Die Reichsbürger - Christoph Schönberger - E-Book

Die Reichsbürger E-Book

Christoph Schönberger

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Beschreibung

Am 7. Dezember 2022 rückten mehr als 3 000 Polizisten zur wohl größten Anti-Terror-Razzia in der Geschichte der Bundesrepublik aus. Sie verhafteten die Rädelsführer einer Gruppe aus dem Reichsbürgermilieu, die einen gewaltsamen Umsturz der Regierung geplant hatte. Wer aber sind diese Reichsbürger, die die Bundesrepublik nicht als legitimen Staat anerkennen und sich immer noch im Deutschen Reich wähnen? Die Verfassungsrechtler Sophie und Christoph Schönberger betrachten in ihrem neuen Buch die historischen Wurzeln der Reichsbürgerszene, die zu den Besonderheiten der deutschen Teilung zurückführen, und beleuchten das vielfältige Spektrum ihrer gegenwärtigen Erscheinungsformen. Zugleich bleibt das Buch nicht bei intellektuellem Ressentiment und Kopfschütteln stehen, sondern gelangt zu einer originellen Deutung des Phänomens, weil es die Anziehungskräfte ernst nimmt, die hier am Werk sind. Das kuriose Auftreten der Reichsbürger verleitet dazu, sie als marginal und lächerlich abzutun. Christoph und Sophie Schönberger zeigen demgegenüber, dass die wachsende Szene von paradigmatischer Bedeutung für die gegenwärtige Bedrohung der Demokratie ist. Denn so gestrig Die Reichsbürger durch ihren Bezug auf das vergangene Reich auch erscheinen mögen: Sie erweisen sich als ein durch und durch zeitgeistiges Phänomen unserer individualisierten Gesellschaft. Auf verbreitete Erfahrungen von Haltlosigkeit und Ohnmacht reagieren sie mit der Erfindung eines imaginären Rechts, das ihnen als Mittel zu einer radikalen Selbstermächtigung dient. Damit rühren sie nicht nur an die Grenzen des Verständlichen, sondern auch an die Grenzen staatlicher Macht.

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Seitenzahl: 230

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Christoph Schönberger Sophie Schönberger

DIE REICHSBÜRGER

Ermächtigungsversuche einer gespenstischen Bewegung

C.H.Beck

Über das Buch

Am 7. Dezember 2022 rückten mehr als 3000 Polizisten zur wohl größten Anti-Terror-Razzia in der Geschichte der Bundesrepublik aus. Sie verhafteten die Rädelsführer einer Gruppe aus dem Reichsbürgermilieu, die einen gewaltsamen Umsturz der Regierung geplant hatte. Wer aber sind diese Reichsbürger, die die Bundesrepublik nicht als legitimen Staat anerkennen und sich immer noch im Deutschen Reich wähnen? Die Verfassungsrechtler Sophie und Christoph Schönberger betrachten in ihrem neuen Buch die historischen Wurzeln der Reichsbürgerszene, die zu den Besonderheiten der deutschen Teilung zurückführen, und beleuchten das vielfältige Spektrum ihrer gegenwärtigen Erscheinungsformen. Zugleich bleibt das Buch nicht bei intellektuellem Ressentiment und Kopfschütteln stehen, sondern gelangt zu einer originellen Deutung des Phänomens, weil es die Anziehungskräfte ernst nimmt, die hier am Werk sind.

Christoph und Sophie Schönberger zeigen, dass die wachsende Szene von paradigmatischer Bedeutung für die gegenwärtige Bedrohung der Demokratie ist. Denn so gestrig die Reichsbürger durch ihren Bezug auf das vergangene Reich auch erscheinen mögen: Sie erweisen sich als ein durch und durch zeitgeistiges Phänomen unserer individualisierten Gesellschaft. Auf verbreitete Erfahrungen von Haltlosigkeit und Ohnmacht reagieren sie mit der Erfindung eines imaginären Rechts, das ihnen als Mittel zu einer radikalen Selbstermächtigung dient. Damit rühren sie nicht nur an die Grenzen des Verständlichen, sondern auch an die Grenzen staatlicher Macht

Über die Autoren

Christoph Schönberger ist Professor für Staatsrecht, Staatsphilosophie und Recht der Politik an der Universität zu Köln. Bei C.H.Beck hat er zuletzt veröffentlicht: «Auf der Bank. Die Inszenierung der Regierung im Staatstheater des Parlaments» (2022)

Sophie Schönberger ist Professorin für Öffentliches Recht, Kunst- und Kulturrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Co-Direktorin des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung. Zuletzt ist bei C.H.Beck von ihr erschienen: «Zumutung Demokratie. Ein Essay» (2023) sowie «Was soll zurück? Die Restitution von Kulturgütern im Zeitalter der Nostalgie» (2021).

