Augustblau - Deborah Levy - E-Book

Augustblau E-Book

Deborah Levy

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Beschreibung

Elsa M. Anderson ist eine berühmte Konzertpianistin. Doch als sie in Wien Rachmaninows »Piano Concerto Nr. 2« spielen soll, vermasselt sie es. Sie verlässt die Bühne, und ihre Identität als Wunderkind wird auf einen Schlag unstet.Drei Wochen später beobachtet sie auf einem Flohmarkt in Athen eine Frau, die zwei mechanische Tanzpferde kauft. Elsa fühlt sich auf sonderbare Weise mit der Unbekannten verbunden und hält sie für ihre Doppelgängerin. Sie beginnt die Frau zu suchen, mit ihr in Gedanken zu kommunizieren. Doch die Frau, nicht gewillt, sich widerstandslos zum Alter Ego machen zu lassen, läuft Elsa in den Straßen von Paris davon. Und so versucht Elsa mithilfe und trotz ihres Doubles, ihrer Mütter, ihres Adoptivvater-Klavierlehrers, ihrer Liebsten und Schüler*innen ein neues Ich zu komponieren, ihre eigene Geschichte zu spinnen.»Vielleicht tust du es, sagte sie.  Vielleicht tue ich was? Nach Zeichen suchen.  Nach was für Zeichen? Nach Gründen zu leben. Es war kein Flüstern.« Deborah Levy, wie auch in ihrer bekannten living autobiography stets auf der Suche nach den »missing female characters«, entwirft in Augustblau widerspenstige und liebenswerte Figuren, die sich selbstbestimmt entziehen, um dann wieder aufzutauchen und ihre Geschichten selbst zu erzählen.

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Seitenzahl: 197

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Deborah Levy

Augustblau

Aus dem Englischen von Marion Hertle

Sogar unsere Schatten lieben sich, wenn wir laufen.

Chantal Akerman, Meine Mutter lacht

 

Übersetzt von Claudia Steinitz

1

Griechenland, September

Ich sah sie auf einem Flohmarkt in Athen, als sie zwei mechanische Tanzpferde kaufte. Der Mann, der sie ihr verkaufte, steckte eine Batterie in den Bauch des braunen Pferdes, eine superleistungsstarke Zink-AA. Er zeigte ihr, dass sie, um das Pferd in Gang zu setzen, es war etwa so lang wie zwei große Hände, den Schwanz heben musste. Um es anzuhalten, musste sie den Schwanz nach unten ziehen. Das braune Pferd hatte einen Strick um den Hals, und wenn sie diesen Strick nach außen und oben zog, konnte sie seine Bewegungen steuern.

Der Schwanz hob sich, und das Pferd begann zu tanzen, die vier mit Scharnieren befestigten Beine trotteten im Kreis. Dann zeigte er ihr das weiße Pferd mit der schwarzen Mähne und den weißen Hufen. Sollte er für sie eine AA in den Bauch schieben, damit es seinen Tanz beginnen konnte? Ja, antwortete sie auf Englisch, aber ihr Akzent stammte von anderswo.

 

Ich beobachtete sie von einem Stand aus, der kleine Gipsfiguren von Zeus, Athene, Poseidon, Apollo, Aphrodite verkaufte. Aus manchen dieser Götter und Göttinnen waren Kühlschrankmagneten gemacht worden. Ihre letzte Metamorphose.

 

Sie trug einen schwarzen Filzhut, einen Trilby. Von ihrem Gesicht konnte ich nicht viel erkennen, weil eine blaue medizinische Maske, die wir alle zu dieser Zeit tragen mussten, ihren Mund und ihre Nase bedeckte. Bei ihr stand ein älterer Mann, er war wohl etwa 80. Er reagierte nicht so begeistert auf die Pferde wie sie. Ihr Körper war voller Leben, sie war groß und agil, als sie den Strick nach oben und außen zog. Ihr Begleiter war ruhig, leicht nach vorn geneigt und schwieg. Ich war mir nicht sicher, hatte aber den Eindruck, dass die Pferde ihn nervös machten. Er betrachtete sie düster, wie eine böse Vorahnung. Vielleicht würde er seine Begleiterin überzeugen, weiterzugehen und sich das Geld zu sparen.

