Herren

5. Die Macht der diffusen Masse

6. «In etagenförmigen Schützengräben hinter wallartigen Bänken»

7. Erfolg

8. Der Thron der Bürokraten

Zweiter Teil: Von Bonn nach Berlin

VI. Herunter ins Parterre

1. Verglaste Tradition am Rhein

2. Oben und unten

3. Kritik und Krise

Die Bonner Sehnsucht nach Westminster

Sommer 1969: Die Absenkung

4. In den Kreis?

VII. Zur Rechten des Herrn

1. Rechts und Links

2. Zur Rechten des «Höchsten» als räumlicher Bezugspunkt

3. Zweigeteilte Regierungsbank?

4. Politische Unwucht zur rechten Seite hin

5. In der Loge abseits des Zanks

VIII. Wenige unter Vielen

1. Ein Sonderweg

2. Bürokratische Anonymität

3. Politische Führung oder Verwaltungsapparat?

4. Der siamesische Schatten der Regierungsbank

IX. Unter der gläsernen Kuppel

1. In der Ellipse

2. Eine Stufe

3. «Reichstags-Blue» auf allen Seiten

4. Wer sitzt wo auf der Regierungsbank?

5. Die Enklave im Plenarsaal

6. Unsichtbare Linien

Die Präsidiumsseite als Raum überparteilicher Neutralität

Die zwei Körper des Ministers

Disziplin

Prekäre Inszenierung

7. Das fehlende Gegenüber

Wien und Berlin: Zweierlei Erbschaft der Monarchie

«Kasperletheater» im ersten Bundestag

Interaktionsarmes Design, interaktionsarmes Parlament

8. Seltene Sternstunden

Franz Josef Strauß in der «Spiegel-Affäre»

Joschka Fischers Steinwürfe

Karl-Theodor zu Guttenbergs Überblick über die Quellen

9. Zwischen Staatsakt und Leere

Zwei aufmerksame Insider der Bonner Anfänge

Repräsentation statt Interaktion

Zweierlei Verlassenheit

X. Der Thron in uns

1. Paradoxe Stabilisierung durch das parlamentarische Regierungssystem

2. Anknüpfungselemente im Verfassungssystem der Bundesrepublik

Getrennt von den Parlamentariern

Im Abseits

An der Seite des Präsidiums

3. Hinterlassenschaft der Monarchie in der Demokratie

4. Plenararchitektur des «Als Ob»

Epilog Aufrecht

Danksagung

Anhang

Anmerkungen

Einführung Siebenunddreißig blaue Stühle

I. Zu Füßen des Throns

II. London Zwischen Thronübermacht und Thronabstoßung

III. Paris Die Verdrängung des Throns durch die Rednertribüne

IV. Washington Weder Thron noch Bank

V. Berlin Die Regierungsbank als Thronersatz

VI. Herunter ins Parterre

VII. Zur Rechten des Herrn

VIII. Wenige unter Vielen

IX. Unter der gläsernen Kuppel

X. Der Thron in uns

Epilog Aufrecht

Bibliographie

Abbildungsnachweise

Personenregister

Prolog Die Frau im weißen Blazer

Am Morgen des 14. März 2018 ist der Plenarsaal des Bundestages dicht gefüllt, als Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble gegen neun Uhr die Sitzung eröffnet. Vollständig belegt ist auch die Bundesratsbank links vom Präsidium, in deren vorderer Reihe einige Ministerpräsidenten Platz genommen haben. Von den Zuschauertribünen aus, die über den hinteren Abgeordnetenplätzen schweben, beobachtet eine Vielzahl geladener Gäste und Journalisten das Geschehen, unter ihnen erstmals der Ehemann der Kanzlerin, Joachim Sauer. Nur rechts vom erhöhten Platz des Bundestagspräsidenten bleiben alle blauen Stühle leer, 37 an der Zahl, darunter der Sessel in der ersten Reihe, der als einziger eine erhöhte Rückenlehne aufweist. Verloren liegen die vier unbesetzten Sitzreihen dem übervollen Plenum gegenüber. Wie alle vier Jahre nach einer Bundestagswahl demonstriert der Bundestag auch an diesem Frühjahrstag durch die Leere der Regierungsbank, dass das Amt des Bundeskanzlers auf der Wahl durch das Parlament beruht. Stärker denn je lässt er damit aber auch erkennen, wie sehr ihm eine durch die Kanzlerwahl legitimierte Bundesregierung fehlt. Die Bundesrepublik hat gerade die längste und quälendste Regierungsbildung ihrer Geschichte hinter sich. Noch einmal, ein letztes Mal, wie alle ahnen, hat der Bundespräsident dem Bundestag die CDU-Vorsitzende Angela Merkel zur Wahl vorgeschlagen. Die Kanzlerin, seit der Bundestagswahl vom September 2017 nur noch geschäftsführend im Amt, hat mit schwarzer Hose und weißer Jacke in der ersten Reihe der Abgeordnetenplätze der Unionsfraktion Platz genommen und sieht von dort aus dem langwierigen Wahlvorgang entgegen. Gegen Mittag nimmt die alte und neue Bundeskanzlerin, inzwischen nicht ohne Mühe wiedergewählt und von Bundespräsident Steinmeier in Schloss Bellevue erneut ernannt, auf dem Kanzlerstuhl Platz. Allein. Das blaue Meer leerer Stühle um die Frau im weißen Blazer herum unterstreicht ihre einsam hervorgehobene Stellung.