Inhalt

I. Reichsgespenster

II. «Mein Reich komme»: Die Reichsfantasie der Reichsbürger

1. Das Deutsche Reich als Sehnsuchtsort

2. Das Deutsche Reich zwischen Juristenobsession und rechtlicher Mumie

Der Fortbestand des Deutschen Reiches als westdeutsches Juristenkonstrukt

Das schlafende gesamtdeutsche Reich des Bundesverfassungsgerichts

Die Delegitimierungsfunktion der Fortbestandslehre im geteilten Deutschland

3. Die Reichsbahn in West-Berlin und das Entstehen der Reichsbürgerideologie

Das West-Berliner Reich der Deutschen Reichsbahn

Der erste Reichsbürger: Wolfgang Ebel

Wolfgang Ebel: Beamter des Deutschen Reiches?

4. Wie die Mumie verschwand: Das Reich in der deutschen Wiedervereinigung

5. Das Reichsgespenst findet keine Ruhe

III. Prinzen, Popstars, Polizisten: Wer sind die Reichsbürger?

1. Tiefer Fall vom Pophimmel: Das Beispiel Xavier Naidoo

2. Der Mörder von Georgensgmünd: Das Beispiel Wolfgang Plan

3. Eine von vielen: Das Beispiel der Grundschullehrerin S.

4. Von einzelnen Männern mittleren Alters und bürgerlichen Normalbiografien

5. Versatzstücke einer diffusen Ideologie

Rechtsfixierung

Geschichtsbezug

Besessen von der Idee der eigenen Subjektivität

Reichsbürgertum und Rechtsextremismus

Kein positives Programm

6. Zwischen Papierterrorismus und Waffengewalt

7. Königreich Deutschland und Bismarcks Erben – die organisierten Strukturen

Geeinte deutsche Völker und Stämme

Königreich Deutschland

Bismarcks Erben

Staatenlos.info

8. Reaktionen eines Staates, den es nicht gibt

9. Verschwörungsideologen unter sich

10. Staatsstreich durch Reichsbürger?

IV. Eine Geschichte von Macht und Ohnmacht

1. Die Rechtsfantasie gekränkter Laien

2. Der ohnmächtige Kern des Rechts

3. Reichsbürgertum – eine individuelle Problemlösungsstrategie?

4. «Wir» und «die» – der Umgang mit den Reichsbürgern zwischen Macht und Ohnmacht

Anhang

Anmerkungen

I. Reichsgespenster

II. «Mein Reich komme»: Die Reichsfantasie der Reichsbürger

III. Prinzen, Popstars, Polizisten: Wer sind die Reichsbürger?

IV. Eine Geschichte von Macht und Ohnmacht

Literatur

Personenregister

I. Reichsgespenster

Am frühen Morgen des 7. Dezember 2022 rückten rund 3000 Polizisten zu einem der größten Anti-Terror-Einsätze in der Geschichte der Bundesrepublik aus. 137 Wohnungen und Geschäftsgebäude wurden durchsucht, 25 Personen verhaftet. Die Geschichte dahinter klingt unglaublich: Ein Nachfahre aus einem ehemals regierenden deutschen Fürstenhaus, der sich selbst «Heinrich XIII.» nennt, eine frühere AfD-Bundestagsabgeordnete und ein pensionierter Bundeswehroffizier verstrickten sich in eine Welt aus Reichsbürger- und QAnon-Verschwörungserzählungen und planten einen Umsturz. Mit Waffengewalt wollten sie in das Reichstagsgebäude eindringen, Abgeordnete festnehmen und in Handschellen aus dem Plenarsaal abführen. Auch Exekutionen vor Ort standen im Raum. Den Zugang zu dem Gebäude sollte die Politikerin vermitteln, die aus ihrer Abgeordnetenzeit noch über eine unbeschränkte Zugangsberechtigung verfügte.

