Erddämmerung – Die Reise in die Dunkelheit - James Rollins - E-Book

Erddämmerung – Die Reise in die Dunkelheit E-Book

James Rollins

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Beschreibung

Die große Zukunftssaga mit zehn Schwarz-Weiß-Illustrationen

In der fernen Zukunft hat die Erde aufgehört, sich zu drehen. Eine Seite ist in immerwährendes Licht getaucht, die andere in ewige Dunkelheit. Nur in der Zone der Dämmerung ist Leben möglich. Doch wie lange noch? Die Visionen der blinden Seherin Nyx wurden vom Hofgelehrten Frell bestätigt: Der Mond wird auf die Erde stürzen und alles Leben vernichten. Um das zu verhindern, sind Nyx, Frell und ihre Gefährten – ein ausgestoßener Held, ein ehrlicher Dieb und ein verlorener Prinz – zu den Ruinen der alten Zivilisationen aufgebrochen. Ihre Feinde sind ihnen dicht auf den Fersen, ganze Armeen suchen nach ihnen. Die gefährlichste Reise steht Nyx noch bevor: Sie muss auf die Nachtseite, denn dort liegt eine uralte Stadt. Eine Stadt, die Nyx nur aus Mythen und Sagen kennt, und in der sie Antworten auf ihre Fragen zu finden hofft. Ihr bleibt nicht mehr viel Zeit, um die Katastrophe zu aufzuhalten …

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Seitenzahl: 1249

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DASBUCH

In der fernen Zukunft hat unsere Erde aufgehört, sich zu drehen. Eine Seite ist in immerwährendes Licht getaucht, die andere in ewige Dunkelheit. Nur in der Zone der Dämmerung ist Leben möglich. Doch wie lange noch? Die Visionen der blinden Seherin Nyx wurden vom Hofastronom Frell bestätigt: Der Mond wird auf die Erde stürzen und alles Leben vernichten. Um das zu verhindern, sind Nyx, Frell und ihre Gefährten – ein ausgestoßener Held, ein ehrlicher Dieb und ein verlorener Prinz – zu den Ruinen der alten Zivilisationen aufgebrochen. Ihre Feinde sind ihnen dicht auf den Fersen, ganze Armeen suchen nach ihnen. Dabei wird ihnen klar, dass sie die Katastrophe nur verhindern können, indem sie die Erde anstoßen, sodass sie sich wieder dreht. Als Nyx erfährt, dass der Schlüssel dazu in den uralten Städten auf der Nachtseite der Erde liegt, macht sie sich auf die gefährliche Reise in die Dunkelheit. Ihr bleibt nicht mehr viel Zeit, um das Ende der Welt zu verhindern …

DERAUTOR

James Rollins wurde 1961 in Chicago geboren. Nach seinem Studium eröffnete er in Kalifornien eine veterinärmedizinische Praxis. Nebenbei schrieb er Romane: Fantasy unter dem Pseudonym James Clemens und die erfolgreiche Science-Thriller-Reihe um die SIGMA-Force. Als er 2009 Platz 2 in der Bestsellerliste der New York Times erreichte, verkaufte er seine Praxis und widmet sich seitdem ganz dem Schreiben. Mit der ERDDÄMMERUNG-Saga kehrt er zu seinen fantastischen Wurzeln zurück.

Mehr über James Rollins und seine Werke erfahren Sie auf:

JAMES ROLLINS

ERDDÄMMERUNG

DIE REISE IN DIE DUNKELHEIT

ROMAN

Aus dem Amerikanischen vonMichael Siefener

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

THECRADLEOFICE

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 11/2023

Redaktion: Joern Rauser

Copyright © 2023 by James Czajkowski

Karte © 2021 by Soraya Corcoran

Illustrationen © 2021 by Danea Fiedler

Copyright © 2023 dieser Ausgabe und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München,

unter Verwendung von Motiven von ImageBank4u/Shutterstock.com (ImageBank4u, Triff)

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27190-9V001

www.diezukunft.de

Für Veronica Chapman,die mich vor langer Zeit auf diesen Weg gebracht hat.Ich folge weiterhin den Wegweisern, die du hinterlassen hast.

Als sich die Welt nicht mehr drehte, wurden neue Länder geboren.

Ich sitze in Erstarrung; eine Hand schwebt über frischem Pergament. Beklemmung ergreift mein Herz und schwächt meinen Willen. Die Hand zittert. Ich suche nach einer Entschuldigung, nicht mit ihrer Geschichte fortzufahren. In meinem Kopf feilsche ich und wälze Argumente hin und her. Welchen Unterschied würde es am Ende machen? Wer wird diese Wortejemals lesen? Wer wird die hingekritzelten Umrisse einer Vergangenheit studieren, die in die Schatten gestürzt ist? Es gibt niemanden, der sich an sie erinnert – niemanden, der den Zoll an Blut und Kampf und Elend beschreiben könnte.

Und doch muss ich weitermachen – nicht für einen zukünftigen Leser, nicht einmal für mich selbst.

Sondern für jemand anderen.

Sie schaut mich noch immer aus dem Skizzenbuch an, das geöffnet gegen das Fenster lehnt, aus dem das erste Licht eines jeden Tages auf ihr aschfahles Haar fällt, auf ihre geschürzten Lippen, auf das Juwelenblau ihrer Augen. Ihr schwerer Blick fordert mich auf und macht es mir erst möglich, ihre Geschichte zu erzählen. Er ruht auf mir, belastet mich und erinnert mich an ein Versprechen, das ich vor langer Zeit gemacht habe.

Dennoch habe ich gezögert, habe mich ihr widersetzt. Zwei Jahreszeiten sind an mir vorübergezogen. Ich habe diese Zeit dazu genutzt, zu dem zurückzukehren, was ich bereits geschrieben hatte, nach Wahrheiten zu suchen, die mir bei dem ersten Bericht entgangen waren, und nach Einzelheiten, die vielleicht schon auf das Kommende hindeuteten. Ich las abermals, wie ein blindes Mädchen ihr Augenlicht durch ein Heilmittel wiedererlangte, das aus Gift gewonnen wurde, und wie sie sowohl der Prophezeiung als auch den Legionen des Königs entfloh. Ich sah, wie Schicksal und Torheit die Steine eines gigantischen »Ritter und Knappe«-Spiels auf sie zuschoben: ein zweitgeborener Prinz, ein gebrochener Ritter, ein widerspenstiger Dieb, eine aus fließender Bronze geformte Gestalt und zahllose weitere kleinere Spieler. Und der wichtigste von allen: ihr geflügelter Bruder, der ihr Lied und ihr Herz mit ihr geteilt hatte und ihr näherstand als jeder Zwilling.

Und das war nur der Anfang.

Die erste Geschichte war die einer Unschuld, in der sogar im Blutvergießen noch Hoffnung zu finden war. Sie endete mit der Gestaltung eines Ziels, mit der Bildung einer Vereinigung gegen die Prophezeiung und mit dem Verlangen, den Bernstein zu schmelzen, der die Urde erstarren lässt, sodass sich die Welt wieder drehen konnte und das Unheil abgewehrt wurde, das in einem einzigen Wort zu finden war: Mondsturz.

Die nächste Geschichte ist viel schwerer zu berichten.

Schlimmer noch: Sie aufzuschreiben heißt, sie nochmals zu durchleben.

Es ist die Geschichte der verlorenen Unschuld, des verratenen Vertrauens, der verbannten Hoffnung. Es spottet all dem, was zuvor geschrieben wurde. Selbst jetzt höre ich noch ihren geflügelten Gefährten in der Dunkelheit jammern. Es ist ein schmerzerfüllter Chor des Zaumsangs, der mich weiter bindet, der mein Blut zum Gefrieren bringt und mir die Haare zu Berge stehen lässt.

Ich mag diese Geschichte nicht erzählen, mag sie nicht noch einmal durchleben.

Doch im Licht der Morgendämmerung schaut sie mich aus meinem alten Skizzenbuch an. Die Augen wurden mit einem öligen Pulver aus azurfarbenen Muscheln gemalt, und noch immer liegt Macht in ihnen. Wenn ich diesem Blick begegne, durchbricht er den Zauber, der mich bindet, sodass ich jene kalten Worte aufschreiben kann, die in meiner Brust gefangen sind.

Und so beginne ich.

Ermattet habe ich zwei Jahreszeiten in meiner Dachkammer verbracht, was durchaus passend und verheißungsvoll ist, denn wenn ich nun den Faden ihrer Geschichte wieder aufnehme, ist für sie dieselbe Zeit vergangen.

Eins

Der Eisschild

Wenn Frost die Haut verbrennet, wer dann Eis von Feuer trennet?

Gefunden in den Chroniken Rega sy Noors, des ersten Forschers, der hinter die Eiszähne reiste und während seiner zweiten Expedition verschwand

1

Gegen den strahlenden Streifen aus Sternen hob Nyx die Hand. Die Wärme ihres Atems wurde in der eisigen Finsternis zu Dunst und verschleierte den Blick so sehr, dass dies alles wie ein magisches Trugbild wirkte. Sie stand allein auf dem Mitteldeck der Sperber und bestaunte das Wunder über ihr. Sie hatte nicht gewusst, dass ein so helles Strahlen jenseits des Sonnenglanzes überhaupt existierte.

Aber woher hätte ich es auch wissen sollen?