Abb. 1: Angela Merkel auf der Regierungsbank nach ihrer letzten Wiederwahl im März 2018

Kurz darauf erhebt sich Angela Merkel und geht zum hinteren Rand der Regierungsbank, wo sie in der Nähe des Fahnenmasts mit der schwarzrotgoldenen Bundesflagge vom Bundestagspräsidenten auf die Urschrift des Grundgesetzes vereidigt wird. Nochmals kehrt sie auf den Platz mit der hohen Lehne in der ersten Reihe der verwaisten Regierungsbank zurück und nimmt den Beifall vieler Abgeordneter entgegen. Nach der Ernennung ihrer Kabinettsmitglieder füllen sich am Nachmittag die Reihen um die Kanzlerin herum. Der große Auftritt der verlassenen Bank ist vorüber.

Einführung Siebenunddreißig blaue Stühle

Die Regierungsbank? Oft hat man sie gesehen. Ihr Anblick in Abendnachrichten, Zeitungsbildern und YouTube-Clips ist vertraut. Sie gehört zum Inventar. So gewohnt ihr Anblick ist, so wenig Beachtung wird ihr geschenkt. Den wenigsten ist überhaupt bewusst, dass die Regierungsbank in ihrer deutschen Form eine Besonderheit darstellt, die international nur sehr wenige Nachahmer gefunden hat. Die 37 lavendelblauen Sessel, deren Freibleiben bei jeder Kanzlerwahl so effektvoll in Szene gesetzt wird, sind mehr als bloße Funktionsmöbel. Sie sind eine Hinterlassenschaft des Deutschen Kaiserreichs im zentralen Saal der bundesdeutschen Demokratie. Man würde sie grundlegend unterschätzen, wollte man sie allein als belangloses Accessoire, bloße Äußerlichkeit oder entstehungsgeschichtlichen Zufall betrachten. In der Regierungsbank im Plenarsaal unter der gläsernen Kuppel zeigt sich vielmehr, wie sehr Prägungen aus der langen Epoche der Monarchie noch hundert Jahre nach deren Untergang in der bundesdeutschen Demokratie nachwirken. Die Regierungsplätze haben auf ihre Weise den früheren Thronraum beerbt und partizipieren weiter an dessen Aura überparteilicher Neutralität. Ihre Ansiedlung in hervorgehobener Randlage verhindert bis heute den Dialog zwischen Parlamentariern und Regierungsmitgliedern «Auge in Auge» und gibt einer kommunikativen Gehemmtheit Ausdruck, welche die Kontrolle der Regierung durch die Abgeordneten auch unter der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes weiterhin belastet.

Will man solche langfristigen Prägungen besser verstehen, bedarf es eines Vergleichs des deutschen Arrangements mit den Plenarsälen anderer Demokratien, einer Analyse der Entwicklungsgeschichte der deutschen Regierungsplätze und nicht zuletzt einer Beobachtung ihrer heutigen praktischen Nutzung. Der genauere Blick auf die Sitzordnung im Plenarsaal ermöglicht eine gleichsam taktile Erfassung der spezifisch deutschen Traditionslinien und Verhältnisse. In der parlamentarischen Raumordnung treten Eigenheiten und Merkwürdigkeiten der Demokratie in der Bundesrepublik besonders hervor und werden im wörtlichen Sinne greifbar.

1. Der Plenarsaal als symbolischer Ort

Demokratie braucht Orte. Die Bürger selbst oder ihre gewählten Repräsentanten müssen sich versammeln, um über die gemeinsamen Angelegenheiten zu beraten und zu entscheiden. Im kollektiven Gedächtnis des Westens stehen dafür der Marktplatz von Athen und der Palast von Westminster. An diesen Plätzen kommen Wort und Ort zusammen. Der Plenarsaal des Parlaments ist der zentrale Ort der Demokratie. Solche Orte sind nicht lediglich Gehäuse praktischer Notwendigkeit.[1] Sie beschäftigen nicht allein Bauverwaltungen und Architekten, die sich mit den Problemen von Lüftung, Heizung, Beleuchtung und Akustik herumschlagen müssen, welche ein Versammlungsort von mehreren hundert Menschen nun einmal naturgemäß aufwirft. Ohne diese architektonische Bauaufgabe gering zu schätzen, ist der Plenarsaal doch immer mehr als eine nur bautechnische Herausforderung. Die jeweilige Verfassung verdichtet sich vielmehr in diesem Raum und wird dort anschaulich. Die Topographie des Plenarsaals ermöglicht physisch das parlamentarische Geschehen und prägt zugleich die Vorstellungen, welche sich Teilnehmer und Zuschauer davon machen.[2] Ihre gemeinsame körperliche Präsenz macht die Positionierung der Beteiligten im Raum nötig. Bei jeder Versammlung entscheidet deshalb die Raumdisposition zu einem guten Teil darüber, in welcher Weise sie tätig werden kann.[3] Wie Sitze und Pulte angeordnet sind, etwa in Stuhlreihen hintereinander nach dem Vorbild von Konzert oder Theater, wer erhöht sitzt, wie weit der «Vorstandstisch» von den übrigen Teilnehmern entfernt ist, ob der Saalboden flach ist oder ansteigt: All das sind Umstände, welche die Interaktion der Anwesenden maßgeblich beeinflussen und in denen sich zugleich Grundvorstellungen von der jeweiligen Versammlung ausdrücken.[4] Da der Plenarsaal das Verfassungsgefüge unweigerlich nichtsprachlich ausdeutet, hat er – wie alle Architektur[5] – stets eine symbolische Bedeutung, die über seine alltägliche Funktionalität hinausweist.[6] Ein besonderes Gespür dafür haben nicht zuletzt die Gegner der Demokratie, wenn sie zum Sturm auf das Parlament blasen wie Oberstleutnant Tejero am 23. Januar 1981 in Madrid oder der von Präsident Donald Trump entfesselte Mob auf dem Kapitol in Washington am 6. Januar 2021.[7]

