Auronja - Reise zur Wüstenstadt - Angela Planert - E-Book
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Auronja - Reise zur Wüstenstadt E-Book

Angela Planert

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Beschreibung

Aurelius, Herrscher von Auronja hat alle Oasen mit den kostbaren Wasserreserven von seinen Soldaten besetzten lassen. Wer sich finanziell in der Lage befindet die geforderten Abgaben zu zahlen, erhält Zugang zum kostbaren Lebenselixier. Die anderen Bewohner, fliehen auf die eisige Hochebene, um dem drohenden Tod durch Verdursten zu entkommen. Auch Bratarak, einst Lehrer im Dienste Aurelius’, reist mit seiner Tochter Irina, der Heilerin, und einigen anderen Wüstenbewohnern in das schneebedeckte Nachbarland. Dort begegnen sie dem jungen Krieger, den die Hochländer »Filius« nennen. Warum dieser junge Mann seit langer Zeit fern seiner Wüstenheimat lebt und welches unglaubliche Geheimnis er verbirgt, ahnt hier niemand. Mit der Zeit stellt sich heraus, dass der meist schweigsamen Krieger einst Schüler von Bratarak war. Filius’ wenige Äußerungen verwirren Bratarak oft mehr, als dass sie ihm helfen, ihn zu verstehen. Um das Geheimnis, um den jungen Krieger zu lüften, beschließt der Lehrer seinem ehemaligen Schützling auf dessen gefahrvoller, fast aussichtsloser Reise nach Auronja zu folgen und macht dabei eine schier unglaubliche Entdeckung …

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Angela Planert

Auronja - Reise zur Wüstenstadt

Reise zur Wüstenstadt

 

 

 

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- gekürzte Vorschau -

Inhaltsverzeichnis

Titel

Zeit

Gift

Zur Jagd

Wölfe

Cara

Anklage

Schneesturm

Misstrauen

Der Brief

Der Befehl

Veränderung

Das Ende

Die Oase

Entscheidung

Der Mondgarten

Herr des Mondgartens

Der Angriff

Verdacht

Aufbruch

Heimkehr

Kampf

Aurelius

Flucht

Zweifel

Nachricht

Wendung

Impressum tolino

Zeit

Auronja

Siebenter selenorischer Roman

von

Angela Planert

Reise zur Wüstenstadt

Impressum

Angela Planert

Auronja

Siebenter selenorischer Roman

© Angela Planert

www.Angela-Planert.de

© Angela Planert 2018

Druckversion 5.0 Stand: Februar 2018

Umfang: ca. 568.570 Zeichen

Covergestaltung: © Florian Witkowski

www.fw-grafikdesign.de

Illustration Jujoweh

www.facebook.com/jujoweh?ref=bookmarks

Lektorat: Kerstin Peschel

Alle Rechte vorbehalten. Insbesondere sind inbegriffen: das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen sowie allen anderen Printmedien, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video (auch einzelner Text- und Bildteile) sowie der Übersetzung in andere Sprachen.

Inhaltsverzeichnis

Zeit

Worte eines Djakos,

dem Herrschers Auronjas

»Ich erhebe mein Bewusstsein bis zur Sonne hinauf,

die mit ihrem heißen Licht mein Land Auronja prägt und

das Feuerzeichen auf meinem Körper symbolisiert.

Die Grundlage allen Lebens sind im Land Auronja die Oasen mit ihrem kostbaren Wasser, was mich, durch das Wasserzeichen auf meinem Körper, meinem Volk gegenüber verpflichtet, sie für alle zugänglich zu machen.

Nicht zuletzt verbindet mich die Erde meiner Ahnen durch das Erdzeichen auf meinem Körper mit der Geschichte meines Landes und schließt auf ewig einen Bund, dem ich treu ergeben bin, bis zu meinem letzten Atemzug.«

Zum Schutz vor der beißenden Kälte zog Nora ihren Schal vor den Mund. Sie schaute auf die Schneedecke, die im letzten Licht des Tages glitzerte wie feiner Staub aus Edelsteinen. Der Wind hatte am Nachmittag endlich nachgelassen. Das schillernde Abendrot mit seinen lila und roten Farbtönen erschien ihr heute besonders intensiv. Doch so herrlich jener Anblick auch sein mochte, sie hasste dieses eisige Land. Unerreichbar in der Vergangenheit lag ihre geliebte Heimat, die sie nun niemals wiedersehen würde. Nora war alt geworden, sie spürte deutlich, wie sich ihr Ende näherte. Am Horizont entdeckte sie Wanderer mit dunklen, langen Gewändern. Ihr Herz klopfte etwas schneller. Es waren Flüchtlinge aus ihrem Heimatland, die sie schon lange herbeigesehnt hatte.