Als das Wyndschiff unter dem Bogen des Nachthimmels weiter nach Westen flog, erkannte sie, wie klein ihre Existenz bis vor Kurzem noch gewesen war. Ihr ganzes Leben hatte sie innerhalb der Krone verbracht, wo die Nacht nur ein schwächeres Leuchten des Tages war. Sie stellte sich das bronzene Modell des Sonnensystems im alten Astronikum ihrer Schule vor, in dem die Sonne durch einen runden Kessel voller heißer Kohlen dargestellt wurde, um den sich winzige Planeten mithilfe von Drähten und Zahnrädern drehten. Sie dachte an die dritte Kugel, die Urde, die von dem komplizierten Tanz des Systems angetrieben wurde. Während ihre Welt die Sonne umkreiste, wandte sie ihr immer dieselbe Seite zu. Die eine brannte auf ewig unter dem gnadenlosen Strahlen des Vaters Oben, während der anderen seine Wärme verboten war. Damit wurde sie von einer nie endenden, eisigen Dunkelheit eingehüllt. Die Krone lag zwischen diesen Extremen; sie war der Kreis aus Ländern, die von Eis und Feuer umgeben waren und von der lebensspendenden Liebe des Vaters Oben ernährt wurden.

Und das alles haben wir jetzt weit hinter uns gelassen.

Sie wandte ihre Hand um – und dem Grund für diese gefährliche Fahrt zu. Während die Kälte ihre bloßen Finger betäubte, maß sie das Antlitz des Vollmondes, der in diesem dunklen Land so hell wie eine Laterne leuchtete. Sie mühte sich abzuschätzen, ob sein Gesicht noch stärker angeschwollen war, und suchte nach Anzeichen dafür, dass ihre Prophezeiung über den Mondsturz wahr sein könnte. Noch einmal vernahm sie die Schreie aus ihrer Vision und spürte das donnernde Beben des Landes, gefolgt von der ohrenbetäubenden Stille einer Welt, die in dem Augenblick zerstört war, als der Mond auf die Urde prallte.

Sie konnte nicht sagen, ob der Mond größer geworden war, aber sie zweifelte auch nicht an ihrer Prophezeiung, die vor einem halben Jahr durch Gift bei ihr hervorgerufen worden war. Der Alchymist Frell hatte dasselbe durch seine Berechnungen herausgefunden, die weitaus präziser waren als Nyx’ Finger. Ihm zufolge war der Vollmond vor allem während des letzten Jahrzehnts immer größer geworden. Die Bronzefrau Shiya hatte sogar einen ungefähren Zeitpunkt für das Ende der Welt genannt: Es wird nicht länger als fünf Jahre dauern. Vielleicht auch nur drei.

Nyx spürte den Druck der verstreichenden Zeit. Er lag wie eine Wagenladung Steine auf ihrer Brust. Auch wenn sie sich ausruhte, fiel ihr das Atmen oft schwer. Ihre Gruppe hatte den Rest des Sommers und den größten Teil des Herbstes mit der Vorbereitung auf diese Reise zur dunklen Gefrorenen Wüste verbracht. Sie hatten es nicht gewagt, allzu hastig zu handeln, insbesondere da so wenig über dieses eisige Land bekannt war. Nun aber näherte sich die Wintersonnenwende rasch, und sie hatten noch Hunderte Meilen vor sich, während ihnen die Zeit davonlief.

In aufkommender Verzweiflung senkte sie den Arm und zog sich wieder den pelzverbrämten Handschuh an. Seit sie über das hohe Gebirge der Eiszähne hinweggeflogen waren – jene zerklüftete Barriere aus tief verschneiten Gipfeln, die die Grenze zwischen der Krone und der Gefrorenen Wüste bildete –, hatten sie den Mond dreimal abnehmen und wieder zunehmen sehen. Dreimal hatte Nyx beobachtet, wie die dunkle Jägerin den hellen Sohn vor sich hergejagt hatte. Doch immer, wenn der Sohn sein volles Gesicht wieder einmal gezeigt hatte, war Nyx davongeschlichen, so wie jetzt, und auf das offene Deck der Sperber gestiegen, wo sie das kalte Antlitz des Mondes abmaß.

Doch das war nicht der einzige Grund, warum sie die Wärme des Schiffes gegen die Eiseskälte auf dem offenen Mitteldeck getauscht hatte.

Sie ging an der Steuerbordreling entlang und reckte den Hals, um ein wenig an der riesigen Gashülle vorbeisehen zu können, die den größten Teil des Himmels verdeckte. Sie suchte nach der verräterischen sichelförmigen Silhouette ihres Bruders, die sich von den Sternen abhob. Sie lauschte auf seinen Ruf, der die Dunkelheit durchdrang. Und dabei hörte sie, wie das Eis auf den dicken Eisenkabeln knirschte, die das Schiff mit dem Ballon verbanden. Aber sonst war alles still. Selbst die Blitzbrenner, die das Schiff antrieben, schwiegen. Ihre Röhren waren gegen die Kälte versiegelt, damit keine Wärme aus dem Wyndschiff entweichen konnte.

Während des größten Teils der bisherigen Reise hatte die Besatzung die Westströmung des Himmelsflusses benutzt, die das Wyndschiff vorantrieb. Der Antrieb hätte die Reise zwar verkürzen können, aber sie mussten trotzdem sparsam mit ihrem Vorrat für die Blitzbrenner umgehen, auch wenn zusätzliche Tanks an den Rumpf der Sperber geschweißt worden waren. Sie brauchten den Treibstoff nicht nur für die Reise über die Wüste hinweg, sondern auch noch für die Rückfahrt, sollten sie auf ihrer Mission erfolgreich sein.

Sie lehnte sich noch weiter über die Reling und suchte mit ihren Blicken den Himmel ab, während ihr Herz immer schneller schlug.

»Wo bist du?«, flüsterte sie durch ihren Schal hindurch.

Während sie suchte, trieb ihr der Wind lose Haarsträhnen gegen die Wangen. Die Brise trug keine Spur der früheren Wärme mehr in sich. Sie stellte sich die doppelten Flüsse vor, die durch den Himmel strömten. Der höhere der beiden – auf dem das Schiff reiste – blies die sengende Hitze der sonnenbeschienenen Seite der Urde in einem beständigen Strom nach Westen, bevor er in einer kälteren Strömung zurückkehrte, die Land und Meer umschmiegte. Es waren diese beiden Ströme, die auf ewig in zwei verschiedene Richtungen bliesen und die Länder der Krone mit einem erträglichen Klima versahen. Die Hieromönche glaubten, dies sei den Zwillingsgottheiten zu verdanken – dem feurigen Hadyss und dem eisigen Riesen Madyss, die beide Flüsse über den Himmel pusteten –, während die Alchymisten darauf beharrten, dass ein natürlicher Blasebalg dafür verantwortlich sein müsse, der durch die beiden Extremregionen der Urde geschaffen worden war.

Nyx wusste nicht, wem sie glauben sollte. Sie wusste nur, dass der warme Strom so tief über der Eiswüste kaum mehr etwas von seiner lebensspendenden Wärme besaß. Und von hier aus würde es nur noch kälter werden. Es hieß, dass die Luft gefror, wenn man weit genug in die Wüste hinein reiste.

Mit diesem Wissen suchte sie die Sterne noch intensiver nach dem Bruder ab, der mit ihr verbunden war. Er brauchte die kurzen Flüge, damit er für kurze Zeit seine Schwingen ausstrecken und dem engen unteren Laderaum der Sperber entkommen konnte. Aber er war schon viel länger als sonst unterwegs. Sorgen zogen ihr die Kehle zusammen. Ihre Glieder zitterten nicht nur wegen der Kälte.

Komm zu mir zurück.

Als Nyx ihre Wache hielt, hallte die zweite Abendglocke aus dem Innern des Schiffes zu ihr herauf. Sie zitterte in ihrem Mantel und zog die Kapuze enger um die Wangen. Ihre Zähne klapperten.

Er ist schon seit einer geschlagenen Stunde fort.

Enttäuscht und besorgt warf sie einen Blick auf die weite Fläche geborstenen Eises hinunter, in der sich der Silberglanz des Vollmondes spiegelte. Als sie keine Antworten in der endlosen Weite des Eisschildes fand, sah sie wieder nach oben. Dabei summte sie leise und warf einige Fäden des Zaumsangs aus.

»Wo bist du?«, sang sie die Sterne an.

Da spürte sie ihn: ein Prickeln am oberen Ende ihres Rückgrats, das im Innern ihres Schädels Wärme verbreitete.

Erleichterung entströmte ihr und wurde zu Dunst.

»Bashaliia …«

Ein mächtiger Schatten schwebte über den Ballon und den Himmel vor ihr. Das Mýr-Flederwesen breitete die Flügel aus, drehte sich in der Luft und flog zurück. Dabei wandelte sich die prickelnde Wärme in Nyx’ Kopf zu einem Klagen, das sie eher spürte als hörte – es war eine leichte Vibration in ihren Ohrknöcheln.

Sie trat einen Schritt zurück. Als er sich näherte, fächelten seine Schwingen die Luft. Sie machte ihm Platz – und es war gut, dass sie dies tat. Als er sich unter den Gasballon duckte, ließen seine Klauen die Keule irgendeines großen Tieres los, die mindestens eine halbe Tonne wiegen musste. Sie prallte kurz vom Deck ab, rutschte dann über die Planken und hinterließ eine dampfende Blutspur.

Nun landete Bashaliia selbst. Seine Krallen schlitterten über das Deck, suchten nach Halt, und schließlich kam er zum Stillstand.

Nyx lief um das Blut am Boden herum und rannte auf ihren Freund zu.