Symbolische Bedeutung haben Plenarsäle auch und gerade für Deutschland. Zwar verzichtet der Deutsche Bundestag ähnlich wie die anderen Verfassungsinstitutionen der Bundesrepublik weitgehend auf jenen Pomp und Prunk, der die Parlamente und Plenarsäle vieler europäischer Nachbarstaaten nach wie vor kennzeichnet. Keine Königin eröffnet hier feierlich auf ihrem Thron die Sitzungsperiode wie in Großbritannien, keine Garde begleitet den Parlamentspräsidenten in schimmernder Wehr bis an die Schwelle des Plenarsaals wie in Frankreich.[8] Auch wenn der Bundestag seit dem Umzug von Parlament und Regierung von Bonn nach Berlin wieder hinter den schweren Mauern des wilhelminischen Reichstagsgebäudes tagt, das nach seinem Umbau mit gläserner Kuppel ein eigenes Charisma entwickelt hat,[9] ist sein Plenarsaal doch vergleichsweise schmucklos gehalten und entspricht dem eher zurückgenommenen Staatsstil, der die Bundesrepublik über Jahrzehnte geprägt hat. Es wäre aber kurzschlüssig anzunehmen, im Verzicht auf äußeren Prunk liege gleichzeitig der Verzicht auf die symbolische Kraft des Sitzungssaals überhaupt. Vielmehr wirkt der Raum vielleicht sogar umso stärker auf seine Nutzer und Betrachter ein, je weniger er sich aufdringlicher äußerer Zeichen bedient. Die häufige mediale Verbreitung von Bildern aus dem Plenarsaal mag allerdings den ersten Zugang zu dessen symbolischer Bedeutung sogar eher erschweren, weil der Raum auf routinierte Weise vertraut erscheint. Auch und gerade für Parlamentssäle gilt Hegels Einsicht: Das Bekannte ist darum, weil es bekannt ist, noch keineswegs erkannt.[10]

Es wäre jedenfalls eine einfältige und falsche Vorstellung von Modernisierung, nähme man an, der Plenarsaal ginge in der modernen Massendemokratie in purer Funktionalität auf und habe jede symbolische Bedeutung abgestreift. Sicherlich waren die Sitzarrangements parlamentarischer Versammlungen in der vormodernen Epoche ungleich bunter und handgreiflicher symbolisch aufgeladen als heute, zumal damals die verfassungsrechtliche Stellung der Akteure eng mit ihrem sozialen Rang zusammenhing. So stritten im Reichstag des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation über Jahrhunderte hinweg Bischöfe, Kurfürsten, Fürsten und Reichsgrafen um Plätze, Rang und Stimme, um höhere oder niedrigere, vordere oder hintere Bänke,[11] bevor sie die Dinge dann im dunklen Regensburger Sitzungssaal «auf die lange Bank» schoben.[12] Dieses zeremonielle «Staatstheater»[13] ist aber nicht allein die Vergangenheit alteuropäischer Adelsgesellschaften, deren pittoreske Fremdheit aus der zeitlichen Ferne zu bestaunen wäre. Auch die politischen Systeme der demokratischen Moderne kennen ihre besonderen Rituale,[14] nicht zuletzt in den Parlamenten.[15] So spricht auch der heutige Plenarsaal des Deutschen Bundestages seine eigene Zeichensprache und bietet die zentrale Bühne für die Inszenierung der Demokratie. Als architecture parlante deutet er auf seine Weise das Verfassungsgefüge der Bundesrepublik aus und gestaltet dadurch die Interaktion zwischen den politischen Akteuren mit. Seine Raumarrangements und Möblierungen sind Teil einer «Verfassung der Dinge», die zur geschriebenen Verfassung hinzutritt und deren Verständnis mitprägt.

Die Konzentration auf den Plenarsaal als Raumdispositiv mag freilich Skeptiker aus den verschiedensten Richtungen auf den Plan rufen. Der positivistische Verfassungsjurist wird einwenden, maßgeblich sei doch nicht der physische Verhandlungsraum, sondern die Verfassung und die parlamentarische Geschäftsordnung. Eine Politikwissenschaftlerin könnte zu bedenken geben, es komme in erster Linie auf Parteien, Fraktionen und gouvernementale Praktiken an. Aus der Sicht eines marxistischen Gesellschaftstheoretikers erschiene die Plenararchitektur schließlich wohl als bloßes Oberflächenphänomen, während als eigentlich bestimmend allein die sozioökonomischen Tiefenstrukturen der jeweiligen Gesellschaft gälten. Wenn Beobachter so durch den Plenarsaal gleichsam hindurchsehen, schwingt bewusst oder unbewusst die seit der Französischen Revolution immer wieder vorgebrachte Kritik mit, dort werde doch lediglich Theater gespielt, während das eigentliche politische Geschehen hinter den Kulissen stattfinde.[16] Dabei wird freilich verkannt, dass jeder alltäglichen sozialen Interaktion unvermeidlich ein Bühnenelement innewohnt, dass wir alle Theater spielen,[17] nicht nur die Akteure im Plenarsaal, mag der Bedarf an Dar- und Verstellung beim Politiker auch besonders hoch sein.[18] Vor allem wird übersehen, dass die Bühne des Sitzungssaals unteilbarer Bestandteil des politischen Gesamtgeschehens ist und dieses ihrerseits prägt und deutet. Das gilt unabhängig davon, dass der Plenarsaal in der modernen Parteiendemokratie regelmäßig nicht der Ort ist, wo die Entscheidungen fallen, sondern vielmehr vorbereitete Entscheidungen förmlich verabschiedet und öffentlich gerechtfertigt werden.[19] Sicherlich ist die Inszenierung, die gerade in deutschen Parlamentssälen geboten wird, überdies nicht selten von karger Dürftigkeit. Theodor Heuß hat schon in der Weimarer Zeit beklagt, die deutschen Volksvertretungen seien «meist eine Schaustellung mit schlechter Regie und oft mäßigen Akteuren»,[20] und auch ein wohlwollender Beobachter wird heute kaum anders urteilen.[21] Die Inszenierung wird aber durch den Ort der Aufführung maßgeblich mitgeprägt.