Als ich auf die Füße der Frau blickte, bemerkte ich ihre abgewetzten braunen Lederschuhe mit hohen Schlangenlederabsätzen. Ihr rechter Zeh klopfte leicht, tanzte vielleicht sogar, im Takt mit den Pferden, die von ihrer Hand geführt nun nebeneinander hertrotteten.

Hoffentlich konnten sie unter dem attischen Himmel hören, dass ich sie rief.

 

Sie hielt inne, um ihren Hut zurechtzurücken, schob ihn ein wenig nach vorn über ihre Augen.

Während ihre Finger nach einer Haarsträhne suchten, die unter ihren Hut gesteckt war, blickte sie in meine Richtung – nicht direkt zu mir, aber ich spürte, sie wusste, dass ich da war. Es war elf Uhr vormittags, aber die Stimmung, die sich in diesem Augenblick von ihr auf mich übertrug, war dunkel und weich, wie Mitternacht. Ein leichter Regen begann auf Athen zu fallen und brachte den Geruch von uralten, warmen Steinen und vom Benzin der Autos und Roller mit sich.

 

Sie kaufte beide Pferde, und als sie mit ihnen, in Zeitung verpackt, weiterging, hakte sich der alte Mann, der sie begleitete, bei ihr unter. Sie verschwanden in der Menge. Sie schien in meinem Alter zu sein, 34, und wie ich trug sie einen eng geknoteten grünen Regenmantel. Er war fast identisch mit meinem, abgesehen von drei goldenen Knöpfen an ihren Armbündchen. Offenbar wollten wir dieselben Dinge. Mein bestürzender Gedanke in diesem Moment war, dass sie und ich ein und dieselbe Person waren. Sie war ich und ich war sie. Vielleicht war sie ein wenig mehr als ich. Sie hatte sicher gewusst, dass ich in der Nähe war, und sie machte sich über mich lustig.

 

Eins, zwei, drei.

Ich ging hinüber zu dem Stand und fragte den Mann, ob ich die Pferde sehen könne. Er sagte mir, er habe gerade die beiden letzten verkauft, aber er habe andere mechanische Tanztiere, eine Auswahl an Hunden zum Beispiel.

Nein, für mich mussten es die Pferde sein. Ja, sagte er, aber den meisten Leuten gefällt, dass man den Schwanz hebt, damit das Tier zu tanzen beginnt, und ihn nach unten drückt, um es anzuhalten. Das ist interessanter als irgendein langweiliger Knopf, sagte er, es ist fast ein bisschen Zauberei, und mit diesem Schwanz könne ich den Zauber beginnen oder beenden, wann immer ich wolle. Was mache es schon für einen Unterschied, ob es ein Hund oder ein Pferd sei?

 

Mein Klavierlehrer, Arthur Goldstein, hatte mir gesagt, nicht das Klavier sei das Instrument, ich sei das Instrument. Er sprach von meinem absoluten Gehör, meinem Verlangen und meiner Fähigkeit, schon im Alter von sechs Jahren zu lernen, und dass alles, was er mich gelehrt hatte, sich nicht am nächsten Tag verflüchtigte. Offenbar war ich ein Wunder. Ein Wunder. Ein Wunder. Ich habe ihn einmal zu einem Journalisten sagen hören: Nein, Elsa M. Anderson ist nicht in Trance, wenn sie spielt, sie fliegt.

 

Der Mann fragte, ob er für mich eine superleistungsstarke Zink- AAA-Batterie in einen der Hunde stecken solle. Er zeigte auf eine Kreatur, die mehr wie ein Fuchs aussah, mit einer Fülle von Porzellanfell und einem Schwanz, der sich über dem Rücken kringelte.