»Dies sind die Ersten und viele werden ihnen folgen.« Sie heftete ihren Blick in das ungeschützte Gesicht ihres Schützlings, der neben ihr stand. Eiskristalle hingen an seinem Bart. Unter der Fellmütze lugten ein paar seiner schwarzen Strähnen hervor. Nach all der Zeit schimmerte seine Haut noch immer auffällig bronzefarben zwischen den hellhäutigen Männern. Er war eben ein Kind der Wüste und gehörte hier nicht her.

Ihre Gedanken gingen zurück. Welche Umstände waren es, die sie hierhin verschlagen hatten? Anfangs fürchtete sie, Filius könnte an seinem Schicksal zerbrechen, dabei hatten die harten Strafen der Hochländer ihn wachsen lassen. Ihre Aufgabe als Kindermädchen hatte sie unter schwierigen Bedingungen längst erfüllt. Jetzt schien er bereit zu sein, seiner Bestimmung zu folgen. Ihre Anwesenheit war damit bedeutungslos geworden.

»Reisende, nichts weiter«, erklang seine dunkle, raue Stimme.

»Du irrst dich, Filius.« Seine hellbraunen Augen funkelten wie die eines feurigen Hengstes. Sein starker Wille, seine Lebenskraft würden nun seinen Weg ebnen. »Die Zeit ist reif, Filius. Dein Tag wird kommen.«

Er nahm einen tiefen Atemzug und drehte sich zum Lager um. Nach wenigen Schritten blieb er stehen. Für einen Augenblick sah er zu ihr zurück, als wolle er ihr etwas sagen, doch wie so oft tat er es nicht. Seine breiten Schultern wirkten in der Felljacke noch wuchtiger.

Nora spürte das erhebende Gefühl von Stolz in sich. Vor ihr stand ein großer Krieger, zu dessen Entwicklung sie einen bedeutenden Teil beigetragen hatte.

»Lass uns gehen.« Er stapfte durch den Schnee zu seiner Truppe. Ohne sich jemals zu beklagen, ertrug er geduldig sein Schicksal. Stark war er geworden und das nicht nur körperlich. Er konnte nun allein seinen Weg meistern.

Nora sah, wie Filius sich zu Zooltak, dem Anführer, ans Feuer setzte. Er bot ihm einen Becher Tee an. Zooltaks Sohn Luztak musterte Filius auffällig von der Seite. Nora mochte Luztak nicht. Ihrer Auffassung nach war er eine falsche Schlange, der seine Position als Sohn des Anführers auszunutzen wusste.

Luztak starrte Filius mit seinen hellblauen Augen noch immer an. »Im Frühling wollen wir aufbrechen, sobald Jetán, Herrscher des weißen Landes, seine Zustimmung gibt. Können wir auf dich zählen?«

Filius nickte kurz und ergriff den Holzbecher. Für Nora sah es so aus, als steige der Dampf aus seinen Händen empor. Filius wirkte geistig abwesend, dabei war er sonst ein äußerst wachsamer Krieger, dem kaum etwas entging. Vermutlich empfand er nicht anders als sie. Er spürte, dass die Zeit zurückzukehren sich näherte. Allein die Ankunft der Flüchtlinge, der erste Kontakt zu seinen Landsleuten nach all den unzähligen Mondphasen, musste ihn zutiefst bewegen. Luztak erzählte unterdessen von den Plänen, im Frühjahr die Hochebene zu verlassen, um den gefährlichen Abstieg entlang der riesigen Steilwand zur fruchtbaren Ebene zu wagen.

Nora wandte sich ab. Noch heute Nacht würden die Wanderer auf Zooltak und seine zwanzig Männer stoßen. Das wollte sie nicht erleben müssen. Zu sehr schmerzte sie das Wissen, die Wüste mit ihrer flirrenden Hitze auf dem roten Sand nicht wiederzusehen. Ihre Brust schnürte sich mit jedem Schritt, den sie sich vom Lager entfernte, weiter zu. Sie sehnte sich jetzt nach Einsamkeit, nach Ruhe.