Gewiss muss man sich dabei vor Überinterpretationen hüten, denen Betrachter und Interpreten von Plenarsälen nicht selten erliegen.[22] Das frontale Gegenüber von Bänken wie im britischen Unterhaus bringt nicht als solches lebhafte Debatten zwischen Regierungsseite und Opposition hervor. Schon aus der Blütezeit des viktorianischen Parlamentarismus wird ganz im Gegenteil auch von gähnender Langeweile im House of Commons berichtet.[23] Umgekehrt ist die Anordnung der Abgeordnetenplätze im Halbkreis ebenfalls nicht etwa allgemein, wie es manchmal heißt, Ausdruck einer besonders konsensorientierten politischen Kultur.[24] Dass der Halbkreis im revolutionären Paris erstmals am Beginn der Schreckensherrschaft 1793/94 praktiziert wurde,[25] dementiert diese These auf grausame Weise. Ebenso wenig liegt im Halbkreis deshalb aber immer, wie gelegentlich gerade umgekehrt im Blick auf die Französische Revolution behauptet wird, der Ausdruck einer Verdrängung des Königs durch die souveräne Nation.[26] Insbesondere die deutschen Plenarsäle passen nicht in dieses Schema, stellen sie doch dem Halbkreis der Französischen Revolution seit dem Deutschen Kaiserreich zumeist einen kompakten Block aus Präsidium und Regierungsvertretern gegenüber, der bis heute an die Zeiten erinnert, als Deutschland von den Beamten der Monarchie regiert wurde. Will man der Gefahr der Überinterpretation entgehen, bedarf der jeweilige Plenarsaal einer historisch-komparativen Analyse, die ihn als physischen Raum im Kontext der Praktiken und Deutungen seiner Nutzer und Beobachter versteht.[27] In jedem Fall gestalten parlamentarische Sitzungssäle die politische Interaktion mit und geben dieser gerade durch deren konkrete räumliche Gestaltung eine symbolische Form. Was das für die Inszenierung der Regierung im Plenarsaal bedeutet, erkundet dieses Buch.

2. Die Regierung im Plenarsaal

Die Regierung ist in modernen Demokratien der zentrale organisierte Machtfaktor neben dem Parlament. Sie vereinigt auf sich Aufgaben der Verwaltung und der politischen Staatsleitung. Ihre besondere Rolle beruht auf einer Mischung aus verfassungsrechtlich zugewiesenen Einzelkompetenzen – wie etwa ihrem Recht, Gesetzesvorlagen in das Parlament einzubringen – und der institutionellen Möglichkeit, bekannte oder neu auftretende Phänomene aufgrund überlegener Ressourcen an Information und öffentlicher Kommunikation jederzeit zum Gegenstand politischer Gestaltung zu machen.[28] In der Regel sind es deshalb die Initiativen der Regierung, die dem politischen Geschehen seine Richtung geben. Das ist in besonderer Weise in einem parlamentarischen Regierungssystem der Fall, in dem – wie unter dem Grundgesetz – die Regierung aus der Parlamentsmehrheit hervorgeht und von ihr getragen wird. Gegenstück zu dieser Sichtbarmachung politischer Herrschaft durch die Regierung ist deren permanente öffentliche Kritik und Kontrolle im Parlament.

Warum Regierungsplätze? Reden, Zuhören, Antworten, Dabeisein

Werden im Plenarsaal Regierungsplätze eingerichtet, so kommt darin allgemein zum Ausdruck, dass die Regierung als eine gegenüber dem Parlament eigenständige Institution verstanden wird, die diesem gegenüber aber zugleich verantwortlich ist und deshalb in regelmäßigen Kommunikationsbeziehungen mit den Abgeordneten steht. Die Regierungsbank im Sitzungsraum ermöglicht vielfältige Formen der konkreten Interaktion zwischen Regierung und Parlament vor den Augen der Öffentlichkeit. Die Regierungsvertreter können im Parlament sprechen, ihre politischen Vorstellungen darlegen, Gesetzesvorhaben und haushaltsrechtliche Planungen erläutern und um Zustimmung werben. Zugleich ist es ihnen möglich, die parlamentarischen Verhandlungen jederzeit vor Ort zu verfolgen, aufzunehmen, was im Plenum gesagt wird, und darauf mit eigenen Debattenbeiträgen zu reagieren. Die Parlamentarier können die Regierungsvertreter zudem persönlich befragen und verantwortlich machen.

Diese Funktion der Regierungsplätze im Plenum hat in vielen Staaten einen politischen Bedeutungswandel erfahren, seitdem diese zum parlamentarischen Regierungssystem übergegangen sind, in dem der Bestand der Regierung vom Vertrauen des Parlaments abhängt. Dort stellt die Regierung regelmäßig die politische Spitze der Parlamentsmehrheit dar. Regierungsreden im Parlament verteidigen hier zumeist auch die Position der Parlamentsmehrheit, wie Redner aus den Regierungsfraktionen umgekehrt in der Regel die Regierung politisch unterstützen. Die kommunikative Kontrolle der Regierung im Plenum wird in erster Linie von den Abgeordneten der Oppositionsfraktionen wahrgenommen. Die Interaktion zwischen Regierungsvertretern und Parlamentariern im Plenarsaal ist nun in erster Linie die Konfrontation zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit auf der einen und den Abgeordneten der Oppositionsfraktionen auf der anderen Seite vor den Augen der Öffentlichkeit.

