Landschaft verschluckt - Deborah Levy - E-Book

Landschaft verschluckt E-Book

Deborah Levy

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Beschreibung

"Es gefällt dir, dass ich einfach nur J.K. genannt werde", sagt sie zu ihrem Kompagnon, der von ihrer Ungebundenheit, ihrem Freiheitsdrang weiß. "Du trägst sogar im Bett Schuhe, damit du vor mir wegrennen kannst." Bleibt man für den anderen immer fremd, ganz gleich, wie nah man sich kommt? In diesem frühen Roman von Deborah Levy ist eine junge Frau wie ihr "Namensvetter" Jack Kerouac on the road – in einer sich immer schneller drehenden, zunehmend fragmentierten Welt. "J.K. ist die Streunerin, die Pennerin, die Emigrantin, die Geflüchtete, die Deportierte, die Spaziergängerin, die umherziehende Spielerin. Manchmal wäre sie gern eine Siedlerin, aber Neugier, Trauer und Entfremdung verhindern das." J.K. will mit leichtem Gepäck unterwegs sein, aber die Last ihrer Herkunft, der Erinnerungen wiegt schwer. Und wohin geht eigentlich diese Reise?

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Seitenzahl: 116

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Deborah Levy

Landschaft verschluckt

Roman

Aus dem Englischen von Marion Hertle

Nicole Mangiola

Und ich sage jedem Mann und jeder Frau: Lass deine Seele kühl und gelassen vor einer Million Welten stehen.

Ich widerspreche mir selbst?

Nun gut, ich widerspreche mir selbst

(Ich bin ja groß, ich enthalte Vielfältigkeiten.)

Walt Whitman, Gesang meiner selbst

1Die Kaulquappenfelder

»Wenn du Angst hast, geschieht das dann im Detail oder empfindest du nur eine Art Macht?« Die Goldplombe in Gregorys Vorderzahn leuchtet J.K. ins Auge. »Ich kann dich nicht hören.«

Sie sitzen in einer Bar am Flughafen Roissy Charles de Gaulle, Paris, von Spiegeln umgeben, auf denen der Eiffelturm zu sehen ist. Markennamen wie Segafredo, Perrier, Dior, Kronenbourg 1664 und Chanel kreisen wie Planeten über ihnen. Die dicke, blonde kalifornische Kellnerin knallt zwei Cocktails auf den Tisch.

»Das sind echte Killer«, sagt sie.

 

»Als würde Paris unter einer Decke liegen. Ich höre es nur leise.«

J.K. sagt nichts, denn dieser Tage ist auch Gregorys Stimme sehr leise, als fürchte er, sie aus seinem großen Körper herauszulassen. Sie schnappt einzelne Wörter wie Übelkeit, Brustschmerzen, Baltikum, Mutter, Vater, Aspirin und manchmal seinen Blick auf.

»Sieh dir die Inschrift in diesem Buch an.«

Sie rückt näher an das Geheimnis in seinem Körper, das seine Stimme zügelt. Es ist eine alte Ausgabe von Kurzgeschichten, 1941 auf dünnes, fast durchsichtiges Papier gedruckt.

Lass dieses Buch im Postamt zurück, wenn du es gelesen hast, damit sich auch Männer und Frauen, die Dienst tun, daran erfreuen können.

 

Am Tag zuvor waren sie Arm in Arm schweigend zur Pigalle spaziert, um dort den Trans-Huren zuzusehen, wie sie an Autos oder Wänden lehnten, Lippenstift auftrugen, rauchten, vorbeigehenden Männern etwas zuriefen, wie ihre glasigen, verstrahlten Augen sich an diesen oder jenen Mann hefteten und dann wieder anderswohin.

»Welche Art von kulturellem Virus hat diesen Jungs beigebracht, ihre Hüften so vorzustrecken, die Lippen zu schürzen und ihre Titten bis auf die andere Straßenseite zu recken?«, fragt Gregory.

»Stehst du auf so was?«

»Sie sind umwerfend. Mir gefällt der da drüben mit dem langen schwarzen Zopf … er reicht ihm bis zu den Knien, siehst du … mit der roten Feder auf dem Hut.«

 

KOMMSPRICHMITMIR! Eine unheimliche Stakkato-Stimme. Die Stimme von Zigarettenwerbung, gleißender Sonne, einer billigen Klitsche mit toten Fliegen auf dem Boden. Sie drehen sich um und merken, dass sie vor einer Spielhölle stehen, CASINO steht in bunten Glühbirnen über der Tür. KOMMSPRICHMITMIR! Die brummende Yankee-Stimme dringt aus einer silberverchromten Maschine. Auf dem Bildschirm springt ein breiter Muskelmann vor einer digitalen Stadtlandschaft mit Hochhäusern und Highways auf und ab. Die Hände in den Taschen seiner Regenjacke sagt er mit zur Seite zuckendem Kiefer noch einmal schleppend: KOMMSPRICHMITMIR!

