August Hermann Francke, der Armen- und Waisen-freund: ein Lebensbild - Rosalie Koch - E-Book

August Hermann Francke, der Armen- und Waisen-freund: ein Lebensbild E-Book

Rosalie Koch

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Beschreibung

Verlag: Breslau: Ferdinand Hirt, ., 1863 August Hermann Francke studierte Theologie und wurde 1684 als Professor für die hebräische Sprache nach Leipzig gerufen. Philipp Jakob Speners Schrift Pia desideria veranlasste ihn, mit Freunden ein Kolleg für Bibellektüre zu gründen. Sein zunehmendes Engagement für den Pietismus schaffte ihm Feinde, er musste Leipzig verlassen, ging nach Erfurt und wurde auch hier aus der Stadt verwiesen. Auf Einladung Speners kam er 1692 als Pastor nach Glaucha - heute ein Stadtteil von Halle -, wo er sich um Waisen und um verwahrloste Familien mit ihren unversorgten Kindern kümmerte. 1695 gründete er mit 7 Gulden, die eine begüterte Frau gespendet hatte, eine Armenschule in einem Pfarrhaus, in der ein armer Student die Kinder unterrichtete. Noch im selben Jahr legte er den Grundstein für ein Waisenhaus, indem er Waisen bei sich selbst aufnahm und unterrichtete; als sich herausstellte, dass einige dieser Kinder sehr begabt waren, unterrichtete er sie in Sprachen und Wissenschaften und legte so die Wurzel seiner Lateinschule. Franckes Arbeit fand schnell Anklang und Zulauf auch im Bürgertum, pietistische Gönner gaben ihm weitere Mittel, so dass er zwei Häuser kaufen konnte. Es entstanden in kurzer Zeit ein Internat, eine Lateinschule, ein Lehrerseminar und weitere Einrichtungen in Halle: die Francke'schen Anstalten. 1698 wurde mit dem Bau der neuen Anstalt, den späteren Franckeschen Stiftungen begonnen; neben den Schulanstalten entstanden eine Buchdruckerei und eine Buchhandlung sowie eine Apotheke, die viel Geld einbrachten, das wiederum in die Stiftungen floss. 1702 gründete er die ostindische Mission, die 1705 Bartholomäus Ziegenbalg als ersten Missionar aussandte. Das von ihm gegründete Collegium orientale theologicum sollte eine Brücke zu den orientalischen Kirchen schlagen. Auch die Canstein'sche Bibelanstalt zur Verbreitung preisgünstiger Bibeln ist sein Werk. Dreißig Jahren nach der Gründung der Anstalten wurden dort 2200 Kinder von 167 Lehrern unterichtet, 154 Waisenkinder versorgt, 250 Studenten ein Freitisch gewährt. Nach fast 250 Jahren hob die damalige Provinz Sachsen 1946 die Selbstständigkeit der Anstalten auf, die Gebäude verfielen. Erst 1992, nach der Wende in der DDR, konnten die Stiftungen wiedergegründet werden.

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August Hermann Francke, der Armen- und Waisen-freund: ein Lebensbild

August Hermann Francke, der Armen- und Waisenfreund: ein LebensbildEinleitende Worte„Niemand wird zu Schanden, der des Herren harret!“„Wenn Du Dich einst bekehren wirst, so stärke Deine Brüder!“Weide meine Schafe!„Wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf!“Herrlich Ende.Impressum

August Hermann Francke, der Armen- und Waisenfreund: ein Lebensbild

August Hermann Francke, 

der Armen- und Waisenfreund. 

Ein Lebensbild. 

Von 

der Verfasserin von „Stillleben und Weltleben. “

Volks-Ausgabe, 

bearbeitet

von Dr. F. A. Eckstein, 

Mitdirektor der Francke’schen Stiftungen. 

Mit in den Text gedruckten Illustrationen

Zum Besten

des Francke’schen Waisenhauses zu Halle und des Waisenhauses in Lübeck

herausgegeben vom Verleger. 