Er faltete seine Schwingen um sie und hüllte sie ein. Eine samtige Nase fand ihre Wange. Sein warmer Atem fuhr über sie. Sein Körper wirkte wie ein brennender Ofen in der Kälte. Sie drängte sich in seine Wärme. Ihre Finger fuhren über das dichte Fell hinter seinem großen Ohr. Die andere Hand legte sie auf seine Brust und spürte das Klopfen seines Herzens. Schon verlangsamte sich der Rhythmus, als er sich von den Anstrengungen der Jagd erholte.

»Bashaliia, du darfst nicht so lange fort sein«, tadelte sie ihn sanft. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«

Er summte ihr beruhigend zu.

Dabei vergruben sich ihre Finger in seinem Fell. Ihr gefiel, wie dick es geworden war. Sein Körper hatte sich überraschend schnell an die Kälte angepasst. Krysh – der Alchymist, der von Frell dazu abkommandiert worden war, sie zu begleiten – hatte die Veränderungen bereits bemerkt: die zusätzliche Fettschicht, das zotteliger gewordene Fell, ja sogar die Verdickungen von Bashaliias Nasenflügeln. Es war, als hätte das Flederwesen alle Öffnungen verkleinert oder verstopft, damit die Wärme in seinem Innern blieb, wie es auch bei dem Schiff geschehen war. Der Alchymist hatte ihrem Freund ein wenig Blut abgenommen und dann dessen Veränderungen erklärt: ein Ansteigen roter Zellmaterie, begleitet von einem langsameren Erkalten seines Blutes. Das Letztere schrieb Krysh dem Erscheinen von frostresistenten Chemikalien zu, die sich einer genauen Untersuchung bisher widersetzten. Sein Schluss lautete: Es ist, als verändere sich die gesamte Gestalt der Kreatur sehr schnell, damit sie in ihre neue Umgebung passt.

Nyx wünschte, das wäre auch bei ihr der Fall.

Obwohl sie in Bashaliias Wärme eingehüllt war, zitterte sie. Sie mussten sich nach unten zurückziehen. Nyx hob das Kinn und sang sanft. Die Fäden des Zaumsangs trieben von ihr zu ihm und teilten ihr Bedürfnis mit, in die Wärme des Schiffes zurückzukehren.

Kurz umarmte er sie noch fester und benutzte seinen langen Schwanz dazu, sie näher an sich heranzuziehen. Sein schwerer Moschusduft umgab sie. Trotz seiner körperlichen Veränderungen war dieser Duft gleich geblieben. Sie atmete ihn tief ein, sodass er zu einem Teil von ihr wurde. Er roch nach Salz und feuchtem Fell, mit einer Spur von Schwefel. Auch nach der langen Zeit hatte er noch immer den Geruch des Sumpflandes an sich. Er erinnerte Nyx an ihr Zuhause in diesem ertrunkenen Land und an all das, was sie verloren hatte.

Ihren Dah, ihre Brüder Bastan und Ablen …

Alle sind tot.

Noch einmal atmete sie Bashaliias Moschusduft tief ein und verwendete ihn dazu, ihre Erinnerungen zu stärken – nicht nur jene an ihre Familie, sondern auch eine, die noch weiter zurücklag und schon beinahe vergessen war. Sie konnte sich nur wenig davon vorstellen. Es war eine Zeit aus Gerüchen, Berührungen und Geschmäckern. Als Kind war sie nach dem Tod ihrer Mutter in den Sümpfen ausgesetzt worden. Sie hätte in dieser rauen Gegend gar nicht überlebt, wenn nicht ein weibliches Flederwesen sie gefunden und aufgenommen hätte. Nyx war von dieser gewaltigen Kreatur genährt und aufgezogen worden.

Und nicht nur ich.

Unter denselben Schwingen hatte auch noch ein kleiner Bruder gehockt und sich die Milchzitzen mit ihr geteilt.

Sie vergrub die Finger tiefer in sein Fell.

Bashaliia …

Sein Duft, die Wärme seines Körpers dienten als Erinnerung daran, dass sie während jenes schrecklichen Sommers nicht ihre ganze Familie verloren hatte. Sie wollte ihn in ihrer Nähe behalten, länger mit ihm hier draußen sein, aber sie beide wussten, dass sie sich nun in den Schiffsrumpf zurückziehen mussten.

Sie legte die Handflächen gegen seine Brust und machte sich aus der Umarmung seiner Schwingen frei. Sofort wurde sie von der Kälte überfallen. Schon hatte der Frost die Ränder von Bashaliias großen Ohren überzogen.

»Wir sollten uns einen warmen Ofen suchen und hoffen, dass seine Kohlen frisch geschürt worden sind.«

Sie wandte sich dem höheren Achterdeck und den Türen zu, die in die Tiefe des Schiffes führten. Aber bevor sie einen Schritt in diese Richtung machen konnte, wurde die Tür zum Vorderdeck aufgestoßen. Sie wirbelte herum, war erschrocken. Das Aufblitzen einer Laterne blendete sie kurzzeitig.

Zur Verteidigung breitete Bashaliia seine Schwingen aus und reagierte damit auf ihr Entsetzen.

Doch beruhigend hob sie die Hand, als sie die Person hinter dem Gleißen erkannte.

»Jace?« Sie versuchte, sein plötzliches Auftreten zu verstehen. »Was tust du hier?«

Sie wusste, dass ihr Freund und früherer Tutor die Kälte verabscheute. Und dennoch kam er auf sie zu, eingewickelt in eine dicke Decke, und sein Atem zeichnete weiße Striemen in die Luft. Aufmerksam achtete er auf jeden seiner Schritte, als er über die eisverkrusteten Planken des Decks ging.

»Ich wollte über etwas mit dir sprechen – unter vier Augen«, sagte er. »Es ist etwas Seltsames, vielleicht sogar Wichtiges. Doch dann hat mich Graulin erwischt, als ich auf dem Weg hierher war. Er möchte, dass alle ins Steuerhaus kommen. Darant hat etwas gesehen, das vor uns liegt. Nach Graulins grimmigem Tonfall zu urteilen, scheint es etwas Beunruhigendes zu sein.«

»Er klingt immer grimmig«, rief sie ihm in Erinnerung.

»Vielleicht, aber wir sollten uns trotzdem beeilen. Insbesondere da er nicht weiß, dass du allein hier oben bist.«

»Ich bin nicht allein.« Sie streichelte Bashaliia, der seine Flügel schon wieder eingefaltet hatte.

»Ich glaube kaum, dass Graulin diese Gesellschaft beruhigend fände.«

Nyx wusste, dass Jace recht hatte. Trotz der Enge in dem Flynkschiff waren sie und Graulin sich nicht nähergekommen. Der Mann mochte ihr Vater sein – aber vielleicht war er es auch nicht. Jedenfalls versuchte er andauernd, ein gewisses Maß an Kontrolle über sie auszuüben. Sie ärgerte sich über seinen allgegenwärtigen Schatten und suchte andauernd nach Möglichkeiten, ihm für kurze Zeit zu entkommen.

Wie jetzt …

Sie erkannte, dass es nicht nur Bashaliia war, der hin und wieder einen Ausbruch aus der Beengtheit des Schiffes brauchte.

Jace sah sie düster an und kniff die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen, so wie er es immer tat, wenn er mit ihrer Sturheit konfrontiert wurde. »Falls Graulin jemals von deinen kleinen Ausflügen auf das offene Deck erfahren sollte, wird er mir den Bart von den Wangen reißen.«

Sie streckte die Hand aus und zupfte an den roten Locken an seinem Kinn. »Mir scheint er ziemlich festzusitzen.«

Er schob ihre Hand nach unten, und trotz der Kälte wurden seine Wangen rot. »Und so sollte es auch bleiben.«

Sie lächelte. »Der dichtere Bart steht dir übrigens gut. Offenbar werden du und Bashaliia mit jeder zurückgelegten Meile pelziger.«

Ein noch tieferes Rot stahl sich in seine Wangen. »Wie bei ihm geht es mir nicht um gutes Aussehen, sondern um den Schutz vor der Kälte.«

Sie zuckte die Achseln und warf ihm einen zweifelnden Blick zu. »Hilf mir, Bashaliia nach unten zu bringen, und dann gehen wir zum Steuerhaus.«

Jace brummte leise. Sie sah zu, wie er seine Bartlocken wieder in Ordnung brachte, nachdem sie sie zerzaust hatte. Als der Wind seine Decke packte und sie halb von ihm riss, bemerkte sie, wie sehr sich ihr Freund verändert hatte. Während sich Bashaliia eine Schicht aus wärmendem Fett zugelegt hatte, war Jace noch dünner geworden. Während der Reise hatte er regelmäßig Übungskämpfe mit Darant und Graulin abgehalten und seine Fähigkeiten mit Faust und Axt geschärft. Außerdem waren die Vorräte an Bord streng rationiert, und so hatte er eine Menge seines ursprünglichen Gewichts verloren.

Trotzdem hatte der Kriegernovize den Gelehrten noch nicht verdrängt.

Auch wenn er der Kälte offensichtlich so schnell wie möglich entkommen wollte, ging er doch auf die blutige Keule zu, die auf dem Deck lag. »Woher kommt das denn?«

»Bashaliia ist auf die Jagd gegangen«, erklärte Nyx.