Es war eine gespenstische Mischung aus Skurrilität und Bedrohlichkeit, die dieser Putschversuch ausstrahlte. Kurios wirkte auch das Ideologiegemisch der Verschwörer: Deutschland, so waren sich die Mitglieder der Gruppe sicher, wird von einem «Deep State» regiert. Rettung naht allerdings durch das unmittelbar bevorstehende Einschreiten der «Allianz», eines technisch überlegenen Geheimbundes von Regierungen verschiedener Staaten einschließlich Russlands und der USA. Mitglieder dieser «Allianz» befinden sich nach Überzeugung der Verschwörer bereits in Deutschland und bereiten zeitnah ihren Angriff auf den «Deep State» vor.[1] Um diesen Prozess zu unterstützen, die auch nach dem Eingreifen der «Allianz» noch wirksamen Institutionen und Repräsentanten des Staates zu bekämpfen und die neue Machtordnung abzusichern, begann die Gruppe, einen militärischen Arm in Gestalt bewaffneter «Heimatschutzkompanien» aufzubauen. Mehrere ehemalige Bundeswehrsoldaten waren für die Organisation dieser Verbände und die Beschaffung von Waffen und Munition verantwortlich.[2] 97 Schusswaffen und 25.462 Schuss Munition stellten die Sicherheitsbehörden bei ihrer Razzia sicher, dazu einen Betrag von mehr als 400.000 Euro in bar.[3]

Die gemischten Gefühle, die dieses bizarre Geschehen in der Öffentlichkeit auslöste, die Gleichzeitigkeit von Belustigung und Verunsicherung, sind typisch für die öffentliche Wahrnehmung der Reichsbürgerszene, wie sie sich seit dem Jahr 2016 entwickelt hat. Im Herbst dieses Jahres erschoss der Reichsbürger Wolfgang Plan auf seinem Grundstück im fränkischen Georgensgmünd einen Polizisten. Der Schock war groß. Zum ersten Mal wurden Reichsbürger in der Öffentlichkeit als ernst zu nehmende Bedrohung für das Gemeinwesen wahrgenommen. Plan wurde später wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Wenige Wochen zuvor war es bereits zu einem ähnlichen Vorfall gekommen. Der ehemalige «Mister Germany» und Reichsbürger Adrian Ursache, der auf seinem Grundstück einen eigenen «Staat Ur» ausgerufen hatte, schoss bei einem Polizeieinsatz einem Polizisten ins Gesicht. Der Mann erlitt eine schwere Verletzung am Hals, überlebte aber glücklicherweise. Ursache wurde später wegen versuchten Mordes zu sieben Jahren Haft verurteilt.[4] Allerdings hatte dieser Vorfall noch vergleichsweise wenig öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Erst durch den Mord in Franken wurde nicht nur den Sicherheitsbehörden, sondern auch Politik und Öffentlichkeit zunehmend bewusst, dass hinter der Reichsbürgerbewegung eine ernst zu nehmende Bedrohung steckt.

Dieser Eindruck wurde noch einmal symbolisch verstärkt, als im Sommer 2020 – im Rahmen einer Demonstration gegen die noch geltenden Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie – auf der Berliner Reichstagswiese mehrere hundert Demonstranten eine Absperrung zum Parlamentsgebäude durchbrachen und auf die Reichstagstreppe stürmten. Einige Minuten lang bauten sie sich lautstark vor dem Besuchereingang auf, bevor Polizisten sie zurückdrängen konnten. Der genaue Verlauf der Ereignisse ist bis heute nicht ganz klar. An der Aktion beteiligten sich aber jedenfalls auch Teilnehmer einer parallel stattfindenden Demonstration von Reichsbürgern. Die schwarz-weiß-roten Flaggen des Deutschen Kaiserreichs[5], die auf den Stufen des Reichstagsgebäudes geschwenkt wurden, legen ein eindrückliches Zeugnis davon ab, wie präsent und bilderstark die Reichsbürgerszene hier beteiligt war. Spätestens jetzt wurde der Öffentlichkeit bewusst, dass es sich nicht nur um harmlose Spinner oder vereinzelte gewaltbereite Verwirrte, sondern um echte Demokratiefeinde handelt.