Gregory stupst J.K. am Arm. »Hör auf den Mann, los, wir nehmen seine Einladung an.« Er steckt zehn Franc in den Schlitz.

HEY, WIEGEHT’S?, sagt der Mann. TIPPETWASEIN, UNDICHWERDEANTWORTEN. Die Pixel wirbeln, als der Stadtcowboy die Arme verschränkt und sich vorbeugt.

»Das ist auf Englisch.«

»Komm, sag ihm, wie’s dir geht.«

Gregory wendet sich zu dem Mann. Er wirft noch mal zehn Franc in die Maschine und spreizt die Finger. Rosa und blaue Glühbirnen leuchten über ihm auf.

 

Brennen deine Lippen, wenn sie richtig geküsst werden? Ich will sie küssen, Baby. Ich will ich will ich will. Ich möchte dich vögeln. Ich möchte dich glücklich machen. Wie soll ich dich anfassen? Im Flugzeug hierher zeigte die Stewardess verschiedene Arten, wie man einen Flugzeugabsturz überleben kann. Sie sagte, wir müssten in eine Pfeife blasen, um die Aufmerksamkeit auf uns zu lenken. Findest du das nicht ein wenig narzisstisch? Wenn jeder im Alltag, der Aufmerksamkeit haben will, in eine Pfeife bläst, wo kommen wir da hin? Was tust du, damit du geliebt wirst? Ich arbeite mit billigen Tricks, um gemocht zu werden. Ich gebe den Leuten das Gefühl, wichtiger zu sein, als sie sind, schmeichle ihnen, und wenn jemand einen tollen Cocktail macht, nehme ich einen Schluck und rufe SCHMETTERLINGEIMBAUCH! In England zünde ich meine Zigaretten mit Streichhölzern Made in Yugoslavia an. Das Bildchen auf der Schachtel zeigt das »Malerische Cornwall« mit einer ganzen Reihe von Schildern am Rand einer Klippe. Auf einem steht FALKLANDINSELN8109, auf einem anderen AUSTRALIEN170001. Ich erzähle dir das, weil ich als Junge Briefmarken gesammelt habe. Das war meine Art, den Orten einen Namen zu geben und die Welt zu erobern. Eine Briefmarke ist ein kleines Bild der Welt. Dadurch hatte ich viele kleine Bilder der Welt. Madagaskar, China, Mexiko, Argentinien, Ägypten. Eine Art virtuelle Realität.

 

Wie heißt du, mein Süßer? Johnny oder Sam oder Brett? Ich will dir einen blasen, und ich will, dass du über Fußball und Religion und Hamburger und Schönheit und den Tod sprichst und darüber, wie es sich anfühlt zu kommen. Bist du in der Schule gemobbt worden? Hast du als Teenager Stunden damit verbracht, dich in deinem Zimmer umzuziehen? Hast du gespart, um dir die Schuhe und Shirts kaufen zu können, die andere Kids trugen? Welche Art von Darwinismus hat dich geprägt? Willst du irgendetwas an dir ändern? Vielleicht eine tiefere Stimme oder eine andere Nase haben? Fühlst du dich sicher in dieser Welt? Oder einsam und voller Angst? Welche technischen Geräte hast du bei dir zu Hause? Schenken sie dir Trost? Baby, bist du manchmal deprimiert? Baby, pass auf dich auf. Oh, Baby, ich will dich streicheln und dir etwas zuflüstern, damit du keine Angst mehr hast.

 

