Auftrag Tartarus - James Rollins - E-Book
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Auftrag Tartarus E-Book

James Rollins

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Beschreibung

Die Rettung der Menschheit liegt hinter den Toren der Hölle – im 15. Sigma-Force-Bestseller!

Ein Fund unter Grönlands Eispanzer führt das Team der Sigma Force auf eine abenteuerliche Reise in die mythologische griechische Unterwelt. Eine mechanische Karte und eine seltsame Apparatur beschreiben den Weg. Doch hier handelt es sich um weit mehr als eine archäologische Schatzsuche. Kaum hat die Sigma Force mit der Expedition begonnen, wird das Team von Unbekannten attackiert. Was suchen die Angreifer? Und wer kann sie aufhalten? Wenn es jemand schafft, dann die Agenten der Sigma Force!

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Seitenzahl: 590

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Buch

Ein Fund unter Grönlands Eispanzer führt das Team der Sigma Force auf eine abenteuerliche Reise in die mythologische griechische Unterwelt. Eine mechanische Karte und eine seltsame Apparatur beschreiben den Weg. Doch hier handelt es sich um weit mehr als eine archäologische Schatzsuche. Kaum hat die Sigma Force mit der Expedition begonnen, wird das Team von Unbekannten attackiert. Was suchen die Angreifer? Und wer kann sie aufhalten? Wenn es jemand schafft, dann die Agenten der Sigma Force!

Autor

Der New-York-Times-Bestsellerautor James Rollins hat einen Doktorgrad in Tiermedizin. Als begeisterter Höhlenforscher und ebenso eifriger Taucher ist er häufig unter Wasser oder unter der Erde anzutreffen. Er wohnt in den Bergen der Sierra Nevada in Kalifornien, USA.

Von James Rollins bei Blanvalet erschienen:

Sigma-Force:

Der Genesis-Plan, Feuermönche, Sandsturm, Der Judas-Code, Das Messias-Gen, Feuerflut, Mission Ewigkeit, Das Auge Gottes, Projekt Chimera, Das Knochenlabyrinth, Die siebte Plage, Die Höllenkrone, Auftrag Tartarus

Tucker Wayne:

Killercode, Kriegsfalke

Die Bruderschaft der Christuskrieger:

Das Evangelium des Blutes, Das Blut des Verräters, Die Apokalypse des Blutes

Außerdem:

Sub Terra, Im Dreieck des Drachen, Das Flammenzeichen, Operation Amazonas, Das Blut des Teufels, Indiana Jones und das Königreich des Kristallschädels

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James Rollins

Auftrag Tartarus

Roman

Aus dem Englischen von Norbert Stöbe

Die englische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The Last Odyssey (Sigma Force 15)« bei William Morrow, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2020 by Jim Czajkowski

Published in agreement with the author, c/o Baror International, Inc. Armonk, New York, U. S. A.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Blanvalet Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Evgeniia Litovchenko; gestaltkreatif; d1sk; Kerstin Schoene; jadimages; iulias)

Redaktion: text in form / Gerhard Seidl

HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-27050-6V001www.blanvalet.de

Für Leser allerorten, die noch immer auf bedruckten Seiten nach vergessenen Welten und tieferen Wahrheiten suchen. Danke, dass ihr mich auf dieser Reise begleitet.

Anmerkungen zum historischen Hintergrund

Die Geschichtsschreibung ist ständig im Fluss. Die Darstellung von Ereignissen hängt vom jeweiligen Standpunkt ab. Häufig schreibt der Sieger die Geschichte und münzt Mythen in Fakten um.

Nehmen wir beispielsweise die beiden großen Epen Homers – die Ilias und die Odyssee –, zwei Versdichtungen über den Trojanischen Krieg und dessen Nachspiel. Man nimmt an, dass diese Werke im achten Jahrhundert vor Christus entstanden sind, wenngleich die meisten Historiker bezweifeln, dass Homer je gelebt hat. Der Name Homer war vermutlich nur ein zweckmäßiges Pseudonym für die vielen Barden, die diese turbulente Geschichte von Göttern und Ungeheuern vortrugen.

Doch inwieweit beruhen diese beiden Epen auf historischen Ereignissen, und wie viel davon ist frei erfunden?

Jahrhundertelang bezweifelten Historiker sogar die Existenz Trojas – der großen Stadt, die von den Griechen belagert und mithilfe des Trojanischen Pferds erobert wurde, wie in der Ilias berichtet wird. Troja galt als mythischer Ort, als eine von Homer zum Leben erweckte Erfindung. Im späten neunzehnten Jahrhundert führte dann der deutsche Amateurarchäologe Heinrich Schliemann auf einem großen Hügel namens Hisarlik Grabungen durch und legte die Überreste einer großen Stadt frei. Erst viele Jahre später wurde der verschüttete Gebäudekomplex als Troja identifiziert.

Und so wurde aus dem Mythos Geschichte.

Doch wie steht es mit Homers Odyssee, der Geschichte des großen Kriegshelden Odysseus und dessen gefährlicher zehnjähriger Heimreise zur Insel Ithaka? Darin geht es um Entbehrungen und Unglücke, um gewaltige Ungeheuer und Zauberinnen, um gottgesandte Stürme und Sirenen, die Menschen in den Wahnsinn treiben. Das kann wohl kaum auf Fakten beruhen. Dennoch suchen Historiker und Archäologen in der Odyssee noch immer nach Hinweisen, versuchen die Route zu rekonstruieren, der Odysseus’ Schiff gefolgt ist, und die Orte zu bestimmen, die in der Versdichtung erwähnt werden.

Hier ein Beispiel. Vor etwas mehr als zehn Jahren entdeckte der britische Wirtschaftsberater Robert Bittlestone mithilfe modernder geologischer Instrumente Odysseus’ Heimatstadt Ithaka, zu der der große Krieger nach seinen epischen Irrfahrten zurückkehrte. Archäologen waren bereits zu dem Schluss gelangt, die Insel Ithaka komme nicht als Odysseus’ Heimat infrage, da sie nicht zu Homers Schilderungen passe. Bittlestone präsentierte eine neue, auf Funden gründende Theorie und erklärte, die griechische Halbinsel Paliki sei das alte Ithaka. Seine Belege waren so überzeugend, dass James Giggle, Professor an der Cambridge University für Griechisch und Latein, erklärte: »Sie (die Theorie) ist bestechend und wird gestützt von der Geologie … wenn man das Terrain erkundet, finden sich außergewöhnliche Übereinstimmungen.«1 Bittlestones Schlussfolgerungen wurden auch von anderen Altertumsgelehrten gestützt.2

Da haben wir den Beweis, dass die in der Odyssee geschilderten Ereignisse einen historischen Ausgangspunkt (nämlich die Stadt Troja) und einen Endpunkt haben (Ithaka). Diese Entdeckungen werfen eine Frage auf: Wie verhält es sich mit dem ganzen Rest? Wie viel von Homers Verserzählung von Göttern und Ungeheuern entspricht der Wahrheit?

Ungeachtet der offenen Frage von Homers Identität geht man inzwischen davon aus, dass die beiden Versepen von einem großen Krieg erzählen, der tatsächlich stattgefunden hat. Sie beleuchten eine unbekannte Ära, die als griechisches Mittelalter bezeichnet wird, eine turbulente Zeit, in der drei Zivilisationen der Bronzezeit untergingen: das Reich der Mykener in Griechenland, das Hethiterreich in Anatolien und das ägyptische Reich. Wie kam es dazu? Jüngste Entdeckungen zeigen, dass das Gebiet des Mittelmeers von einer Reihe von Schlachten heimgesucht wurde. Die Kämpfe waren so weit verbreitet, dass manche Historiker vom ersten globalen Krieg sprechen, vom Weltkrieg null. Vieles von diesem Geschehen liegt noch im Dunkeln, doch einige Archäologen glauben, dass noch eine vierte Zivilisation an den Kämpfen beteiligt war, eine Zivilisation, welche die anderen drei besiegte – und dann verschwand.

Wenn das stimmt, wer war dieses vergessene Volk? Enthalten Homers Erzählungen Hinweise auf ihren Ursprung und ihr Verschwinden? Die Antworten finden sich auf diesen Seiten und klären auf über einen neuen Weltkrieg, der uns droht. Also seien Sie vorgewarnt – nicht alle Geschichten von Göttern und Ungeheuern sind fiktiv.

1 Fergus M. Bordewich, »Odyssey’s End: The Search for Ancient Ithaka«, Smithsonian Magazine, April 2006.

2 Nicholas Kristof, »Odysseus Lies Here«, New York Times, 10. März 2012.

Vorbemerkung zum wissenschaftlichen Hintergrund

Wir Menschen sind ein neugieriges Völkchen. Leider bringt uns unsere Neugier häufig mehr Ärger als Nutzen ein. Besonders dann, wenn es um Erfindungen geht. Der Gebrauch des Rads verbreitete sich um 3500 v. Chr., und seitdem haben wir nicht aufgehört, Innovationen hervorzubringen, um unser Leben und unser Verständnis davon zu verbessern. Das alte Sprichwort »Not macht erfinderisch« ist heute so wahr wie 3500 v. Chr.

Aber ist das auch nachhaltig? Wird es eine Zeit geben, da der Fortschritt stagniert? Manche glauben, wir hätten die Trendwende bereits vollzogen. Tyler Cowen, Wirtschaftswissenschaftler an der George Mason University, hat ein Manifest mit dem Titel Die große Stagnation verfasst. Darin heißt es, wir hätten die Vorteile billiger Energie und industrieller Durchbrüche bereits ausgeschöpft. Er glaubt, die Zeit des schnellen Fortschritts gehe zu Ende.