Mittlerweile gehen die Verfassungsschutzbehörden davon aus, dass die Reichsbürgerbewegung in Deutschland über etwa 23.000 Anhänger verfügt.[6] Sie ist damit kleiner als die Szene der Rechtsextremisten, die fast 39.000 Anhänger zählt[7] – und mit dem Reichsbürgermilieu nur einen geringen Überschneidungsbereich aufweist[8] –, oder die ähnlich große Gruppe von Linksextremisten in Deutschland,[9] nähert sich aber zahlenmäßig der knapp 28.000 Personen umfassenden Szene islamistischer Extremisten[10] an. Anders als bei diesen schon länger bekannten Formen des Extremismus bereitet bei der Reichsbürgerszene allerdings bereits die bloße Beschreibung des Phänomens große Schwierigkeiten. Das liegt vor allem daran, dass diese Szene äußerst heterogen ist. Die meisten Reichsbürger sind, wenn überhaupt, nur sehr lose zusammengeschlossen. Meist handelt es sich um organisatorisch nicht vernetzte Einzelpersonen oder aber um instabile Kleingruppen, die sich nicht selten um dominante Führungspersönlichkeiten herum bilden, aber auch schnell wieder zerfallen können. Ein Großteil der Kommunikationsformen innerhalb der Szene beruht auf der Verbreitung und dem Konsum reichsbürgertypischer Inhalte über Internetseiten und soziale Medien, nicht aber auf festen sozialen Zusammenschlüssen, die eine klare Struktur erkennen ließen. Wenn die Reichsbürger im Folgenden gelegentlich als Reichsbürgerbewegung bezeichnet werden, geschieht das deshalb lediglich aus Gründen stilistischer Abwechslung und soll nicht etwa nahelegen, es handele sich bei den Reichsbürgern um einen organisierten kollektiven Akteur.

Die ideologische Verbindung, die zwischen Reichsbürgern bei all ihrem Facettenreichtum trotzdem ausgemacht werden kann, besteht darin, dass sie die legitime Existenz der Bundesrepublik Deutschland negieren. Die geltende Verfassungsordnung wird nicht als etwas begriffen, das es abzulehnen oder sogar zu bekämpfen gilt. Die Bundesrepublik Deutschland ist für Reichsbürger schlicht nicht real, ein reines Fantasiegebilde, eine Illusion, geschaffen und aufrechterhalten wahlweise von den Alliierten des Zweiten Weltkriegs oder etwa der «BRD GmbH», einem globalen Wirtschaftsunternehmen, das sich zur Befriedigung seines Gewinnstrebens als legitimer deutscher Staat tarnt. Der wirkliche, eigentliche Staat ist hingegen immer noch das Deutsche Reich. Dieses Reich besteht fort und bildet den eigentlichen Kern des Gemeinwesens, der von den im Moment scheinbar herrschenden Strukturen nur unzulässig verdeckt wird. In der Regel wird dabei unter dem «Deutschen Reich» entweder das Deutsche Kaiserreich von 1871 oder aber das Reich der Weimarer Republik und ihrer Verfassung von 1919, in den allermeisten Fällen aber gerade nicht das «Dritte Reich» des Nationalsozialismus verstanden. Aus diesem normativen Bezug auf das Deutsche Reich speist sich auch die Bezeichnung «Reichsbürger». Der Name ist freilich eine reine Fremdbeschreibung und wird von den Angehörigen der Szene in aller Regel vehement abgelehnt.

Die Bedeutsamkeit und Akzentuierung dieser Vorstellung von der Fortdauer des Deutschen Reiches kann innerhalb der Szene aber stark variieren. In sehr unterschiedlichen Ausprägungen findet sich die Reichsideologie teils im Zentrum, teils aber auch eher am Rand des jeweiligen Ideengemischs. Aus diesem Grund bestehen auch fließende Übergänge zum Milieu der sogenannten Selbstverwalter, die stark von der Bewegung der vor allem in Nordamerika verbreiteten «sovereign citizens»[11] inspiriert und weniger von einer abstrakten Reichs- als einer konkreten Freiheitsidee geleitet sind. In dieser ideologischen Variante des Reichsbürgertums führt die Nichtexistenz der Bundesrepublik Deutschland dazu, dass es jedem Individuum freisteht, sich für unabhängig zu erklären, einen souveränen Staat auf seinem eigenen Grundstück auszurufen und nur noch nach selbstgesetzten Regeln zu leben. Wolfgang Plan und Adrian Ursache, die beiden Reichsbürger, die 2016 auf ihren Grundstücken auf Polizisten schossen, hatten in dieser gedanklichen Linie ihre Grundstücke zu eigenen Staaten erklärt, auf denen die Sicherheitskräfte der Bundesrepublik über keinerlei Befugnisse verfügen sollten. Da die Grenzen hier im Einzelnen fließend sind und es große Überschneidungsbereiche gibt, verwenden wir im Rahmen dieses Buches einheitlich den Begriff Reichsbürger, bei dem das angrenzende Milieu der Selbstverwalter mitgemeint ist.