Süßer, ich will dir von einer Zugfahrt mit meinem Typen nach Kiew erzählen. Wir hatten Sex, gerade als wir uns Tschernobyl näherten, und die Lautsprecher in unserem Waggon spielten eine Art Klagelied in Erinnerung an die Tragödie des Atomunfalls. Irgendwie schien es an alle Tragödien der Welt zu erinnern. Die Schreie unseres Liebesspiels, während wir an verseuchten Rindern vorbeifuhren, an Kindern mit rasierten Köpfen, die neben dem Bahngleis spielten, und die unheimliche Stille der deformierten Bäume – sonst war nichts zu hören. Schnee fiel, wir schwitzten, eng umschlungen, und Süßer, in diesem Augenblick waren wir völlig furchtlos. Die Hochhausblocks mit den Wohnsilos, in denen wir übernachteten, hießen »Die Schlaf-Region«. Ich bin in so einem Block in London aufgewachsen. Als Kinder ernährten wir uns von Dosen mit Bohnen und Fleischbällchen und wollten nie schlafen gehen, weil wir uns fürchteten. Liebling, schläfst du tief, ruhig und entspannt? Schläft jemand neben dir? Atmet in das Kissen neben dir, und du wachst als Erster auf und spürst jemanden neben dir, und es ist großartig, dass da jemand ist, und du weißt, dass alle ganz bald aufwachen werden, und dann rutscht ihr näher zusammen, und ihr startet irgendwie gemeinsam in einen neuen Tag? In Kiew öffnete ich Dosen mit Kaviar und Krebsfleisch, mit harter Währung bezahlt, und wir schliefen gut. Wir schliefen gut, und draußen herrschte eine Hungersnot. Der Zirkus spielte jeden Abend in Kiew, und ein alter Mann, der neben mir saß, machte einen Witz darüber, dass nach der Aufführung die Katzen und Pferde gegessen werden. Bist du glücklich mit deinem Leben, mein Süßer? »Touristen erkennt man immer, ihre Augen wissen nicht, wohin sie wandern sollen. Hier weiß es jeder.« Weißt du, wohin du gehst, Baby? Ist es ein guter Ort? Über den man zu Hause berichten kann? Ist zu Hause ein guter Ort? Oder nur ein Ort, an den man zurückkehrt?

 

Freust du dich, morgens die Augen aufzumachen? Was siehst du? Gefällt dir, was du siehst? Falls nicht, hast du das Gefühl, dass es in deiner Macht liegt, es gegen etwas anderes auszutauschen? Oh, mein Liebster, darf ich dich so nennen – mein Liebster –, stellen wir uns vor, wie es wäre, du und ich im Kuss versunken, an irgendeinem Ort im amerikanischen Süden, wo der Klan unsere Brüder gelyncht hat? Du und ich in einem Wagen auf dem Highway, Pläne für die Zukunft schmiedend. Das Radio läuft, und wir hören vom Zerfall der Sowjetunion, und dann läuft Werbung für Pepsi und Bagel-Chips und dann wieder zurück zum Krieg in Jugoslawien, Nationalismus, Internationalismus, eine Wahl in England, Flüchtende, die auf der Suche nach einem Land, das sie ernährt, Berge überwinden, ein Jingle für Vitaminpillen, und die ganze Zeit über sind wir scharf aufeinander, bei all diesen Weltnachrichten wollen wir uns nur gegenseitig an die Wäsche, und wir halten zum Tanken an, und ich sage: Nein, Baby, zünd dir jetzt keine Zigarette an, warte, bis wir losgefahren sind, wir steigen sowieso bald in einem Motel ab. Hey, Brett, ich träume mir Amerika! Alles aus Filmen und Zeitschriften, ich fummle herum, um dich zu Amerika zu machen. Ich fummle herum, um dich zu erschaffen und dich abzuschaffen. Abe Lincoln auf deinen Dollar-Scheinen – INGODWETRUST – Pastrami und Benzin, Tacos und Bier mit diesem Bild gekauft, er ist der Typ, der alles am Laufen hält. Ich stopfe mir Schokolade in den Mund, und Baby … du bist so hart, so hart, Honey … du bist ganz scharf, und ich rede schmutziges Zeug, rede von Sex, rede über Politik, und du stehst voll drauf, habe meine Finger in deiner Achselhöhle, und du schwitzt voll. Ich will dich auch, Baby, ich will dich auch. Du kennst doch diesen Springsteen-Song … oh Baby I’d drive all night jus’ to buy you a pair of shoes? Das würde ich tun. Ich würde zur Hölle fahren und wieder zurück, nur damit du mich liebst. Wie liebst du? Schweigst du dich darüber aus und hältst alles zurück, oder sprichst du es aus? Was sind deine Liebesworte, Baby? Was, wenn die Vereinigten Staaten auseinanderbrechen? Würde Gott auch auseinanderbrechen, und die Steinsäulen vom Abe-Lincoln-Memorial und die Statuen von George Washington würden von Grünflächen gerissen, von Wassersprinklern nassgespritzt? Von Kränen und Bulldozern abgerissen?