Breslau, 

Verlag von Ferdinant Hirt, 

Königlichem Universitäts-Buchhändler. 

1863. 

Im Kleinen treu, wird Dir, Du Glaubensheld, 

Vom Herrn der Ruf: im Großen zu erbauen. 

Was du beginnst in gläubigem Vertrauen, 

Vollendest Du von seinem Licht erhellt. 

Der Liebe Samen streu’ in’s dürre Feld!

Er wird mit seinem Segen es beihauen. 

Wie grünen rings verheißend schon die Auen, 

Die gläugig Du in seinem Dienst bestellt!

Dein Senfkorn wächst zum Baum mit vollsten Kronen, 

Darin vom Himmel Gäste friedsam wohnen:

Erbarmen, reine Lehre emsig walten. 

Nur Liebe kann, was Liebe schuf, erhalten. -

Du frommer Knecht! der Herr wird reichlich lohnen

Dir, der so treu und klug hat hausgehalten. -

Einleitende Worte

Lübeck, August Hermann Francke’s Geburtsstadt. 

Wer kennt nicht - sei es aus eigener, unvergesslicher Anschauung oder aus treuen Schilderungen Anderer - die altergraue Handelsstadt Lübeck, einst der Hansa Vorort und noch heute in ihrer hügeligen Lage auf der von baumreichen Wällen umsäumten Insel zwischen der Trave und Wackenitz eine würdige Matrone unter den deutschen Städten? Sind auch die alten Wälle und Bastionen in freundliche Spaziergänge verwandelt, so stehen doch noch als Überreste der einst vorhandenen starken Mauern die prächtigen Tore, und das Innere der Stadt erinnert in manchen altertümlichen Giebelhäusern an jene Blütezeit der früheren Jahrhunderte, in welcher der Handel und die Schifffahrt hier eine größere Ausdehnung hatten. Die Nachbarschaft der alten Vertrauten, der Ostsee, hat ihr ein eigentümlich frisches und schlichtes, aber auch selbstBewusstes und edelstolzes Wesen bewahrt. 

Konnten sich einst die Lübecker rühmen, dass ihre Flotten mit das Meer beherrschten, so erwuchs trotzdem daheim unter dem Schutze eines gediegenen, aber nicht prunkenden Wohlstandes Sitteneinfalt und Reinheit, Menschenliebe und Wohltätigkeitssinn, wie er in solcher Fülle wohl selten uns begegnen mag. Zahlreiche milde Stiftungen geben davon Zeugnis. 

Zu den Wohltätigsten derselben gehört das Waisenhaus das - wohl eines der ersten in dem protestantischen Deutschland - in einer Zeit schwerer Not zuerst 1547 in einem zur Beherbergung der Pilgrimme bestimmten Gasthause errichtet, im Laufe dreier Jahrhunderte durch reiche Vermächtnisse teilnehmender Bürger unterstützt, durch treue Hingebung aufopferungsfähiger Vorsteher immer fester begründet, von den Behörden des kleinen Freistaats redlich geschützt, den Anstoß zu einer bessern Gestaltung des Schul- und Armen-Wesens gegeben und eine Pflanzstätte für viele tüchtige Männer in allen Zweigen bürgerlicher Tätigkeit dargeboten hat. [Das Waisenhaus zu Lübeck in seinem dreihundertjährigen Bestehen. Zum Besten des Waisenhauses. Lübeck. 1847.]

Ja Lübeck’s stattliche Kirchengebäude und ragende Turmspitzen weisen gleich eben so viel beredten Zeigefingern seine Bewohner nicht umsonst hinauf zu dem, von dem alle gute Gabe kommt und der sie verwaltet wissen will zu seiner Ehre. 