Ja, sagte er, der Zauber beginnt von Neuem, aber diesmal mit einem geschwungenen Schwanz. Die Hunde waren kleiner als die Pferde und konnten auf meinem Handteller stehen.

Es schien, als wären nicht die Pferde das Instrument, sondern das Verlangen nach Zauberei, Flug und Flucht war das Instrument.

Sie sind eine sehr schöne Frau. Was tun Sie im Leben?

Ich sagte ihm, ich sei Pianistin.

Ah, dann hatte sie also recht, sagte er.

Wer hatte recht?

Die Dame, die die Pferde gekauft hat. Sie sagte mir, Sie seien berühmt.

Als ich den Gürtel meines Regenmantels enger zog, sodass er mir in die Hüfte schnitt, machte er ein Explosionsgeräusch wie von einer Bombe.

Sie machen Ihren Liebsten sicher verrückt, sagte er.

Ich griff in meine Tasche und zog den Apfel hervor, den ich an diesem Morgen in einem kleinen Lebensmittelladen gekauft hatte. Er war kühl und knackig wie eine zweite Haut. Ich hielt ihn an meine brennende Wange. Und dann biss ich hinein.

Sehen Sie sich diesen Hund hier an, sagte der Mann, der ihr die Pferde verkauft hatte. Es ist ein Spitz, die älteste Rasse ihn Mitteleuropa. Sie stammt aus der Steinzeit. Ich sah mir das Porzellanfell des Steinzeitspitzes an und schüttelte den Kopf. Tut mir leid, sagte er lachend, die letzten beiden Pferde haben ein Zuhause gefunden. Meine Kundin hat bemerkt, wie Sie sie angesehen haben. Er senkte die Stimme und bedeutete mir, näher zu kommen.

Sie hat gesagt: Diese Frau will die Pferde, aber ich will die Pferde, und ich war zuerst da.

 

Ich hatte das Gefühl, dass sie mir etwas gestohlen hatte, etwas, das mir im Leben fehlen würde. Beraubt verließ ich den Stand der tanzenden Tiere und ging zu einem Wagen, auf dem sich Pistazien türmten. Auf dem Boden neben dem Wagen lag der schwarze Filz-Trilby, den die Frau getragen hatte. Sie hatte einen kleinen Zweig mit zarten hellrosa Blüten unter die graue Schleife gesteckt. Ich hatte bei einem Spaziergang an diesem Morgen dieselben Blumen an den Hängen der Hügel zur Akropolis gesehen. Vielleicht wuchsen sie dort schon, als echte Pferde Wagenladungen voller Marmor zum Bau des Parthenon hinaufgezogen haben.

Ich hob den Hut auf und sah mich nach ihr und dem alten Mann um, konnte sie aber nirgends entdecken. Ihr Begleiter war etwa so alt wie mein Lehrer Arthur Goldstein.

In diesem Augenblick beschloss ich, den Trilby zu behalten. Die Pferde gehörten ihr und nicht mir. Das schien mir ein fairer Tausch. Ich setzte ihn auf, direkt dort auf dem Markt, schob ihn nach vorne über meine Augen, wie sie es getan hatte. Noch etwas. Als sie mit den Pferden weggegangen war, hatte sie sich kurz umgedreht und zu einer Katze geblickt, die auf einer Mauer ganz in meiner Nähe schlief.

 

Ich hatte begonnen, jeden Tag Listen zu machen.

Meine früheren Klaviere

- Bösendorfer Flügel

- Steinway

Hier hörte ich auf und verschwieg die bescheideneren Klaviere meiner Kindheit.

 

Nach einer Weile schaute ich auf mein Fährenticket zur Insel Poros und merkte, dass ich noch zwei Stunden Zeit totzuschlagen hatte, bevor ich mich auf den Weg zum Hafen von Piräus machen musste.