Die Möglichkeit physischer Präsenz im Plenarsaal eröffnet den Regierungsvertretern eine breite Palette von Verhaltensweisen. Das Kabinett kann dort in wichtigen Momenten durch vollständige Anwesenheit Geschlossenheit demonstrieren, die Regierungschefin das Plenum als Bühne für wichtige Erklärungen nutzen oder ein Minister engagiert in die Debatte intervenieren. Kanzler und Minister können dem Parlament aber auch absichtsvoll oder nachlässig fernbleiben. Sie können sich geschäftsmäßig desinteressiert zeigen und auf der Regierungsbank Akten lesen, während sich die Rednerin am Pult abmüht. Angela Merkel stand während einer Debatte gern von ihrem Kanzlerplatz auf und führte mit dem Rücken zu Plenum und Redner stehend Gespräche mit anderen Regierungsmitgliedern.[29] Wolfgang Schäuble vertrieb sich als Finanzminister während einer Debatte über Griechenlandhilfen in der Eurokrise die Zeit in der ersten Reihe der Regierungsbank damit, dass er auf seinem halb geöffneten iPad verschämt Sudoku spielte.[30] Manchmal lümmeln vor allem männliche Regierungschefs und Minister aber auch bei Oppositionsreden demonstrativ geringschätzig auf der Regierungsbank herum. In diesem Regierungslungern brachten es in Deutschland einst die Altachtundsechziger Gerhard Schröder und Joschka Fischer zu einer gewissen Meisterschaft.[31] Während der unendlichen Brexit-Debatten des britischen Unterhauses führte der konservative «Leader of the House», Jacob Rees-Mogg, diese körpersprachliche Regierungsarroganz im September 2019 zu einem einsamen Höhepunkt: Als Abgeordnete der Labour-Oppositon sprachen, räkelte er sich auf den grünen Polstern der ersten Bankreihe wie auf einem Sofa und schloss die Augen hinter seinem Monokel für ein Nickerchen.[32]

Abb. 2:  Jacob Rees-Mogg auf der Regierungsbank des Unterhauses während einer Brexit-Debatte im September 2019

Dreierlei Regierungsbänke

Wie der Plenarsaal mit der Regierung umgeht, wie er sie inszeniert oder sich inszenieren lässt, hat deshalb unweigerlich starke Rückwirkungen auf das gesamte Raumarrangement. Die Säle bearbeiten dieses Problem indes auf sehr unterschiedliche Weise. Im Kern gibt es dafür drei Lösungen: Die erste und radikalste besteht darin, die Regierungsvertreter aus dem Plenarsaal ganz fernzuhalten. Das augenfälligste Beispiel dafür bilden die Vereinigten Staaten. Aufgrund einer besonders strikten Idee von Gewaltenteilung wird das Kabinett in den Plenarsälen von Senat und Repräsentantenhaus auf dem Kapitol in Washington überhaupt nicht geduldet.[33] In der zweiten Variante haben die Regierungsvertreter zwar Plätze im Parlament, sitzen aber abgesondert von den Abgeordneten, wie das etwa im Deutschen Bundestag der Fall ist. Eine dritte Möglichkeit besteht schließlich darin, die Regierungsplätze in die vorderen Abgeordnetenreihen im Plenum zu integrieren. Länder wie Großbritannien, Frankreich, Spanien und Ungarn gehen diesen Weg.[34] In dieser räumlichen Vielfalt spiegeln sich unterschiedliche Verfassungssysteme, Entwicklungssedimente und Vorverständnisse wider. Ihrem Betrachter erzählen die Plenarsäle jeweils eigene und eigenwillige Geschichten.

Das gilt besonders für die Plenarsäle der zweiten Variante, die hervorgehobene Plätze für die Regierung gegenüber dem Plenum kennen. Gibt es eine Regierungsbank vor den Sitzplätzen der Parlamentarier, dann wird diese unvermeidlich der dominante visuelle Fokus des gesamten Plenarsaals und macht sogar dem Präsidium Konkurrenz.[35] Die Regierenden werden auf dieser Bühne in eigener Person ausgestellt, und die Abgeordneten bilden ihr unmittelbares Publikum.[36] Fernsehaufnahmen aus dem Deutschen Bundestag zeigen denn auch wie selbstverständlich zumeist die Regierungsbank, zumal im Reichstagsgebäude die festen Fernsehkameras auf der Mitteltribüne gegenüber dem Präsidium montiert sind.[37] Was die Ansiedlung der Regierungsplätze abseits des Plenums angeht, herrscht dabei in den Plenarsälen eine besonders große Vielfalt. Das Spektrum reicht von einer autoritären Ausrichtung der gesamten Saalarchitektur auf die erhöhte Regierung bis hin zu einer arenaförmigen Umzingelung der Regierungsbank unterhalb des Präsidiums durch die ansteigenden Abgeordnetenplätze.