Und wenn Lübeck’s Bewohner in jenem Wetteifer das göttliche Gebot der Liebe zu erfüllen auch heute nicht müde geworden sind; wenn der Sinn für sittliche Würde, für Einfachheit, Rechtschaffenheit und Gediegenheit, für ein stilles anspruchsloses Wirken wahrhaft christlicher Wohltätigkeit, als ein köstliches Erbteil gottgetreuer und glaubensstarker Eltern, von Geschlecht zu Geschlecht übergegangen zu sein scheint: so weilt das Auge mit erhöhter Freude und Erbauung auf jenen Männern, welche als die Vertreter dieser immer selteneren Tugenden, als die edelsten Steine in diesem wunderreichen Schmucke einer Stadt betrachtet werden dürfen. 

Ein so fest ausgeprägter Charakter der Vaterstadt kann in der Tat nicht ohne nachhaltigen Einfluss auf die innere Entwicklung, auf das Leben und Schaffen ihrer Söhne bleiben!

Zu den würdigsten derselben zählt der Lübecker mit frohem Stolze einen Mann, der, wenngleich in zartem Jugendalter der Stätte schon entrückt, wo in der alten Hansestadt seine Wiege gestanden hat, aber doch auch in späteren Jahren auf kürzere oder längere Zeit wiederholt in ihr weilend und die ersten Eindrücke auffrischend und verstärkend, nach Gottes weiser und wunderbarer Führung eine Wirksamkeit entfalten sollte, die noch für kommende Geschlechter ein gewaltiges Zeugnis für des vertrauenden Gebetes Kraft und Segnung sein und bleiben wird. 

August Hermann Francke, der Kinder- und Armenfreund, der Gründer des Halle’schen Waisenhauses, dieses „Siegesdenkmals des Gottvertrauens und der Menschenliebe,“ bleibt für alle Zeiten ein weithin leuchtendes Vorbild christlicher Bruderliebe, allen Schwachgläubigen und Verzagten ein trostreiches Beispiel von der nie ermüdenden Fürsorge des treuen Vaters im Himmel. 

Von ihm können und sollen Alle, welche ein Werkzeug der barmherzigen Liebe Gottes auf Erden werden möchten, lernen, dass alles nachhaltig wirkende Große und Gute, was für die leidende Menschheit getan werden soll, auf dem rechten Glaubensgrunde, auf der Liebe und dem Vertrauen zu Gott, ruhen muss und nie die eigene, sondern nur seine Verherrlichung bezwecken darf; von ihm aber auch lernen, wie selbst aus geringen Mitteln und kleinen Anfängen große Werke hervorgehen, wenn sie nur auf den Glauben gegründet, durch die Liebe gefördert und von der Hoffnung getragen werden. Denn auf dem Wege des Wohltuns, der treuen Fürsorge, der warmen werktätigen Liebe für die Armen, die Verlassenen, die Witwen und Waisen sollen auch wir dem Manne Gottes, ein Jeder nach dem Maße seiner Kräfte und Erkenntnis, nachfolgen und wenn auch nicht Gleiches, doch Ähnliches zu vollbringen suchen. Bleibt auch unser Tun nur dem Scherflein der Witwe gleich - wenn es nur aus dem frischen unversieglichen Quell echter Menschen- und Gottesliebe kommt und nicht durch Eitelkeit und Selbstruhm oder prunkende Vielgeschäftigkeit hervorgerufen ist; noch den schwankenden Strömungen der Zeit folgt, so wird das kleinste Samenkörnlein der Liebe mit hundertfältiger Frucht gesegnet werden am Tage der Garben!