2

Max und Bella tranken aus kleinen Tassen süßen griechischen Kaffee auf dem Dach des Café Avissinia, mit Blick auf die Akropolis. Beide waren ausgezeichnete Geiger. Für den Fall der Fälle spielten sie mit dem Gedanken, den Winter in Athen zu verbringen und warme Pullover zu kaufen. Bella würde sich auch nach ein paar Jumpsuits umsehen, die praktisch waren beim Cellospielen, ihrem zweiten Instrument. Sie bewunderten meinen Hut und fragten, wo ich ihn gekauft hatte. Ich erzählte ihnen von den Pferden und der Frau mit dem alten Mann.

Hört sich nicht so an, als hättest du dir groß Mühe gemacht, ihr den Hut zurückzugeben. Warum willst du denn die Pferde unbedingt haben?

Max und Bella sahen mich wissend an, aber was wussten sie schon?

Sie wussten, dass ich ein Wunderkind war, und sie wussten, dass meine Pflegeeltern mich im Alter von sechs Jahren Arthur Goldstein überließen, der mich adoptierte, damit ich Internatsschülerin an seiner Musikschule werden konnte. Ich war verpflanzt worden von einem bescheidenen Haus bei Ipswich in Suffolk in ein größeres Haus in Richmond, London. Sie wussten von meinem Stipendium an der Royal Academy of Music, sie wussten von den internationalen Preisen und der Carnegie Hall, von den Probeaufnahmen und Klavierkonzerten unter dem Taktstock der größten Dirigenten, und erst kürzlich und verheerend, im Wiener Musikverein. Sie wussten von meinen gefeierten Interpretationen von Bach, Mozart, Chopin, Liszt, Ravel, Schumann, und sie wussten, dass ich die Nerven verloren hatte und Fehler machte. Sie wussten, dass ich jetzt 34 war. Keine Geliebten. Keine Kinder. Auf meinem Klavier stand keine heimelige Tasse Kaffee, Kaffeelöffel auf dem Unterteller, kein Hund im Hintergrund, vor dem Fenster in Sichtweite kein Fluss und in der Küche kein Partner, der Pancakes buk. Und sie wussten, dass ich drei Wochen zuvor ein Konzert vermasselt hatte und während Rachmaninoffs 2. Klavierkonzert in Wien von der Bühne gegangen war. Ich hatte genau dieses Konzert schon viele Male zuvor gespielt. Sie wussten, dass ich auf dem Weg zur griechischen Insel Poros war, um einen Dreizehnjährigen zu unterrichten. Nur drei Klavierstunden waren angesetzt. Wir hatten vereinbart, dass ich Stundenlohn in bar bekommen würde. Vielleicht dachten sie, ich könnte eine Aufmunterung vertragen. Max und Bella verkündeten, sie hätten eine Überraschung für mich. Sie hatten mir eine Bootsfahrt bei ihrem Freund Vass gebucht, einem Fischer, der vor meiner ersten Unterrichtsstunde mit mir nach Seeigeln tauchen würde.

Bella sah glücklich aus. Dass sie in Max verliebt war, gab ihr offenbar das Gefühl, sie könne alles sagen, was sie wollte, weil sie in Liebe gepackt war. Hör mal, Elsa, wir wissen, es geht genauso um Arthur wie um alles andere. Ich meine, was ist Arthur für ein Arsch. Wir haben kapiert, dass du seine Inspiration warst, seine kindliche Muse, offen gesagt sogar seine Rettung. Niemand kann dem gerecht werden. Elsa, er ist ein kleiner Mann. Mit Komplexen.

Sie zog das Wort K-o-m-p-l-e-x-e-n in die Länge.

Wer hat nicht selbst ein paar?

Aber im Ernst, der Mann trägt eine drei Meter lange Krawatte, damit man ihn bemerkt.

Ja, sagte ich, das ist einer der Gründe, warum ich ihn liebe.

Arthur hatte mir nach dem verheerenden Konzert geschrieben. Ich spürte, dass du nicht da warst, als du auf die Bühne gegangen bist. Wo warst du, Elsa?