Er betrachtete das Hufende der Keule mit zusammengekniffenen Augen. »Dreihufig und mit weißem Pelz. Er muss einen Martok zur Strecke gebracht haben. Der Größe des Beins nach zu urteilen, handelt es sich um ein Kalb aus diesem Jahr.« Er betastete das Fell und pflückte ein wenig Moos heraus, das in der Dunkelheit schwach schimmerte. »Faszinierend. Wir sollten das Bein zu Krysh tragen und so viel wie möglich über diese Giganten des Eisschildes in Erfahrung bringen.«

Nyx lehnte das ab. »Es ist Bashaliias Beute. Er braucht mehr Nahrung, als es in unseren ausgedünnten Vorräten für ihn gibt. Vielleicht sollte er öfter jagen, bevor es noch kälter wird.«

»Das stimmt.« Jace richtete sich auf und rieb seinen Bauch. »Je besser er sich selbst versorgen kann, desto langsamer leert sich unsere Vorratskammer. Ich werde ein paar Leute von der Besatzung bitten, das Bein nach unten zu bringen und einzupökeln.«

»Danke.«

Als sie zum Achterdeck gingen, warf er noch einen verlangenden Blick auf die Keule – eher aus Neugier als aus Hunger. »Wer hätte je geglaubt, dass so gewaltige Kreaturen durch dieses vereiste Land stapfen?«

Nyx verstand sein Interesse. Durch die Weitblicker des Schiffes hatte sie die riesigen Martok-Herden auf den großen Eisplatten mit eigenen Augen gesehen. Die zotteligen Bullen mit den gewundenen Hörnern schienen so groß zu sein, dass sie bis zur dritten Ebene ihrer alten Schule gereicht hätten. Die Kühe wirkten kaum kleiner. Offenbar ernährten sich die Herden von Büscheln phosphoreszierenden Mooses, die auf dem Eis wuchsen, wo sie sie mit ihren Stoßzähnen abrissen. Krysh – dessen jahrzehntealtes alchymistisches Interesse sich vor allem auf die Eiswüste bezog – hatte getrocknete Exemplare dieser Pflanze studiert, die auf den seltenen Expeditionen tollkühner Forscher gesammelt worden waren. Er sagte, sie heiße Is’veppir und ihr kaltes Blattwerk erinnere eher an Pilze als an Moos.

»Wer hätte denn geahnt, dass solches Leben hier draußen existieren kann?«, fragte Nyx und warf einen Blick in Richtung Westen. »Wir werden bald dort sein, wo vor uns noch niemand war.«

»Nicht unbedingt.« Als Jace zu einer gelehrten Ausführung ansetzte, wurde seine Stimme leiser. Sie war ihr so vertraut wie Bashaliias Moschusduft. »Ich habe Berichte von jenen gelesen, die sich bis hinter die Eiszähne gewagt haben. In den Chroniken von Rega sy Noor – Die Erleuchtung der sonnenlosen Lande. Ich habe sogar ein Buch gelesen, von dem Krysh behauptet hat, es sei aus den gjoanischen Archiven gestohlen worden – ein Werk, das sieben Jahrhunderte alt ist. Ich wollte mit dir über das sprechen, was ich darin gefunden habe, bevor ich es den anderen sage.«

Nun hatten sie die Doppeltür erreicht, hinter der eine Treppe in den Laderaum des Schiffes führte. Sie zog die Tür auf und drehte sich zu ihm um. »Was hast du gefunden?«

»Wenn das, was darin geschrieben steht, stimmt, dann … sind wir vielleicht nicht allein in der Eiswüste. Dort könnten noch andere Menschen leben.«

Ungläubig runzelte sie die Stirn.

Das ist unmöglich. Wer könnte dort draußen überleben?

Jace hob die Hand. »Hör mich an, und ich werde …«

Das gesamte Schiff ruckte plötzlich unter ihnen. Donner hallte durch den klaren Himmel. An der Steuerbordseite schoss eine Flamme aus dem Rumpf über den Himmel. Stücke aus Eisen und Holz schossen hoch über die Reling. Einige hätten fast die Ballonhülle durchschlagen. Die Explosion trieb die Sperber in eine heftige Drehbewegung. Angespannte Kabel kreischten und rissen unter dem plötzlichen Angriff. Das Deck neigte sich.

Nyx verlor den Boden unter den Füßen, hielt sich aber an der Tür fest.

Hart fiel Jace bäuchlings auf die Planken und rutschte über das eisverkrustete Deck – weg von Nyx. Er war noch halb in seine Decke eingewickelt, keuchte auf und versuchte, sich irgendwo festzuhalten.

»Jace!«, schrie sie und ließ sich auf den Hintern herunter. Sie hielt sich weiter an der Tür fest, streckte das Bein aus, damit er sich daran festhalten konnte, aber er befand sich schon außerhalb ihrer Reichweite.

Bashaliia sprang an ihr vorbei und stieß auf Jace herunter wie ein Falke auf ein Kaninchen. Krallen durchstachen seine Decke. Jace schrie vor Schmerz auf, als sie auch in sein Fleisch drangen. Dann flog Bashaliia mit einem einzigen Flügelschlag mit seiner Beute zu Nyx zurück.

»Nach drinnen!«, rief sie und hastete voraus.

Überall auf dem Schiff hallten nun die Alarmglocken, während sie die Treppe hinunterstürzte und einen kurzen Korridor entlangkroch. Bashaliia warf Jace hinter ihr her und drückte sich dann selbst durch die Tür.

Jace ächzte, setzte sich auf und lehnte sich gegen die Wand. »Was ist passiert?«

Nyx starrte an ihm vorbei auf die offen stehende Flügeltür. Inzwischen drehte sich die Sperber langsamer, und das Deck richtete sich wieder aus. Die Flammen waren erloschen, aber ein Glühen auf der Steuerbordseite war geblieben.

Sie sah Jace an und schluckte schwer, bevor sie etwas sagen konnte. Sie befürchtete, sie könnte die Möglichkeit aussprechen, die … eine Katastrophe bedeutete. »Einer der Antriebe des Schiffes muss explodiert sein.«

2

Es dauerte nicht lange, bis Nyx’ Ängste bestätigt wurden.

Sie stand neben Jace in dem überfüllten Steuerhaus der Sperber. Alle hatten sich um einen pockennarbigen Matrosen namens Hyck versammelt. Die Zeit hatte den alten Mann so sehr ausgemergelt, dass er nur noch Haut und Knochen war, aber seine Augen leuchteten noch immer eindringlich. Er war ein früherer Alchymist, der vor langer Zeit seines Amtes enthoben worden war und nun als Schiffsingenieur diente.

Er rieb ein Stück Stoff zwischen seinen Händen und versuchte, Rückstände des öligen Treibstoffs von den Handflächen zu entfernen, wobei er die Schlieren jedoch nur weiter verteilte. »Zum Glück ist bloß das Lenktriebwerk an der Steuerbordseite explodiert. Wäre es der Heckantrieb gewesen, hätten wir uns nicht mehr zurück zur Krone schleppen können.«

Nyx und Jace tauschten einen besorgten Blick. Sie wusste, dass das Flynkschiff drei Antriebe besaß – einen an jeder Seite und einen großen im Heck am Ende des Kiels.

»Sind die Feuer gelöscht worden?«, fragte Darant.

»Ja«, antwortete Hyck. »Das haben wir als Erstes gemacht. Flammen sind hier eine größere Gefahr als jede Explosion. Deine beiden Töchter haben sich den Schaden angesehen und versuchen gerade herauszufinden, ob sich irgendetwas retten lässt.«

Darant ging in dem Steuerhaus hin und her. Dieses Schiff gehörte dem Briganten, und jeder Schaden daran schmerzte ihn wie eine Wunde am eigenen Körper. Seine Miene war wie eine Gewitterwolke. Er hatte die Finger um den Griff eines seiner Peitschenschwerter geschlungen. Sein dunkelblauer, zu Hemd und Stiefeln passender Kurzmantel flatterte hinter ihm her, während er über die Planken stürmte.

Graulin hob die Hand. »Heißt das, wir müssen umkehren – zurück zur Krone?«

Hyck öffnete den Mund, aber Darant schnitt ihm das Wort ab. »Auf gar keinen Fall!«, rief der Pirat und zog seine schmale Klinge halb aus dem Futteral, als wollte er jeden angreifen, der sich ihm entgegenstellte. »Dieser kleine Sperber mag einen verwundeten Flügel haben, aber er kann noch immer fliegen. Den Verlust des Steuerbordantriebs können wir ausgleichen. Wie Hyck schon gesagt hat, unser Heckmotor ist um einiges wichtiger. Wir setzen unsere Reise fort.«

Graulin wandte sich an Nyx. Vor Sorge kniff er die Augen zusammen, sodass nur noch eine Andeutung von silbrigem Blau zu sehen war, das wie eine Eisader in seinem steinernen Gesicht wirkte. Kaum eine andere Farbe war an dem Mann zu entdecken. Es schien, als hätte ihn die Legende des eidbrüchigen Ritters – eine Geschichte, die Nyx und Graulin auf tragische Weise zusammenband – zur Zeichnung in einem Buch gemacht, die nur in Grautönen und in Schwarz ausgeführt war. Sein dunkles Haar und der zottelige Bart waren weiß gesprenkelt. Einige Strähnen wirkten altersgrau, andere verdeckten eingesunkene Narben. Aber nicht all seine alten Wunden blieben verborgen: Seine Nase war krumm, und unter dem linken Auge lag eine schartige Strieme. Sie alle zeugten von der Bestrafung für seine Liebe und für den Bruch seines Eides, den er vor dem König der Hálendii geschworen hatte.