Stimmt das? Sicherlich gab es Perioden der technischen Stagnation, vor allem deshalb, weil bestimmte Gesellschaften sich dafür entschieden, den Fortschritt aufzuhalten. Die Chinesen taten dies nach dem Ende der Ming-Dynastie; die arabische Welt im vierzehnten Jahrhundert. Doch es scheint so, dass andere die Fackel weitertragen, wenn jemand die Flamme des Fortschritts erstickt. Als die arabische Welt in Dunkelheit versank, begann in Europa die Renaissance und führte fort, was die islamische Welt aufgegeben hatte.

In der Zeit vom achten bis zum vierzehnten Jahrhundert – das islamische Goldene Zeitalter genannt – erwiesen sich arabische Wissenschaftler als Meister des Ingenieurwesens und der Erfindungskunst. Einer der bekanntesten war Ismail al-Jazari (1136–1206), der verschiedene Gerätschaften erfand, angefangen von Wasseruhren bis zu komplizierten Automaten. Die Komponenten und Techniken, die er dabei anwandte, waren zuvor unbekannt. Al-Jazaris größtes Meisterwerk war ein Buch mit dem Titel Das Buch vom Wissen über ausgeklügelte mechanische Apparate und enthielt Schemazeichnungen für mehr als hundert Erfindungen. Er wurde bekannt als »Leonardo da Vinci der arabischen Welt«.

Man nimmt sogar an, dass Leonardo von der Arbeit al-Jazaris, der zwei Jahrhunderte vor seiner Geburt starb, beeinflusst wurde und sich sogar bei ihm »bedient« hat. Auf diese Weise trug Leonardo die Fackel des Fortschritts weiter, die in der islamischen Welt nach dem Ende des Goldenen Zeitalters erloschen war. In Wahrheit übte al-Jazari weit größeren Einfluss auf Leonardo aus als allgemein bekannt – wie Sie bald herausfinden werden.

So ist das mit dem Fortschritt: Er wird von einem Menschen und von einem Land zum anderen und von einem Jahrhundert zum nächsten weitergereicht.

Lassen Sie uns zum Schluss noch einmal auf das alte Sprichwort »Not macht erfinderisch« eingehen. Wenn es zutrifft, wirft es eine Frage auf: Was war der Hauptantrieb für Erfindungsgeist und Fortschritt?

Die Antwort ist kurz.

Der Krieg.

»Ich wäre lieber Knecht eines Tagelöhners als Herrscher im Reich der Schatten.«

DAS GESPENST DES ACHILLES IN HOMERS ODYSSEE

Glücklich werden die sein, welche den Worten der Toten Gehör schenken.

LEONARDO DA VINCI

10. Dezember, 1515 n. Chr. Rom, Italien

Der Künstler beugte sich über den abgetrennten Kopf. Die makabre Dekoration war auf dem Tisch seines Ateliers aufgespießt, das von der Morgensonne erhellt wurde. Er hatte sich die Wohnung im Belvedere vor allem wegen des wundervollen Lichts ausgesucht. Die Villa lag innerhalb des Vatikans, auf heiligem Boden. Trotzdem zog er, ohne zu zögern, die Haut von der Wange des toten Mädchens ab. Das arme Ding war vor seinem siebzehnten Geburtstag gestorben.

Eine Tragödie, die ihm zu einem hervorragenden Studienobjekt verholfen hatte.

Er legte die feine Muskulatur unter der Haut frei und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die zarten Fasern, die vom Wangenknochen zu den erschlafften Lippen führten. Im Verlauf der nächsten Stunde zupfte er behutsam an verschiedenen Muskeln und beobachtete, wie die blassen Lippen darauf reagierten. Zwischendurch hielt er inne und notierte auf einem Stück Pergament mit geschickten Strichen der linken Hand jede einzelne Bewegung. Er registrierte auch die winzigen Bewegungen der Nasenlöcher, die Veränderungen der Wangenform und die Faltenbildung des unteren Augenlids.

Als er genug hatte, richtete er sich mit knackendem Rücken auf und trat vor die Holztafel auf seiner Staffelei. Er nahm einen Pferdehaarpinsel in die Hand und betrachtete die linke Seite des unfertigen Gesichts, das in einer Dreivierteldrehung fixiert war. Da das Modell nicht anwesend war, musste er aus der Erinnerung malen. Die herabfallenden Locken und den Faltenwurf des Kleids blendete er aus. Er tauchte den Pinsel in die Ölfarbe und fügte an der Lippe einen Schatten hinzu, wobei er auf die Erkenntnisse zurückgriff, die er bei der Sektion des Mädchens gewonnen hatte.

Zufrieden trat er zurück.

Besser … viel besser.

Vor zwölf Jahren, als er noch in Florenz lebte, hatte Francesco del Giocondo, ein reicher Kaufmann, ein Porträt seiner jungen Frau, der schönen und rätselhaften Lisa, in Auftrag gegeben. Seitdem schleppte er das unvollendete Bild mit sich herum, von Florenz nach Mailand und von dort nach Rom. Er war noch immer nicht bereit, sie loszulassen.

Der Emporkömmling Michelangelo – der manchmal diese Räumlichkeiten im Belvedere mit ihm teilte – machte sich lustig über seinen Widerwillen, das Gemälde zu vollenden, und spottete mit jugendlicher Herablassung über seine Hingabe.

Doch das war nicht mehr wichtig. Er erwiderte den Blick der schwarzen Augen. Das kühle Morgenlicht strömte durch die Fenster der ersten Etage und verlieh ihrer Haut einen Schimmer, der betont wurde durch die erlöschende Glut im kleinen Kamin, der den Raum erwärmte.

Im Lauf der Jahre habe ich mein ganzes Wissen darauf verwandt, dich noch schöner zu machen.

Doch er war noch nicht fertig.

Hinter ihm öffnete sich die Tür des Ateliers. Die knarrenden Angeln erinnerten ihn an seine übrigen Pflichten, an dringlichere Aufträge, die ihn von ihrem Lächeln fernhalten würden. Gereizt krampfte er die Finger um den Pinsel.

Die angenehme, schuldbewusste Stimme seines Lehrburschen besänftigte ihn. »Meister Leonardo«, sagte Francesco, »ich habe alles, wonach du verlangt hast, in die Bibliothek gestellt.«

Seufzend legte er den Pinsel beiseite und kehrte Lisa den Rücken zu. »Grazie, Francesco.«

Als Leonardo zu dem Pelzumhang hinüberging, der neben der Tür aufgehängt war, fiel Francescos Blick auf den halb gehäuteten Kopf auf dem Arbeitstisch. Der junge Mann riss die Augen auf und erblasste, enthielt sich aber einer Bemerkung.

»Hör auf zu gaffen, Francesco. Ein solcher Anblick sollte dich doch inzwischen nicht mehr aus der Ruhe bringen.« Er legte den Umhang an und wandte sich zur Tür. »Wenn du ein Meistermaler werden willst, musst du dir Wissen aneignen, wann immer sich eine Gelegenheit bietet.«

Francesco nickte und folgte Leonardo.

Sie stiegen die Steintreppe hinunter und traten auf den Hof des Belvederes hinaus. Das Gras war wegen des Frosts spröde und weiß. Die frische Luft roch nach Holzfeuer. Die beiden Gebäudeflügel, die den Hof einfassten, waren mit Gerüsten verkleidet.

Als sie vorbeieilten, überkam Leonardo das Gefühl, die Geschichte gehe von einer Ära zur nächsten über. Die Vorahnung bevorstehenden Wandels versetzte ihn in Anspannung und entzündete das Feuer der Hoffnung in seiner Brust.

Als er und Francesco den hoch aufragenden Apostolischen Palast erreichten, brannte ihnen von der Kälte die Nase. Die Kapelle des Gebäudes hatte vor Kurzem der fluchwürdige Michelangelo ausgemalt.

Der Ärger vertrieb die winterliche Kälte. Im vergangenen Jahr hatte Leonardo, ausgerüstet mit einer Lampe, sich weit nach Mitternacht in die Kapelle geschlichen. Er hatte das Werk des jungen Mannes im Geheimen begutachtet, denn er wollte Michelangelo nicht öffentlich aufwerten. Doch er hatte sich den Hals verrenkt und staunend die Decke betrachtet. Unwillkürlich zollte er dem Genie des Künstlers und dessen innovativer Anwendung der Perspektive in einem so großen Raum Respekt. Er hatte sich Notizen gemacht, um sich Michelangelos Neuerungen nutzbar zu machen.

Seine hartnäckige Verbitterung über den jungen Künstler ließ ihn an den Rat denken, den er Francesco erteilt hatte: Du musst dir Wissen aneignen, wann immer sich eine Gelegenheit bietet.

Er stapfte die Palasttreppe hinauf, nickte den Wachposten zu und trat ein.

Vielleicht weil er seine Gereiztheit spürte, geleitete Francesco ihn zu dem Flügel, in dem die Vatikanische Bibliothek untergebracht war. In der Nacht zuvor hatte er dort staubige Regale und Schränke durchsucht und die Materialien zusammengetragen, um die Leonardo gebeten hatte.

Die Zeit wurde knapp.

In drei Tagen sollte Leonardo zusammen mit Papst Leo X. ins nördlich gelegene Bologna aufbrechen und sich dort mit dem französischen König François I. treffen, der kürzlich Mailand erobert hatte. Obwohl bei der Begegnung Staatsangelegenheiten erörtert werden sollten, bestand der König auf Leonardos Anwesenheit. Ein Brief hatte seiner seltsamen Forderung Nachdruck verliehen.

Offenbar wollte der König – der von Leonardos Begabung wusste –, dass er zur Feier des französischen Sieges ein großes Kunstwerk anfertigte. Im Brief waren Einzelheiten aufgeführt. König François wünschte sich einen goldenen mechanischen Löwen, der seine Brust öffnen und den darin befindlichen Lilienstrauß offenbaren konnte. Lilien waren das Wappenzeichen des französischen Königs.

Francesco – stets ein guter Gefährte – ahnte, was ihm durch den Sinn ging. »Glaubst du wirklich, du kannst ein solches goldenes Gerät anfertigen?«

Leonardo musterte den jungen Mann. »Schwingt in deinem Tonfall Skepsis mit, Francesco? Zweifelst du an meinem Genie?«

Die Wangen des jungen Mannes färbten sich rot. »Na-natürlich nicht, Meister«, stammelte er.