Weit weg.

Unter dem Taktstock von M wusste ich nicht mehr, wo wir waren. Das Orchester spielte in die eine Richtung, das Klavier in die andere. Meine Finger weigerten sich, sich Rachmaninoff zu beugen, und ich spielte etwas anderes. Arthur hatte mir mit sechs Jahren beigebracht, »meinen Geist von den gewöhnlichen Dingen zu lösen«, aber offenbar hatten sich an diesem Abend gewöhnliche Dinge in meinen Geist eingeschlichen.

Max fragte mich, ob es stimme, dass Arthur nun auf Sardinien lebte. Ich bestätigte es ihm. Er besaß ein kleines Haus in einer Stadt, die für ihre Melonen bekannt war, 64 Kilometer von Cagliari entfernt, in der Provinz Oristano. Jahrelang hatte er dort seine Urlaube verbracht, jetzt hatte er es zu seinem Zuhause gemacht.

Sie wollten wissen, warum.

Er denkt, Liebe sei im Süden besser möglich.

Ist Arthur mit jemandem zusammen?

Ich weiß es nicht.

Sie hatten es als Scherz gemeint, denn er war mittlerweile 80. Ich hatte noch nie etwas über sein Liebesleben gewusst. Ich hatte Arthur noch nie mit jemandem gesehen, ging aber davon aus, dass er so seine Arrangements hatte. Er war 52, als er mich adoptierte, vielleicht waren also die glühendsten Teile seiner Libido bereits ein wenig abgekühlt.

Außerdem, sagte Bella, als hätte sie eine Liste mit zu lösenden Geheimnissen, auf der auch mein Name stand, wissen wir nicht, warum du irgendwelche untalentierten Kinder unterrichtest. Du weißt doch, Elsa, jedes Konservatorium der Welt würde dich als angesehene Professorin anstellen. Sei mal realistisch.

Ich versuchte auf eine Art, die Bella gefallen müsste, realistisch zu sein, also sagte ich: Ja, ich unterrichte, um die Miete zu bezahlen und mir einen Döner zu kaufen, bis die Pandemie vorbei ist. Das stimmte nicht; mit meinen Ersparnissen hätte ich über die Runden kommen können, aber ich wollte den Schwanz einziehen, alles, was gerade in mir vorging, anhalten. Arthur war mein Lehrer, aber auch eine Art Vater. Der einzige Vater, den ich je hatte, und ich liebte ihn über alle Maßen. Als ich jung war, saß er immer an meiner Seite, wenn ich spielte. Deine Finger schlafen, rief er dann, was hat es für einen Sinn, eine Schläferin zu unterrichten? Gleichzeitig waren meine Finger ganz lebendig. Zitterten. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, um ihm zu gefallen.

Ich hatte kein Verlangen, meinen eigenen Schülern Angst zu machen.

 

Bella beugte sich über den Tisch und küsste mich auf die Wange. Wir kannten einander schon sehr lange. Ihr Ex-Mann, Rajesh, war einen Monat lang Schüler bei Arthurs Sommerunterricht gewesen. Wir hatten uns kennengelernt, als wir zwölf waren, und waren seither gute Freunde. Ich hatte Bella Rajesh sogar vorgestellt, als beide 20 waren. Drei Jahre später hatten sie geheiratet, was damals niemand verstand. Jetzt hatten sie sich vor Kurzem getrennt, und sie hat sich in Athen Max geangelt. Ich spürte diese lange Geschichte und ihre Sorgen in ihrem Kuss. Meine Wange mit ihren Lippen zu berühren, war ziemlich gefährlich. Ich hatte den Überblick verloren, wo wir gerade standen in den verschiedenen Wellen des Virus. Die großen Lockdowns waren vorüber, aber alle hatten immer noch Angst.

Elsa, sagte Bella, bitte vergiss den Rach und lächle mal wieder.