„Niemand wird zu Schanden, der des Herren harret!“

Die Familie, aus welcher August Hermann Francke stammt, gehört ursprünglich Thüringen an. Aus dem Dorfe Heldra in Hessen war sein Großvater Hans Francke, ein Bäcker seines Handwerks, nach Lübeck gewandert, hatte sich mit der Witwe des Freibäckers Stephan Döring verheiratet und damit 1617 in dem Frei-Backhause bei der St. Katharinenkirche in der Königsstraße einen selbständigen und ansehnlichen Hausstand erlangt. Das jüngste der in dieser Ehe erzeugten Kinder war ein Sohn, der am 24. Februar 1625 geboren und in der heiligen Taufe nach dem Namen des Vaters Johannes genannt wurde. Die wohlhabenden Eltern sorgten für eine tüchtige Erziehung des talentvollen Knaben und scheuten dabei keine Kosten. Er besuchte das Gymnasium seiner Vaterstadt und die noch berühmtere Schule Danzigs, bezog dann, um sich der Rechtswissenschaft zu widmen, die Universitäten Königsberg und Rostock und machte große Reisen durch Dänemark, Holland, wo er auf der Leidener Universität einen längeren Aufenthalt nahm, Frankreich, die Schweiz, wo er 1648 in Basel die juristische Doktorwürde erlangte, und das westliche Deutschland. Mit tüchtigen Kenntnissen und Erfahrungen bereichert kehrte er am 10. Dezember 1648 in die Vaterstadt zurück, in welcher er nach dem Wunsche der Eltern juristische Praxis betreiben sollte. Bald darauf wurde er von dem Domkapitel des Stifts Ratzeburg und von den gesamten Landständen des Fürstentums Ratzeburg zum Syndikus bestellt und verlegte dorthin seinen Wohnsitz. Dem geschickten Manne versagte der angesehene Syndikus der Stadt Lübeck und der gesamten Hansestädte Dr. David Gloxin seine Tochter Anna nicht, als er um dieselbe warb. Am 15. Juli 1651 wurde der Ehebund feierlich geschlossen, und die sechszehnjährige junge Ehefrau folgte dem zehn Jahr älteren Eheherrn nach Ratzeburg. 1658 hat er auf den Rat seiner Schwiegereltern das Syndikat in Ratzeburg aufgegeben und sich mit seinem Hauswesen nach Lübeck gewendet, wo er als Advokat eine sehr einträgliche Praxis gewann. 

In Lübeck war es, wo am 12. März (22. neuen Stils) 1663 Frau Anna Francke einen Sohn gebar, der drei Tage darauf in der heiligen Taufe zu St. Aegidien die Namen August Hermann erhielt, August nach der Bestimmung der angesehensten unter den Taufzeugen, der Herzogin Sibylla Hedwig von Sachsen, die in Person der Taufhandlung beiwohnte, und Hermann nach dem zweiten Paten, dem damaligen ältesten Bürgermeister von Lübeck, Hermann von Dorne. 

Nur die frühesten Kinderjahre verlebte der Knabe in seiner Vaterstadt. In Gotha, wohin Ernst der Fromme Herzog von Sachsen 1666 den Doktor Johann Francke berufen, ihn zum Hof- und Justizrat ernannt und ihm die Leitung des Kirchen- und Schulwesens übertragen hatte, ward August Hermann, der ein Vater der Waisen werden sollte, schon in seinem siebenten Jahre selbst eine vaterlose Waise. Denn am 30. April 1670 verstarb sein Vater in der Blüte seiner Jahre, und die genaue Aufsicht, welche er bis dahin über den Fleiß des Kindes geführt hatte, hörte damit auf. Die Mutter aber ließ dem lernbegierigen Knaben auch noch weiteren Privatunterricht im Hause erteilen und trug in treuer Mutterliebe dafür Sorge, dass er vor allen Dingen eine christliche Erziehung erhielt. Wir wissen, dass sie selbst mehr in der Stille und im Verborgenen als vor Menschen ihrem Gott mit Gebet und Flehen gedient, sich durch Lesung der heiligen Schrift und anderer geistlicher Bücher erbaut und an dem christlichen Zuspruche treuer Diener am Worte ein besonderes Vergnügen gehabt hat. Der Privatunterricht, welchen der Knabe genoss, wurde meist außerhalb des mütterlichen Hauses erteilt und brachte ihn so in vielfachen Verkehr mit Altersgenossen und damit auch in die Kinderlust, die ihn oft von seinem Gott abwendete. 