Besondere Aufmerksamkeit, Sorge und Empörung lösen die Reichsbürger in der Öffentlichkeit in erster Linie dann aus, wenn sie – wie Wolfgang Plan und Adrian Ursache – massive Gewalttaten begehen oder – wie im Fall der Gruppe um Heinrich Prinz Reuß – solche Taten planen, diese aber glücklicherweise verhindert werden können. Die besondere Gefährlichkeit der Reichsbürger geht aber über diese offenkundige Bedrohung durch Gewalt weit hinaus. Denn die Reichsbürgerbewegung greift den Staat in besonders empfindlicher Weise gerade auch dadurch an, dass sie ihn nicht einfach mit körperlicher Gewalt bekämpft. Ihre Besonderheit im Vergleich zu anderen verfassungsfeindlichen Bestrebungen besteht gerade darin, dass sie den Staat von vornherein gar nicht erst anerkennt, sondern ihn als wahnhafte Idee abtut. Ungewollt legt sie auf diese Weise den fragilen Kern jedes demokratischen Verfassungsstaates bloß, der sich nie einfach nur auf sein faktisches Gewaltmonopol berufen kann, sondern vielmehr darauf angewiesen ist, dass seine demokratischen Legitimitätserzählungen von den Bürgerinnen und Bürgern im Wesentlichen geglaubt werden. Kommt der Glaube an den Staat abhanden, wird dieser hingegen auf entlarvende Weise hilflos. Denn bei allen Diskussionen um mögliche Verschärfungen des Waffenrechts oder die strafrechtliche Verfolgung von Reichstagsstürmern und Umstürzlern: Den Glauben an ihn selbst kann der Staat nicht erzwingen.

Die Reichsbürgerszene und ihre sehr eigenwillige Form des Widerstands lassen sich nicht verstehen, ohne ihr entstehungsgeschichtlich zentrales Ideologieelement in den Blick zu nehmen: die Vorstellung vom Fortbestand des Deutschen Reiches über den Zusammenbruch Hitlerdeutschlands im Mai 1945 hinweg. Hier beginnt unser Buch. Denn die Reichsbürger knüpfen auf eigenwillige Weise an die juristische Lehre vom Fortbestand des Deutschen Reiches an, wie sie in der Zeit der deutschen Teilung insbesondere auch vom Bundesverfassungsgericht vertreten wurde, um der Einheit der Nation rechtlichen Ausdruck zu verleihen. Aus der damaligen Restpräsenz des Deutschen Reiches in West-Berlin heraus entstand dort um den Eisenbahner Wolfgang Ebel herum in den 1980er Jahren die Reichsbürgerbewegung. Denn ausgerechnet die von der DDR in West-Berlin betriebene «Deutsche Reichsbahn» lieferte in einer merkwürdigen Wirrung der Geschichte des geteilten Deutschlands den eigentlichen Anstoß für das Aufkommen der Reichsbürger.