Sergei Rachmaninoff lächelte nie. Seine mächtige linke Hand, sein ernstes Gesicht, die Traurigkeit, die sich hob, als er das 2. Klavier konzert spielte. Vielleicht hätte er gelächelt, weil wir ihn immer Rach nannten, als wäre er ein Freund, der vorbeikommt, um sich ein Ladegerät auszuleihen. Schon seit ich 15 war, begleiteten mich seine großen musikalischen Gedanken. Eine Zeit lang hatten Arthur und ich an nichts anderem als an Rach und Tschaikowsky gearbeitet, denn, wie Arthur mir gezeigt hatte, war Rachmaninoff in Tschaikowsky verliebt, aber er selbst war strukturell viel innovativer. Auch wenn wir in unterschiedlichen Jahrhunderten lebten, so waren Rach und ich beide bereits in früher Jugend bekannte Solisten und gaben Konzerte an verschiedenen Konservatorien.

Ich winkte den Kellner zu mir, mit den Fingern, wie es eine Diva vielleicht getan hätte. Lasst uns weiterziehen, schlug ich vor, ich will euch auf ein Glas Ouzo einladen. Ich muss zum Hafen von Piräus. Der Kellner brachte die Gläser, und wir hoben sie, ohne zu wissen, was wir als Nächstes sagen sollten. Jemand hatte die Worte Tod Drogen Leben Schönheit in schwarzer Farbe unter den geschwungenen Zweig eines Jasminstrauchs gemalt, der offenbar in einer zweiten Herbstblüte stand.

Ich setzte den Hut auf und hörte mich selbst im Einklang mit der Frau, die die Pferde gekauft hatte. Ich werde dich finden, sagte ich in meinem Kopf zu ihr. Im Austausch gegen deinen Hut gibst du mir die Pferde.

Bella wandte den Kopf ab, um zu verbergen, welche Blicke sie gerade mit Max ausgetauscht hatte.

Ich verstehe es einfach nicht, sagte sie. Das Konzert, bei dem du gegangen bist. Ich meine, Rach hatte riesige Hände. Von der Spitze seines kleinen Fingers bis zur Daumenspitze konnte er zwölf Klaviertasten greifen.

Hat mich bisher nie gekümmert, gab ich zurück, dachte dabei aber an die rosa Acrylnägel des Models auf dem Cover des Shopping-Magazins auf meinem Flug nach Athen. Ihre blasse Hand hatte für mich wie die einer Leiche ausgesehen, jeder Fleck und jedes Fältchen waren wegretuschiert worden. Zwischen ihren schlaffen Fingern hielt sie den Stiel eines Cocktailglases, das halb mit einer pinken Flüssigkeit, passend zu ihren Nägeln, gefüllt war. Irgendwas Alkoholisches. Offenbar erschuf dieser Drink Emotionen. Das stand da jedenfalls, Gefühle werden aus diesem Drink gemacht. Gleichzeitig spielte ich in meinem Kopf eine melancholische Mazurka von Frédéric Chopin, Op. 17, Nr. 4. Bella tippte mir auf die Schulter. Falls du Rajesh triffst, wenn du wieder in London bist, dann sag ihm, dass er mir sechs Monate unserer Hypothek schuldet.

Jetzt war Max dran: Hey, Elsa, ich weiß nicht, was passiert ist, aber alle wollen, dass du wieder spielst. Als hättest du dich selbst abgeschrieben. Ich rückte den Hut zurecht, schob ihn leicht nach vorn. Ein Vogelchor besang meinen Weg aus dem Haus, als ich die Treppe vom Dach zum Ausgang hinabstieg.

Bella rief mir etwas zu. Ich hatte mein Telefon auf dem Tisch liegen gelassen. Der Klingelton war Vogelgesang. Auf meinem Weg zurück zum Tisch trällerte und zwitscherte eine Vogelart, wie jedes Mal, wenn ich eine Nachricht bekam. Arthur bat mich von Sardinien aus über WhatsApp, ihn zu besuchen. Meine Finger tippten: Aber ich arbeite.