Leonardo lächelte. »Das ist gut, denn ich trage bereits genug Zweifel in mir. Hochmut kommt vor dem Fall. Große Werke entstehen zu gleichen Teilen aus göttlicher Inspiration und irdischer Demut.«

»Demut?«, wiederholte Francesco skeptisch. »Du und demütig?«

Leonardo lachte glucksend. Der Junge kannte ihn gut. »Man ist gut beraten, in der Öffentlichkeit anmaßend aufzutreten. Um den anderen einzureden, man verfüge über unerschöpfliches Selbstvertrauen in allen Dingen.«

»Und im Geheimen?«

»Da sollte man tief in sich hineinblicken. Es bedarf der Demut, um seine Grenzen zu erkennen und sich darüber klar zu werden, wann man seine Kenntnisse erweitern muss.« Er dachte daran, wie er im Lampenschein zu Michelangelos Deckengemälde aufgeblickt hatte. Dabei hatte er einiges gelernt. »Das macht wahres Genie aus. Ausgestattet mit genügend Wissen und Genialität, vermag ein Mensch alles zu erreichen.«

Er eilte der Bibliothek entgegen, um diese Behauptung zu beweisen.

10:02

Hoffentlich habe ich meine Sache gut gemacht.

Francesco hielt seinem Meister die Tür auf und trat hinter Leonardo in die päpstliche Bibliothek. Er hoffte inständig, dass er den großen Mann nicht enttäuschen würde.

Als er seinem Mentor in das Hauptgewölbe folgte, begrüßte ihn der modrige Geruch von altem Leder und schimmligen Pergamenten. Die Holzregale reichten bis an die Deckenbalken, dazwischen standen die bleichen Gespenster der Marmorstatuen. Auf einem breiten Schreibtisch, auf dem sich Bücher, lose Papiere und Schriftrollen stapelten, brannte eine einzelne Lampe.

Leonardo näherte sich dem Tisch. »Jedenfalls warst du fleißig, Francesco.«

»Ich habe mich bemüht«, sagte er und seufzte. »Das arabische Buch, das du haben wolltest, war besonders schwer zu finden.«

Leonardo hob die Brauen und wandte den Kopf. »Du hast es gefunden?«

Voller Stolz zeigte Francesco auf einen dicken Wälzer in der Mitte der zusammengetragenen Dokumente. Der alte Ledereinband war abgegriffen und schwarz verfärbt, doch die Goldprägung funkelte im Lampenschein. Die fließende arabische Schrift wirkte noch immer wunderschön.

Leonardos Zeigefinger schwebte über dem Titel , den er laut vorlas: »Kitab fi ma`rifat al-hiyal al handasiya.«

Francesco übersetzte in gedämpftem Ton. »Das Buch vom Wissen über ausgeklügelte mechanische Apparate.«

»Es wurde vor zweihundert Jahren verfasst«, sagte Leonardo. »Kannst du dir diese Zeit vorstellen, das Goldene Zeitalter des Islam, da Wissenschaft und Gelehrsamkeit höchstes Ansehen genossen?«

»Ich würde gern irgendwann an einen solchen Ort reisen.«

»Ach, mein lieber Francesco, da kommst du zu spät. Diese Länder sind der Dunkelheit anheimgefallen. Dort wüten Kriege und Unwissenheit. Es würde dir dort nicht gefallen.« Er setzte den Finger auf den Einband. »Zum Glück wurde das alte Wissen bewahrt.«

Leonardo schlug aufs Geratewohl eine Seite auf. Der mit schwarzer Tinte geschriebene arabische Text umfloss die kolorierte Zeichnung eines Springbrunnens; das Wasser strömte aus einem Pfauenschnabel in eine komplizierte Vorrichtung aus Zahnrädern und Flaschenzügen. Francesco wusste, dass das Buch voller Illustrationen von Gerätschaften war, darunter viele Automaten wie der, den der französische König sich von seinem Meister wünschte.

»Der Autor ist Ismail al-Jazari«, sagte Leonardo. »Ein brillanter Künstler und oberster Baumeister des Artuklu-Palasts. Ich glaube, ich kann aus diesem Buch viel lernen, was mir beim Bau des goldenen Löwen für den französischen König helfen wird.«

Hinter ihnen meldete sich ein Neuankömmling zu Wort. »Vielleicht gibt es noch ein anderes Buch, das dir helfen könnte.«

Leonardo und Francesco wandten sich beide zur Bibliothekstür um, die sie versehentlich offen gelassen hatten. Ein kleiner, untersetzter Mann stand im Eingang. Sein schlichter weißer Priesterrock und das Käppchen leuchteten im schwachen Licht. Mit dem Eifer der Jugend fiel Francesco auf ein Knie nieder und neigte das Haupt. Leonardo schaffte es kaum, sich zu verneigen, bevor der Mann abermals das Wort ergriff.

»Das reicht. Richtet euch auf.«

Francesco straffte sich, hielt den Kopf aber gesenkt. »Eure Heiligkeit.«

Papst Leo X. näherte sich ihnen; seine beiden Leibwachen verharrten am Eingang. In den Händen hielt er ein schweres Buch. »Ich habe gehört, dass dein Lehrbursche in unserer Bibliothek gestöbert hat. Und ich kenne auch den Grund. Offenbar bist du sehr bemüht, unseren Gast aus dem Norden zufriedenzustellen.«

»Ich habe gehört, König François kann recht fordernd sein«, räumte Leonardo ein.

»Und gewalttätig«, bemerkte der Papst spitz. »Es wäre mir lieber, wenn er dieser Neigung nur im Norden nachgehen würde. Weshalb wir seine Königliche Hoheit nicht enttäuschen sollten, sonst kommt er noch auf die Idee, mit seinen Soldaten weiter gen Süden vorzurücken. Um das zu verhindern, möchte ich dir anbieten, dir von meinen Bediensteten helfen zu lassen.«

Papst Leo trat an den Tisch. »Das wurde im Heiligen Scrinium gefunden.«

Francesco straffte sich überrascht. Das Heilige Scrinium war die Privatbibliothek der Päpste. Dort gab es angeblich erstaunliche Bücher, religiöse wie profane, aus der Zeit des frühen Christentums.

»Das wurde beim ersten Kreuzzug erbeutet«, erklärte der Papst, als er das Buch auf den Schreibtisch legte. »Ein persisches Buch über mechanische Gerätschaften aus dem neunten Jahrhundert des Herrn. Ich dachte mir, es könnte dir vielleicht ebenso nützlich sein wie der Band, den dein Lehrbursche herbeigeschafft hat.«

Neugierig klappte Leonardo den nichtssagenden Einband um, dessen Titel längst verblasst war. Als er den Namen des Autors auf der Innenseite las, wandte er sich ungestüm zum Pontifex um.

»Banū Mūsā«, las er den Namen vor.

Seine Heiligkeit nickte und übersetzte. »Die Söhne Moses’.«

Francesco setzte zu einer Frage an, dann schloss er den Mund schüchtern wieder.

Leonardo beantwortete die Frage trotzdem, indem er sich erklärend halb Francesco zuwandte. »Die Söhne Moses’ waren drei persische Brüder, die vier Jahrhunderte vor Ismail al-Jazari lebten. Al-Jazari erwähnt sie namentlich in seinem Buch und dankt ihnen für wertvolle Anregungen. Ich habe geglaubt, davon gäbe es keine Kopien mehr.«

»Ich verstehe das nicht«, flüsterte Francesco und kam näher. »Was ist das für ein Buch?«

Leonardo legte die Hand auf den alten Text. »Ein wahres Wunder. Das Buch ausgeklügelter Apparate.«

»Aber …?« Francesco sah auf das danebenliegende Buch, das er mühsam ausfindig gemacht hatte.

»Ja«, bestätigte Leonardo, »unser geschätzter al-Jazari hat sein Buch nach diesem älteren Werk benannt und den Titel nur leicht verändert. Es heißt, die drei Brüder – die Söhne Moses’ – hätten jahrzehntelang griechische und römische Schriften aus der Zeit nach dem Untergang des Römischen Reiches gesammelt. Im Lauf der Zeit bauten die Brüder auf den Erkenntnissen auf, die sie aus den Texten gewonnen hatten, und verfassten ihr eigenes Buch der Erfindungen.«

Der Papst trat zu ihnen an den Tisch. »Aber die Brüder interessierten sich nicht nur für wissenschaftliches Wissen.« Der Pontifex blätterte zum Ende des Buches vor und zog mehrere lose Blätter heraus. »Was hältst du davon?«

Leonardo betrachtete die vergilbten Seiten und die Schrift. Er schüttelte den Kopf. »Das ist eindeutig Arabisch. Aber ich kann es nicht flüssig lesen. Mit etwas Mühe könnte ich vielleicht …«

Der Papst winkte ab. »Es befinden sich arabische Gelehrte in meinen Diensten. Sie haben die Seiten übersetzt. Offenbar handelt es sich um das elfte Buch einer umfangreichen Dichtung. Die ersten Zeilen lauten: Als wir des Meeres Ufer erreichten, zogen wir das Schiff ins Wasser und stellten die Masten empor und die Segel.«

Francesco runzelte die Stirn. Weshalb kam ihm das bekannt vor?

Der Pontifex zitierte die Übersetzung aus dem Gedächtnis: »Wir brachten die Schafe an Bord und nahmen bekümmert unsere Plätze ein. Circe, die große listenreiche Göttin …«

Francesco war dermaßen fassungslos, dass er vernehmlich nach Luft schnappte.

Der Name Circe … der konnte nur eines bedeuten.