Er besaß aber eine drei Jahr ältere Schwester, die durch das Beispiel ihrer Frömmigkeit und Gottesfurcht auf das Herz des Knaben wirkte. Anna - dies war ihr Name - hing mit unaussprechlicher Liebe an dem kleinen Bruder, spielte in ihrer frohen und heitern Weise stundenlang mit ihm, vermochte ihn aber auch wiederum dazu, dass er sich von ihr aus der Bibel oder aus Arndt’s „wahrem Christentum“ und andern guten Büchern vorlesen ließ, und reizte ihn dadurch zu allem Guten. 

Dies gab dem Gemüte Franckes in seinem zwölften Jahre wieder eine religiöse Richtung, so dass er seine Mutter dringend bat, ihm doch ein eigenes Zimmer, wo er ungestört studieren und beten könnte, einzuräumen, darin er dann täglich seiner Andacht zu Gott herzlich pflegen konnte. Dort betete er: „Lieber Gott, es müssen ja allerlei Stände und Hantierungen sein, die doch endlich alle zu deiner Ehre gereichen. Aber ich bitte dich, du wollest mein ganzes Leben bloß und allein zu deinem Dienst und zu deiner Ehre lassen gerichtet sein!“ - Aus wenig Kinderseelen mag wohl ein solches Gebet zum Himmel aufgestiegen sein; aber der, welcher gern Gebet erhört, hat dieses Kindergebet ganz besonders gesegnet. 

Francke und seine Schwester. 

Gottesfurcht ist der Weisheit Anfang; darum hat der getreue Gott damals auchFrancke’s Studien sichtbar gefördert. 

Es war ein großer Schmerz und ein noch größerer Verlust für ihn, dass er diese liebe Schwester schon früh verlor. Er empfand ihn auch so tief, dass er sich immer mehr und mehr von seinen bisherigen Spielkameraden zurückzog, das Spielen und allen Zeitverderb aufgab und etwas Nützlicheres und Besseres im eifrigen Lernen suchte. 

Im dreizehnten Jahre seines Alters kam er nach den Kenntnissen, welche er sich bereits erworben hatte, ohne eine der Unterklassen des Gymnasiums besucht zu haben, sogleich in die oberste Klasse, die sogenannte Selekta. Obgleich dies für sein ehrgeiziges Streben kein geringer Triumph war, so musste der kleine frühreife Gymnasiast doch jetzt eine demütigende Schule durchmachen. Seine Mitschüler, die fast noch einmal so alt waren als er, wählten ihn zum Gegenstande ihrer Spottlust und zahlloser Neckereien: was Indessen zugleich dazu diente, die verderbliche Eitelkeit und Ehrsucht zu unterdrücken, welche bereits angefangen hatte sich im Herzen des jungen Francke festzusetzen. Gute Freunde, die mit ihm eines Sinnes waren, fand er lange nicht, so sehr er sich auch nach einem solchen sehnte; er sollte wohl zuvor erst wieder inniger und herzvertraulicher mit seinem besten Freunde im Himmel umgehen lernen und dessen Hand fester ergreifen. 

Nachdem August Hermann Francke die Selekta ein Jahr lang besucht, hatte er sich bereits die nötige wissenschaftliche Reife zur Universität erworben. Aber die verständige Mutter trug doch Bedenken, ihn so früh schon dahin abgehen zu lassen, und behielt ihn noch zwei Jahre in ihrem Hause, wo er unter Anleitung des Subkonrektors Hesse fleißig Latein und Griechisch trieb und sich besonders viel mit Philosophie beschäftigte. „Ich kannte,“ schreibt Francke über seine Jugendjahre, „kein angenehmeres Geschäft als studieren und machte schnelle Fortschritte.“ Freilich trieb ihn dazu mehr die Eitelkeit und die Begierde bald gelehrt zu werden, so dass er in seinen Studien vielfach über den ihm gegebenen Kreis hinausgriff und darüber manche nötigere Dinge verabsäumte. 