Pass auf deine Hände auf, schrieb er zurück.

Ich glaube, dass meine Hände, wie der Drink auf dem Magazin, Gefühle hervorriefen. Und dann schrieb er in Großbuchstaben mit seiner uralten rechten Hand, mit der Hand, die mein Kinderhandgelenk packte und es hochzog, wenn er wollte, dass ich die Pedale mehr einsetzte:

WASISTMITDEMBLAU?

 

Eine Woche vor dem Rachmaninoff-Konzert hatte ich beschlossen, meine Haare blau zu färben. Arthur wollte es mir ausreden. Schließlich war mein braunes Haar, das ich immer um den Kopf geflochten trug, mein Markenzeichen. Elsa M. Anderson, die Klaviervirtuosin, die in mancherlei Hinsicht einer Primaballerina glich. Als Teenie experimentierte ich mit zwei Zöpfen, die ich zu Schnecken gedreht an den Seiten feststeckte. Arthur fand, dieser Frisur fehle die Würde, aber ich behielt sie für eine Weile. Meine Liebe, sagte er, wenn du wild entschlossen bist, dir dein schönes Haar zu ruinieren, dann wenigstens bei meinem Friseur in Kensington.

Blau war eine Abspaltung von meiner DNA. Wir wussten beide, dass ich die Möglichkeit beseitigen wollte, dass ich meinen unbekannten Eltern gleichen könnte. Arthur fand es befremdlich, dass ich keinerlei Drang verspürte, sie zu suchen. Oder Kontakt zu meinen Pflegeeltern aufzunehmen. Als ich zehn Jahre alt war, hatte er mir gesagt, dass ich mir jederzeit »die Akte« ansehen könne. Er meinte die Adoptionsurkunde. Ich glaube, er hat sich immer auf die unvermeidliche Suche nach meinen biologischen Eltern vorbereitet. Aber ich wollte »die Akte« nie sehen und sagte ihm das. Arthur antwortete immer: Ich bewundere deine große Stärke.

Als er beim Friseur erschien, war ich bereits seit drei Stunden dort. Meine Haare mussten gebleicht werden, bevor die Farbe aufgetragen werden konnte. Arthur hatte uns jeweils ein Sandwich von Pret A Manger gekauft. Er reichte mir meins und gestand mir, dass er außerdem zwei Schoko-Marshmallow-Kekse gekauft hatte, die in seiner Tasche dahinschmolzen. Aus irgendeinem Grund wollte er über Nietzsches Verhältnis zu Wagner sprechen, nicht nur mit mir, sondern mit dem ganzen Personal des Salons. Vielleicht war er nervös wegen des Blaus. Die Friseurin, die zusammen mit der Frau für die Farben an meinem Haar arbeitete, fragte ihn, wer diese beiden Männer seien.

Nietzsche war der allzu menschliche Philosoph, sagte Arthur, Wagner der Komponist, vor allem von leidenschaftlichen Opern. Nietzsche hätte sich von den beiden wohl eher den Schnauz blau gefärbt. Was hatten sie also für ein Verhältnis? Das ist eine Frage der Temperatur, gab Arthur zurück, brodelnd wäre das Wort für ihr Verhältnis. Offenbar hatte sich Nietzsche dem französischen Komponisten Bizet zugewandt, um sich seiner Schwärmerei für Wagner zu entledigen, denn es war die Musik, die die Morgensonne in sich trug. Ja, sagte Arthur, Nietzsche beschloss, dass Bizets Musik von einer »südlicheren, bräuneren, verbrannteren Sensibilität …« sei. Arthur setzte sich und begann sein Sandwich auszupacken. Tatsächlich, sagte er, sind Nietzsches eigene Kompositionen ekklesiastisch für jemanden, der von jedem Berg und jeder Brücke schrie »Gott ist tot«. Er spielte Klavier und komponierte noch bis ins Alter, aber er hatte das Gefühl, als Komponist gescheitert zu sein, was wahrscheinlich stimmte. Auch Wagner empfand es so. Offen gesagt, was auch in Nietzsches Kopf vorging, wurde philosophisch besser ausgedrückt als musikalisch. Meine Haare wurden mit einem kleinen Pinsel bemalt. Der Geruch von Bleiche ließ meine Augen tränen. Nun, das kannst du nicht wissen, sagte ich, während die Farbfrau mein Kinn nach unten schob, du weißt nichts von Nietzsches eigenen Kompositionen, von denen, die er nie schrieb.