Leonardo betrachtete eingehend die Seiten und bestätigte seine Vermutung. »Wollt Ihr damit sagen, dies sei eine Übersetzung von Homers Odyssee?«

Seine Heiligkeit nickte belustigt. »Eine Übersetzung ins Arabische, etwa neunhundert Jahre alt.«

Wenn das stimmte, wäre dies die älteste schriftliche Fassung von Homers Dichtung. Francesco fand seine Stimme wieder. »Aber weshalb stecken diese Seiten in einem alten persischen Buch über mechanische Apparate?«

»Vielleicht aus diesem Grund.«

Der Papst schlug die letzte Seite des Buches auf. Darauf war eine mit Tinte ausgeführte flüchtige Skizze zu sehen. Offenbar handelte es sich um eine mechanische Landkarte mit komplizierten Zahnrädern und Drähten, versehen mit Anmerkungen auf Arabisch. Sie umfasste den Mittelmeerraum. Allerdings machte die Karte einen unvollständigen, unfertigen Eindruck.

»Was ist das?«, fragte Francesco.

Der Papst wandte sich an Leonardo. »Ich hoffe, du wirst das herausfinden, mein geschätzter Freund. Die Übersetzer haben nur ein paar Hinweise gefunden.«

»Und die wären?« Leonardos Augen leuchteten; offenbar war er fasziniert von dem Mysterium.

»Der erste Hinweis.« Der Papst tippte auf die arabische Übersetzung aus Homers Odyssee. »Dieser Teil der Dichtung erzählt von Odysseus’ Reise in die Unterwelt, in das Land von Hades und Persephone, die griechische Version der Hölle.«

Francesco runzelte verständnislos die Stirn.

Der Papst deutete auf die Skizze. »Anscheinend wollten die Söhne Moses’ einen Apparat bauen, der sie dorthin führen sollte.« Er musterte Leonardo scharf. »In die Unterwelt.«

Leonardo schnaubte. »Absurd.«

Francesco lief ein Schauer über den Rücken. »Warum haben die Brüder nach diesem Ort gesucht?«

Der Papst zuckte mit den Schultern. »Das weiß niemand, aber es ist beunruhigend.«

»Wieso das?«, fragte Leonardo.

»Weil hier steht, die Söhne Moses’ hätten ihn gefunden. Sie haben den Eingang zur Hölle gefunden.«

TEIL 1 DERSTURMATLAS

Das Meer hat eine unermessliche Ausdehnung, sodass große Schiffe darauf wie winzige Punkte erscheinen; nichts als Himmel und Wasser; ist es ruhig, ist dem Seemann das Herz schwer; ist es stürmisch, sind seine Sinne aufs Äußerste angespannt. Vertrau wenig. Fürchte dich sehr. Der Mensch auf dem Meer gleicht einem Wurm auf einem Stück Holz, eben noch wasserumschlungen, dann zu Tode erschrocken.

AMRU IBN AL-’AS, DER ARABISCHE EROBERER ÄGYPTENS, 640 V. CHR.

1

21. Juni, 9:28 WGST Sermilik-Fjord, Grönland

Der Meeresnebel verbarg das vor ihnen befindliche Ungeheuer.

Als das Boot in die unheimliche Nebelbank hineinfuhr, wich der morgendliche Sonnenschein düsterem Zwielicht. Selbst das Grollen des Außenbordmotors wurde vom dichten Nebel gedämpft. In Sekundenschnelle sank die Temperatur rapide – von ein paar Grad unter null auf einen Wert, der sich anfühlte, als atmete man Eiszapfen ein.

Dr. Elena Cargill hustete, um die Atemwege frei zu bekommen. Sie versuchte, sich fester in den hellblauen Parka einzumummen, unter dem sie zum Schutz vor dem eiskalten Wasser einen Trockenanzug trug. Jede einzelne Strähne ihres weißblonden Haars hatte sie unter die dicke Wollmütze gestopft und sich einen Schal um den Hals gewickelt.

Was mache ich hier eigentlich?

Gestern noch hatte sie bei einer Grabung im Norden Ägyptens geschwitzt, wo sie mit ihrem Team behutsam ein Küstendorf freilegte, das vor viertausend Jahren zur Hälfte vom Mittelmeer verschlungen worden war. Es war eine große Ehre, das amerikanisch-ägyptische Grabungsteam zu leiten, vor allem für eine Person, deren dreißigster Geburtstag erst in zwei Monaten stattfinden würde – unverdient war die Verantwortung freilich nicht. Sie hatte in Paläontologie und Archäologie promoviert und sich auf dem Gebiet ausgezeichnet. Um an der Grabung teilnehmen zu können, hatte sie sogar einen Lehrauftrag an ihrer Alma Mater, der Columbia University, abgelehnt.

Trotzdem argwöhnte sie, man habe sie nicht allein wegen ihrer akademischen Leistung und ihrer erfolgreichen Feldforschung als Teamleiterin ausgewählt. Ihr Vater war der Senator Kent Cargill, der den großen Bundesstaat Massachusetts repräsentierte. Zwar behauptete ihr Vater, er habe seine Beziehungen nicht spielen lassen, doch er war ein erfolgreicher Politiker und bereits dreimal wiedergewählt worden, weshalb ihm das Lügen zur zweiten Natur geworden war. Außerdem hatte er gegenwärtig den Vorsitz des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten inne. Was immer er auch sagte, sein Senatorenstatus hatte den Entscheidungsprozess vermutlich beeinflusst.

Alles andere wäre verwunderlich gewesen.

Dann kam die Anfrage, ob sie in die eisige Wildnis von Grönland fliegen wolle. Zumindest kam sie nicht von ihrem Vater, sondern von einer Kollegin, einer Bekannten, die ihr vorgeschlagen hatte, dort eine Entdeckung zu inspizieren. Vor allem die Neugier lockte sie von der Ausgrabungsstätte in Ägypten fort: Das solltest du dir ansehen. Es könnte sein, dass du die Geschichte daraufhin umschreiben wirst.

Und so war sie gestern von Ägypten nach Island und von Reykjavík aus mit einer Turboprop weiter zur Südküste von Grönland geflogen. Dort hatte sie in einem der beiden Hotels übernachtet. Nach dem Frühstück, das aus Meeresfrüchteeintopf bestand, hatte sie versucht, Informationen über die Entdeckung einzuholen, erntete aber nur verständnislose Blicke oder wortloses Kopfschütteln.

Offenbar wussten nur wenige Einheimische von der Entdeckung – und keiner von ihnen redete. Sie war so klug wie zuvor.

Jetzt saß sie zusammen mit drei fremden Männern in einem Boot und fuhr bei absoluter Windstille in eine Nebelbank hinein, die so dick war wie kalte Pastete. Ihr Kollege hatte ihr am Morgen per SMS angekündigt, sich mit ihr am Nachmittag in Tasiilaq treffen zu wollen, um sich über ihre Einschätzung der Entdeckung informieren zu lassen.

Was bedeutete, dass sie vorerst auf sich allein gestellt war mit dem Gefühl, der Sache nicht gewachsen zu sein.

Als ein lautes Grollen ertönte und das Wasser rund ums Boot sich kräuselte, schreckte sie zusammen. Es war, als spürte das Monster ihre Annäherung. Bereits in der Nacht hatte ein ähnliches Grollen ihren Schlaf gestört und ihre Anspannung erhöht.

Der vor ihr sitzende Bär von einem Mann wandte ihr das braunbärtige Gesicht zu. Seine Wangen und seine Nase waren von der Kälte gerötet. Den gelben Parka trug er offen, als machte ihm die Kälte nichts aus. Man hatte ihr den kanadischen Klimatologen vorgestellt, doch seinen Namen hatte sie vergessen. Er hatte irgendwie schottisch gelungen. Bei sich nannte sie ihn Mr. McViking. Sein wettergegerbtes Gesicht machte es schwer, sein Alter zu schätzen. Sie vermutete, dass es zwischen Mitte zwanzig und Anfang vierzig lag.

Er deutete nach vorn. »Ein Gletscherbeben«, erklärte er, als das Grollen verklang. »Kein Grund zur Sorge. Der Helheim-Gletscher kalbt nur. Die vor uns liegende Eismasse ist der sich am schnellsten bewegende Gletscher der Welt und schiebt sich mit einer Geschwindigkeit von dreißig Metern pro Tag ins Meer vor. Letztes Jahr ist ein riesiger Eisbrocken abgebrochen. Sechseinhalb Kilometer breit und achthundert Meter dick.«

Elena versuchte, sich einen Eisberg von der Größe von Lower Manhattan vorzustellen, der an ihrem kleinen Boot vorbeitrieb.

Der Klimatologe blickte in den Nebel hinein. »Das damalige Beben hat einen ganzen Tag angedauert und wurde von Seismografen in aller Welt registriert.«

»Soll mich das beruhigen?«, fragte sie fröstelnd.

»Verzeihung.« Er lächelte breit und kniff die grünen Augen zusammen, wodurch er auf einmal wesentlich jünger wirkte. Vermutlich war er nur ein paar Jahre älter als sie. Plötzlich fiel ihr sein Name wieder ein: Douglas MacNab.

»Die Aktivität des Gletschers hat mich vor zwei Jahren hierhergelockt«, sagte er. »Hab mir gedacht, ich sollte den mal untersuchen, solange sich noch die Möglichkeit bietet.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich arbeite mit der NASA-Mission IceBridge zusammen, die die Gletscher Grönlands mittels Radar, Laser-Höhenmessgeräten und hochauflösenden Kameras überwacht. Insbesondere den Helheim-Gletscher, der sich in den letzten zwei Jahrzehnten um fast fünf Kilometer zurückgezogen hat und dessen Dicke auf hundert Meter geschrumpft ist. Der Helheim-Gletscher ist ein Indikator für ganz Grönland. Hier schmilzt alles sechsmal so schnell wie vor dreißig Jahren.«

»Und wenn das ganze Eis verschwunden ist?«

MacNab zuckte mit den Schultern. »Das Schmelzwasser Grönlands würde den Meeresspiegel mehr als sechs Meter ansteigen lassen.«

Das entspricht mehr als zwei Stockwerken. Sie dachte an ihre Grabungsstätte in Ägypten und die vom Mittelmeer überschwemmten Ruinen. Würde viele Küstenstädte das gleiche Schicksal ereilen?