Heute hat sich die Szene zwar von der Reichsbahn deutlich entfernt, ist aber gleichzeitig größer und präsenter geworden, als man sich dies in den 1980er Jahren hätte vorstellen können. An Beispielen wie dem bekannten Popmusiker Xavier Naidoo oder der unbekannten Grundschullehrerin Frau S. zeigt das Buch daher im nächsten Schritt exemplarisch, wie Menschen in die häufig nur lose organisierte Reichsbürgerszene hineingeraten, auf welche typischen Ideologiefragmente sie sich dabei stützen und mit welchen Handlungsmustern sie nach außen treten. Zumeist handelt es sich um einzelne Männer in der zweiten Lebenshälfte, deren Lebenskontext auf die eine oder andere Weise brüchig geworden ist. Zum Teil existieren aber auch organisierte Strukturen wie etwa das gleichermaßen skurrile wie auf beunruhigende Art umtriebige «Königreich Deutschland» des früheren Kochs Peter Fitzek. Trotz ihrer Eigenheiten, die insbesondere in ihrer Rechts- und Geschichtsfixierung begründet sind, fügen sich die Reichsbürger in eine allgemeine Entwicklung der zunehmenden Verbreitung von Verschwörungserzählungen ein, an die sie sich an vielen Stellen als hervorragend anschlussfähig erweisen. Denn welche größere Verschwörungserzählung ließe sich denken als die, dass die Bundesrepublik Deutschland uns allen nur vortäuscht, ein legitimer Staat zu sein, in Wirklichkeit aber gar nicht existiert?

Am besten lässt sich das Phänomen der Reichsbürger, so die These dieses Buches, als ein komplexes Wechselspiel von Macht und Ohnmacht begreifen. Reichsbürger wandeln individuelle Ohnmachtsgefühle gegenüber der Macht des Rechts in eine Ermächtigungsfantasie um, in der nun sie selbst die eigentliche, wahre Rechtsordnung verkörpern. Als ohnmächtig erweist sich gegenüber den Reichsbürgern auf seine Weise aber auch der Staat, der ihnen gegenüber auf das Mittel physischen Zwangs zurückgeworfen ist. Nicht weniger hilflos erscheint ebenfalls die gesellschaftliche Öffentlichkeit, die ihre Ratlosigkeit dadurch überdeckt, dass sie das Phänomen als psychische Störung pathologisiert, ins Lächerliche zieht oder pauschal dem Rechtsextremismus zuordnet. Die Reichsgespenster werden wohl erst verschwinden, wenn die Szeneangehörigen das bundesdeutsche Gemeinwesen als für sie sinnstiftend zu erleben vermögen. Der Weg dahin scheint allerdings noch weit zu sein.

II. «Mein Reich komme»: Die Reichsfantasie der Reichsbürger

1. Das Deutsche Reich als Sehnsuchtsort

Will man die Reichsbürger besser verstehen, muss man zunächst einmal ihr entstehungsgeschichtlich zentrales Ideologiebruchstück näher in den Blick nehmen: den Bezug auf das Deutsche Reich. Das Reich war einmal ein deutscher Sehnsuchtsort. Im vielschichtigen und konfessionell gespaltenen Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts deutete es auf eine politische und zugleich geistig-spirituelle Einheit hin, die voller Verheißung war.[1] Je weniger die tatsächlichen Verhältnisse als befriedigend erlebt wurden, umso stärker wirkte einst die Vision des Reiches. Das galt insbesondere noch einmal während der Jahre der Weimarer Republik nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg.[2] So verkündete der nationalistische Publizist Arthur Moeller van den Bruck in den 1920er Jahren, das «Endreich» sei «immer verheißen. Und es wird niemals erfüllt.»[3] In historischer Perspektive ist es daher nicht völlig überraschend, dass die Reichsbürger ausgerechnet das Reich zum Fluchtpunkt ihrer Ideologie erkoren haben. Zugleich wirkt der normative Bezug auf die Reichsidee in der Gegenwart skurril, befremdlich, seltsam aus der Zeit gefallen oder sogar politisch suspekt.[4] Das hängt damit zusammen, dass die Reichsidee ihre frühere Bedeutung im deutschen politischen Allgemeinbewusstsein seit 1945 verloren hat. Nach dem Zusammenbruch des «Dritten Reiches»[5] büßte das Reich seine pseudoreligiöse Bedeutung des Verheißenen und Unabgegoltenen ein. Selbst der Traditionsname «Deutsches Reich», im Ausland ohnehin mehr denn je misstrauisch beäugt,[6] verschwand damals innerhalb weniger Jahre aus dem öffentlichen wie regierungsinternen Sprachgebrauch.[7]