 

Jetzt stelle ich mir die Schweiz vor, Brett. Ich kann Schnee sehen und Dielenböden, Kaffeehäuser und Sahnetorten und blonde Menschen, die mit kleinen Silberlöffeln klirrend in ihren Tassen rühren. Ich sehe Kinder in beheizten Kindergärten, sehr warm und sehr sauber, ihre kleinen Winterstiefel sind vor der Wand aufgereiht und die Handschuhe an die Ärmel genäht. Da kann ich mir dich nicht vorstellen, Brett. Ich versuche mir einen Lehrer vorzustellen, der sich über deine Schulter beugt, während du deine Mutter und deinen Vater malst und das Haus, in dem du wohnst, und riesige Blumen – aber ich kann mir dich einfach nicht in der Schweiz beim Skifahren und Schokoladeessen vorstellen. Du würdest wahrscheinlich in dein Chalet hochdüsen, dich in deinen Shorts unter das Oberlicht legen, die Arme hinter dem Nacken verschränken, zu den Sternen hinaufschauen und von zu Hause, Bourbon, Cookies und einem Haarschnitt träumen. Siehst du, wie ich dich erfinde, genau wie die Schweiz und Amerika? Fühlt es sich an, als würde es zu dir passen? Hast du mich auch erfunden? Bin ich irgend so eine englische Schwuchtel, die hinter Jungs her ist und in schwarzem Leder und Stroboskop-Licht zu Diskogedröhn ins Erwachsenenleben gondelt? Es gibt so viel zu bereden, Baby, nur du und ich, von Mann zu Mann. Hast du von dem Mann gehört, der zum Psychologen ging und sagte: Herr Doktor, ich glaube, ich bin ein Hund, und der Arzt sagte: Das kriegen wir gleich raus, und jetzt ab auf die Couch. Und der Mann sagte: Aber das darf ich doch gar nicht. Also, ich will, dass du bist, was du willst, Süßer, ich höre dir zu, ich höre mir alles an, was du sein willst und nicht sein durftest. Brett, ich meine, erfinde dich für mich, Baby, du hast so viele Versuche, wie du willst, sei der Mann, der du immer sein wolltest, und ich bin der Mann, der dir das erlaubt. Brett, das Leben ist lang, findest du nicht auch? Wenn du die Stunden und Tage und Monate zusammenzählst, ist es viel Zeit. Wie oft in dieser langen Zeit hast du dich kostbar gefühlt? Ich will, dass du dich kostbar fühlst, mein Schatz, mein Liebling. Bist du je durch eine Stadt gefahren, die du nicht besonders gut kennst, ganz allein? Es ist Nacht, und du hast dich verirrt. Du hattest zu viele Biere in einer Bar, in der sie dich anschauen, als wärst du ein Außerirdischer, und anderswo, in einer anderen Stadt, da ist jemand, der dich liebt, und du stellst dir vor, wie sie dich jetzt in dieser Bar anschauen, dich abchecken, welche Schuhe du heute angezogen hast, was du trinkst und in was für einer Stimmung du bist? Und du willst diesen Leuten in der Bar sagen, die dich für irgendeinen Irren halten, der hereingeschneit ist, um sie zu vernichten: Ich habe mit denselben Dingen zu tun wie ihr, ich habe Menschen, die mich lieben, und ich sehe fern und habe einen Geburtstag, und ich putze meine Zähne und bin nicht immer so, esse nicht immer alleine Scheißpizza mit diesem verlorenen Blick in den Augen. Und dann steigst du ins Auto, und keines der Straßenschilder ergibt einen Sinn, und du fängst einfach nur an zu weinen. Brett, hast du das schon mal gemacht? Und du denkst an all die Menschen, die du übel sitzenlassen hast, und an alle, die dich abgesägt haben, und deine Taschen sind voller alter Rechnungen und Strafzettel, und du kehrst alle Geheimnisse nach außen, die du in dir trägst?

 

HÖRTSICHAN, ALSWÜRDESTDUHILFEBRAUCHEN! Der gutaussehende Stadt-Cowboy löst seine starken verschränkten Arme und zieht seine Pistole. Plötzlich springt er auf ein fahrendes Auto, schießt, springt wieder runter, zieht einem Mann seine Knarre über den Kopf, rennt, springt über ein Motorrad und kauert dahinter, schießt, klettert ein Hochhaus hinauf, hält sich mit einer Hand fest und schießt mit der anderen, stößt einen Verfolger mit einem Tritt vom Gebäude, erschießt ihn noch im Fallen, taucht unter einer Fensterscheibe durch, erschießt zwei drei vier fünf sechs andere Männer, rennt aufs Dach des Wolkenkratzers, winkt einen Hubschrauber herbei, steigt ein und füllt das Herz der Stadt mit Kugeln – eine Schlaufe aus Schüssen und Sterben und Sterben und Schüssen und Schüssen und Sterben, und dann sagt die Stimme … KOMMSPRICHMITMIR …