Von der Steuerbordseite des Boots schaltete sich ein neuer Sprecher ein. »Mac, malen Sie nicht immer gleich den Teufel an die Wand.« Der hagere, dunkelhaarige Mann, der ihr gegenübersaß, seufzte schwer. Wenn es ein einzelnes Wort gab, das ihn beschrieb, dann war es kantig. Er hatte überall scharfe Kanten, von den Ellbogen bis zu den Knien und vom Kinn bis zu den Wangenknochen.

»Selbst dann, wenn man die gegenwärtige Erderwärmung fortschreibt«, fuhr er fort, »wird das Szenario erst in Hunderten von Jahren eintreffen, wenn überhaupt. Ich habe mir Ihre Daten und die der NASA angesehen, eigene Berechnungen angestellt und Extrapolationen durchgeführt. Was das Klima und die zyklische Natur der globalen Durchschnittstemperatur angeht, müssten zu viele Variablen berücksichtigt werden, um …«

»Ich bitte Sie, Nelson. Man kann Ihre Einschätzung nicht unbedingt als unparteiisch bezeichnen. Ihr Gehalt bekommen Sie von Allied Global Mining.«

Elena sah den Geologen auf einmal mit anderen Augen. Bei der Vorstellung hatte er verschwiegen, dass er für eine Bergbaugesellschaft arbeitete.

»Und wer bezahlt Sie, Mac?«, entgegnete Nelson. »Eine Vereinigung mehrerer Umweltgruppen. Das hat bestimmt keine Auswirkung auf Ihre Einschätzung.«

»Daten sind Daten.«

»Tatsächlich? Man kann Daten nicht fälschen? Man kann sie nicht manipulieren, um eine bestimmte Haltung zu untermauern?«

»Natürlich geht das.«

Nelson nahm eine aufrechtere Haltung ein. Offenbar glaubte er, den Sieg davongetragen zu haben, doch sein Widersacher war noch nicht fertig.

»AGM macht das ständig«, schloss MacNab.

Nelson zeigte ihm den Mittelfinger. »Und was halten Sie von diesem Argument?«

»Also, für mich sieht das so aus, als würden Sie mir zugestehen, dass der Punkt an mich geht.«

Nelson schnaubte höhnisch und senkte den Arm. »Wie ich schon sagte, Daten können fehlgedeutet werden.«

Der Nebel lichtete sich plötzlich, und sie konnten sehen, was vor ihnen lag.

Nelson zog einen Schlussstrich. »Sehen Sie sich das an und wiederholen Sie, dass die Gletscher bald verschwinden werden.«

Hundert Meter entfernt ragte eine Eismauer auf. Die Vorderfront des Gletschers erstreckte sich nach beiden Seiten, so weit das Auge reichte. Die zerklüftete Oberfläche erinnerte an die Befestigungen einer Burg mit eisverkrusteten Brüstungen und bröckelnden Türmen. Die Vormittagssonne brach sich daran und erzeugte ein Farbenspektrum vom blassesten Blau bis zu bedrohlich wirkender Schwärze. Winzige Eispartikel in der Luft glitzerten und funkelten.

»Der ist gewaltig«, sagte Elena, doch das Wort reichte nicht aus, um die Breite des Gletschers zu erfassen.

Macs Lächeln vertiefte sich. »Ja. Der Helheim-Gletscher ist sechs Komma vier Kilometer breit und erstreckt sich über hundertsechzig Kilometer landeinwärts. An manchen Stellen ist das Eis mehr als anderthalb Kilometer dick. Das ist einer der größten Gletscher, der in den Nordatlantik abschmilzt.«

»Aber es gibt ihn noch«, sagte Nelson. »Und es wird ihn auch noch in Hunderten von Jahren geben.«

»Nicht wenn Grönland weiterhin dreihundert Gigatonnen Eis pro Jahr verliert.«

»Das heißt nichts. Die Dicke der Eisdecke Grönlands war ein ständiges Auf und Ab. Von einer Eiszeit zur nächsten.«

Elena blendete den Disput aus, zumal er immer fachspezifischer wurde. Sie spürte, dass die beiden Männer trotz ihrer gegensätzlichen Ansichten nicht miteinander verfeindet waren. Das Streitgespräch machte ihnen offenbar Spaß. Es bedurfte bestimmter Eigenschaften, um an einem derart lebensfeindlichen Ort auszuharren, und das hatte die beiden Wissenschaftler anscheinend einander nähergebracht, obwohl sie hinsichtlich der Klimapolitik verschiedenen Lagern angehörten.

Sie konzentrierte sich auf die Umgebung und betrachtete die stummen Eisberge, die im Wasser trieben. Der Steuermann – ein älterer Inuit mit wettergegerbtem Gesicht und undurchdringlichen schwarzen Augen – manövrierte das Boot geschickt durch das Labyrinth, fuhr einen weiten Bogen um jeden Eisberg und paffte unterdessen an seiner Elfenbeinpfeife. Als ein scheinbar kleiner Eisberg kippte, wurde die Unterseite sichtbar, und man konnte erkennen, wie groß der im blauschwarzen Wasser verborgene Anteil war. Hätten sie sich in diesem Moment in der Nähe des Eisbergs befunden, wäre das Boot gekentert.

Dies machte ihr die hier lauernden Gefahren bewusst.

Selbst der Name des Gletschers beinhaltete eine Drohung.

»Helheim …«, murmelte sie. »Das Höllenreich.«

Mac hatte sie gehört. »Richtig. Der Gletscher wurde nach dem Totenreich der Wikinger benannt.«

»Wer hat ihm den Namen gegeben?«

Nelson seufzte schwer. »Wer weiß das schon? Vermutlich ein Forscher aus dem Norden mit einem schrägen Sinn für Humor und einer Vorliebe für die nordische Mythologie.«

»Ich glaube, der Ursprung reicht viel weiter zurück«, sagte Mac. »Die Inuit halten manche Gletscher für bösartig. Die entsprechende Warnung wird von Generation zu Generation weitergereicht. Sie glauben, in diesem Gletscher sei ein Tuurngaq zu Hause, das bedeutet ›tötender Geist‹. Ihre Version von Dämonen.«

Der Steuermann nahm die Pfeife aus dem Mund, spuckte ins Meer und murmelte: »Den Namen soll man nicht aussprechen.«

Offenbar war der Aberglaube noch nicht vollständig ausgestorben.

Mac senkte die Stimme. »Ich vermute, diese alten Geschichten waren der Grund, weshalb der Name ausgewählt wurde.«

Elena blickte sich suchend um und stellte die Frage, die sie beschäftigte, seit sie ins Boot gestiegen war. »Wohin fahren wir eigentlich?«

Mac zeigte auf einen schwarzen Bogen in der Eiswand. Sie waren ihm inzwischen so nahe gekommen, dass sie eine Öffnung erkennen konnten, einen dunklen Riss in der Gletscherfront. Eingerahmt war er von azurblauem Eis, das von innen heraus zu leuchten schien.

»Vergangene Woche hat sich hier ein mächtiger Eisberg gelöst, und dahinter kam ein großer Schmelzwasserkanal zum Vorschein.«

Sie bemerkte, dass Wasser aus der Öffnung strömte, ein so kräftiger Schwall, dass der Eismatsch am Fuß des Gletschers beiseitegeschoben wurde. Als sie noch näher kamen, pflügte der Metallrumpf des Boots unter durchdringendem Kreischen durchs lose Eis. Es hörte sich an, als wollte man Stahl mit einem Messer ritzen. Das Geräusch ging ihr durch Mark und Bein. Eine neue Art von Kälte machte sich in ihren Knochen breit, als sie die Route, die sie verfolgten, im Geiste fortsetzte. Strand gab es hier keinen.

»Fahren … fahren wir in den Gletscher hinein?«, fragte sie.

Mac nickte. »Mitten hinein ins Zentrum von Helheim.«

In anderen Worten, hinunter ins Totenreich.

9:54

Als sie sich der Gletscherfront näherten, beobachtete Douglas MacNab verstohlen ihre Passagierin. Dr. Cargill war merklich blasser geworden und hatte die Finger ums Dollbord gekrampft.

Halt durch, Mädel. Es lohnt sich bestimmt.

Als er erfahren hatte, dass eine Archäologin aus Ägypten anreisen wolle, hatte er nicht gewusst, was er davon halten sollte. Seine Erwartungen schwankten zwischen einem weiblichen Indiana Jones und einer bebrillten Akademikerin, die mit der widrigen Umgebung nicht klarkommen würde. Diese Frau war sichtlich überwältigt, ließ sich aber nicht unterkriegen. Obwohl sie verängstigt wirkte, lag hartnäckige Neugier in ihrem Blick.

Er hatte auch nicht erwartet, dass sie so attraktiv sein würde. Dabei war sie weder sonderlich kurvenreich noch nach Photoshopmanier aufgehübscht. Sie war schlank, aber muskulös, hatte volle Lippen, und ihre Wangen waren von der Kälte gerötet. In den Augenwinkeln hatte sie kleine Fältchen, vielleicht vom Blinzeln in der Wüstensonne oder vom vielen Lesen während des Studiums. Jedenfalls wirkte sie dadurch ein wenig gelehrtenhaft, wie eine strenge Lehrerin. Außerdem faszinierte ihn die eisblonde Strähne, die unter der Wollmütze hervorlugte.

»Mac, Augen nach vorn«, sagte Nelson warnend. »Es sei denn, Sie wollen, dass wir auf einen Unterwassereisberg auflaufen.«

Mac versteifte sich und wandte sich nach vorn, einerseits um sein Erröten zu verbergen, aber auch um vor dem Boot in die Tiefe zu spähen. Das blaue Wasser hatte durch das Schmelzwasser des Gletschers einen schlammigen Braunton angenommen.

Er übernahm wieder seinen Job im Bug und hielt Ausschau nach verborgenen Gefahren, sowohl im Wasser als auch an der kalbenden Gletscherfront. Doch er war sich bewusst, dass John Okalik, ihr Steuermann, das Eis viel besser lesen konnte als er selbst. Der Inuit kannte diese tückischen Gewässer seit Kindertagen, also seit fast fünfzig Jahren. Und seine Familie hatte hier über Generationen hinweg Erfahrungen gesammelt.

Trotzdem hielt Mac die Augen offen, als sie sich der Mündung des Schmelzwasserkanals näherten. Sie war zehn Meter breit und doppelt so hoch. Ein weiteres Stahlboot gelangte in Sicht. Es hatte mit Leinen an im Eis verankerten Stangen festgemacht. Zwei Männer mit langläufigen Gewehren auf dem Schoß saßen darin.

John richtete sich im Heck auf und wechselte ein paar Worte mit ihnen. Sie waren seine Verwandten, was man von den meisten Einwohnern von Tasiilaq sagen konnte.

Mac blickte zwischen ihnen hin und her und versuchte, der Unterhaltung zu folgen. Er sprach ein wenig Kalaallisut, die auf Grönland am weitesten verbreitete Sprache der Inuit, doch die Männer benutzten ihren Stammesdialekt, den der Tunumiit.

Schließlich nahm ihr Steuermann wieder an der Pinne Platz.

»Und, John, alles in Ordnung?«, fragte Mac.

»Meinen Cousins zufolge ja. Der Fluss ist noch immer offen.«

John gab Gas und fuhr am anderen Boot vorbei in den Schmelzwasserkanal. Das Grollen des gegen die Strömung ankämpfenden Außenborders wurde von den Wänden verstärkt.

Mac bemerkte, dass Elena sich zum schrumpfenden Mündungsbogen umsah – und zu den beiden bewaffneten Männern.

»Wozu die Wachposten?«, fragte sie. »Müssen wir uns Sorgen vor schwimmenden Eisbären machen?«

Die Vermutung war nicht unbegründet. Die großen weißen Fleischfresser, die erstaunlich weite Strecken schwimmen konnten, stellten eine Gefahr dar, wenngleich die schrumpfende Eisdecke der Arktis ihren beachtlichen Fähigkeiten Grenzen setzte.

»Nicht wegen der Bären«, antwortete Mac. »Wenn wir dort sind, werden Sie das verstehen.«

»Wohin …«

»Es ist nicht mehr weit«, sagte er. »Und ich glaube, es ist am besten, wenn Sie unvoreingenommen an die Sache herangehen.« Er blickte Nelson an. »So haben wir das auch entdeckt. Ich bin vor drei Tagen mit Nelson hergekommen, hauptsächlich aus Abenteuerlust, aber auch weil ich herausfinden wollte, was unter der weißen Oberfläche des Helheim-Gletschers vor sich geht. Selbst kilometertiefe Bohrungen und die Analyse der im alten Eis eingeschlossenen Gase lassen nur beschränkte Rückschlüsse zu. Hier bietet sich die seltene Gelegenheit, zum Ursprung zu fahren, bis ins Zentrum des Gletschers.«

Nelson, der an seinem wasserdichten Rucksack herumnestelte, sagte: »Ich bin mitgekommen, um Proben zu nehmen und nach Bodenschätzen zu suchen, die diese gewaltige Eisschaufel auf ihrem Weg über die Oberfläche von Grönland hinweg freilegt.«

»Was gibt es denn hier draußen?«, fragte Elena.

Nelson brummte zufrieden, als er den eingewachsten Reißverschluss endlich geöffnet hatte. »Grönlands wahrer Reichtum ist nicht die im Eis gebundene große Menge an Süßwasser, sondern sie versteckt sich in der Tiefe. Eine Fülle ungenutzten Reichtums. Gold, Diamanten und Rubine, mächtige Kupfer- und Nickeladern. Seltene Erden. Ein Segen für Grönland und dessen Bewohner.«

»Ganz zu schweigen von dem Geld, das in die tiefen Taschen von AGM fließen dürfte«, merkte Mac spitz an.

Nelson schnaubte geringschätzig, zog ein kleines Gerät aus dem Rucksack und nahm ein paar Einstellungen vor.

Elena musterte den Tunnel. Das blaue Eis wurde immer dunkler, je weiter sie vorankamen. »Wie weit reicht der Tunnel noch?«

»Bis zur Felsenküste«, antwortete Mac. »Wir fahren durch eine Eiszunge, die zwölfhundert Meter weit ins Meer hinausragt.«

10:02

Oh Gott …

Elenas Atem beschleunigte sich. Sie versuchte, sich das Gewicht des Eises über ihrem Kopf vorzustellen, und dachte an Macs Bemerkung, dass sich ein Eisberg von der Größe Lower Manhattans vom Gletscher gelöst habe.

Und wenn das passiert, während wir hier drinnen sind?

Schließlich wurde es so dunkel, dass Mac einen Scheinwerfer im Bug einschaltete, dessen Licht weit in den Tunnel hineinreichte und das Eis bläulich aufleuchten ließ. Darin zeichneten sich dunkle Adern ab, wie eine alte Landkarte, auf der mineralische Ablagerungen verzeichnet waren, die von fernen Küsten stammten.

Um ihre Nerven zu beruhigen, atmete sie in tiefen Zügen. Sie hatte zwar kein Problem damit, in alte Gewölbe zu kriechen, doch das hier war etwas anderes. Überall war Eis. Sie schmeckte es auf der Zunge, sog es mit jedem Atemzug ein. Es umschloss sie. Sie befand sich im Eis; das Eis war in ihr.

Schließlich tauchte außerhalb des Lichtkegels ein heller Schimmer in der Finsternis auf.

Mac wandte sich zu ihr um und bestätigte ihre Vermutung. »Wir sind fast da.«

Mit einem letzten Aufheulen des Motors näherte sich das Boot der Stelle, wo das blaue Eis an einem Torbogen aus schwarzem Gestein endete. Der Schmelzwasserfluss erstreckte sich noch weiter und strömte in mehreren Kaskaden über abgebrochenes Gestein und Eis. Eine batteriebetriebene Lampe markierte das Ziel der Bootstour, ein Leuchtturm in einer erstarrten Welt.

Der Anblick verschlug Elena den Atem. Es war, als hätte der Leuchtturm ihr Schiff in diesen kalten Hafen geleitet.

»Das gibt es doch nicht«, krächzte sie.

John steuerte das Boot zu einem Strudel am Flussufer, wo Mac den Bug an einem in die Eiswand geschraubten Pflock festmachte.

Ungeachtet des tückischen Eiswassers richtete Elena sich auf. Sie verrenkte sich den Hals und betrachtete das große Holzschiff, dessen Kiel und Planken sich im Lauf der Zeit schwarz verfärbt hatten.

»Wie alt mag das sein?«, murmelte sie.

Mac half ihr, vom Boot auf einen feuchten Felsvorsprung zu steigen. »Ich könnte mir denken, dass das mal eine Meereshöhle war und dass die Seeleute hier Schutz gesucht haben.« Er deutete auf das schwarze Gestein über ihren Köpfen. »Sie wurden hier eingeschlossen, sind erfroren, und das Eis hat sie vollständig verschlungen.«

»Dem Alter des Eises nach zu schließen«, sagte Nelson, der ihnen an Land folgte, »schätzen wir, dass das Schiff im neunten Jahrhundert havariert ist.«

Mac schaute sie an. »Früher hat man geglaubt, Christoph Kolumbus habe 1492 die Neue Welt entdeckt. Als man herausfand, dass die Wikinger gegen Ende des zehnten Jahrhunderts Grönland und den Norden Kanadas besiedelt hatten, verlor er diesen Ehrentitel.«

»Wenn Sie mit der Altersbestimmung richtigliegen, würde das heißen, dass hier schon hundert Jahre früher ein Schiff gelandet ist«, sagte Elena. »Und das ist kein Wikingerschiff.«

Nelson nickte. »Deshalb sind Sie hier.«

Jetzt wurde Elena alles klar. Sie hatte zwar in Paläoanthropologie und Archäologie promoviert, doch ihr Spezialgebiet war die nautische Archäologie. Deshalb hatte man sie von der Ausgrabung des ägyptischen Dorfs, das vom Mittelmeer verschluckt worden war, hierhergerufen. Sie hatte sich darauf verlegt, das Datum, da die Menschheit sich zum ersten Mal aufs Meer hinausgewagt hatte, weiter in die Vergangenheit zu verlagern. Diese Unternehmungen und die Geschichte der ihr zugrunde liegenden technischen Entwicklungen faszinierten sie. Diese Leidenschaft hatte sie vielleicht schon als Kind entwickelt, als sie jeden Sommer mit ihrem Vater von Martha’s Vineyard aus gesegelt war. Sie schätzte diese Kindheitserinnerungen, die seltenen Momente, da sie beide miteinander allein gewesen waren. Auf dem College hatte sie dem Ruderteam der Universität angehört und bei einer Ivy-League-Meisterschaft einen Pokal gewonnen.

»Haben Sie eine Vermutung, woher das Schiff stammte?«, fragte Mac.

»Da muss ich gar nicht erst lange raten.« Sie näherte sich dem Bug des Boots, der noch im Eis feststeckte. »Sehen Sie, wie die Rumpfplanken zusammengefügt wurden. Selbst die Verbindungen bestehen aus Fasern von Kokosnüssen. Daraus kann man eine Menge schließen.«

»Sagten Sie Kokosnüsse?«

Sie nickte und ging zu den beiden Masten hinüber, die vor langer Zeit abgebrochen waren und wie Fahnenstangen aus der Höhle ragten. Auch Segelfetzen waren noch vorhanden. »Die beiden Lateinsegel … die bestehen aus Matten von Palmblättern.«

Nelson runzelte die Stirn. »Kokosfasern und Palmblätter. Also eindeutig keine Wikinger.«

»Nein, das ist eine Sambuke. Die größte Dhau der arabischen Welt. Diese hier hat anscheinend sogar einen Decksaufbau gehabt. Somit wäre dies eines der wenigen hochseetüchtigen Handelsschiffe der arabischen Welt gewesen.«

»Wenn Sie recht haben«, sagte Mac, »was ich nicht bezweifle, dann beweist diese Entdeckung, dass nicht die Wikinger, sondern die Araber als Erste ihren Fuß hierhergesetzt haben.«

Festlegen wollte sie sich noch nicht. Erst wollte sie eine Radiokohlenstoffdatierung vornehmen. Aber ihre Bekannte – die Kollegin, die sie gedrängt hatte hierherzufliegen – hatte richtiggelegen. Diese Entdeckung hatte das Potenzial, die Geschichte umzuschreiben.

Nelson war ihr gefolgt und schwenkte sein Messgerät. »Leider haben die armen Seeleute es nicht zurück nach Hause geschafft und konnten deshalb von ihrer Entdeckung nicht berichten.«

»Zumindest gilt das für einen«, sagte Mac. »Wir haben an Bord nur einen einzigen Toten gefunden. Keine Ahnung, was mit den anderen passiert ist.«

Elena wandte sich ruckartig herum und wäre beinahe geblendet worden, als Mac eine Taschenlampe einschaltete. »Dann waren Sie im Schiff?«

Mac zeigte zu der Stelle, wo ein Felsen den Rumpf eingedrückt hatte. »Das ist der zweite Grund, weshalb man Sie uns empfohlen hat. Wir haben noch mehr entdeckt. Kommen Sie.«

Er ging zum Schiffswrack hinüber und zwängte sich seitlich durch den Riss im Rumpf. »Passen Sie auf, wo Sie hintreten, und stoßen Sie möglichst nicht gegen die Stützstreben. Wir können von Glück sagen, dass das Schiff vom Eis nicht platt gedrückt wurde. Die Höhlendecke hat es anscheinend geschützt.«

Elena folgte Mac, Nelson bildete den Abschluss. John blieb im Boot und paffte weiter Pfeife. Da er den Motor abgestellt hatte, herrschte Todesstille, so als hielte die Welt den Atem an. Als sich ihre Ohren jedoch daran gewöhnt hatten, hörte sie das Eis. Die Wände ächzten und seufzten. Ein mahlendes Geräusch hallte durch die Gänge, als ob ein riesenhaftes Tier mit den Zähnen knirschte.

Die Restgefahr dämpfte ihre Erregung, vermochte sie aber nicht davon abzuhalten, das alte Schiff zu erkunden.

Mac leuchtete im Frachtraum umher, der von eisgeschwärzten Balken gestützt wurde. Rasch durchquerten sie den toten Wald. Es roch leicht nach Lackbenzin oder Treibstoff. Rechts und links säumten schulterhohe Tonkrüge die geschwungene Wandung. Einer war vor langer Zeit zerbrochen. Es sah aus, als wäre er explodiert. Als sie daran vorbeiging, stieg ihr der Geruch von nassem Asphalt in die Nase, doch die Inhaltsbestimmung musste noch warten.

Ihr Führer hatte anscheinend ein anderes Ziel im Sinn.

Mac geleitete sie zum Bug, wo eine Treppe zu einer in die Holzwand eingelassenen Tür hochführte. »Wir glauben, das hier war die Kapitänskajüte.«

Er zog den Kopf ein und kletterte als Erster hinein. Dann trat er beiseite und reichte ihr die Hand. Sie ergriff sie, denn wegen der ganzen Aufregung fühlte sie sich ein bisschen zitterig. Und ihr war mulmig zumute.

Sie ließ sich in den fensterlosen Raum hinaufziehen. An beiden Seiten waren Ablagen angebracht, doch die Bücher und Schriftrollen waren längst vermodert. Den vorderen Teil der kleinen Kajüte nahm ein Schreibtisch ein, der an den geschwungenen Bug stieß.

»Machen Sie sich auf eine Überraschung gefasst«, sagte Mac.

Er rückte ein Stück zur Seite, sodass sie sich dem Tisch nähern konnte. Sie tat einen Schritt nach vorn, dann wich sie gleich wieder zurück. Vor dem Schreibtisch stand ein Stuhl. Doch er war nicht unbesetzt. Darauf saß ein Mann, bekleidet mit einem Mantel aus Eisbärenfell. Er war nach vorn gesackt, seine Wange lag auf der Tischplatte auf.

Elena atmete tief durch. In Ägypten hatte sie Mumien untersucht und ein paar auch seziert. Dieser Leichnam aber war viel verstörender. Die ledrige Haut hatte fast die gleiche Farbe wie der geschwärzte Schreibtisch. Es sah so aus, als wären Mann und Schreibtisch eins. Dabei war der Körper hervorragend erhalten, bis zu den Wimpern, welche die weißen Augäpfel einfassten. Es hätte sie kaum gewundert, wenn er geblinzelt hätte.

»Das ist offenbar der Kapitän, der zusammen mit seinem Schiff untergegangen ist«, bemerkte Nelson zerstreut, den Blick auf sein Messgerät gerichtet.

»Vielleicht wollte er das hier schützen.« Mac richtete die Taschenlampe auf den Arm des Toten, der auf dem Schreibtisch lag. Die knochigen Hände berührten einen großen quadratischen Metallkasten, etwa siebzig Zentimeter breit und zwölf Zentimeter hoch. Die Oberfläche war so schwarz wie alles andere. An der einen Seite waren anscheinend Scharniere angebracht.

»Was ist das?« Elena trat neben Mac, der eine beruhigende Wirkung auf sie ausübte.

»Sagen Sie’s mir.«

Er langte über den Toten hinweg und hob den Deckel an. Licht drang heraus – doch noch während sie dagegen anblinzelte, wurde ihr klar, dass der Strahl der Taschenlampe vom goldenen Inneren des Kastens reflektiert wurde.

Überrascht beugte sie sich vor. »Das ist eine Landkarte.« Sie betrachtete die räumliche Darstellung von Seen und Meeren, Landmassen und Inseln. Die Wasserfläche in der Mitte war in kostbarem blauem Lapislazuli ausgeführt. »Das muss das Mittelmeer sein.«

Die Karte umfasste nicht nur das Mittelmeer, sondern auch Nordafrika, den Mittleren Osten, ganz Europa und die umliegenden Meere. Sie reichte bis zum Atlantik, aber nicht bis Island oder Grönland.

Diese Seeleute sind außerhalb des Kartenbereichs gesegelt.

Aber warum? Waren sie Forscher auf der Suche nach unbekannten Ländern? Waren sie im Sturm vom Kurs abgekommen? Waren sie vor einer Gefahr geflohen? Hundert Fragen schwirrten ihr durch den Kopf.

An der Oberseite war ein kunstvolles Gerät aus Silber in die goldene Landkarte eingelassen. Es war kugelförmig, maß fünfzehn Zentimeter im Durchmesser und war zur Hälfte in der Karte versenkt. Die Oberfläche wurde von gebogenen Zahnradarmen untergliedert und war von Längen- und Breitenmarkierungen eingefasst. Beschriftet war sie mit arabischen Schriftzeichen und Zahlen.

»Was ist das?«, fragte Mac, der bemerkt hatte, dass sie das Gerät intensiv betrachtete.

»Das ist ein Astrolabium. Navigatoren und Astronomen haben damit die Ortszeit und die Position bestimmt sowie Sterne und Planeten identifiziert.« Sie blickte sich zu Mac um. »Die meisten frühen Astrolabien waren simpel konstruiert, im Grunde nur flache Scheiben. Dieses kugelförmige Gerät … war seiner Zeit weit voraus.«

»Und das ist noch nicht alles«, sagte Mac. »Schauen Sie.«

Er streckte den Arm zu der Stelle aus, wo die Hand des toten Kapitäns neben dem Kasten ruhte. Er betätigte einen Hebel, worauf ein tickendes Geräusch zu vernehmen war. Angetrieben von einem verborgenen Mechanismus, begann das Astrolabium sich zu drehen. Ihr Blick fiel auf die Edelsteinfläche des Mittelmeers. Ein kleines Schiff löste sich von der Küste der heutigen Türkei und glitt über das blaue Meer.

»Was halten Sie davon?«, fragte Mac.

Sie schüttelte den Kopf, ebenso erstaunt wie er.

Nelson räusperte sich. »Leute. Vielleicht sollten wir es besser dabei belassen.«

Sie wandten sich beide zu ihm um. Er blickte auf das Display seines Messgeräts. Er drückte eine Taste, worauf ein leises Tackern zu hören war.

»Was ist los?«, fragte Mac.

»Ich habe die Bodenschätze Grönlands erwähnt, die darauf warten, gefördert zu werden. Einen habe ich in der Aufzählung nicht erwähnt. Uran.« Er hielt das Gerät hoch. »Bei unserem ersten Besuch hier unten habe ich vergessen, einen Geigerzähler mitzunehmen, aber diesmal habe ich dran gedacht.«

Elena blickte nach oben, als versuchte sie, durch das Deck zu dem Gestein und dem Eis über ihren Köpfen hinaufzuschauen. »Wollen Sie damit sagen, wir befinden uns mitten in einem Uranvorkommen?«

»Nein. Das Gerät schlägt erst seit Kurzem aus. Seit Mac den Deckel des Kastens geöffnet hat.« Er hielt den Geigerzähler näher an die Landkarte. Das Tackern wurde schneller und lauter. »Das Gerät ist radioaktiv.«

Mac klappte fluchend den Deckel zu.

Alle drei zogen sich zurück.

»Wie stark ist die Strahlung?«, fragte Mac.