Ein Knurren erhob sich. Es kam zwar nicht von Graulin, hätte aber durchaus von ihm stammen können. Es drückte eine Mischung aus Enttäuschung und Wut aus. Der Schatten des Ritters schob sich stärker ins Blickfeld. Die bernsteinfarbenen Augen des Vargr glühten inmitten eines kohlschwarzen Fells. Die Beinmuskeln spannten sich an und kräuselten die lohfarbenen Streifen, die darüber verliefen. Es wirkte wie Sonnenlicht, das durch ein dunkles Blätterdach fällt. Die büscheligen Ohren des Vargr standen aufrecht und drehten sich vor und zurück auf der Suche nach der Gefahr, die alle so nervös hatte werden lassen.

Nyx summte leise und wob einen beruhigenden Faden des Zaumsangs. Er wand sich in das grollende Knurren und besänftigte die Anspannung des Vargr.

Graulin versuchte es mit seiner eigenen Methode und legte eine schwielige Hand auf die Schulter des Tiers. »Sitz, Kalder.«

Der Schwanz des Vargr peitschte noch zweimal hin und her, dann gehorchte das Tier, aber seine Ohren blieben hoch aufgerichtet und steif.

Während ihrer kurzen Verbindung mit Kalder hatte Nyx die Wildheit gespürt, die in seinem starken Herzen eingezwängt war. Manche hielten Kalder irrigerweise für einen bloßen Jagdhund, der Graulin äußerst ergeben war. Nyx wusste aber, dass ihre gegenseitige Beziehung wesentlich tiefer reichte; es war ein Band, das nicht nur aus Vertrauen und Respekt, sondern auch aus geteiltem Schmerz und Verlust entstanden war. Die Erinnerung an Kalders Bruder, der vor einem halben Jahr gestorben war, hallte noch in dieser tapferen Brust wider. Nyx hörte das Wispern von Jagden durch kalte Wälder und spürte eine Wärme, die allein ein angeschmiegter Bruder spenden konnte.

Kalders Nervosität rührte vermutlich auch von den vielen Monaten an Bord der engen Sperber her. Solche großartigen Tiere sollten niemals eingesperrt sein.

Graulin wandte sich von der Gruppe ab und sah durch eines der Fenster, die den Blick voraus freigaben. »Darant, ich verstehe das Vertrauen, das du in dein Schiff setzt, aber vielleicht sollte in diesem Fall doch die Vorsicht stärker wiegen als die Überzeugung. Wenn wir die Sperber verlieren, ist alles verloren. Anstatt weiterzufliegen …«

»Nein!«, platzte es aus Nyx heraus.

Als sich alle ihr zuwandten, weigerte sie sich, unter dem Gewicht der Blicke nachzugeben. Sie dachte daran, dass sie drei Mondphasen gebraucht hatten, bis sie hierhergekommen waren. Die Rückkehr zur Krone würde genauso lange dauern. Und sie würden erneut hierher aufbrechen müssen.

»Wir würden ein halbes Jahr verlieren«, sagte sie. »Das können wir uns aber nicht leisten. Wir müssen den Ort erreichen, den Shiya uns auf ihrer Kugel gezeigt hat.«

»Das ist uns bewusst«, sagte Graulin. »Aber Shiya hat uns auch gesagt, dass wir noch mindestens drei oder sogar fünf Jahre haben, bevor der Mondsturz unausweichlich wird. Daher bleibt uns ein wenig Zeit für Vorsicht.«

»Nein. Nein, diese Zeit haben wir nicht.«

»Nyx …«

Sie schüttelte den Kopf, denn sie wusste, dass Graulins Zurückhaltung von seiner Sorge um sie herrührte. Schmerz schoss ihm in die Augen. Zwar war sie vielleicht nicht seine Tochter, aber sie war das Kind der Frau, die er einmal geliebt hatte. Graulin hatte lange geglaubt, Nyx sei in den Sümpfen von Mýr gestorben, bevor sie auf wundersame Weise zu ihm zurückgekehrt war. Darum wollte er sie gewiss nicht noch einmal verlieren.

Aber sie schob seine Sorgen beiseite. Sie waren nicht von Bedeutung.

Stattdessen dachte Nyx an das schimmernde Bild ihrer Welt, das von Shiyas Kristallkugel erschaffen worden war. Eine smaragdgrüne Markierung hatte tief in der Gefrorenen Wüste geglüht. Das war ihr Ziel, auch wenn nur wenig darüber bekannt war. Nicht einmal Shiya hatte eine Ahnung, was dort draußen lag. Sie wusste nur, dass dieser Ort wichtig war. Wenn sie die Hoffnung darauf, den Sturz des Mondes auf die Urde verhindern zu können, nicht aufgeben wollten, mussten sie ihre Welt wieder zum Drehen bringen, so wie es zahllose Jahrtausende hindurch der Fall gewesen war. Diese glühende Markierung spielte eine wesentliche Rolle bei der Erreichung ihres scheinbar unerreichbaren Ziels.

»Wir haben keine Ahnung, was wir dort draußen vorfinden werden«, warnte Nyx. »Oder wie lange es dauern mag, bis wir diesem Mysterium Antworten entlockt haben. Wir dürfen keine weitere Verzögerung riskieren. Vielleicht sind wir sogar schon zu spät. Wir wissen es einfach nicht.«

Ihre Miene war starr. Sie wollte sowohl ihre Entschlossenheit zum Ausdruck bringen als auch die Hoffnung tief in ihrem Innern verbergen, dass sie vielleicht tatsächlich zu spät kamen. Denn wenn sie der Urde ihre Drehbewegung zurückgaben – etwas, das ihr noch immer unmöglich erschien –, würde dies ebenfalls eine Katastrophe auslösen. Die ihnen bekannte Welt würde durch die neue Drehung vernichtet werden. Auch das hatte Shiya ihnen gezeigt. Die gewaltigen Fluten, die Erdbeben und die Stürme, die um den ganzen Planeten laufen würden. Millionen und Abermillionen von Menschen würden sterben.

Nyx begriff, dass dieses Schicksal viel besser als die Auslöschung allen Lebens war, sollte der Mond auf die Urde stürzen. Dennoch konnte sie in ihrem Herzen das unbeschreibliche Leid nicht wegschieben, das über die Welt käme, wenn sie erfolgreich waren.

Ich möchte für dieses Sterben nicht verantwortlich sein.

»Das Mädchen hat recht«, sagte Darant. »Wenn wir umkehren, werden wir es nie wieder bis nach hier draußen schaffen. In der Krone braut sich ein Krieg zusammen. Als wir aufgebrochen sind, hatten die Scharmützel zwischen Hálendii und dem Südlichen Klashe bereits zugenommen. Küstenorte sind überfallen und niedergebrannt worden. Es hat Sabotage und Attentate gegeben. Auf beiden Seiten. Wer weiß, was uns bevorsteht, wenn wir zurückkommen? Wir könnten in eine Falle geraten und in die Kämpfe verwickelt werden. Und vergiss deinen alten Freund König Toranth und seine Iflelen-Hunde nicht. Sie jagen uns noch immer. Wir sollten ihnen keine weitere Gelegenheit geben, uns die Schlinge um den Hals zu legen.«

»Diese Argumente beziehen aber nicht das mit ein, was vor uns liegt.« Graulin zeigte mit dem Finger auf Darant. »Schon vor der Explosion hast du mir aufgetragen, alle in das Steuerhaus zu rufen, weil du dir bereits Sorgen über unsere weitere Flugroute gemacht hattest.«

Nyx warf Jace einen raschen Blick zu. Sie hatte ganz vergessen, dass Graulin allen befohlen hatte, sich hier zu versammeln. Die Explosion und das darauffolgende Chaos hatten alle Aufmerksamkeit beansprucht.

»Was ist los?«, fragte Nyx. »Was liegt vor uns?«

»Sieh es dir selbst an.« Graulin führte sie und die anderen zu dem Fensterbogen an der Vorderseite des Steuerhauses. Von hier aus waren ausgedehnte gebrochene Eisplatten zu sehen, die vom Mond erhellt wurden. »Fenn, der Navigator, hat die Gefahr vor Kurzem durch einen der Weitblicker des Schiffes bemerkt. Aber ihr könnt es mit euren eigenen Augen jetzt deutlich erkennen, da wir schon viel näher herangekommen sind.«

Die Gruppe verteilte sich vor den Fenstern. Nyx suchte die Gegend unterhalb des Schiffes ab, doch der Anblick war der gleiche wie schon seit mehreren Monaten. Die hellen Strahlen des Vollmondes wurden vom Eis zurückgeworfen und tauchten die Welt in Schattierungen aus Silber und Blau. Breite Schneisen aus Is’veppir-Moos, das rötlich und grün leuchtete, durchzogen die erfrorene Landschaft. Nyx kniff die Augen zusammen und bemerkte nun einige Zusammenballungen von dunkleren Flecken. Martoks, erkannte sie. Sie hatten sich zu großen Herden zusammengeschlossen, teilten die Wärme und bewegten sich langsam.

Nyx runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht, was …«

Neben ihr keuchte Jace. »Sieh zum Horizont.«

Sie hob ihren Blick in die Ferne. Das Eis breitete sich bis zum Nachthimmel aus, der von hellen Sternen gesprenkelt war. Sie schüttelte den Kopf, denn noch immer sah sie … überhaupt nichts. Dann endlich begriff sie, dass die Sterne das Eis nicht erreichten. Sie verschwanden hoch über der Linie des Horizonts. Der Blick wurde plötzlich klarer, oder vielleicht waren inzwischen einige Wolken von dem Mond weggezogen. Nun sah sie es ebenfalls. Die Welt endete in einer Reihe zerklüfteter Berggipfel, die sich vor den Sternen erhoben und die Flugbahn blockierten. Die Bergkette, vollkommen schwarz und voll von scharfen Klippen und Graten, ragte hoch aus dem Eis hervor und bildete ein ungeheures Bollwerk.