Oh, tue ich doch, erwiderte Arthur geheimnisvoll, manche von uns sind Schöpfer – er biss in sein Ei-Mayonnaise-Sandwich – und der Rest von uns sind Interpreten.

Vielleicht sprach er von meinen eigenen frühen Kompositionsversuchen. Es war, als wüsste er, dass ich etwas hören konnte, das er nicht verstand, und das nahm er mir übel. Meine Finger fanden die Tasten, und ich stellte fest, dass ich eine Sichtweise hatte. Alles, was ich tun musste, um einen freien Blick zu bekommen, war zuzuhören.

Die Friseurin bat mich, ein wenig zu verrutschen, damit sie meinen schwarzen Schutzumhang neu binden konnte.

Nietzsche glaubte zu Recht, fuhr Arthur fort, während er sich die Lippen mit einer Serviette abtupfte, dass Musik die höchste Kunst ist, die Essenz des Seins. Dennoch brach er mit Wagners unglaublich ermüdenden Melodien, so wie jemand einen Teller zerbricht und keinen Sinn darin sieht, ihn wieder zusammenzusetzen. Arthur pickte jetzt mit forensischer Gründlichkeit das Eiweiß aus seinem Ei-Mayonnaise-Sandwich heraus. Die Vorstellung von einer verbrannteren Sensibilität schien ihn zu begeistern, vielleicht wegen seines Hauses auf Sardinien. Ich stimme Nietzsche zu, sagte er und warf seinen Gehstock auf den Boden, die Liebe ist im Süden besser möglich.

Blau muss auf ein sehr helles Blond aufgetragen werden. Das Ganze dauert fast sechs Stunden. Ich spürte, dass Arthur aufgeregt war, erschüttert und ein wenig aufgebracht. Wir nippten am Tee, ich mit meinen Haaren unter Folie. Einmal küsste er meine Hand, als hätte ich eine größere Operation vor mir. Er hörte nicht auf zu reden. Hatte er ihnen schon erzählt, fragte er, dass er mich immer von der Schule abgeholt hatte, wobei sich eines Tages sein weißer Chiffon-Schal fast in den Reifen seines Wagens verfangen und ihn erwürgt hätte, genau wie bei Isadora Duncan? Elsa ist hin-ge-rissen von Isadora, flüsterte er der Farbfriseurin zu, die gerade der Auszubildenden Anweisungen gab, wo sie ihr einen Quinoasalat kaufen sollte. Arthur wusste, dass ich die Autobiographie von Isadora Duncan las, der Mutter des modernen Tanzes, wie sie manchmal genannt wurde. Ich sah mir oft die Schüler von Isadoras Technik auf YouTube an, wenn sie ihre Choreographien aufführten, meistens zur Musik von Bach, Mendelsohn, Chopin, Schumann. Sie waren barfuß und trugen hauchdünne Togas. Ich glaube, die Idee war, mir zu zeigen, wie man glücklich und frei ist.

Die Farbspezialistin sprach immer noch mit der Auszubildenden. Sie fügte noch eine Cola zur Bestellung hinzu und erklärte, dass diese kalt wie eine Leiche sein sollte.

Eine Leiche ist nicht zwingend kalt, meine Liebe, schaltete sich Arthur ein. Es dauert mindestens zwölf Stunden, bis das Blut im menschlichen Körper abgekühlt ist.