»Pro Minute nimmt man so viel Strahlung auf wie beim Röntgen des Oberkörpers.«

»Dann sollten wir es hierbei belassen.« Mac geleitete sie zurück in den Frachtraum. »Wir lassen den Eingang des Kanals weiterhin bewachen, für den Fall, dass sich die Kunde von dem kostbaren Fund herumspricht. Beim nächsten Mal nehmen wir Bleischutz mit, bergen das Gerät und bringen es an einen sicheren Ort.«

Sie kletterten aus dem vereisten Schiff und gingen zurück zum Ufer des Schmelzwasserflusses. Macs Plan war vernünftig, doch Elena kam der Aufschub ungelegen. Sie blickte sich zum gestrandeten Schiff um. Sie brannte darauf, seine Vorgeschichte zu lüften.

Als sie sich wieder umdrehte, wurde der Tunnel von einem lauten Knall erschüttert. Wellen schwappten ans Ufer. Eisbrocken fielen in den Fluss.

Sie flüchtete sich an Macs Seite. »Ein weiteres Erdbeben?«

Als der Knall verebbte, wurde ein anderes Geräusch hörbar. Es hörte sich an, als brenne jemand Stubenkracher ab.

Sie blickte Mac fragend an.

»Das sind Gewehrschüsse«, sagte er und fasste sie bei der Hand. »Wir werden angegriffen.«

2

21. Juni, 12:28 GMTReykjavík, Island

Wer zum Teufel hat sich gedacht, das wäre eine gute Idee?

Joe Kowalski schnaubte vernehmlich und ließ seine massige Gestalt in das dampfende Wasser der heißen Quelle sinken. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Seine Fingerspitzen waren schrumpelig. Er verzog angewidert die Lippen und atmete den Geruch nach faulen Eiern ein. Womöglich würde er den Gestank den ganzen Tag nicht los.

So viel zum romantischen Abstecher.

Seine Freundin Maria Crandall hatte ihn zu dem Zwischenstopp an der Blauen Lagune überredet. Das Resort lag mitten in einem schwarzen Lavafeld, das von grünen Moosflecken gesprenkelt war, auf halber Strecke zwischen dem internationalen Flughafen Keflavík und dem kleineren Flughafen für Inlandsflüge am Rand von Reykjavík, von dem die einzigen Flüge nach Grönland abgingen. Der nächste Flug startete leider erst in drei Stunden.

Deshalb hatte Maria den Ausflug vorgeschlagen.

Seufzend hob er den Unterarm aus dem Wasser, um einen Blick auf die Uhr zu werfen – dann betrachtete er kopfschüttelnd sein nacktes Handgelenk. Die fehlende Uhr erinnerte ihn an die drei Warnungen, die man ihnen beim Einchecken im Hotel namens Retreat mitgegeben hatte.

Erstens wurden sie darauf hingewiesen, das Wasser nicht zu verschmutzen, weshalb sie vor Betreten des Bades nackt duschen mussten. Das war der einzige Teil der Unternehmung, der ihm gefallen hatte. Er hatte in ihrem Umkleideraum mit Dusche jeden Quadratzentimeter von Marias schlankem Körper eingeseift und ihre Kurven bewundert, als sie das Gewicht auf ein Bein verlagert und sich das blonde Haar hochgebunden hatte, wobei ihre Brüste mit jeder Bewegung …

Schluss damit. Er verlagerte die Haltung. Lieber an etwas anderes denken.

Das war ein öffentliches Bad.

Um sich abzulenken, dachte er daran, weshalb er überhaupt hier war.

Die zweite Warnung der Ferienanlage bezog sich auf Handys – sie waren auf dem Gelände der miteinander verbundenen Wasserbecken verboten. Kowalski war es recht. Zumal ihn ein ungelegener Anruf von seinem Boss Direktor Painter Crowe vom heißen Afrika ins eiskalte Grönland geführt hatte.

Zusammen mit Maria hatte er im Kongo Urlaub gemacht, wo sie eine Woche im Virunga-Nationalpark verbringen wollten. Maria hatte Baako besuchen – oder wenigstens sehen – wollen, den Westlichen Flachlandgorilla, den sie vor zwei Jahren ausgewildert hatte. Kowalski hatte sich ebenfalls darauf gefreut. Der große, haarige Bursche hatte eine affengroße Lücke in seinem Herzen zurückgelassen. Deshalb hatte er mit Enttäuschung reagiert, als Painter wegen irgendeiner Entdeckung in Island angerufen hatte und Marias Meinung hören wollte. Maria hatte in Genomik und Verhaltenswissenschaft promoviert und sich auf alles Prähistorische spezialisiert. Offenbar war im Grönlandeis ein altes Schiff mit einem wertvollen Schatz entdeckt worden. Maria war sofort Feuer und Flamme gewesen und hatte vorgeschlagen, eine Freundin von der Columbia University hinzuzuziehen, die sich auf nautische Archäologie spezialisiert hatte.

Sie wollten sich gleich nach der Landung in Grönland mit ihr treffen. Beinahe hätte er wieder auf die Uhr zu sehen versucht, da fiel ihm die dritte Warnung ein. Das warme Salzwasser war reich an Kieselerde, die Metall angriff. Deshalb mussten Ketten, Ringe und Uhren in der Umkleide zurückgelassen werden. Und das galt auch für seine billige Timex.

Etwas anderes aber wurmte ihn noch mehr.

Er ließ sich tiefer ins Wasser gleiten.

Er hatte gedacht, das Wiedersehen mit Baako wäre der perfekte Moment. Und als Maria den romantischen Abstecher zu den heißen Quellen vorschlug, erschien ihm das als prima Alternative. Er hatte sich Palmen, sprudelndes Wasser, Champagner vorgestellt. Die Realität sah anders aus: eine Reihe miteinander verbundener Betonbecken, gefüllt mit schwefligem Wasser, umgeben von schroffem schwarzem Vulkangestein.

Er schüttelte den Kopf.

Vielleicht sollte es nicht sein.

Maria spielte in einer anderen Liga.

Er war bloß ein Seemann, den es durch Zufall in ein geheimes Eliteteam der DARPA verschlagen hatte. Seine Sigma-Kollegen hatte man von verschiedenen Spezialeinsatzkräften rekrutiert und wissenschaftlich ausgebildet. Er hatte bloß die Hochschulreife erworben und verfügte über das angeborene Talent, Sachen in die Luft zu jagen. Das hatte ihn zum Sprengstoffexperten prädestiniert. Obwohl er stolz war auf seine Rolle, hielt er sich insgeheim für einen Schwindler. Sigmas Logo war der griechische Buchstabe Σ, was so viel bedeutete wie »das Beste vom Besten«, die Verschmelzung von Verstand und Muskelkraft, von Soldat und Wissenschaftler. Kowalski aber war sich bewusst, dass Sigma eher auf seinen Bizeps als auf seine Verstandeskräfte zählte.

Und damit kann ich leben.

Allerdings fürchtete er, jemand anderes könnte es nicht.

Ein durchdringender Pfiff lenkte seine Aufmerksamkeit auf Maria, die auf dem Rücken schwamm und sich mit Scherenschlägen der Beine auf ihn zubewegte. Beeindruckenderweise hielt sie mit jeder Hand einen Drink über Wasser.

»Wie wär’s, wenn du einem Mädel mal zur Hand gehen würdest, großer Bursche?«

Er grinste und tätschelte ihre Wange. »Du solltest deinen Laborkittel wegwerfen und zu kellnern anfangen. Besonders im Bikini. Du könntest ein Vermögen damit machen.«

Sie glitt neben ihn und setzte sich auf die unter Wasser liegende Bank, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten. »Nimm das.«

Er nahm das hohe Glas entgegen, das mit irgendeinem grünen Zeug gefüllt war. »Also, Bier ist das jedenfalls nicht.«

»Tut mir leid. Hier geht es allein um die Gesundheit.«

»Und da hast du mir ein Glas mit Algen mitgebracht.«

»Die sind ganz frisch. Wurden erst heute Morgen vom Boden des Beckens abgekratzt.«

Er musterte sie scharf, um zu prüfen, ob sie das ernst meinte.

Sie verdrehte die Augen und lehnte sich an ihn. »Das ist ein Smoothie, Dummerchen. Grünkohl und Spinat, glaube ich.«

Er hielt das Glas von sich weg. »Die Poolalgen wären mir lieber.«

»Vielleicht sind wirklich welche drin. Aber sie mischen das mit Bananen. Fand ich passend im Hinblick auf …« Sie hob das Glas und stieß mit ihm an. »Auf Baako.«

Er schnupperte am Glas und schnitt eine Grimasse. »Bäh. Ich glaube, nicht mal ein verdurstender Gorilla würde das trinken.«

»Und wenn ich den Barmann überredet habe, drei Schuss Rum dazuzutun?«

»Wirklich …?« Er besann sich anders und probierte. Der Drink schmeckte nach Banane – dann breitete sich das sanfte Brennen von Rum auf seiner Zunge und in seiner Nase aus. Er nickte anerkennend.

Gar nicht so übel.

Sie nahm einen großen Schluck und betrachtete ihn mit ihren tiefblauen Augen. »In meinen Drink habe ich natürlich vier Schuss reinmachen lassen.«

Er erwiderte vorwurfsvoll ihren Blick.

Sie ließ ihre Hand an seinen nackten Beinen hochwandern und schob sie unter die Badeshorts. »Ich will doch nicht, dass du betrunken wirst. Ich habe noch was vor, wenn wir uns duschen gehen. Und ich weiß doch, dass du nicht viel verträgst …«

»Entschuldigung«, sagte hinter ihnen jemand.

Der Mann trug ein Polohemd mit dem Logo der Blauen Lagune. Kowalski hatte ihn nicht mal kommen hören. Überrascht zu werden konnte er nicht ausstehen, besonders jetzt nicht.

»Was gibt es, Freundchen?«, sagte er unfreundlich.

Der Mann streckte ihm ein Tablett mit einem Handy entgegen. »Ich bedaure die Störung, aber der Anrufer sagte, es sei dringend.«