»Das muss der Drachencryst sein«, sagte Jace. »Diese Gipfel werden auch von Rega sy Noor in seinen Chroniken erwähnt. Während seiner ersten Expedition über Land hat er sie aus der Ferne gesehen, konnte sie aber nicht erreichen. Er nannte die Berge so, weil sie ihn an die Kruste oder Schale eines großen Ungeheuers erinnerten, das durch die Eisfläche bricht.«

»Damit hatte er nicht unrecht«, brummte Darant. »Dieses Ungeheuer könnte sich als gefährlich erweisen.«

»Warum denn?«, fragte Nyx.

Graulin antwortete, ohne sich vom Fenster abzuwenden. »Die Gipfel durchbrechen nicht nur das Eis, sondern sie blockieren auch beide Himmelsflüsse.«

Nyx stellte sich die warmen Hochwinde vor – den einen, der sie gerade in westliche Richtung trug, und die kältere Strömung, die dem Eis näher kam.

Darant wandte sich an den Navigator des Schiffes, der sich über das Okular des Weitblickers gebeugt hatte. »Wie sieht es aus, Fenn?«

Der Navigator richtete sich auf und drehte sich zu den anderen um. Er war jung, vermutlich nur sieben oder acht Jahre älter als Nyx. Er hatte geschmeidige Glieder, hellblonde Locken und grüne Augen, die auf bhestyanisches Blut hinwiesen – die Bhestyaner waren ein Volk, das auf der anderen Seite der Krone lebte. Aber er weigerte sich beharrlich, über seine Vergangenheit zu sprechen. Doch er war auch das zugänglichste Mitglied der Mannschaft. Stets zeigte er ein freundliches Lächeln, und außerdem war er ein unerschöpflicher Quell an Witzen.

Jetzt aber war das Lächeln verschwunden. »Es ist schlimmer, als ich zuerst gedacht hatte«, sagte Fenn. »Am Himmel dort hinten tobt ein gewaltiger Sturm, der unmittelbar über den Gipfeln hängt. Ich vermute, dass er nie nachlässt, denn er wird auf ewig von den entgegengesetzten Winden gespeist.«

»Können wir den Sturm durchqueren?«, fragte Graulin. »Insbesondere wo einer unserer Steuerantriebe explodiert ist?«

Fenn warf Darant einen raschen Blick zu. Der Pirat nickte ihm zu und ermunterte ihn damit, frei zu sprechen. Fenn seufzte und zuckte die Achseln. »Es gibt nur einen Weg, es herauszufinden. Niemand ist je über diese Gipfel gesegelt. Wir werden die Ersten sein.«

»Das stimmt nicht unbedingt«, berichtigte ihn Jace.

Alle wandten sich ihm zu.

Jace erklärte: »Rega – der Forscher und Ritter, der diesen Bergen ihren Namen gegeben hat – brach zu einer zweiten Expedition auf und wollte den Drachencryst überqueren, diesmal aber in einem Luftschiff, das Fyerdrache genannt wurde – nach einem der Gipfel.«

In Fenns Augen glitzerte es; er zeigte wieder eine Spur seiner üblichen Fröhlichkeit. »Ja, aber soweit ich weiß, ist er von dieser zweiten Reise niemals zurückgekehrt.«

»Das ist richtig«, gab Jace widerstrebend zu.

Nyx gab ihm einen Stups. »Du solltest ihnen mitteilen, was du mir auf dem Mitteldeck gesagt hast.«

Graulin wurde starr vor Entsetzen. »Auf dem Mitteldeck? Nyx, was hast du da draußen gemacht?«

Sie beachtete ihn gar nicht. »Sag es ihnen, Jace.«

Ihr Freund nickte und sah die anderen an. »Ich hatte genug Zeit, die meisten historischen Werke zu lesen, die sich mit der Wüste beschäftigen und von den wenigen verfasst wurden, die es gewagt haben, in das Eis hineinzureisen. Einer von ihnen behauptet, es gebe Clans, die hinter dem Drachencryst leben.«

Darant gab ein mürrisches Grunzen von sich. »Aber wer denn? Wer könnte hier draußen leben?«

Jace zog die Brauen zusammen. »Nach den Annalen von Skree, einem Buch, das aus den gjoanischen Archiven gerettet wurde, handelt es sich um einen erschöcklichen Stamm perikulöser Menschen, ausharrend inmitten tödlicher Bestien und großer Ungeheuer.«

»Das klingt ja nett«, murmelte Fenn.

Jace wandte sich dem sturmumtosten Horizont zu. »Angeblich hat Rega dieses Buch gelesen und sich bei seiner zweiten Expedition auf die Suche nach dem darin beschriebenen Stamm gemacht.«

»Und von dieser Expedition ist er nie zurückgekehrt«, rief Fenn allen wieder in Erinnerung.

Bevor jemand etwas darauf erwidern konnte, waren Stiefelschritte und laute Stimmen jenseits des Steuerhauses zu hören. Die Tür wurde aufgeworfen, und zahlreiche Gestalten drängten herein. Sie wurden von Shiyas Bronzefigur angeführt. Obwohl sie aus hartem Metall geschaffen war, bewegte sie sich mit großer Anmut. Das schimmernde Glas ihrer Augen richtete sich auf die Anwesenden im Steuerhaus. Die dunklen Flecken auf ihrem bescheidenen Kleid deuteten darauf hin, dass sie zusammen mit den anderen die Überreste des explodierten Blitzbrenners untersucht hatte. Vermutlich hatten sie sich Shiyas beträchtlicher Kraft bedient, die ihnen schon beim Durchstöbern der Trümmer geholfen hatte. Als sie eintrat, wurde das Licht der Lampen von den Umrissen ihres Gesichts zurückgeworfen, aber ihre Miene war und blieb undeutbar.

Die Personen in ihrer Begleitung waren weitaus weniger gelassen. Die untersetzte Gestalt von Rhaif hy Albar – das war der guld’guhlische Dieb, der die Bronzefrau aus den Tiefen der Kalkminen geborgen hatte – glitt an Shiyas linke Seite. Eine ganze Litanei von Flüchen ergoss sich von seinen Lippen.

»Was ist los?«, fragte Darant und trat auf die Neuankömmlinge zu.

Rhaif unterbrach seine Schimpftirade und deutete auf Shiyas andere Seite. »Das kann deine Tochter dir sagen.«

Glace schritt um die Bronzefrau herum und stellte sich vor ihren Vater. Mit der einen Hand schob sie ihren blonden Zopf hinter die Schulter, die andere streckte sie ihm entgegen.

»Dies hier haben wir in den Trümmern der Brennelemente gefunden.«

Alle kamen näher. Ein verbogener Knoten aus dunklem Eisen lag in Glace’ festem Griff. Er wirkte wie ein aufgeplatztes schwarzes Ei. Ein bitterer Geruch von verbrannter Alchymie stieg von ihm auf.

»Was ist das?«, fragte Nyx.

Graulins Miene verdüsterte sich. »Das ist ein Stykler.«

Nyx schüttelte den Kopf.

Jace erklärte: »Eine Hülle voller Eisenstücke und Glas, die unter großer Hitze schmelzen.«

Glace hielt den Blick auf ihren Vater gerichtet. »Brayl und Krysh haben schon die beiden andren Brenner untersucht und sichergestellt, dass dort keine weiteren Bomben versteckt sind.«

Nyx starrte den verbrannten Gegenstand an. »Eine Bombe?«

»Nicht nur eine Bombe«, knurrte Darant und sah sich in dem Raum um. »Das ist Sabotage.«

3

Graulin packte den Griff seines Schwertes. An seiner Kraft und Vertrautheit versuchte er sich festzuhalten. Herzdorn befand sich schon seit achtzehn Generationen in seiner Familie. Die Klinge war genauso sehr ein Teil von ihm wie sein eigener Arm. Aber er packte so fest zu, dass die silbernen Dornen des verzierten Griffs in seine Handfläche stachen.

»Wir haben einen Verräter in unseren Reihen«, knurrte Graulin die drei Männer an, die sich um den zerkratzten Eisenholztisch versammelt hatten.

Er hatte Nyx mit Kalder nach unten geschickt, damit das Tier in der Stille des Laderaums wieder zur Ruhe kam. Die Aufregung und Wut über die Entdeckung eines Saboteurs an Bord hatte den Vargr böse werden lassen, sodass er alle und jeden anknurrte und nach ihnen schnappte. Nur Nyx konnte sein wildes Herz beherrschen – auch Jace war gegangen, begleitet von Shiya, die über die anderen wachte.

Danach hatte sich Graulin mit den drei Männern in einen kleinen Kartenraum hinter dem Steuerhaus zurückgezogen, wo sie die Lage unter sich besprechen wollten. Eine einzelne Lampe hing an einer Kette über ihnen und beleuchtete den engen Raum. Die Wände waren mit Hunderten runden Regalfächern bedeckt, in denen zahllose zusammengerollte Karten lagen. Auf die Tischplatte war eine Zeichnung der Gefrorenen Wüste genagelt worden. Darauf stand – neben einigen Papieren, auf die mit einem Kohlestift etliche Berechnungen gekritzelt waren, die von den Bemühungen des Navigators zeugten – ein Sextant.