Nur in kleinen rechtskonservativen bis rechtsextremen Zirkeln und Gruppen im Nachkriegsdeutschland hielt sich noch die Vision eines dort vor allem völkisch verstandenen Reiches der Deutschen.[8] So bekannte sich die 1949 gegründete Sozialistische Reichspartei (SRP), die das Reich mit trotzigem Stolz bereits im Namen führte, programmatisch zu einer völkischen Reichsidee, die sie dem aus ihrer Sicht illegitimen Bonner Regime der «Lizenzparteien» entgegenhielt.[9] Ihr Chefideologe Gerhard Krüger (1908–​1994), ein früherer NSDAP-Funktionär, verfasste in britischer Lagerhaft den 1952 erschienenen Traktat «Das unzerstörbare Reich», in dem er die Reichsidee als unveräußerlich bezeichnete. Jeder einzelne müsse das Reich in sich bewahren, «damit es unzerstörbar bleibt und unverlierbar, solange es deutsche Menschen gibt, in deren hungernder Seele die große Sehnsucht vom Reich dichtet und singt». Auf diese Weise werde das im Innern bewahrte Reich «einstmals nach außen treten … als das Reich der Tat».[10] Der ideologische Bezug der SRP auf die Reichstradition schloss wie selbstverständlich das Reich Hitlers ein. Die SRP sah deshalb im früheren Oberbefehlshaber der Kriegsmarine Karl Dönitz (1891–​1980), den Hitler testamentarisch zu seinem Nachfolger ernannt hatte, das Staatsoberhaupt des weiterhin bestehenden Deutschen Reiches.[11] Parteipolitisch sollte diese Form der Reichsverherrlichung allerdings bald ein jähes Ende finden. Im Herbst 1952 wurde die SRP, die bei der niedersächsischen Landtagswahl 1951 immerhin elf Prozent der Stimmen erreicht hatte, vom gerade neu errichteten Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt und verboten.[12]

Knapp 25 Jahre später griff der Rechtsanwalt Manfred Roeder (1929–​2014) diese Idee jedoch in anderer Form wieder auf. Roeder war in jüngeren Jahren zunächst als konservativer Aktivist aufgetreten, radikalisierte sich ab Beginn der 1970er Jahre dann zunehmend und begann, sich offen rechtsextremistisch zu betätigen.[13] Zu seinem Programm gehörte insbesondere die Wiedererrichtung des Deutschen Reiches, wie es vor der Kapitulation im Mai 1945 bestanden hatte. Im Jahr 1975 führte Roeder einen Briefwechsel mit dem 84-jährigen Dönitz, den er weiterhin als Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches betrachtete und in seine Pläne einbinden wollte. Der frühere Großadmiral war in Nürnberg als Kriegsverbrecher zu zehnjähriger Haft verurteilt worden und hatte sich nach deren Verbüßung in Aumühle bei Hamburg niedergelassen. Dönitz erklärte Roeder in dieser Korrespondenz allerdings ausdrücklich, «daß ich mich nicht als Reichspräsident des Deutschen Reiches betrachte».[14] Parallel zu diesem Briefwechsel berief Roeder für Mai 1975, dreißig Jahre nach der Verhaftung von Dönitz durch die Alliierten in Flensburg, einen «Reichstag» in das «Deutsche Haus» in Flensburg ein. Die Veranstaltung, die Roeder trotz eines Versammlungsverbots durchführte, wurde von der Polizei aufgelöst. Im Mai 1978 ernannte die von ihm selbst gegründete Gruppe «Freiheitsbewegung Deutsches Reich» Roeder schließlich zum «Reichsverweser». In dieser Funktion beanspruchte er die Vertretung des Deutschen Reiches für sich. Wenig später ging er in den terroristischen Untergrund und beteiligte sich an verschiedenen rechtsterroristischen Anschlägen, wofür er später zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde.[15]