Im sechszehnten Jahre, um Ostern 1679, bezog er die benachbarte Universität Erfurt. Er hatte das theologische Studium gewählt, wozu ihn schon sein seliger Vater bestimmt hatte. Das Verlangen, zeitliche Ehre, Ansehen vor der Welt und große Beförderung durch seine Wissenschaft zu erlangen, ließ ihn in seinen akademischen Studien nicht rasten, führte ihn aber auch immer weiter weg von den guten Anfängen im Christentume, die er in seiner Jugend gemacht hatte. 

Noch in demselben Jahre wurde er um Michaelis von den seinen nach Kiel gesandt, wo ihm als nächstem Anverwandten der Schabbel’schen Familie von seiner Mutter Bruder Dr. Anton Heinrich Gloxin ein Familienstipendium verliehen war. Auf Befehl dieses Lübecker Oheims begab er sich in das Haus und an den Tisch desProfessors Dr. Kortholt. Fast drei Jahre blieb er auf dieser Universität und schloss sich in den verschiedenen theologischen Wissenschaften an seinen Hauswirt, in der Literaturgeschichte und Physik an den berühmten Morhof an. Wohl fasste Francke manchmal den Vorsatz sich von der Welt und ihrer Eitelkeit loszusagen, fing auch an sich zu ändern, aber ließ sich nur zu leicht von der Menge wieder fortreißen. Fleißig blieb er allerdings und sammelte große Gelehrsamkeit, aber - wir hören seine eigenen Worte - „bei allen meinen Studien war ich nichts als ein grober Heuchler, der zwar mit zur Kirche, zur Beichte und zum heiligen Abendmahl ging, sang und betete, auch wohl gute Diskurse führte und gute Bücher las, aber in der Tat von dem allen die wahre Kraft nicht hatte, nämlich zu verleugnen das ungöttliche Wesen und die weltlichen Lüste, und züchtig, gerecht und gottselig zu leben nicht allein äußerlich, sondern auch innerlich. Meine Theologie fasste ich in den Kopf und nicht ins Herz, und war viel mehr eine tote Wissenschaft als eine lebendige Erkenntnis.“ So bestätigte sich an ihm das Wort der Schrift, dass die Reichen schwer in das Himmelreich eingehen. 

Sein geistiger Reichtum ließ ihn nicht zum Gefühl der rechten Demut und Hilfsbedürftigkeit kommen, und viel schwere Kämpfe hatte er noch zu bestehen, ehe er in den paulinischen Hochgesang des ersten Korintherbriefes einstimmen und sagen konnte: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz und eine klingende Schelle. Und wenn ich weissagen könnte und wüsste alle Geheimnisse und hätte alle Erkenntnis und allen Glauben, also dass ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts! Und wenn ich all’ meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib brennen, und hätte der Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze.“

Nach Pfingsten 1682 verließ Francke Kiel, weil die Mittel, von denen er bisher gelebt hatte, ins Stocken geraten waren. Da er die hebräische Sprache für unumgänglich Notwendig zur Erforschung der heiligen Schrift hielt, ja ihre gründliche Kenntnis als die eigentliche Grundlage des theologischen Studiums erkannt, in Kiel aber keine rechten Fortschritte darin gemacht hatte, so begab er sich zunächst nach Hamburg, um sich bei dem berühmten hebräischen Sprachgelehrten Esra Edzardi im Hebräischen zu vervollkommnen. 

„Sprachen sind die Scheide, darin das Messer des Geistes steckt,“ und „lasset uns das gesagt sein, dass wir das Evangelium nicht wohl erhalten werden ohne die Sprachen!“ sagt der große Reformator Luther. 