Die autoritäre Variante zeigt sich besonders deutlich in den Parlamenten kommunistischer Staaten. Dort sitzen – wie einst in der Volkskammer der DDR oder noch heute im Volkskongress der Volksrepublik China – die zahlreichen Regierungsvertreter in erhöhten ansteigenden Bankreihen hinter dem Präsidium. Ihr mächtiger Block liegt dem Plenum frontal gegenüber, wo sich auf dem Saalboden die Abgeordnetensitze nach Art eines traditionellen Klassenzimmers parallel hintereinander staffeln.[38] Diese Säle sind umfassend auf die machthabenden Organe ausgerichtet, deren dogmatische Verkündigung und technische Planung an die Stelle der streitigen Diskussion treten.[39]

Abb. 3:  Der Plenarsaal der Volkskammer der DDR in Ostberlin

Am liberalen Ende des Spektrums befinden sich die Plenarsäle der beiden italienischen Parlamentskammern in Rom. In den Sälen von Abgeordnetenkammer und Senat liegt die Regierungsbank unterhalb des Präsidiums vorgeschoben im tiefgelegenen Zentrum des Saales. Die Regierungsplätze befinden sich an der Stelle des Rednerpults, das es in Italien nicht gibt. Sie werden von den stark ansteigenden Bankreihen des Halbkreises der Abgeordneten, die von ihrem Platz aus sprechen, gleichsam eingekesselt. In der ersten Reihe der Regierungsbank sitzen nicht der Ministerpräsident und die Minister, sondern – wie ein Schutzschild – die Staatssekretäre. Das liberale Italien des Risorgimento klingt in diesem Saal nach, und die kommunikativ-konfrontative Interaktion zwischen Abgeordneten und Regierungsmitgliedern ist in seine Architektur geradezu eingelassen.[40]

Abb. 4:  Der Plenarsaal der italienischen Abgeordnetenkammer im Palazzo Montecitorio in Rom

In den parlamentarischen Demokratien westlicher Prägung sind Regierungsplätze abseits des Plenums regelmäßig zwischen diesen beiden Extremen antidiskursiver Hörigkeit und kommunikativer Kampfarena angesiedelt, wobei sie sich jeweils zumeist stärker einem Typus, dem hörigen oder dem diskursiven, zuordnen lassen. So umrahmen in Japan und einigen deutschen Landtagen die Regierungsplätze rechts und links das Präsidium, im Deutschen Bundestag und im griechischen Parlament sitzt die Regierung den Abgeordneten rechts davon vis-à-vis.[41] In den Niederlanden liegt dem Halbkreis der Abgeordneten ein Winkel aus den Regierungsplätzen auf der einen Seite und dem Präsidium mit Rednertribüne auf der anderen gegenüber.[42] In Österreich und Portugal beziehen die Regierungsvertreter ähnlich wie in Italien eine eigene Bank unterhalb des Präsidiums gegenüber dem Plenum.[43] Wie unterschiedlich dabei selbst im Ausgangspunkt ähnlich erscheinende Arrangements wirken können, zeigt anschaulich der Kontrast zwischen Italien und Österreich. Obwohl beide Länder ihre Regierungsplätze vor dem Präsidium ansiedeln, könnte das kommunikative Verhältnis von Abgeordneten und Regierungsvertretern in Wien und Rom kaum unterschiedlicher sein. Im Plenarsaal des österreichischen Nationalrats sitzen der Bundeskanzler und die Minister unterhalb des Präsidiums in zwei langen Bankreihen, die das Rednerpult in die Mitte nehmen. Muss in Wien der Redner, der die Regierung am Rednerpult mit Kritik konfrontieren will, seinen Körper und Blick vom Plenum weg und zur Seite wenden, so prasselt diese in Rom wie ein Sturzbach aus den Abgeordnetenreihen auf die Regierungsvertreter im Zentrum der Arena herunter. Auch wenn die österreichische Regierungsbank nicht mehr erhöht ist wie einst im Reichsrat der Habsburgermonarchie und seit der jüngsten umfassenden Sanierung des Plenarsaals nicht länger eine geschlossene Bankreihe hinter dem Rednerpult bildet, kann der Wiener Sitzungssaal doch weiterhin seine architektonische Prägung durch die Zeit vor 1918 mit ihrem beziehungslos schroffen Gegenüber von Abgeordneten und kaiserlicher Beamtenregierung nicht verleugnen.[44]

Wie auch immer die Regierungsplätze im Verhältnis zum Plenum genau angeordnet sind, sie bestimmen in jedem Fall maßgeblich den Raumeindruck des gesamten Plenarsaals. Wer in den Plenarsaal schaut, blickt zwangsläufig auf die Regierung. Mit deren Platzierung erzählt der Saal von Macht und Herrschaft. Für diese Erzählung ohne Worte interessiert sich das vorliegende Buch. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der deutschen Form der Regierungsbank. Es geht jedoch nicht um eine isolierte Untersuchung der deutschen Plenarsaalarchitektur, sondern um ein besseres Verständnis der räumlichen Inszenierung der Regierung in parlamentarischen Demokratien überhaupt, wenn auch mit besonderem Interesse an der vergleichenden Einordnung der spezifisch deutschen Traditionslinien und Verhältnisse.

3. Auf dem Weg zur Topographie der Regierungsplätze

Das Buch beschreitet folgenden Weg: Am Anfang steht ein Blick auf das älteste Herrschaftsmobiliar überhaupt, den Thron. Da die heutigen Plenarsäle überall in Europa ihre Grundform im neunzehnten Jahrhundert gewonnen haben, entstammen sie noch der langen Epoche der Monarchie. Die Frage nach der Platzierung der Regierung im parlamentarischen Verhandlungsraum ist daher entstehungsgeschichtlich nicht vom Thron zu trennen. Das zeigt sich zunächst am Kontrast zwischen den beiden klassischen Archetypen von Plenarsälen in London und Paris. In Großbritannien prägt der Thron im Oberhaus weiterhin das gesamte Plenararrangement. Gerade die übermächtige Präsenz des Throns hat in Westminster paradoxerweise dazu geführt, dass es Regierungsplätze im Unterhaus allein als Abgeordnetenplätze in der ersten Bankreihe rechts des Speaker gibt. Das revolutionäre Frankreich hat hingegen den Thron innerhalb weniger Jahre durch die Rednertribüne als das erhöhte Zentrum des Halbkreises der Abgeordneten verdrängt. Gerade deshalb hatte man in Frankreich aber sehr große Schwierigkeiten, für die Regierung überhaupt einen Ort im Plenarsaal zu finden. Erst unter den parlamentarischen Monarchien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelangte man dort zu dem heutigen Arrangement, dem zufolge die Regierung in der Mitte der beiden ersten Sitzreihen des Halbkreises dem Präsidium und der Rednertribüne gegenübersitzt. Das radikale Alternativmodell haben hingegen die Vereinigten Staaten gewählt, die erste großflächige moderne Republik. Jenseits des Atlantiks sind mit dem Thron auch die Regierungsplätze dauerhaft aus dem Parlament verschwunden. An ihrem Beispiel zeigt sich genauer, was eigentlich fehlt, wenn die Regierung aus dem Parlament herausgehalten wird. Denn die Vereinigten Staaten sind immer wieder mit dem Problem konfrontiert, wie sich der Präsident und sein Kabinett ohne physische Präsenz in den Plenarsälen beider Kongresskammern auf dem Kapitol öffentlich kontrollieren und verantwortlich machen lassen.

Mit diesem vergleichenden Erfahrungsschatz ausgerüstet, wendet sich das Buch den deutschen Plenarsälen näher zu. Prägend geworden ist hier der Plenarsaal des Reichstags des Deutschen Kaiserreichs, der im Sommer 1871 eingerichtet wurde. Bereits im Jahr der Reichsgründung setzte sich in Berlin ein neues Modell durch: Man stellte dem Halbkreis der Abgeordneten eine erhöhte Präsidiumsseite gegenüber, wobei die Regierungsvertreter zu beiden Seiten des Präsidiums auf die Abgeordneten herabblickten. Dieses neue Arrangement verdrängte andere vorherige Sitzordnungen, die stärker auf den Dialog und die Interaktion zwischen Abgeordneten und Regierung ausgerichtet waren. Unter den besonderen verfassungsrechtlichen Bedingungen des Deutschen Kaiserreichs entstand im Reichstag eine Thronseite ohne Thron, die diese Plenarsaalanordnung über die Revolution von 1918 hinaus überlebensfähig machte.

Das Reichstagsmodell, das die Weimarer Republik wie selbstverständlich fortgeführt hatte, stand auch noch 1948/49 für das Bonner Bundeshaus Pate, weil es nach dem Nationalsozialismus die Kontinuität zur parlamentarischen Tradition vor 1933 zu verbürgen schien. Die Bonner Republik tat sich mit diesem parlamentsarchitektonischen Erbe des Kaiserreichs aber schon seit den 1950er Jahren schwer. Das Buch erzählt davon, wie leidenschaftlich man sich immer wieder über die Sitzordnung des Bundestages stritt und etwa von der Übernahme der gegenüberliegenden Bänke von Westminster träumte. Es berichtet, wie man nach Jahren erfolgloser Kritik die Regierungsplätze im Sommer 1969 auf den Saalboden absenkte und wenig später den Ausweg in einem neu errichteten kreisförmigen Plenarsaal gefunden zu haben glaubte, bevor die Wiedervereinigung diesen letzten Staatsbau der Bonner Republik seiner parlamentarischen Funktion beraubte. Mit dem Umzug in das Berliner Reichstagsgebäude im Jahr 1999 ist der Bundestag zu einem nunmehr elliptisch geformten Gegenüber zwischen der Präsidiumsseite mit Regierungs- und Bundesratsbank und den Abgeordnetenplätzen zurückgekehrt und steht damit wieder stärker in der Kontinuität jenes Plenarsaals, der am selben Ort beim Reichstagsbrand im Februar 1933 zerstört wurde.

Das Buch analysiert die Interaktionsschwäche im Verhältnis von Abgeordneten und Regierungsvertretern, die dem aus der Kaiserzeit stammenden Plenardesign des Bundestages bis heute einbeschrieben ist. Denn die Platzierung zur Rechten des Parlamentspräsidenten ist für die Regierung zwar symbolisch ehrenvoll. Auf die Interaktion zwischen Parlament und Regierung wirkt sie sich hingegen besonders ungünstig aus, weil die Parlamentarier weder vom Platz noch erst recht von der Rednertribüne in einen Dialog mit den Regierungsvertretern von Angesicht zu Angesicht treten können. Eine Vielzahl ungeschriebener Verhaltensregeln tritt hinzu, die darauf abzielen, die Regierungsplätze als einen Raum streitenthobener Sachlichkeit erscheinen zu lassen. Diese Inszenierung steht allerdings in einem starken Spannungsverhältnis zur Realität des parlamentarischen Regierungssystems, wie es die Bundesrepublik seit 1949 praktiziert. Denn politisch sind Parlamentsmehrheit und Regierung aufs engste verknüpft, während die Plenararchitektur Parlament und Regierung als getrennte und beziehungslose Sphären präsentiert.