Zur heutigen Reichsbürgerbewegung existieren insofern gewisse Ähnlichkeiten in der Argumentation, als auch Manfred Roeder von der Idee eines fortbestehenden, aber handlungsunfähigen Deutschen Reiches ausging, dessen vorläufige Vertretung er für sich beanspruchte. Damit enden aber auch schon die Gemeinsamkeiten. Denn Roeders Reich war schlicht das «Dritte Reich», dessen Fortbestand er durch die behauptete Amtsübertragung von Hitler auf Dönitz und seinen persönlichen Kontakt mit diesem zu konstruieren versuchte. Diese rechtsextreme Kontinuitätsfantasie durch persönliche Ämtersukzession spielt für die heutige Reichsbürgerszene hingegen keine ersichtliche Rolle. Das liegt auch daran, dass die Behauptung einer persönlichen Ämterkette sich im Jahr 1980 endgültig erledigt hat, als Karl Dönitz im Alter von fast 90 Jahren starb. In einem nach seinem Tod an Bundespräsident Karl Carstens übermittelten handschriftlichen «Politischen Testament» vom 8. Mai 1975 «übertrug» dieser damals das Reichspräsidentenamt auf den Bundespräsidenten.[16] So sehr durch Dönitz’ «Politisches Testament» noch ein letztes Mal die kuriose rechtsextreme Fantasie spukte, es gebe in seiner Person durch Hitlers Testament eine Amtsstellung als Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches, die er seinerseits durch Testament «übertragen» könnte, so sehr endete doch durch seinen Tod und sein Testament jede Möglichkeit, noch irgendeine persönliche Ämtersukzession nach Hitler zu behaupten. Seit den 1980er Jahren verlor die Fixierung auf das Deutsche Reich denn auch im engeren Bereich des Rechtsextremismus ihre vorherige zentrale Bedeutung und wurde immer stärker durch Kampagnen gegen eine vermeintliche «Überfremdung» durch Zuwanderung abgelöst.[17]

2. Das Deutsche Reich zwischen Juristenobsession und rechtlicher Mumie

Die rechtsextremistische Reichsfantasie blieb in der Bundesrepublik immer marginal. Dennoch sank das Deutsche Reich in Westdeutschland auch nicht einfach in eine zunehmend entfernte Vergangenheit ab, um allein noch von Historikern verwaltet zu werden. Das verhinderten die (west-)deutschen Juristen des Staats- und Völkerrechts. Seit der frühen Nachkriegszeit propagierten sie fast einhellig die Auffassung, das Deutsche Reich sei durch den Zusammenbruch vom Mai 1945 nicht untergegangen, sondern bestehe rechtlich fort. Diese Rechtsauffassung vom Fortbestand des Deutschen Reiches vertraten Regierungen, Verwaltungen und Gerichte der Bundesrepublik wenig später jahrzehntelang wie selbstverständlich. Es ist diese «amtliche» westdeutsche Fortbestandslehre, an die heute die Reichsbürger auf ihre Weise anknüpfen.

Der Fortbestand des Deutschen Reiches als westdeutsches Juristenkonstrukt

Die Auffassung, das Deutsche Reich existiere rechtlich weiter, stand allerdings von Anfang an in einem starken Spannungsverhältnis zur Realität. Denn tatsächlich gab es seit dem Zusammenbruch und der Besetzung Deutschlands durch die Alliierten keine Institutionen des Deutschen Reiches mehr, und diese wurden auch später zu keinem Zeitpunkt mehr wiederbelebt. Die juristische Behauptung, das Deutsche Reich bestehe dessen ungeachtet fort, war deshalb seit dem Mai 1945 auf geradezu schmerzliche Weise kontrafaktisch. Vereinzelt wurde damals denn auch durchaus die Rechtsauffassung vertreten, das Deutsche Reich sei durch den Zusammenbruch der deutschen Staatsgewalt und die Okkupation Deutschlands durch die vier Siegermächte rechtlich untergegangen. Der prominenteste Vertreter dieser Ansicht war der in die USA emigrierte Rechtstheoretiker Hans Kelsen, der zeitweilig auch die amerikanische Regierung beriet.[18] Gegen diese Auffassung formierte sich seit der frühen Nachkriegszeit indes eine fast geschlossene Phalanx der (west-)deutschen Staats- und Völkerrechtslehre, die mit unüberhörbarem nationalen Pathos den Fortbestand des Deutschen Reiches proklamierte.[19] Von Anfang an vermischten sich dabei eher rechtstechnische Fragen mit emotionalen Bekenntnissen zur Einheit der deutschen Nation. Die «offizielle» westdeutsche Fortbestandslehre, welche die Reichsbürger auf ihre Weise fortführen, grenzte sich dabei von Anfang an scharf von der völkischen Reichsmythologie der Rechtsextremisten ab. So führte das Bundesverfassungsgericht in seinem SRP-Verbotsurteil im Jahr 1952 aus: