Das Evangelium des Blutes - James Rollins - E-Book

Das Evangelium des Blutes E-Book

James Rollins

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Beschreibung

Ein uraltes Buch erschüttert den Vatikan in seinen Grundfesten …

Ein Erdbeben in Israel fordert Hunderte von Menschenleben – und ermöglicht den Zugang zu einem bislang unbekannten unterirdischen Tempel, der den mumifizierten Körper eines gekreuzigten Mädchens enthält. Im Sarkophag der Toten macht Archäologin Erin Granger eine brisante Entdeckung: ein Buch, geschrieben von Jesus eigener Hand, das ungeahnte Gefahren birgt und alles infrage stellt, was die Menschheit zu wissen glaubte. Erins Feinde schrecken vor nichts zurück, und eine gnadenlose Jagd nach dem Manuskript beginnt …

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Seitenzahl: 723

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Buch

Professor Henry Conklin hat in den peruanischen Anden einen bahnbrechenden Fund gemacht: eine fast fünfhundert Jahre alte Mumie, mit der er endlich die Existenz einer bisher unbekannten Kultur zu beweisen hofft, die vor den Inkas die Gegend bevölkerte. Zu Conklins Enttäuschung ergibt die Untersuchung der Mumie an der Universität in Baltimore, dass es sich um einen spanischen Priester, vermutlich einen Missionar, handelt. Doch was hat es mit der rätselhaften goldenen Substanz auf sich, mit der der Schädel des Priesters gefüllt wurde?

Währenddessen führt eine Gruppe junger Archäologen, darunter Conklins Neffe Sam, die Ausgrabungen in Peru fort. Sie stoßen auf eine verborgene Schatzkammer der Inkas, gefüllt mit unermesslichen Reichtümern. Eine sensationelle Entdeckung – und eine tödliche Falle …

Autor

Der New York Times-Bestsellerautor James Rollins hat einen Doktorgrad in Tiermedizin. Als begeisterter Höhlenforscher und ebenso eifriger Taucher ist er häufig unter Wasser oder unter der Erde anzutreffen. Er wohnt in den Bergen der Sierra Nevada in Kalifornien, USA.

Autorin

Rebecca Cantrell gewann als Autorin bereits mehrere Preise. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Berlin.

Außerdem von James Rollins bei Blanvalet erschienen:

Sigma-Force:

Der Genesis-Plan, Feuermönche, Sandsturm, »Der Judas-Code«, »Das Messias-Gen«

Außerdem:

Sub Terra, Im Dreieck des Drachen, Das Flammenzeichen, Operation Amazonas, Das Blut des Teufels

Indiana Jones und das Königreich des Kristallschädels

James Rollins

und Rebecca Cantrell

Das Evangelium des Blutes

Roman

Aus dem Englischen von Norbert Stöbe

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Blood Gospel« bei William Morrow, New York.

1. Auflage

September 2014 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Copyright © 2013 by Jim Czajkowski

Published in agreement with the author, c/o Baror International, Inc. Armonk, New York, U.S.A.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

Redaktion: text in form

HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-12564-6www.blanvalet.de

Von James:

Für Anne Rice

Denn sie zeigte uns die Schönheit in Monstern

Und das Monströse im Schönen

Von Rebecca:

Für meinen Ehemann und meinen Sohn, die beide die Monster im Zaum halten

Und ich sah auf der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, eine Buchrolle; sie war innen und außen beschrieben und mit sieben Siegeln versiegelt. Und ich sah: Ein gewaltiger Engel rief mit lauter Stimme: Wer ist würdig, die Buchrolle zu öffnen und ihre Siegel zu lösen? Aber niemand im Himmel, auf der Erde und unter der Erde konnte das Buch öffnen und es lesen … Würdig bist du, das Buch zu nehmen und seine Siegel zu öffnen; denn du wurdest geschlachtet und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erworben …

Offenbarung 5,1–3, 5,9

Ich bin Lazarus, auferstanden von den Toten, zurückgekommen, um euch allen zu berichten, ich werde euch allen berichten.

T. S. Eliot

PROLOG

Frühling, 73 n. Chr.Masada, Israel

DIE TODGEWEIHTEN LIESSEN nicht nach: Dreihundert Fuß über Eleasars Kopf sangen neunhundert jüdische Aufständische trotzig weiter gegen die römische Legion an, die vor ihren Toren stand. Die Verteidiger hatten gelobt, sich eher das Leben zu nehmen, als in Gefangenschaft zu geraten. Ihre letzten Gebete, gerichtet an den Himmel weit über ihnen, hallten durch die Tunnel, die man in den Berg Masada getrieben hatte.

Eleasar überließ die Verlorenen ihrem bitteren Schicksal und riss seinen Blick von der Decke des Kalksteingangs los. Er hätte gern mit ihnen zusammen gesungen und sein Leben in der letzten Schlacht geopfert. Doch er hatte eine andere Bestimmung.

Er musste einen anderen Weg beschreiten.

Er legte die Arme um den kostbaren Steinblock. Der sonnengewärmte Stein reichte von seiner Hand bis zum Ellbogen, er hatte die Länge eines Neugeborenen. Er drückte ihn an seine Brust, wappnete sich und trat in den Gang mit den grob behauenen Wänden, der ins Innere des Bergs führte. Hinter ihm wurde der Eingang verschlossen. Keine Menschenseele würde ihm folgen können. Die sieben Kämpfer, die ihn begleiteten, stapften mit ihren Fackeln voran. Mit den Gedanken waren sie wohl bei ihren Brüdern, den neunhundert Menschen auf dem sonnenüberfluteten Plateau. Die Festung stand seit Monaten unter Belagerung. Zehntausend römische Soldaten, verteilt auf riesige Lager, hatten den Tafelberg umzingelt und sorgten dafür, dass niemand heraus- oder hineinkam. Die Aufständischen hatten gelobt, erst ihren Familien und dann sich selbst das Leben zu nehmen, wenn der Gesang endete, denn sie wollten den Römern zuvorkommen. Sie beteten und bereiteten sich darauf vor, die Unschuldigen zu töten.

Das Gleiche steht auch mir bevor.

Eleasars Aufgabe lastete ebenso schwer auf ihm wie der Stein in seinen Armen. Er dachte an das, was ihn in der Tiefe erwartete. Die Gruft. Schon viele Stunden lang hatte er in dem unterirdischen Tempel gebetet, auf den Steinblöcken kniend, die so dicht aneinandergefügt waren, dass nicht einmal eine Ameise dazwischen hindurchgepasst hätte. Er hatte die glatten Wände betrachtet und die hohe, gewölbte Decke. Er hatte die akkurate Arbeit der Steinmetze bewundert, die den heiligen Ort erbaut hatten.

Schon damals hatte er es nicht gewagt, zu dem Sarkophag im Tempel aufzublicken.

Die unheilige Krypta, die das allerheiligste Wort Gottes aufnehmen würde.

Er drückte den Stein fester an seine Brust.

Bitte, Gott, nimm diese Bürde von mir.

Dieses Stoßgebet blieb ebenso unbeantwortet wie Tausende zuvor. Die Opfer der Aufständischen auf dem Berg mussten gewürdigt werden. Ihr vergossenes Lebensblut musste einem höheren Zweck dienen.

Als er den überwölbten Eingang zum Tempel erreichte, brachte er es nicht über sich hindurchzuschreiten. Die Krieger drängten sich an ihm vorbei und bezogen ihre Posten. Er legte die Stirn an die kalte Wand und betete um Trost.

Er wurde ihm nicht gewährt.

Er blickte in den Tempel. Flackernder Fackelschein; Schatten tanzten über die Steinblöcke des Deckengewölbes. In der Höhe waberte Rauch, suchte nach einem Ausgang, den es nicht gab.

Weder für den Rauch noch für sie.

Schließlich fiel sein Blick auf ein junges kniendes Mädchen, das von Kriegern festgehalten wurde. Der Anblick tat ihm in der Seele weh, doch er war entschlossen, seinen Auftrag zu erfüllen. Er hoffte, sie würde die Augen schließen, wenn es zu Ende ging.

Augen aus Wasser …

So hatte seine verstorbene Schwester diese unschuldigen Augen beschrieben, die Augen ihrer Tochter, der kleinen Asubah. Eleasar blickte seiner Nichte in die Augen.

Sie hatte noch die Augen eines Kindes, doch sie war keines mehr. Sie hatte gesehen, was ein Kind niemals sehen sollte. Und bald würde sie noch mehr sehen.

Vergib mir, Asubah.

Mit einem letzten halblauten Gebet betrat er die vom Fackelschein erhellte Gruft. Die lodernden Flammen spiegelten sich im gequälten Blick der sieben Krieger, die ihn erwarteten. Sie hatten tagelang gegen die Römer gekämpft und gewusst, dass die Schlacht mit ihrem eigenen Tod enden würde. Dieses Ende aber hatten sie nicht im Sinn gehabt. Er nickte ihnen und dem mit einem langen Gewand bekleideten Mann in ihrer Mitte zu. Neun erwachsene Männer hatten sich versammelt, um ein Kind zu opfern.

Die Männer neigten das Haupt vor Eleasar, als wäre er heilig. Dabei wussten sie nicht, wie unrein er war. Das wussten nur er und der, dem er diente.

Alle Männer hatten blutende Wunden. Einige stammten von den Römern, andere von dem kleinen Mädchen, das sie in ihrer Gewalt hatten.

Das purpurrote Gewand, das man ihr übergestreift hatte, war ihr zu groß, sodass sie noch kleiner wirkte. Die schmutzigen Hände hatte sie um eine alte Puppe gekrampft. Sie war aus Leder genäht, hatte die Farbe der judäischen Wüste, ein Knopfauge fehlte.

Vor wie vielen Jahren hatte er sie ihr geschenkt? Er erinnerte sich noch gut, wie ihr kleines Gesicht gestrahlt hatte, als er vor ihr niederkniete und ihr die Puppe überreichte. Er hatte sich gewundert, wie viel Sonnenschein in einem so kleinen Körper eingeschlossen war, dass er so hell strahlen und eine solche Freude über ein Geschenk aus einem bisschen Leder und Stoff empfinden konnte.

Er musterte sie eingehend, suchte nach dem Sonnenschein.

Doch da war nichts als Finsternis.

Sie fauchte und bleckte die Zähne.

»Asubah«, sagte er flehentlich.

Die Augen, die einst so friedlich und wunderschön gewesen waren wie die eines Rehkitzes, funkelten ihn hasserfüllt an. Sie holte tief Luft und spuckte ihm warmes Blut ins Gesicht.

Er taumelte zurück, benommen von der seidigen Beschaffenheit und dem metallischen Geschmack des Bluts. Mit zitternder Hand wischte er sich das Gesicht ab. Er kniete vor ihr nieder, tupfte ihr mit einem Tuch behutsam das Blut vom Kinn und warf den schmutzigen Lumpen weg. Dann hörte er es.

Sie desgleichen.

Eleasar und Asubah ruckten beide mit dem Kopf. In der Gruft vernahmen sie allein die Schreie von der Kuppe des Bergs. Sie allein wussten, dass die Römer die Befestigungen durchbrochen hatten.

Das Gemetzel hatte begonnen.

Der Mann in dem langen Gewand hatte die Bewegung bemerkt und wusste, was sie zu bedeuten hatte.

»Es wird Zeit.«

Eleasar blickte den älteren Mann in dem staubigen braunen Gewand an, ihren Anführer, der verlangt hatte, das Kind inmitten dieses Grauens zu taufen. Das Alter hatte tiefe Furchen in das Gesicht des Anführers gegraben. Seine ernsten, undurchdringlichen Augen waren geschlossen. In lautlosem Gebet bewegte er die Lippen. In seinem Gesicht spiegelte sich die Gewissheit eines Mannes wider, der von keinerlei Zweifeln geplagt wird.

Schließlich öffnete er die gesegneten Augen und fasste Eleasar in den Blick, als suche er dessen Seele. Eleasar fühlte sich an den Blick eines anderen Mannes erinnert, der vor vielen, vielen Jahren auf ihm geruht hatte.

Eleasar wandte sich beschämt ab.

Die Krieger versammelten sich um den offenen Steinsarkophag in der Mitte der Gruft. Er war aus einem einzigen Sandsteinblock gehauen, groß genug für drei ausgewachsene Männer. Doch allein das kleine Mädchen würde bald darin ruhen.

In den Ecken brannten Myrrhe und Weihrauch. Eleasar nahm aber auch dunklere Gerüche wahr: bittere Salze und beißende Kräuter, die man gemäß einem alten Essenertext gesammelt hatte.

Das Grauen nahm seinen Lauf.

Eleasar neigte ein letztes Mal das Haupt und flehte Gott an, er möge ihm einen anderen Weg eröffnen.

Nimm mich, nicht sie.

Das Ritual aber verlangte, dass sie alle ihre Rolle spielten.

Ein Mädchen, das seine Unschuld verloren hatte.

Ein Krieger des Herrn.

Ein Menschenkrieger.

Der Anführer ergriff das Wort. Seine raue Stimme schwankte nicht. »Was getan werden muss, ist Gottes Wille. Um ihre Seele zu schützen. Und die Seelen der anderen. Nehmt sie!«

Doch nicht alle waren freiwillig hierhergekommen.

Asubah befreite sich aus dem Griff ihrer Peiniger und sprang so flink wie ein Reh zum Eingang.

Eleasar besaß als Einziger die Geistesgegenwart, sie zu ergreifen. Er packte ihr schmales Handgelenk. Sie wehrte sich, doch er war stärker. Die Männer umringten sie. Asubah drückte die Puppe an ihre Brust und sank auf die Knie. Sie wirkte so mitleiderregend klein.

Der Anführer winkte einen Krieger heran. »Es muss sein.«

Der Mann trat vor und ergriff Asubahs Arm, entwand ihr die Puppe und warf sie beiseite.

»Nein!«, rief sie mit dünner, verzweifelter Stimme. Ihre erste Äußerung. Sie riss sich abermals los und stürzte vor. Sie sprang den Krieger an, schlang ihm die Beine um die Hüfte. Mit Zähnen und Klauen fiel sie über sein Gesicht her und warf ihn zu Boden.

Zwei Männer eilten ihm zu Hilfe. Sie rissen das tobende Mädchen von ihm weg und hielten es fest.

»Bringt sie zum Sarkophag!«, befahl der Anführer.

Die beiden Männer, die sie festhielten, zögerten. Offenbar schreckten sie davor zurück, dem Befehl nachzukommen. Das Kind wand sich in ihrem Griff.

Eleasar begriff, dass ihre Panik nicht von den Männern ausgelöst wurde. Sie sah zur Puppe, die man ihr weggenommen hatte.

Er hob die zerlumpte Puppe auf und hielt sie ihr vors blutige Gesicht. Als sie noch jünger war, hatte die Puppe sie häufig beruhigt. Er schob die Erinnerung daran beiseite, wie sie mit ihren lachenden Schwestern und der Puppe im strahlenden Sonnenschein gespielt hatte. Das Spielzeug zitterte in seiner Hand.

Ihr Blick wurde flehentlich, und ihr Widerstand erlahmte. Sie machte einen Arm los und griff nach der Puppe.

Als sie sie berührte, erschlaffte sie schicksalsergeben und fand sich damit ab, dass es kein Entkommen für sie gab. Sie klammerte sich an ihren einzigen Trost wie damals als unschuldiges Kind, als die Puppe ihre Gefährtin gewesen war. Sie wollte nicht allein ins Dunkel eintreten. Sie hob die Puppe an ihr Gesicht und drückte ihr Näschen dagegen, ein Sinnbild kindlicher Trostbedürftigkeit.

Er bedeutete den Männern zurückzutreten und hob das Mädchen hoch. Er schloss den kalten Körper in die Arme, und Asubah schmiegte sich an ihn wie früher. Er betete um die Stärke zu tun, was getan werden musste.

Der Steinblock in seiner freien Hand gemahnte ihn an sein Gelöbnis.

An der Seite stimmte der Anführer die Gebete an, die das Opfer oben auf dem Berg mit dem hier unten verknüpften, mit uralten Beschwörungen, heiligen Worten und indem er hin und wieder eine Prise Räucherwerk in die kleinen Feuer warf. Droben auf dem Berg nahmen sich die Aufständischen das Leben, während die Römer die Tore stürmten.

Das tragische Blutopfer würde die Schuld aufwiegen, die sie hier auf sich luden. Den Steinblock in der Hand, trug Eleasar das Mädchen die wenigen Stufen zum offenen Sarkophag hoch. Er war bereits bis zum Rand mit schimmernder Flüssigkeit gefüllt – das Mikwe, ein Ritual, ein Läuterungsbad.

Doch anstatt mit geweihtem Wasser war der Sarkophag mit Wein gefüllt.

Auf dem Boden lagen leere Tonkrüge.

Als er vor dem Sarkophag stand, blickte er in dessen dunkle Tiefe. Der Fackelschein verwandelte den Wein in Blut.

Asubah barg das Gesicht an seiner Brust. Er schluckte seinen bitteren Kummer hinunter.

»Tu es jetzt«, befahl der Anführer.

Er drückte das kleine Mädchen ein letztes Mal an sich und spürte, wie es aufschluchzte. Sein Blick ging zum dunklen Ausgang. Er könnte ihren Körper immer noch retten, jedoch um den Preis der Verdammnis für ihre und seine Seele. Dieser furchtbare Akt war die einzige Möglichkeit, sie wahrhaft zu retten.

Der ranghöchste Krieger nahm Eleasar das Mädchen ab und hielt es über das steinerne Behältnis. Asubah presste die Puppe an ihre Brust, Entsetzen lag in ihrer Miene, als er sie auf den Wein hinabsenkte. Auf einmal hielt er inne. Er suchte Eleasars Blick. Der streckte die Hand zu ihr aus, zog sie zurück.

»Gesegnet sei der Herr, unser Gott im Himmel«, psalmodierte der Anführer.

Über ihnen verstummte der Gesang. Asubah neigte den Kopf, als hätte auch sie es bemerkt. Eleasar stellte sich vor, wie das Blut im Sand versickerte und ins Innere des Bergs kroch. Es musste jetzt geschehen. Das Sterben war der letzte düstere Akt, der das Ritual besiegelte.

»Eleasar«, sagte der Anführer. »Es ist Zeit.«

Eleasar hielt den kostbaren Steinblock vor sich, dessen heiliges Geheimnis die einzige Kraft darstellte, die ihn vorwärtstrieb. Das Gewicht des Steins nahm er nicht wahr. Sein Herz hielt ihn einen Moment lang zurück.

»Es muss geschehen«, sagte der Anführer leise.

Aus Angst, die Stimme könnte ihm versagen, verzichtete Eleasar auf eine Erwiderung. Er näherte sich dem Mädchen.

Der Anführer ließ sie in den Wein sinken. Sie wand sich in der dunklen Flüssigkeit, krallte ihre kleinen Finger um die steinernen Wände ihres Sargs. Roter Wein schwappte über den Rand und ergoss sich auf den Boden. Ihre Augen flehten ihn an, als er ihr den Steinblock auf die schmale Brust legte – und sich vorbeugte. Das Gewicht des Steins und seine starken, zitternden Arme drückten das Kind tief ins Weinbad hinab.

Sie wehrte sich nicht mehr, presste nur die Puppe an ihre Brust. Sie lag so still da, als wäre sie schon tot. Ihre Lippen bewegten sich lautlos, formten Worte, die verschwanden, als ihr kleines Gesicht versank.

Wie lauteten ihre letzten Worte?

Diese Frage würde ihn bis ans Ende seiner Tage quälen.

»Vergib mir«, sagte er mit tränenerstickter Stimme. »Und vergib auch ihr.«

Der Wein tränkte die Ärmel seines Umhangs, versengte ihm die Haut. Er hielt ihre reglose Gestalt fest, bis die Gebete ihres Anführers verstummten. Es dauerte eine scheinbare Ewigkeit.

Schließlich ließ er sie los und richtete sich auf. Asubah blieb am Boden des Sarkophags liegen, niedergehalten vom Gewicht des heiligen Steins, der auf ewig ihr verfluchter Wächter sein würde. Er betete darum, dass diese Tat sie läutern werde, eine ewige Buße für die Verderbnis ihrer Seele.

Meine kleine Asubah …

Er sank gegen den Sarkophag.

»Verschließt ihn«, befahl der Anführer.

Eine Sandsteinplatte wurde an Seilen herabgesenkt und rastete knirschend ein. Männer versiegelten die Ränder der Platte mit einer Paste aus Asche und Kalk, damit Stein sich mit Stein verband.

Eleasar legte die Handflächen auf die Wand ihres Gefängnisses, als könnte er sie mit der Berührung trösten. Für Trost aber war sie nicht mehr empfänglich.

Er legte die Stirn an den unnachgiebigen Stein. Es war die einzige Möglichkeit gewesen. Die Tat diente einem höheren Zweck. Aber diese Wahrheiten linderten nicht seinen Schmerz. Oder ihren.

»Kommt«, sagte der Anführer. »Was getan werden musste, ist vollbracht.«

Eleasar sog rasselnd die verqualmte Luft ein. Die Krieger husteten und schlurften zum Ausgang. Er war allein mit dem nassen Grab.

»Du kannst hier nicht bleiben!«, rief der Anführer vom Ausgang aus. »Dein Weg ist ein anderer.«

Er taumelte der Stimme entgegen, geblendet von seinen Tränen. Wenn sie gegangen waren, würde die Gruft verschlossen, der Gang versiegelt werden. Kein Mensch würde sich ihrer mehr erinnern. Alle, die es wagten, sich ihr zu nähern, wären todgeweiht.

Er bemerkte, dass der Blick des Anführers auf ihm ruhte.

»Bedauerst du dein Gelöbnis?«, fragte der Mann. Mitgefühl schwang in seiner Stimme mit, aber auch unnachgiebige Entschlossenheit. Diese Härte war der Grund, weshalb Christus ihren Anführer Petrus getauft hatte, was »Fels« bedeutete. Er war der Apostel, auf dem die neue Kirche gründen würde.

Eleasar erwiderte seinen steinharten Blick. »Nein, Petrus, das tue ich nicht.«

TEIL 1

Er schaut die Erde an, so bebt sie; er rührt die Berge an, so rauchen sie.

Psalm 104,32

1

26. Oktober, 10:33, Israelische StandardzeitCaesarea, Israel

DR. ERIN GRANGER fuhr mit ihrem weichsten Pinsel über den alten Schädel. Als der Staub entfernt war, betrachtete sie ihn mit den Augen einer Wissenschaftlerin, registrierte die feinen Knochennähte, die offene Fontanelle. Unter Berücksichtigung des Knorpelgewebes war dies der Schädel eines Neugeborenen, und der Winkel des Beckenknochens ließ darauf schließen, dass es sich um einen Jungen handelte.

Er muss wenige Tage alt gewesen sein, als er starb.

Als sie das Kind von Erdreich und Steinen befreite, betrachtete sie es auch mit den Augen einer Frau und stellte sich den kleinen, auf der Seite liegenden Jungen vor, die Knie an die Brust gezogen, die Händchen zu Fäusten geballt. Hatten seine Eltern seine Herzschläge gezählt, hatten sie seine unglaublich zarte Haut geküsst, waren sie zugegen gewesen, als das kleine Herz zu schlagen aufgehört hatte?

So wie sie damals bei ihrer kleinen Schwester.

Sie kniff die Augen zu, der Pinsel verharrte in der Schwebe.

Hör auf damit.

Sie öffnete die Augen und streifte sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht, die aus dem straffen Pferdeschwanz entschlüpft war, dann konzentrierte sie sich wieder auf die Gebeine. Sie wollte herausfinden, was vor vielen Hundert Jahren geschehen war. Denn wie ihre Schwester war auch dieses Kind keines natürlichen Todes gestorben. Allerdings war der Junge durch Gewalteinwirkung gestorben, nicht aufgrund von Vernachlässigung. Sie arbeitete weiter, registrierte die absichtsvolle Anordnung der Gliedmaßen. Jemand hatte sich Mühe gegeben, den Leichnam vor der Bestattung möglichst gut wiederherzustellen, was ihm wegen der gebrochenen und fehlenden Knochen, die auf verübte Grausamkeiten schließen ließen, jedoch nur bedingt gelungen war. Nicht einmal zweitausend Jahre vermochten das Verbrechen auszulöschen.

Sie legte den Pinsel mit dem Holzgriff beiseite und machte noch ein Foto. Im Laufe der Zeit hatten die Gebeine die gleiche helle Sepiafarbe angenommen wie das Erdreich, das kein Vergessen kannte, doch bei ihrer sorgfältigen Ausgrabung war die Anordnung zum Vorschein gekommen. Allerdings würde es noch Stunden dauern, bis der Rest der Gebeine freigelegt wäre.

Sie verlagerte das Gewicht von einem schmerzenden Knie aufs andere. Mit ihren zweiunddreißig Jahren war sie noch nicht alt, doch im Moment fühlte sie sich so. Sie war erst seit einer Stunde im Graben, und schon protestierten ihre Knie. Als Kind hatte sie beim Gebet viel länger auf dem harten Erdboden der Lagerkirche ausgeharrt. Wenn ihr Vater es verlangte, konnte sie eine halbe Stunde lang knien, ohne zu klagen, doch nachdem sie all die Jahre versucht hatte, ihre Vergangenheit zu vergessen, trog vielleicht die Erinnerung.

Sie richtete sich mühsam auf und streckte sich, schaute über den Rand des hüfthohen Grabens. Kühler Meereswind liebkoste ihr erhitztes Gesicht, verscheuchte die Erinnerungen. Zu ihrer Linken spielte der Wind mit den Zeltklappen und wehte Sand über die Ausgrabungsstätte.

Sie wurde vom Staub geblendet, bis sie ihn fortgeblinzelt hatte. Der Sand drang hier überall ein. Tag für Tag wechselte ihre Haarfarbe von blond zum rötlichen Grau der israelischen Wüste. Ihre Socken scheuerten in den Converse-Turnschuhen wie Schmirgelpapier, der Dreck sammelte sich unter ihren Fingernägeln, und der Sand knirschte zwischen ihren Zähnen.

Als sie jedoch über das gelbe Plastikband hinwegschaute, mit dem die archäologische Ausgrabungsstätte abgesperrt war, spielte ein Lächeln um ihre Lippen, und sie war froh, dass ihre Schuhe auf geschichtsträchtigem Boden standen. Ihre Ausgrabung nahm die Mitte des alten Hippodroms ein, in dem einmal Wagenrennen stattgefunden hatten. Es grenzte ans Mittelmeer. Das Wasser leuchtete indigofarben, die unbarmherzige Sonne verlieh ihm einen unwirklichen metallischen Glanz. Hinter ihr reihten sich steinerne Sitzreihen, die Zeugnis ablegten vom Wirken eines Königs, des Erbauers der Stadt Caesarea: dem berüchtigten König Herodes, der unschuldige Kinder grausam hatte ermorden lassen.

Das Wiehern eines Pferds war zu hören. Es war kein Echo der Vergangenheit, sondern kam aus einem Stall, den man am anderen Ende des Hippodroms errichtet hatte. Eine Gruppe Einheimischer bereitete ein Einladungsturnier vor. Schon bald würde das Hippodrom wiederauferstehen und zu neuem Leben erwachen, wenn auch nur für einige wenige Tage.

Sie konnte es kaum erwarten.

Bis dahin aber gab es für sie und ihre Studenten noch viel zu tun. Die Arme in die Hüfte gestemmt, blickte sie auf den Schädel des ermordeten Kindes. Vielleicht würde sie im Laufe des Tages das kleine Skelett mit Gips ummanteln und den schwierigen Vorgang in Angriff nehmen, es aus dem Erdreich zu lösen. Sie sehnte sich danach, ins Labor zurückzukehren und mit der Analyse zu beginnen. Die Gebeine hatten mehr zu erzählen, als sie vor Ort jemals herausfinden könnte. Sie kniete neben dem Kind nieder. Am Oberschenkelknochen war ihr etwas aufgefallen. Er wies muschelförmige Einkerbungen auf. Als sie sich hinunterbeugte, lief ihr ein Schauder über den Rücken.

Waren das Zahnabdrücke?

»Professor?« Nate Highsmith’ nasaler Texasslang störte ihre Konzentration.

Sie fuhr zusammen und stieß mit dem Ellbogen gegen die Holzbretter der Verschalung, die verhinderte, dass Sand in den Graben rieselte.

»Entschuldigung.« Ihr Doktorand zog den Kopf ein.

Sie hatte strikte Anweisung gegeben, sie heute Morgen nicht zu stören, und schon war es passiert. Sie musste sich beherrschen, um ihn nicht anzufahren. Sie hob die zerbeulte Feldflasche auf und trank einen großen Schluck lauwarmes Wasser. Es schmeckte wie rostfreier Stahl.

»Ist ja nichts passiert«, sagte sie steif.

Sie beschirmte die Augen mit der freien Hand und schaute blinzelnd zu ihm hoch. Er stand am Rand des Grabens, ein dunkler Umriss vor der sengenden Sonne. Er hatte sich den Stetson tief in die Stirn geschoben und trug eine zerschlissene Jeans und ein ausgebleichtes kariertes Hemd. Die Ärmel hatte er aufgekrempelt, sodass man seine muskulösen Arme sah. Damit wollte er sie vermutlich beeindrucken. Natürlich war es zwecklos. Nachdem sie jahrelang ganz in ihrer Arbeit aufgegangen war, interessierte sie sich nur für solche Männer, die seit Jahrhunderten tot waren.

Sie blickte demonstrativ zu einem unauffälligen Flecken mit Sand und Steinen hinüber. Das Bodenradar, das mehr Ähnlichkeit mit einem sandgestrahlten Rasenmäher als mit einem Hightech-Instrument zur Erkundung von Erd- und Gesteinsschichten hatte, war unbesetzt.

»Wieso machen Sie nicht mit der Kartierung des Quadranten weiter?«

»Hab ich gemacht, Doc.« Sein Dialekt wurde breiter wie immer, wenn er aufgeregt war. Dann hob er auch noch eine Augenbraue.

Er hat etwas gefunden.

»Was gibt’s?«

»Sie würden’s mir nicht glauben, wenn ich’s Ihnen sage.« Nate wippte auf den Fußballen, bereit loszurennen, um ihr seine Entdeckung zu zeigen.

Sie lächelte, denn er hatte recht. Was es auch war, sie würde es erst dann glauben, wenn sie es mit eigenen Augen gesehen hatte. Das war das Mantra, das sie ihren Studenten einhämmerte: Es ist erst dann real, wenn ihr es ausgebuddelt habt und in Händen haltet. Zum Schutz vor dem Sand und aus Respekt vor den Gebeinen des Kindes deckte sie die Ausgrabung sorgfältig mit einer Plane ab. Als sie fertig war, reichte Nate ihr die Hand und half ihr aus dem tiefen Graben. Wie erwartet, hielt er ihre Hand einen Moment zu lange fest.

Sie versuchte, sich ihre Verärgerung nicht anmerken zu lassen, und klopfte sich den Staub von der Jeans. Nate trat einen Schritt zurück und wandte den Blick ab. Vielleicht war ihm bewusst, dass er zu weit gegangen war. Sie verkniff sich einen Tadel. Welchen Sinn hätte es gehabt? Sie war nicht unempfänglich für die Avancen von Männern, aber sie ermutigte sie nicht dazu, schon gar nicht bei der Arbeit vor Ort. Hier trug sie den Schmutz wie andere Frauen ihr Make-up und vermied romantische Verwicklungen. Sie war nur durchschnittlich groß, doch man sagte von ihr, dass sie so auftrete, als wäre sie einen Kopf größer. In diesem Beruf war das notwendig, zumal für eine junge Frau.

Dabei hatte sie einige Beziehungen gehabt, aber sie hatten nicht lange gehalten. Irgendwann fanden die Männer sie einschüchternd – die meisten schreckte das ab, andere fanden es merkwürdigerweise anziehend.

Wie zum Beispiel Nate.

Jedenfalls schlug er sich gut bei der Ausgrabungsarbeit und hatte ein großes Potenzial als Geophysiker. Er würde über sie hinwegkommen, die Dinge würden von allein wieder ins Lot kommen.

»Zeigen Sie es mir.« Sie wandte sich zum khakifarbenen Ausrüstungszelt. Immerhin würde es guttun, aus der sengenden Sonne hinauszukommen.

»Amy hat die Messung auf ihrem Laptop.« Im Sturmschritt eilte er übers Ausgrabungsgelände. »Ein Volltreffer, Professor. Wir sind da auf einen richtig dicken Knochen gestoßen.«

Sie verkniff sich ein Lächeln und bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten. Sie bewunderte seine Leidenschaft, aber wie im richtigen Leben war der Erfolg auch in der Archäologie meist kein Glückstreffer, sondern das Ergebnis harter Arbeit. Manchmal bedurfte es jahrzehntelanger Vorarbeit. Sie duckte sich unter der Zeltklappe hindurch und hielt sie Nate auf, der beim Eintreten den Hut abnahm. Hier im Schatten war es gefühlt mehrere Grad kühler als draußen in der prallen Sonne.

Ein summender Generator versorgte den Laptop und einen klapprigen Ventilator mit Strom. Der Luftstrom des Ventilators war auf Amy gerichtet, eine dreiundzwanzigjährige Doktorandin aus Columbia. Die dunkelhaarige junge Frau verbrachte mehr Zeit im Zelt als draußen. Auf ihrem Schreibtisch stand eine Dose Cola light, besetzt mit Wassertropfen. Amy war ein wenig übergewichtig und aus dem Leim gegangen, denn sie hatte es versäumt, sich in jahrelanger archäologischer Feldarbeit in der prallen Sonne abzuhärten. Wenn es um Technik ging, hatte sie freilich noch immer ein gutes Händchen. Amy machte mit einer Hand eine Eingabe auf dem Laptop und forderte Erin mit der anderen auf, näher zu treten.

»Professor Granger, das werden Sie nicht glauben.«

»Das höre ich jetzt schon zum zweiten Mal.«

Ihr dritter Student war ebenfalls im Zelt. Offenbar hatten alle die Arbeit eingestellt, um sich Nates Entdeckung anzuschauen. Heinrich blickte Amy über die Schulter. Er war ein vierundzwanzigjähriger Student der Freien Universität Berlin und von unerschütterlicher Gelassenheit. Normalerweise ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen. Dass er seine Arbeit im Stich gelassen hatte, deutete auf eine wichtige Entdeckung hin.

Amy wandte ihre braunen Augen nicht vom Display ab. »Die Software arbeitet noch an der Vergrößerung, aber ich habe mir gedacht, Sie würden es trotzdem gleich sehen wollen.«

Erin zog ein Tuch hinter ihrem Gürtel hervor und wischte sich Staub und Schweiß vom Gesicht. »Amy, bevor ich’s vergesse, am Skelett des Kindes, das ich gerade freilege, sind mir ungewöhnliche Kerben aufgefallen. Es wäre nett, wenn Sie die fotografieren würden.«

Amy nickte, doch Erin hatte den Verdacht, dass sie kein Wort verstanden hatte.

Nate spielte mit seinem Stetson.

Was hatten sie entdeckt?

Erin trat neben Heinrich. Amy lehnte sich auf ihrem Klappstuhl zurück, sodass Erin freie Sicht auf das Display hatte.

Auf dem Laptop wurden Schichtaufnahmen des Bodens angezeigt, den Nate an diesem Morgen untersucht hatte. Jedes Bild gab eine andere Schicht des Quadranten 8 wieder, angeordnet nach Tiefe. Die Bilder glichen rechteckigen grauen Schlammpfützen, überlagert mit parabelförmigen schwarzen Linien, die an Wellenmuster erinnerten. Die schwarzen Linien stellten festes Material dar.

Erin klopfte das Herz bis zum Hals. Ungläubig beugte sie sich weiter vor.

In dieser Pfütze gab es viel zu viele Wellen. Bei ihrer zehnjährigen Ausgrabungstätigkeit hatte sie noch nichts Vergleichbares gesehen. Das hatte es noch nie gegeben. Das kann nicht sein.

Sie fuhr mit dem Finger auf dem glatten Bildschirm einer Kurve nach, ohne sich daran zu stören, dass Amy missbilligend die Lippen zusammenpresste. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn jemand ihr Display verschmierte, doch Erin musste sich mittels Berührung vergewissern. Voller Anspannung und Hoffnung sagte sie: »Nate, wie groß ist der Bereich, den Sie gescannt haben?«

Kein Zögern. »Zehn Quadratmeter.«

Sie warf einen Blick auf sein ernstes Gesicht. »Nur zehn? Sind Sie sicher?«

»Sie haben mich selbst am Bodenradar ausgebildet, erinnern Sie sich noch?« Er legte den Kopf schief. »Ausgesprochen gründlich.«

Erin ließ nicht locker. »Und Sie haben die Signale verstärkt?«

»Ja, Professor.« Er seufzte. »Auf höchste Stufe.«

Sie spürte, dass sie ihn dadurch, dass sie seine Fähigkeiten in Zweifel zog, verletzt hatte, aber sie musste sichergehen. Sie vertraute den Geräten, aber nicht immer den Menschen, die sie bedienten.

»Ich habe alles richtig gemacht.« Nate beugte sich vor. »Und ehe Sie fragen, die Signatur ist exakt die gleiche wie bei dem Skelett, das Sie gerade freilegen.«

Exakt die gleiche? Dann war die Schicht zweitausend Jahre alt. Sie blickte wieder auf die faszinierenden Bilder. Wenn die Daten stimmten, was sie noch überprüfen würde, markierte jede Parabel einen menschlichen Schädel.

»Ich habe eine grobe Zählung vorgenommen«, unterbrach Nate ihre Gedanken. »Es sind mehr als fünfhundert. Keiner misst mehr als zehn Zentimeter im Durchmesser.«

Zehn Zentimeter …

Das waren keine gewöhnlichen Schädel … das waren Säuglingsschädel.

Hunderte von Säuglingen.

Im Geiste rezitierte sie die entsprechende Bibelstelle: Matthäus 2,16. Als Herodes merkte, dass ihn die Sterndeuter getäuscht hatten, wurde er sehr zornig und er ließ in Bethlehem und der ganzen Umgebung alle Knaben bis zum Alter von zwei Jahren töten, genau der Zeit entsprechend, die er von den Sterndeutern erfahren hatte.

Das Massaker an den unschuldigen Kindern. Der Sage nach hatte Herodes es angeordnet, um sicherzustellen, dass das Kind getötet würde, von dem er fürchtete, es könnte eines Tages seine Stelle als König der Juden einnehmen. Doch es war ihm nicht gelungen. Die Eltern hatten das Kind nach Ägypten gebracht, wo es zu dem Mann heranwuchs, den man Jesus Christus nennen würde.

Hatte ihr Team den tragischen Beweis für Herodes’ Untat entdeckt?

2

26. Oktober, 13:03, Israelische StandardzeitMasada, Israel

DER SCHWEISS BRANNTE Tommy in den Augen. Augenbrauen wären ihm jetzt recht gewesen.

Nochmals danke, Chemo.

Er ließ sich gegen einen Stein sinken. Alle Steine auf dem steilen Pfad sahen gleich aus und waren zu heiß, um sich darauf zu setzen. Er schob die Windjacke unter seine Beine, eine Schutzschicht zwischen seiner Hose und dem glühend heißen Stein. Wie gewöhnlich hielt er die Gruppe auf, weil er zu schwach war, um ohne Pause auszukommen.

Er rang nach Atem. Die erhitzte Luft schmeckte dünn und trocken. Enthielt sie überhaupt genug Sauerstoff? Die anderen Kletterer kamen anscheinend damit zurecht. Sie rannten praktisch die Serpentinen hoch, als wäre er der Opa und sie die vierzehnjährigen Enkel. Er hörte nicht einmal mehr ihre Stimmen.

Der steinige Weg – genannt Schlangenpfad – wand sich die steilen Hänge des berühmten Tafelbergs hoch. Der Gipfel mit der alten jüdischen Festung lag nur noch wenige Meter über ihm. Von seiner erhöhten Position aus musterte Tommy das ausgedörrte rotbraune Jordantal.

Er wischte sich den Schweiß aus den Augen. Tommy stammte aus dem Orange County und hatte geglaubt, er wisse, was Hitze sei. Hier aber hatte er das Gefühl, geradewegs in einen Backofen zu klettern.

Der Kopf sank ihm nach vorn. Er wollte schlafen, wollte wieder die kühlen Hotellaken an der Wange spüren und in dem klimatisierten Zimmer ausgiebig schlummern. Wenn er sich hinterher besser fühlte, würde er sich ein Computerspiel vornehmen.

Unvermittelt wurde er wach. Das war kein guter Moment zum Tagträumen. Doch er war so müde und die Wüste so still. Anders als die Menschen waren die Tiere und Käfer so klug, sich tagsüber zu verstecken. Eine unermessliche leere Stille verschluckte ihn. Würde so der Tod sein?

»Wie fühlst du dich, Schatz?«, fragte seine Mutter.

Er schreckte zusammen. Weshalb hatte er sie nicht näher kommen gehört? War er wieder eingeschlafen? »Gut«, presste er hervor.

Sie biss sich auf die Lippen. Alle wussten, dass es ihm nicht gut ging. Er schob den Ärmel über das neue kaffeebraune Melanom, das sein Handgelenk entstellte.

»Wir können so lange warten, bis du dich erholt hast.« Sie ließ sich neben ihm nieder. »Ich wüsste gern, weshalb man den Weg Schlangenpfad nennt. Bis jetzt habe ich noch keine einzige Schlange gesehen.« Dabei blickte sie auf sein Kinn.

Seine Eltern stellten in letzter Zeit selten Augenkontakt zu ihm her. Wenn doch, dann weinten sie. So war es die ganzen letzten zwei Jahre über gewesen, die ausgefüllt waren mit Operationen, Chemotherapie und Bestrahlungen. Und jetzt, da er einen Rückfall hatte, war es so geblieben. Vielleicht würden sie ihm erst dann wieder ins Gesicht sehen, wenn er im Sarg lag.

»Zu heiß für Schlangen.« Seine atemlose Stimme war ihm zuwider.

»Dann gäbe es Schlangensteaks.« Sie nahm einen tiefen Schluck aus ihrer Wasserflasche. »Gut durchgebraten, fertig zum Verzehr. Genau wie wir.«

Sein Vater kam herangetrabt. »Alles in Ordnung?«

»Ich raste gerade«, sagte seine Mutter, um Tommy in Schutz zu nehmen. Sie befeuchtete ihr Taschentuch und reichte es ihrem Sohn. »Ich bin müde geworden.«

Tommy hätte ihr gern widersprochen und die Sache richtiggestellt, doch er war zu erschöpft. Er wischte sich mit dem Tuch das Gesicht ab. Sein Vater begann zu plappern wie immer, wenn er nervös war. »Es ist nicht mehr weit. Nur noch ein paar Meter, dann sehen wir die Festung. Die historische Festung von Masada. Stellt euch das mal vor.«

Tommy schloss folgsam die Augen. Er stellte sich einen Swimmingpool vor. Blau und kühl.

»Zehntausend römische Soldaten haben ringsumher in Zelten gelagert. Soldaten mit Schwert und Schild haben in der Sonne gewartet. Sie haben alle Fluchtrouten blockiert, um die neunhundert Männer, Frauen und Kinder dort oben auf dem Plateau auszuhungern.« Vor lauter Begeisterung redete sein Vater immer schneller. »Aber die Rebellen haben ausgeharrt bis zuletzt. Sogar darüber hinaus. Sie haben nicht aufgegeben.«

Tommy schob den Hut auf seinem kahlen Schädel vor und sah blinzelnd zu ihm auf. »Am Ende haben sie das Handtuch geschmissen, Dad.«

»Nein«, widersprach sein Vater leidenschaftlich. »Die Juden haben sich dafür entschieden, als freie Menschen zu sterben, anstatt sich den Römern auf Gedeih und Verderb auszuliefern. Ihr Tod war keine Niederlage. Sie haben ihr Schicksal selbst gewählt. Von Entscheidungen wie dieser hängt es ab, was für ein Mensch man ist.«

Tommy hob einen heißen Stein auf und schleuderte ihn den Pfad hinunter. Er prallte auf, dann flog er über den Rand. Wie würde sich sein Vater verhalten, wenn sein Sohn sein Schicksal selbst wählte? Wenn er sich das Leben nahm, weil er nicht mehr der Sklave des Krebses sein wollte. Vermutlich würde er dann weniger stolz herumtönen. Er betrachtete das Gesicht seines Vaters. Häufig hatte es geheißen, sie seien einander ähnlich: das gleiche dichte schwarze Haar, das gleiche freundliche Lächeln. Seit die Chemo ihm die Haare geraubt hatte, war davon keine Rede mehr. Er fragte sich, ob er ihm als Erwachsener wohl ähnlich gewesen wäre.

Seine Mutter funkelte seinen Vater böse an. »Wir können warten.«

»Ich habe nicht gesagt, wir müssen nach oben«, meinte sein Vater. »Ich habe nur gefragt …«

»Schon gut.« Tommy stand auf, um dem Gezanke seiner Eltern ein Ende zu machen. Den Blick auf den Pfad gerichtet, schleppte er sich weiter. Setzte einen braunen Wanderstiefel vor den anderen. Bald würde er oben sein, und seine Eltern könnten den Augenblick des Triumphs mit ihm zusammen genießen. Er hatte sich nur deshalb zu diesem Ausflug, diesem mühseligen Aufstieg, breitschlagen lassen, damit sie eine Erinnerung hätten. Sie wollten es nicht wahrhaben, doch sie würden nicht mehr viele Erinnerungen mit ihm sammeln. Er wollte, dass es schöne Erinnerungen wären.

Er zählte seine Schritte. So brachte man unangenehme Dinge hinter sich. Man zählte. Hatte man »eins« gesagt, wusste man, dass darauf »zwei« folgte, und dann kam »drei«. Er zählte bis achtundzwanzig, dann wurde der Weg eben.

Er hatte den Gipfel erreicht. Zwar fühlten sich seine Lungenflügel an wie brennende Papiertüten, doch er war froh, dass er durchgehalten hatte.

Auf dem Plateau stand ein Holzpavillon – wenngleich die Bezeichnung Pavillon für die vier Baumstämmchen, die als Stützen für ein Dach aus weiteren Stämmchen dienten, die durchbrochenen Schatten spendeten, ein wenig übertrieben schien. Immerhin war es besser als die pralle Sonne.

Ringsumher lag die Wüste. In ihrer Kargheit lag eine eigenartige Schönheit. Bräunliche Dünen wogten, so weit das Auge reichte. Sand lappte an Steine. Im Laufe von Jahrtausenden hatte die Winderosion die Felsen zu Staub zermahlen.

Keine Menschen, keine Tiere. Hatte sich den Verteidigern der gleiche Anblick geboten, bevor die Römer aufgetaucht waren?

Eine mörderische Wüste.

Er wandte sich um und musterte das Plateau, auf dem vor zweitausend Jahren das Blutvergießen stattgefunden hatte. Eine ebene Fläche, die etwa fünf Footballfelder in der Länge und drei in der Breite maß, darauf stand ein halbes Dutzend verfallener Steinbauten.

Und dafür die ganze Anstrengung?

Auch seine Mutter wirkte enttäuscht. Sie streifte sich das lockige braune Haar aus den Augen, ihr Gesicht war von der Sonne oder der Anstrengung gerötet. »Das sieht eher wie ein Gefängnis aus als wie eine Festung.«

»Das war auch ein Gefängnis«, meinte sein Vater. »Ein Todestrakt. Hier kam niemand lebend raus.«

»Niemand kommt jemals mit dem Leben davon.« Tommy bedauerte seine Bemerkung sogleich. Seine Mutter wandte sich ab und fuhr mit dem Finger hinter die Sonnenbrille, um sich die Tränen abzuwischen. Trotz allem war er froh, dass sie echte Gefühle zeigte, anstatt ständig nur drum herumzureden.

Die Fremdenführerin kam herbeigeeilt und rettete sie aus der Verlegenheit. Sie trug khakifarbene Shorts, die ihre langen Beine zur Geltung brachten, und hatte langes schwarzes Haar. Der Aufstieg hatte sie kaum angestrengt. »Schön, dass Sie’s geschafft haben.« Sie hatte einen erotischen israelischen Akzent.

Er lächelte sie an, erfreut über die Ablenkung. »Danke.«

»Wie ich eben schon sagte, der Name Masada kommt von dem Wort metzuda, das bedeutete ›Festung‹. Hier sieht man den Grund.« Sie schwenkte den Arm über das Plateau. »Die Kasematten, die die Festung geschützt haben, bestanden ursprünglich aus zwei hintereinander angeordneten Mauern. Dazwischen lagen die Häuser der Bewohner von Masada. Vor uns befindet sich der Westpalast, das größte Bauwerk von Masada.«

Tommy riss den Blick von ihren Lippen los und schaute in die Richtung, in die sie zeigte. Das große Gebäude hatte keinerlei Ähnlichkeit mit einem Palast. Es war eine Ruine. An vielen Stellen fehlten die alten Steinmauern, dort ragten moderne Gerüste auf. Es sah aus wie ein halb fertiges Set für die nächste Indiana-Jones-Folge.

Hinter den Gerüsten musste die Geschichte versteckt sein, doch er nahm sie nicht wahr. Er hätte sie gern gespürt. Geschichte bedeutete seinem Vater viel, und das galt eigentlich auch für ihn, doch seit seiner Krebserkrankung war er aus der Zeit und aus der Geschichte gefallen. In seinem Kopf war kein Platz für die Tragödien anderer Menschen, zumal dann, wenn sie schon seit Jahrtausenden tot waren.

»Beim nächsten Gebäude handelt es sich vermutlich um ein Badehaus«, sagte die Fremdenführerin und deutete auf ein Gebäude zur Linken. »Im Innern wurden drei Skelette gefunden, die Schädel waren vom Körper getrennt.«

Er merkte auf. Endlich wurde es interessant.

»Enthauptet?«, fragte er und trat näher. »Dann haben sie also Selbstmord begangen, indem sie sich eigenhändig den Kopf abgeschnitten haben?«

Die Fremdenführerin lächelte. »Die Soldaten haben mittels Los bestimmt, wer wen enthaupten musste. Nur der letzte Mann musste Selbstmord verüben.«

Tommy betrachtete finster die Ruinen. Dann hatten sie also eigenhändig ihre Kinder getötet, als es ernst wurde. Erstaunlicherweise verspürte er einen Anflug von Neid. Von der Hand eines geliebten Menschen zu sterben, war besser, als langsam vom Krebs zerfressen zu werden. Beschämt blickte er zu seinen Eltern. Seine Mutter fächelte sich mit dem Reiseführer Kühlung zu und lächelte ihn an, sein Vater machte ein Foto.

Nein, die brauchte er gar nicht erst zu fragen.

Frustriert wandte er sich wieder dem Badehaus zu. »Die Skelette … sind sie noch da drin?« Er trat vor, um durch das Metallgitter zu spähen. Die Fremdenführerin verstellte ihm mit ihrem stattlichen Busen den Weg. »Tut mir leid, junger Mann. Der Zutritt ist nicht gestattet.«

Er bemühte sich, nicht auf ihre Brüste zu starren, doch das misslang ihm kläglich.

Bevor er sich bewegen konnte, meldete sich seine Mutter zu Wort. »Wie fühlst du dich, Tommy?«

Hatte sie mitbekommen, dass er die Fremdenführerin so indiskret betrachtet hatte? Er errötete. »Ganz gut.«

»Bist du durstig? Möchtest du etwas trinken?« Sie streckte ihm die Wasserflasche entgegen.

»Nein, Mom.«

»Dann lass dir wenigstens das Gesicht mit Sonnencreme einschmieren.« Seine Mutter langte in ihre Handtasche. Normalerweise hätte er die Peinlichkeit über sich ergehen lassen, doch die Fremdenführerin schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, und auf einmal wollte er sich nicht wie ein Kleinkind behandeln lassen.

»Alles in Ordnung, Mom!«, erwiderte er in schrofferem Ton als beabsichtigt.

Seine Mutter zuckte zusammen. Die Fremdenführerin entfernte sich.

»Tut mir leid«, sagte er. »Hab’s nicht so gemeint.«

»Schon gut«, sagte sie. »Ich geh mal zu deinem Vater. Bleib ruhig noch hier.«

Schuldbewusst sah er ihr nach.

Er ging zum Badehaus, wütend auf sich selbst. Er lehnte sich gegen das Gitter, um hindurchzuspähen – da gab es dem Druck nach. Er wich zurück, doch zuvor war ihm in der Ecke des Raums etwas aufgefallen.

Etwas Weiches, Flatterndes, Helles wie zusammengeknülltes Papier. Seine Neugier war geweckt. Er blickte sich um. Niemand achtete auf ihn. Außerdem, wie hoch konnte die Strafe für unbefugtes Betreten sein? Was konnte ihm schon passieren? Würde ihn die hübsche Fremdenführerin am Kragen herauszerren?

Da hätte er nichts dagegen.

Er streckte den Kopf in den Raum und blickte zu der Stelle, wo er das Flattern wahrgenommen hatte.

Eine kleine weiße Taube humpelte über den Mosaikboden. Den linken Flügel zog sie nach und zeichnete mit den Federspitzen eine geheimnisvolle Botschaft in den Staub.

Das arme Ding …

Er musste sie herausholen. Da drinnen würde sie verdursten oder gefressen werden. Die Fremdenführerin kannte vielleicht eine Vogelrettungsstation, wo sie die Taube abgeben könnte. Seine Mutter hatte daheim in Kalifornien ehrenamtlich für eine solche Einrichtung gearbeitet, bevor seine Krebserkrankung ihr aller Leben aufgefressen hatte. Er schlüpfte durch die Lücke. Der Raum war kleiner als der Werkzeugschuppen seines Vaters. Es gab vier nackte Steinwände und ein verblasstes Bodenmosaik aus wahnsinnig kleinen Kacheln. Das Mosaik stellte acht staubig rote Herzen dar, kreisförmig angeordnet wie Blütenblätter. Daneben gab es eine Reihe dunkler blau-weißer Kacheln, die Meereswellen glichen, eine terrakottafarbene Umrandung und weiße Dreiecke, die ihn an Zähne erinnerten. Er versuchte, sich die Handwerker vorzustellen, die vor langer Zeit das Mosaik zusammengefügt hatten, doch davon würde er müde.

Er trat über die schattige Schwelle, erleichtert, die sengende Sonne einen Moment hinter sich zu lassen. Wie viele Menschen mochten hier gestorben sein? Ein Schauder lief ihm über den Rücken, als er sich vorstellte, wie es wohl abgelaufen war. Er stellte sich kniende Menschen vor – bestimmt hatten sie gekniet. Ein Mann in einem schmutzigen Leinengewand stand mit erhobenem Schwert hinter ihnen. Er hatte mit den jüngsten begonnen, und als er fertig war, hatte er kaum noch Kraft, die Arme zu heben, doch er schaffte es. Schließlich fiel auch er auf die Knie und wartete auf den schnellen Tod durch die Klinge seines Freundes. Und dann war es vorbei. Ihr Blut floss über die kleinen Mosaiksteine, sickerte in den Mörtel und sammelte sich in Lachen.

Tommy schüttelte die Bilder ab und schaute sich um. Keine Skelette.

Wahrscheinlich hatte man sie in ein Museum gebracht oder irgendwo begraben.

Der Vogel hielt mit seiner Wanderung inne und schaute zu Tommy hoch, erst mit dem einen Auge, dann mit dem anderen. Er musterte ihn. Seine Augen waren leuchtend grün wie Malachit. Einen Vogel mit grünen Augen hatte er noch nie gesehen.

Er kniete nieder und flüsterte kaum hörbar: »Komm her, Kleiner. Du brauchst keine Angst zu haben.« Der Vogel musterte ihn erneut mit beiden Augen – dann kam er näher gehüpft. Tommy streckte den Arm aus und nahm das verletzte Tier vorsichtig in die Hand. Als er sich mit dem warmen Körper in Händen aufrichtete, schwankte unter ihm der Boden. Er hatte Mühe, das Gleichgewicht zu wahren. War er benommen nach dem anstrengenden Aufstieg? Zwischen seinen Füßen huschte eine dünne schwarze Linie wie ein Lebewesen über das Mosaik.

Eine Schlange, war sein erster Gedanke.

Auf einmal hatte er Angst.

Die dunkle Linie aber verbreiterte sich und offenbarte etwas noch Schlimmeres. Das war keine Schlange, sondern ein Riss. Am einen Ende des Risses kräuselte orangefarbener Rauch empor, so dünn wie der Qualm einer brennenden Zigarette.

Der Vogel befreite sich auf einmal aus seinem Griff, breitete die Flügel aus und flog durch den Rauch zum Ausgang. Offenbar war er gar nicht verletzt gewesen. Es roch erstaunlich süß, mit einem Anflug dunklerer Gewürze, beinahe weihrauchartig.

Tommy runzelte die Stirn und beugte sich vor. Er hielt die Hand in den Rauch. Er stieg zwischen seinen Fingerspitzen empor und war nicht warm, sondern kalt, als käme er von einem kühlen Ort in der Tiefe.

Als er sich noch weiter vorbeugte, barst das Mosaik unter seinen Schuhen auf einmal wie Glas. Er sprang zurück. Kacheln rutschten in den Riss. Blaue, rotbraune, rote. Der Spalt verschluckte sie und wurde breiter.

Tommy wich rückwärts zum Eingang zurück. Rauchwolken, inzwischen orangerot, brodelten aus dem berstenden Mosaik hervor. Ein knirschendes Ächzen drang aus dem Innern des Bergs, und der ganze Raum erbebte.

Ein Erdbeben.

Er warf sich aus dem Eingang des Badehauses und landete auf dem Rücken. Vor ihm stürzte mit einer letzten heftigen Erschütterung das Gebäude ein, als hätte ein zorniger Gott dagegengeschlagen – dann verschwand es in der Erdspalte, die sich darunter aufgetan hatte.

In seiner Nähe verbreiterten sich die Risse. Er rutschte rückwärts. Die Erdspalte setzte ihm nach. Er richtete sich auf und wollte weglaufen, doch der Boden schwankte so heftig, dass er abermals stürzte.

Auf allen vieren kroch er weiter. An den scharfen Steinen zerschnitt er sich die Hände. Ringsumher stürzten Gebäude ein, Säulen krachten auf den Boden.

Lieber Gott, steh mir bei!

Staub und Rauch beschränkten die Sicht auf wenige Meter. Als er weiterkroch, sah er, wie ein Mann von den Trümmern einer einstürzenden Mauer begraben wurde. Zwei kreischende Frauen wurden von einer Erdspalte verschlungen.

»Tommy!«

Er kroch in die Richtung, aus der er die Stimme seiner Mutter gehört hatte. Vor ihm lichtete sich der Rauch. »Hier bin ich!«, sagte er und hustete.

Sein Vater kam auf ihn zugestürzt und riss ihn auf die Beine. Seine Mutter fasste ihn beim Ellbogen. Sie schleppten ihn zum Schlangenpfad, fort vom Ort der Zerstörung.

Er schaute zurück. Der Riss war noch breiter geworden und spaltete den Berg. Gesteinsbrocken lösten sich und stürzten rumpelnd zur Wüstenebene hinunter. Dunkler Rauch stieg in den grellblauen Himmel, als wollte er das Grauen bis in die sengende Sonne tragen.

Zusammen mit seinen Eltern stolperte er bergab. Doch so plötzlich es begonnen hatte, so unvermittelt hörte das Erdbeben auch wieder auf.

Seine Eltern erstarrten, als fürchteten sie, das Erdbeben könnte weitergehen, wenn sie sich bewegten. Sein Vater legte den Arm um ihn und seine Mutter. Vom Gipfel her waren Schreie zu vernehmen.

»Tommy?«, sagte seine Mutter mit zitternder Stimme. »Du blutest.«

»Ich habe mir die Hände zerschnitten«, erwiderte er. »Keine große Sache.«

Sein Vater ließ ihn los. Er hatte seinen Hut verloren und sich an der Wange geschnitten. Seine normalerweise tiefe Stimme klang gepresst. »Glaubst du, das waren Terroristen?«

»Ich habe keine Explosion gehört«, sagte seine Mutter und streichelte Tommy das Haar, als wäre er ein kleiner Junge.

Ausnahmsweise hatte er nichts dagegen.

Die schwärzlich rote Rauchwolke trieb ihnen entgegen, als wollte sie sie von der Felswand verscheuchen.

Sein Vater nahm sich das zu Herzen und zeigte auf den steilen Pfad. »Gehen wir. Der Rauch ist vielleicht giftig.«

»Ich hab ihn eingeatmet«, erklärte Tommy, der an Ort und Stelle verharrte. »Der ist ungefährlich.«

Eine Frau kam aus dem Rauch hervorgelaufen. Sie hatte sich an den Hals gefasst und rannte, ohne etwas zu sehen. Ihre Augenlider waren voller Blasen und bluteten. Nach wenigen Schritten fiel sie der Länge nach hin und rührte sich nicht mehr.

»Lauf!«, rief sein Vater und schob Tommy vor sich her. »Beweg dich!«

Sie rannten los, vermochten die Wolke aber nicht abzuschütteln. Der Rauch überholte sie. Seine Mutter gab einen erstickten, unnatürlichen Laut von sich. Tommy berührte sie hilflos mit der Hand.

Seine Eltern hatten angehalten und waren auf die Knie gesunken.

Es war vorbei.

»Tommy …«, keuchte sein Vater. »Lauf …«

Entgegen dem Befehl seines Vaters ließ er sich zu Boden sinken.

Wenn ich sowieso sterben muss, dann zu meinen Bedingungen.

Zusammen mit meiner Familie.

Die Gewissheit, dass er sterben würde, beruhigte ihn. »Es ist okay, Dad.« Er drückte erst seiner Mom die Hand, dann seinem Dad. Bei der Vorstellung, dass er niemanden mehr hatte, kamen ihm die Tränen. »Ich liebe euch, liebe euch sehr.« Seine Eltern sahen ihm direkt in die Augen. Trotz des Grauens, das er empfand, verspürte Tommy tiefe Zuneigung.

Er umarmte sie beide fest und hielt sie noch immer in den Armen, als sie erschlafften. Er wollte nicht, dass nach dem Tod auch noch die Schwerkraft sie für sich reklamierte. Als seine Kräfte erlahmten, kniete er neben ihnen nieder und wartete auf seinen letzten Atemzug.

Doch die Minuten verstrichen, der letzte Atemzug ließ auf sich warten. Er wischte sich mit dem Arm die Tränen ab und richtete sich schwankend auf. Er vermied es, die Toten anzusehen, die am Boden lagen, ihre mit Blasen bedeckten Augen und ihre blutverschmierten Gesichter. Wenn er nicht hinsah, waren sie vielleicht gar nicht tot. Vielleicht war alles nur ein Traum.

Er drehte sich langsam, bis er ihnen den Rücken zuwandte. Der giftige Rauch war fortgeweht worden. Tote lagen am Boden. Soweit er sehen konnte, rührte sich nichts.

Es war kein Traum.

Warum bin ich als Einziger noch am Leben? Ich hätte sterben sollen. Nicht meine Eltern.

Er blickte auf ihre Leichen nieder. Seine Trauer war zu tief, als dass er hätte weinen können. Tiefer als bei den Gelegenheiten, als er mit seinem eigenen Schicksal gehadert hatte.

Es war ungerecht. Er war der Kranke, der Hinfällige. Er wusste schon seit Langem, dass es mit ihm zu Ende ging. Seine Eltern aber hatten ihn in Erinnerung behalten sollen, konserviert in zahllosen Schnappschüssen bis zum Alter von vierzehn Jahren. Sie hätten trauern sollen, nicht er.

Er fiel auf die Knie, schluchzte auf, reckte die Arme der Sonne entgegen, mit den Handflächen nach oben, flehte zu Gott und verfluchte ihn, alles in einem Atemzug.

Aber Gott hatte noch etwas vor mit ihm.

Als er die Arme zum Himmel reckte, rutschte ein Ärmel zurück und entblößte sein blasses, makelloses Handgelenk.

Er senkte die Arme und starrte ungläubig auf seine Haut.

Das Melanom war verschwunden.

3

26. Oktober, 14:15, Israelische StandardzeitCaesarea, Israel

ERIN KNIETE IM Graben, begutachtete den Schaden, den das Erdbeben angerichtet hatte, und seufzte frustriert. Den ersten Berichten zufolge war das Epizentrum kilometerweit entfernt gewesen, doch das Beben hatte die ganze israelische Küste erschüttert, auch den Ausgrabungsort. Sand rieselte zwischen den geborstenen Brettern der Verschalung hervor und begrub langsam ihre Entdeckung, als wäre sie niemals freigelegt worden. Das aber war noch nicht das Schlimmste. Sand konnte man wegschaufeln, doch auf dem Kinderschädel, den behutsam freizulegen sie sich bemüht hatte, lag ein Brett. Sie wagte sich gar nicht vorzustellen, wie es darunter aussehen mochte …

Hoffentlich hat der Schädel nichts abbekommen …

Ihre drei Studenten warteten nervös am Rand des Grabens.

Mit angehaltenem Atem hob Erin das zerbrochene Brett hoch und reichte es Nate an. Dann lupfte sie das Tuch, mit dem sie das kleine Skelett zuvor bedeckt hatte. Dort, wo sich der Schädel des Kindes befunden hatte, lagen nur noch Knochenscherben. Die Gebeine hatten zweitausend Jahre lang ungestört im Erdreich gelegen, bis sie sie der Zerstörung preisgegeben hatte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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