Rhaif lehnte sich gegen die Tür und sorgte auf diese Weise dafür, dass sie nicht gestört wurden. Vielleicht wollte er aber auch nur seinen Rücken entlasten. Seine Hosenbeine waren in Kniehöhe schwarz gefleckt. Er roch nach Rauch und verbranntem Öl. Sein feuerrotes Haar, das während der Reise lang gewachsen war, klebte schweißnass an seinem Kopf, nachdem er bei der Untersuchung des explodierten Brenners geholfen hatte.

»Ein Verräter soll unter uns sein«, spuckte Rhaif bitter aus. »Als ob wir nicht schon genügend Schwierigkeiten hätten.«

»Wenn du lange genug lebst, wirst du lernen, dass das Leben aus nichts anderem als aus Schwierigkeiten besteht«, bemerkte Darant. »Aber die Alternative ist noch schlechter. Also solltest du dir Freude machen, wann und wo immer du kannst.«

Graulin bedachte den Mann mit einem finsteren Blick. »Du nimmst die Tatsache eines Saboteurs in unserer Mitte ziemlich leicht.«

»Ich bin ein Pirat. Für mich sind Verrat und doppeltes Spiel eine Handelsware, so wie Münzen oder Schwerter.« Darant stützte sich mit den Fäusten auf dem Tisch ab, während in seinen Augen Feuer aufblitzten. »Aber versteh mich bitte nicht falsch. Ich werde denjenigen häuten, der die Sperber beschädigt hat. Das werde ich auf keinen Fall hinnehmen.«

Das letzte Mitglied der Versammlung räusperte sich. Alchymist Krysh hatte sich über die angenagelte Karte gebeugt und hielt den Kopf schräg. Doch seine Gedanken verweilten sicherlich bei der neuen Bedrohung. Er sah mit seinen scharfen grauen Augen auf.

»Wir müssen die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass sich der Saboteur nicht an Bord dieses Flynkschiffes befindet«, erklärte er und richtete sich zu seiner vollen Größe auf.

Kryshs Hautfarbe erinnerte an poliertes Kupfer – wie ein Sonnenbrand, der nie verblasste. Die langen schwarzen Haare hatte er sich zu einem eingeölten Zopf zusammengebunden, der zu der dunklen Robe seines Ordens passte. Aber er war keineswegs ein zarter oder gebrechlicher Gelehrter. Er war eine Handbreit größer als Graulin, und obwohl er schon in seinem fünften Lebensjahrzehnt stand, war sein Körper noch immer ausgesprochen muskulös. Das war auch gar nicht verwunderlich. Der Mann war in dem rauen Bauernland Aglerolarpok aufgewachsen, das dafür berüchtigt war, seine Bewohner gnadenlos abzuhärten. Abgesehen davon hatte Graulin nur eine gekürzte Version der Lebensgeschichte dieses Mannes erhalten, aber Frell hatte darauf beharrt, dass Krysh vertrauenswürdig sei.

Trotz dieser Versicherung war Graulin misstrauisch, was den Alchymisten betraf, und die Sabotage hatte sein Misstrauen nicht gerade besänftigt.

Wie viel wissen wir wirklich über ihn?

Rhaif stieß sich von der Tür ab, richtete sich auf und hob die Braue über die Bemerkung des Alchymisten. »Krysh, der Saboteur muss sich an Bord der Sperber befinden. Jemand hatte doch den Stykler anbringen müssen, oder?«

Krysh nickte. »Gewiss. Aber jeder Stykler wird eigens für seinen besonderen Einsatz angefertigt. Es gibt solche, die eine Schwel-Zündschnur haben – eine Kordel mit dichten Windungen, die von einem isolierenden Amalgam überzogen ist. Solche Zündschnüre können bis zu einem Jahr schwelen, bis das Feuer endlich den Sprengstoff im Innern der Bombe erreicht.«

Darant kniff die Augen zusammen. »Willst du damit sagen, dass jemand die Bombe an Bord gebracht haben könnte, bevor wir die Krone verlassen haben?«

»Das wäre denkbar. Zumindest sollten wir diese Möglichkeit nicht außer Acht lassen. Der Saboteur könnte eine sehr lange Zündschnur benutzt haben, weil er wollte, dass wir schon weit über der Gefrorenen Wüste sind, wenn die Bombe hochgeht.«

»Damit wir hier stranden«, murmelte Graulin.

Darant rieb sich das Kinn. »Krysh könnte recht haben. In meinem Lager haben die Vorbereitungen für diese Reise recht lange gedauert. Informationen darüber könnten in die falschen Hände gelangt sein. Ich weiß sehr wohl, wie jede Treue unter dem Gewicht von ausreichend viel Gold zusammenbricht.«

Rhaif wirkte wenig überzeugt und zeigte auf den Piraten. »Aber deiner Tochter zufolge hat sich niemand an den beiden übrigen Brennern zu schaffen gemacht.«

»Ja«, stimmte Darant ihm zu. »Brayl wäre das nicht entgangen. Sie hat schärfere Augen als ein Adler. Und da meine beiden Töchter diese Brenner jetzt bewachen, werden sie unberührt bleiben.«

Graulin verstand, was Rhaif hatte sagen wollen. »Wenn der Stykler schon vor unserer Abreise platziert wurde, warum dann nur im Lenkbrenner an der Steuerbordseite? Warum sind nicht alle drei Antriebe mit einer Bombe bestückt worden? Dann wären wir hier mit Sicherheit gestrandet.«

»Vielleicht wollten sie uns nur davon abhalten, unser Ziel zu erreichen, uns aber nicht töten«, schlug Krysh vor.

»Ein Saboteur mit einem Gewissen«, höhnte Rhaif.

Krysh zuckte mit den Achseln. »Oder es war beabsichtigt, dass wir nach Hause zurückhumpeln. Und sobald wir wieder in der Krone sind, wird man uns gefangen nehmen und verhören. Wer immer versuchen mag, uns aufzuhalten, kennt unser Ziel vielleicht gar nicht, und wenn wir hier draußen sterben, würde dieses Wissen mit uns untergehen.«

Darant versteifte sich. »Das ist ein guter Grund für die Fortsetzung unserer Reise, meine ich.«

Krysh sah die beiden anderen an. »Bevor wir diese Entscheidung treffen, muss ich sagen, dass ich trotz meiner vorhin geäußerten Vermutung der Meinung bin, dass sich der Saboteur tatsächlich noch auf der Sperber aufhält. Auch wenn ich wünschte, es wäre anders.«

»Warum?«, fragte Graulin.

»Das wahrscheinlichste Szenario – und ein solches ist für gewöhnlich das richtige – besteht darin, dass der Verräter nur den Steuerbordbrenner zerstört hat, weil er nicht durch seine eigene Tat sterben wollte. Gold macht keine Märtyrer.«

»Das ist wahr«, antwortete Darant.

Krysh fuhr fort: »Ich finde es auch bemerkenswert, dass der Saboteur gewartet hat, bis wir an den Drachencryst gekommen sind, bevor er die Explosion verursacht hat. Möglicherweise hat er geglaubt, dass uns der Sturm über dem Gebirge im Zusammenspiel mit dem zerstörten Antrieb dazu bringen wird, umzudrehen und nach Hause zu segeln.«

Graulin bedachte die Logik des Alchymisten mit einem Nicken. Offenbar hatte Frell den richtigen Mann für diese Mission ausgewählt. »Wenn du recht hast, wie können wir den Verräter dann aufspüren?«

»Gar nicht«, antwortete Darant für ihn.

Graulin sah ihn düster an.

Darant erklärte: »Unsere Besatzung besteht aus dreizehn Männern und fünf Frauen. Der Verräter könnte jeder von ihnen sein. Vielleicht sind es sogar mehrere Personen. Den oder die Täter herauszufinden ist nahezu unmöglich.«

»Was sollen wir denn tun?«

Darant zuckte mit den Schultern. »Wir vertrauen darauf, dass der Saboteur sein Leben liebt – was er bisher bewiesen hat. Meine Töchter werden die Brenner weiterhin bewachen, aber ich vermute, dass ihnen nichts mehr zustoßen wird. Wenn der Verräter wieder zur Tat schreitet, wird es vermutlich auf eine Art geschehen, die ihn nicht in Lebensgefahr bringt. Wir müssen vorbereitet sein und jeden Einzelnen um uns herum im Auge behalten.«

Ein lautes Klopfen richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Tür.

»Wir nähern uns den Bergen!«, rief Fenn von der anderen Seite. »Bei der nächsten Glocke werden wir uns am Rand des Sturms befinden. Wie lauten die Befehle?«

Alle Augen richteten sich auf Darant. Der Pirat wartete, bis ihm die beiden anderen zugenickt hatten, damit er sicher sein konnte, ihre ungeteilte Zustimmung zu haben – oder damit er die Schuld auf andre abwälzen konnte, falls sich die Entscheidung als katastrophal herausstellen sollte.