Jener Gelehrte, der Francke’n wie alle seine zahlreichen Schüler an seinem Tische hatte, nahm sich des jungen Mannes mit großer Aufopferung an, las mit ihm das alte Testament bis zu dem Propheten Jesaias und gab ihm die besten Ratschläge, wie er auch ohne fremde Unterstützung in seinem Wissen fortschreiten könne. Er riet ihm, die ganze Bibel immer wieder und wieder zu lesen, bis er sich die alttestamentliche Sprache ganz geläufig gemacht haben würde. Zu seinem Bedauern konnte Francke nicht länger als zwei Monate in Hamburg bleiben, weil ihn Familienangelegenheiten nach Gotha zurückriefen. Dort aber las er während eines achtzehnmonatlichen Aufenthaltes wohl sechsmal die hebräische Bibel durch und fand dabei noch immer Zeit, um mit allem Fleiß das, was er auf der Universität gelernt hatte, zu wiederholen und daneben auch die französische Sprache zu treiben, wie er bereits in Kiel das Englische zu erlernen angefangen hatte. Äußerlich führte er ein ehrbares Leben, ward auch für einen fleißigen und frommen Studenten gehalten, der seine Zeit nicht übel angewandt hatte, aber sein Herz kam immer noch nicht zur rechten Ruhe. 

Ein wohlhabender Theologe Wichmannshausen, der in Leipzig studierte und später Professor der hebräischen Sprache in Wittenberg ward, suchte einen Stubengenossen, der ihn in dieser Sprache unterweisen konnte. Francke nahm seinen Antrag an und ging vor Ostern 1684 nach Leipzig. 

Neben der Verpflichtung, welche er übernommen hatte, benutzte er jede sich ihm darbietende Gelegenheit zu seiner eigenen Fortbildung. Er besuchte die theologischen Vorlesungen bei Olearius, Rechenberg und Cyprian, übte sich im Predigen unter Carpzov, trieb unter mehreren Privatlehrern das Rabbinische, machte sich mit der italienischen Sprache bekannt und vervollkommnete sich in den früher gelernten neueren Sprachen durch fast tägliche Übungen. Die Bekanntschaft der Professoren und anderer Gelehrten suchte er gern auf. So konnte er mit Ehren die Magisterwürde im Jahre 1685 erlangen und noch in demselben Jahre das Recht, akademische Vorlesungen zu halten, erwerben, um, wie er selbst zugesteht, „desto besser Geld mit seinen Vorlesungen zu verdienen und besser dadurch befördert zu werden.“

Unter diesen Vorlesungen ist keine wichtiger geworden als das collegium philobiblicum, über dessen Ursprung mancherlei Falsches erzählt wird, dessen Anregung aber jedenfalls auf die Bemühungen Spener’s für die Verbreitung des Studiums der heiligen Schrift und auf die besonderen Ermahnungen Carpzov’s zurückgeführt werden muss. Paul Anton, gleichfalls Magister in Leipzig, hatte in einer Unterredung mit seinem Freunde Francke die Vernachlässigung des Studiums der beiden alten Sprachen, in welchen die Schriften des alten und des neuen Testaments uns überliefert sind, schmerzlich beklagt und dabei den Wunsch ausgesprochen, dass sich die jungen Magister selbst unter einander darin üben möchten. Alsbald fanden sich auch acht derselben zusammen, und am 18. Juli 1686 begannen die Übungen in der Art, dass zwei Stunden Abschnitte des Alten Testaments hebräisch, des Neuen Testaments griechisch durchgegangen und erklärt wurden. Diese ursprüngliche Einrichtung wurde später dahin abgeändert, dass man sich in jeder Versammlung nur mit einem Teile der Schrift beschäftigte und von je drei Versammlungen eine dem Alten Testamente, zwei dem Neuen Testamente widmete. Spener, so eben erst nach Dresden berufen, begrüßte das neue Institut mit Freuden und suchte ihm durch guten Rat aufzuhelfen. 

Zu diesen Vorträgen, die nach dem gewöhnlichen Nachmittagsgottesdienste stattfanden, drängten sich in Kurzem so viele Zuhörer, dass die kleine Stube Anton’s in Professor Mencke’s Hause sie nicht mehr fasste und der Professor der Theologie Alberti sich veranlasst sah, vom 16. Februar 1687 an seinen Hörsaal in dem sogenannten Fürstenhause dazu herzugeben und nach Anton’s Abgange den Vorsitz zu übernehmen.