Die Hartnäckigkeit, mit der diese Plenararchitektur sich in ihren prägenden Grundzügen seit 150 Jahren hält, die Geschmeidigkeit, mit der sie das Ende der konstitutionellen Monarchie vor hundert Jahren überstanden hat, der sie doch ihre Entstehung verdankt, deuten darauf hin, dass wir es hier nicht allein mit einem Trägheitseffekt zu tun haben, wie er für Parlamente und Plenarsäle nicht selten charakteristisch ist. Das deutsche Modell der Regierungsbank scheint vielmehr gerade dadurch, dass es die Regierung entgegen der politischen Realität des parlamentarischen Regierungssystems inszeniert, durchaus weiterhin bestimmte Erwartungen und Bedürfnisse seiner Nutzer und Beobachter zu erfüllen. Indes ist es wohl kein Zufall, dass die größte Geste in der Geschichte der Regierungsbank sich in einem Plenarsaal ereignet hat, in dem die Regierung nicht unbeteiligt am Rand der Präsidiumsseite sitzt, sondern in der ersten Reihe des Plenums. Von dieser Geste im spanischen Parlament in Madrid am 23. Februar 1981 berichtet der Epilog dieses Buches.

Erster Teil

Vom Thron zur Bank

I.

Zu Füßen des Throns

Will man besser verstehen, was der Plenarsaal ohne Worte erzählt, muss man zunächst ein besonderes Möbelstück näher in den Blick nehmen, das die räumliche Inszenierung von Herrschaft weltweit über Jahrtausende geprägt hat: den Thron. Der Thron ist der erhöhte Sitz des Herrschers, den dieser besteigt, wenn er feierlich in sein Amt eingeführt wird, Rat oder Gericht hält. Von einem Baldachin überwölbt,[1] zeigt der Thron den Herrscher zwischen Himmel und Erde.[2] Der Thron ist zugleich Richterstuhl, auf dem zu Gericht gesessen wird. Viele gerichtsbezogene Ausdrücke nehmen deshalb bis heute auf das Sitzen als Herrschaftsgeste und Rechtsritual Bezug. So spricht man im Deutschen von Richterstuhl und Gerichtsbank, das Englische kennt die «King’s Bench», im Französischen heißt das Schwurgericht «la cour d’assises».[3] Der Thron des weltlichen Herrschers findet seine Entsprechung auch im jeweiligen Gottesbild. So sitzt in der alttestamentarischen und christlichen Symbolik Gott selbst auf dem himmlischen Thron der Herrlichkeit.[4] Gottes Thron ist das Zentrum der Himmelsstadt, die unaufhörlich ihren erhöhten Herrn preist. In Europa war für diese Verwandtschaft zwischen irdischem und himmlischem Thron insbesondere die Übernahme des römischen Herrschaftszeremoniells in das christliche Gottesbild maßgeblich, die vielfältige spätere Wechselwirkungen zwischen der christlichen Lobpreisung Gottes und dem Zeremoniell monarchischer Herrschaft ermöglichte.[5] Sitzen auf hohem Thron war dabei auch deshalb das stärkste alteuropäische Herrschaftssymbol, weil in öffentlichen Zeremonien nur der Herrscher saß, das Volk hingegen stand.[6] Das Papsttum hat sich diese Symbolik des erhöhten Sitzens seinerseits ebenfalls stark zu eigen gemacht. Die «Cathedra Sancti Petri», der «Heilige Stuhl», die «Sancta Sedes» wurde hier zum bildlich-wörtlichen Ausdruck der in Rom gesammelten Autorität, bis hin zum Unfehlbarkeit beanspruchenden päpstlichen Sprechen «ex cathedra» vom römischen Bischofsstuhl aus.[7]

1. Am Ende des alten Europas: Versailles, 5. Mai 1789

Der Thron bildete auch den räumlichen Mittelpunkt der Ständeversammlungen, der älteren Vorformen moderner Parlamente, welche die europäischen Herrscher zwischen dem Spätmittelalter und der Französischen Revolution in unregelmäßigen Abständen einberiefen, um Steuern zu bewilligen, Truppen auszurüsten oder Rechtsstreitigkeiten zu schlichten. Die rechteckige Sitzordnung dieser Versammlungen war in linearen Blöcken vollständig auf den Thron des Herrschers ausgerichtet. Die Geistlichkeit saß zu seiner Rechten, der Adel zu seiner Linken, das Bürgertum ihm gegenüber.[8]

Abb. 5:  Die Eröffnung der Generalstände durch Ludwig XVI.

Besonders anschaulich zeigte sich dieses Raumarrangement vom Thron her am Ende des alten Europas noch einmal bei der feierlichen Eröffnung der Generalstände durch den französischen König Ludwig XVI. in der Salle des Menus-Plaisirs in Versailles am 5. Mai 1789.[9] Der Thron, überwölbt von einem mit langen Goldfransen geschmückten Baldachin, stand auf einem erhöhten Podium an der Stirnseite eines rechteckigen Platzarrangements. Das Thronpodium bot neben dem König nach einer streng festgelegten Rangfolge einer Fülle von Personen Platz: Mitgliedern der königlichen Familie – zur Rechten des Königs der Thronfolger und die königlichen Prinzen, zu seiner Linken die Königin –, dem Hofstaat und hohen Würdenträgern. So stand etwa auf den Stufen des Throns ein Armlehnstuhl für den Kanzler und Großsiegelbewahrer und ein Faltstuhl für den Großkämmerer.[10] Unterhalb der Thronplattform, gleichsam im Parterre,[11] saßen in dem riesigen Saal die knapp 1200 Abgeordneten der Generalstände in ebenerdigen Sitzreihen. Ihre Hocker hatten keine Rückenlehne, weil das Hofzeremoniell das Sitzen auf Stühlen mit Lehne in Anwesenheit des Königs nicht gestattete.[12] Auf der Längsseite zur Rechten des Throns nahm die Geistlichkeit Platz, zu seiner Linken der Adel, auf der entfernten Querseite gegenüber saßen die Vertreter des Dritten Standes. Der Thron bildete so das exzentrische Zentrum einer geometrischen Raumanordnung, deren Längsachsen vollständig auf das Thronende des Raums ausgerichtet waren.[13]