Darant rief Fenn zu: »Warne das Schiff! Jede lose Feder der Sperber muss festgezurrt werden, bevor wir zu der Bergkette kommen.«

Der Pirat drehte sich wieder zu den anderen beiden Männern um und drückte seinen Daumen gegen die Lippen – die klasheanische Bitte um Glück und Gelingen. »Der Saboteur soll verdammt sein. Wir werden es über die Berge schaffen!«

Rhaif wirkte zweifelnd. »Aber selbst wenn wir es schaffen sollten, was werden wir dort finden? Erinnert euch an die Warnung des Jungen. Vor perikulösen Menschen und tödlichen Bestien und großen Ungeheuern.«

Krysh nickte langsam. »Sollten sich diese Legenden als wahr erweisen, wird ein Verräter in unseren Reihen unser geringstes Problem sein.«

Archivalische Darstellung von Martoks (leben auf dem Eisschild)

Zwei

Ein Prinz im Exil

Kysalimri – die Ewige Stadt des Südlichen Klashe – ist die älteste Ansiedlung der Krone. Unter ihren tiefsten Wurzeln liegen Stein und Eisen, die von dem Verlassenen Zeitalter künden, gefürchtete Samen einer Zeit, lange schon verloren in der Geschichte. Aber aus diesen Samen erwuchs eine große Stadt, die sich ausbreitet von der Bucht der Gesegneten bis zu den Vorbergen des Hyrgmassivs, Hunderte Meilen in einer jeden Richtung. Sie ist weniger ein Zeichen auf der Landkarte, sondern vielmehr ein eigenes Königreich, unterteilt durch uralte Mauern, aber vereinigt durch Blut und Zweck. Es heißt: Sollte Kysalimri jemals fallen, dann fällt die ganze Welt.

Aus dem achtzigbändigen Werk Allumfassende Geographica von Lyrrasta

4

Der zweitgeborene Prinz von Hálendii kämpfte gegen seine Ketten an, als er auf die Reling der Lustbarke zuschritt. Die silbernen Kettenglieder erstreckten sich von Kanthe ry Massifs Fußknöcheln bis zu den Krägen der beiden Chaaen-Eskorten, die hinter ihm hergingen. Selbst nachdem er eine ganze Jahreszeit in Kysalimri, der Ewigen Stadt des Südlichen Klashe, verbracht hatte, war es ihm noch nicht gelungen, sich in einem fließenden Einklang mit jenen zu bewegen, die an ihn gebunden waren.

Sein linkes Bein versuchte auszuschreiten, wurde aber durch die Kette am Knöchel daran gehindert. Er ruderte auf gänzlich unprinzliche Weise mit den Armen und versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Doch er musste erkennen, dass es aussichtslos war. Er stürzte mit dem Kopf voran auf das Deck zu – und dann packte ihn eine feste Hand an der Schulter und fing ihn auf. Sein Retter kicherte, als er Kanthe auf die Beine stellte und ihm zur Reling hinüberhalf.

»Danke, Rami«, sagte Kanthe. »Du hast gerade verhindert, dass ich mir meine hübsche Nase breche.«

»Das darf nicht geschehen, mein Freund, insbesondere nicht, da deine Hochzeit nur noch einen Mondzyklus entfernt liegt.« Rami wandte sich zu einem Podest in der Mitte des breiten Bootes um. »Natürlich würde meine Schwester Aalia es nicht hinnehmen, ihren Geliebten an ihrem schönsten und vollkommensten Tag so verunstaltet sehen zu müssen.«

Kanthe warf einen Blick über das Deck auf das samtene Sofa. Geschützt von den Segeln der Barke, saß Aalia im Haeshan auf einem Nest aus Kissen. Sie war eine verschattete Rose, gekleidet in seidene Gewänder, die mit Goldfäden durchwoben waren. Ihre eingeölten Zöpfe, so dunkel wie poliertes Ebenholz, lagen auf ihren Schultern. Eine bestickte, mit Rubinen und Saphiren geschmückte Haube krönte ihr Haupt. Ihre schwarzen Augen blickten kalt und missbilligend drein und richteten sich nicht ein einziges Mal auf ihren Verlobten.

Kanthe betrachtete sie eingehend. Seit er an diesen Ufern gelandet war, war es erst das vierte Mal, dass er sie sah. Meine Braut, klagte er still. Sie war zwar nur ein Jahr älter als Kanthe, der siebzehn Winter zählte, aber sie wirkte um einiges reifer – reifer zumindest als der Prinz, der an diese Gestade geflohen war und von seinem eigenen Volk als Verräter betrachtet wurde.

Im Gegensatz zu ihm genoss Aalia ein besonders hohes Ansehen. Dies war deutlich an jenen zu erkennen, die ihr Gesellschaft leisteten. Zwölf Chaaen-Gebundene knieten neben ihr – sechs zu ihrer Linken und sechs zu ihrer Rechten. Dieses Dutzend war wie Kanthes Eskorte in Roben gekleidet, die Köpfe waren unter Lederkapuzen versteckt und die Gesichter hinter Schleiern, die in die Krägen gesteckt waren. Eine solche klasheanische Byor-ga-Kleidung war für die Niedriggeborenen Pflicht, wenn sie ihr Haus verließen. Nur denjenigen aus der einzigen herrschenden Klasse, die als Imri bezeichnet wurden – was in ihrer Sprache Göttliche bedeutete –, war es erlaubt, das Gesicht zu zeigen. Die anderen Kasten mussten vom Scheitel bis zu den Zehen verhüllt bleiben, denn angeblich waren sie es nicht wert, dass der Vater Oben sie ansah. Dies galt auch für die Chaaen, die im Bad’i Chaa, dem Haus der Weisheit, unterrichtet wurden. Es war die einzige Schule der Stadt, bekannt für ihre Strenge und Grausamkeit. Je höher jemand unter den Imri stand, desto mehr Chaaen waren an ihn oder sie gebunden und dienten als Lakaien, Ratgeber, Lehrer und manchmal auch als Lustobjekte.

Kanthe ergab sich in sein Schicksal, drehte sich um und betrachtete die Bucht der Gesegneten.

Rami wich ihm nicht von der Seite. Aalias Bruder wurde von sechs eigenen Chaaen begleitet, die hintereinander angekettet waren. Rami im Haeshan war der vierte Sohn des Imri-Ka, des Gottkaisers der Klashe. Unter seinen Geschwistern nahm er einen niedrigen Rang ein – im Gegensatz zu seiner jüngeren Schwester Aalia, der einzigen Tochter des Kaisers, die als der größte Schatz des Reiches betrachtet wurde.

Und ich werde sie am Abend der Wintersonnenwende heiraten.

Mit dem Saum seines golddurchwirkten Ärmels wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Anders als die Chaaen, die zur Byor-ga-Kleidung verpflichtet waren, trug er eine Gerygoud-Ausstattung, die zum einen aus einer eng anliegenden Hose bestand, deren Beine in Schlangenlederstiefeln steckten, und zum anderen aus einem ärmellosen Hemd unter einer weißen Robe, die weite Ärmel hatte und ihm bis zu den Knien reichte. Eine goldene Kappe vervollständigte seine Tracht. Es war die Kleidung der Mitglieder des Königshauses. Der Imri-Ka hatte Kanthe kurz nach dessen Ankunft den Imri-Status ehrenhalber verliehen.

Das war wohl ein herzlicheres Willkommen, als nackt in eine feuchte Kerkerzelle geworfen zu werden.

Allerdings fragte er sich jeden Tag, ob ein solches Schicksal nicht doch besser gewesen wäre. Er hörte, wie sich Aalias Gefolgschaft regte, als die Tochter des Kaisers von ihrem Sofa aufstand. Sie begab sich zur gegenüberliegenden Reling, ging ihm offensichtlich aus dem Weg.

Die kaiserliche Gesellschaft hatte den glühend heißen Morgen damit verbracht, durch die Bucht der Gesegneten zu gleiten. Sie waren an den Steingöttern vorbeigekommen, den dreiunddreißig Inseln und Klippen, die zu Abbildungen des klasheanischen Pantheons gemeißelt worden waren. Zwar hatte Rami versucht, Kanthe die Namen der Gottheiten und ihre Stellung in der heiligen Hierarchie beizubringen, aber sie alle waren in seinem Kopf zu einem einzigen Brei verschwommen.

Doch Rami gab nicht auf und zeigte nach vorn auf die Steinskulptur eines nackten Mannes mit einem recht auffälligen Anhängsel zwischen den Beinen. Unter dem einen Arm trug er ein pummeliges Baby. Blumen und Körbe mit Opfergaben zierten seine Steinfüße.

»Hier kommt der Har’ll in all seiner Majestät und mit seinen hervorragenden Merkmalen.« Rami sah Kanthe an und hob eine Braue. »Er ist unser Gott der Fruchtbarkeit.«

»Es ist deutlich zu sehen, warum er sich diesen Ruf erworben hat.« Kanthe zeigte an der Statue vorbei. »Vielleicht ist es das Beste, wenn wir erst einmal einen weiten Bogen um ihn machen.«

Rami lachte. »Ich bin sicher, dass du viele Kinder zeugen wirst. Ich habe dich im Bad gesehen. Du magst zwar nicht so gesegnet sein wie Har’ll, aber du wirst meine Schwester gewiss glücklich machen.«

Bei dieser Offenheit hüstelte Kanthe verlegen. Sein Gesicht wurde rot. Er versuchte, sein Unbehagen zu vertreiben, indem er etwas Unverständliches stammelte. Noch immer war ihm die Ungezwungenheit peinlich, mit der die Klasheaner offen und ohne jede Scham über solche Dinge redeten.

Leider war Rami noch nicht ganz fertig. »Natürlich betrifft das auch jede andere Person, mit der du dein Bett teilen wirst.«

Die Finger des Mannes glitten an der Reling entlang und berührten Kanthes Hand. Die Einladung war klar und deutlich. Es war nicht der erste Hinweis darauf, dass Rami ihre Beziehung über die bereits äußerst herzliche Freundschaft der beiden Männer hinausführen wollte. Rami war zwar einige Jahre älter, aber er schien weder raubtierhaft noch manipulativ hervorzutreten. Es war bloß eine offene Einladung.