Der Himmel hatte sich erneut zugezogen. Dicke Schneeflocken fielen lautlos auf den Boden. Nora bemerkte, dass sie die Kälte kaum noch wahrnahm. Ihr Ende rückte spürbar näher. Sie ging nun, während Filius Gefährten aus seiner Heimat zur Seite bekam. Mit dieser Unterstützung sollte es ihm gelingen, nach Auronja, seiner Geburtsstadt, zurückzukehren.

Sie erinnerte sich an Filius’ Geburt, an seine wunderschöne Mutter, an seinen damals stolzen Vater. Ein gewaltiger Stich in ihrem Brustkorb raubte ihr den Atem. Ihre Beine schienen ihren Dienst zu versagen. Nora ließ sich auf die Schneedecke fallen und schloss die Augen. Sie meinte plötzlich, im heißen Sand zu liegen. Zufrieden schmiegte sie ihren Kopf darauf. Es fühlte sich herrlich geborgen an. Der Schmerz in ihrer Brust wurde schwächer. Bleierne Müdigkeit überdeckten die Gedanken an Filius’ Kindheit.

Filius folgte Noras Fußspuren, die durch den Neuschnee mit jedem Moment mehr verwischten. Was war nur in sie gefahren? Er fragte sich, wo sie bei dieser Dunkelheit noch hingehen wollte, wonach sie suchte. Hier gab es nur Schnee, Eis und diese bittere Kälte.

Es hätte ihm auffallen müssen, als sie ihm nicht zum Feuer nachging. Zu sehr hatte er sich mit ihren Worten, mit der Ankunft der Flüchtlinge beschäftigt. Wie immer sollte Nora recht behalten. Je länger er darüber nachdachte, umso deutlich sah er seinen Weg vor sich. Seine Zeit war gekommen, endlich konnte er zurück in seine Heimat.

Eine Weile war Filius nun schon unterwegs. Die dichte Wolkendecke brach auf, das Schneetreiben ließ nach. Gebietsweise zeigte sich der Himmel sternenklar. Auch die beiden Monde, der Rote als Sichel, der Weiße als ganzer Kreis, erhellten die eiskalte Nacht und warfen ihr Licht auf die Schneedecke.

Dort hinten, da lag doch etwas! Filius spürte, wie sein Herzschlag sich erhöhte. Seine Schritte wurden schneller. Beim Näherkommen wusste er augenblicklich, dass er zu spät kam. Noras Gesicht war auffallend weiß, ihre Augen geschlossen. Ihr Körper war bereits steif gefroren. Er schluckte. Nora musste ihre Stunde gespürt und sich deshalb vom Lager ferngehalten haben. Dabei wäre es ihm ein Bedürfnis gewesen, ihr im Moment ihres letzten Atemzuges beizustehen.

Nora!

All die lange Zeit hatte sie ihm zur Seite gestanden. Ihm lagen Worte des Abschieds, des Dankes auf dem Herzen. Ohne nachzudenken, zog er seine Handschuhe aus und ließ sich auf die Knie fallen. Er fuhr mit seinen Fingern über ihr faltiges Gesicht. Solange er denken konnte, hatte sie ihn bestärkt, ihn Hilfreiches gelehrt und ihm nicht zuletzt ihre Liebe geschenkt.

Unheimlich hallte ihre vor Kurzem gesprochene Aussage in seinen Gedanken wider. »Dies sind die Ersten und viele werden ihnen folgen. Die Zeit ist reif. Dein Tag wird kommen.«

Filius fühlte einen Schrei der Verzweiflung in sich wachsen, den er in seinem Inneren verborgen hielt. Jetzt, wo das Ziel zum Greifen nahe lag, wo sein Traum zurückzukehren, sich zu erfüllen schien, da musste Nora sterben.

Erinnerungen an die Ereignisse, die ihn hierher verschlagen hatten, wurden vor seinem geistigen Auge lebendig. Als ihn Yelsar damals herbrachte, war seine Kindheit mit einem Schlag vorbei. Außer Nora war ihm nichts geblieben, keine Familie, kein Zuhause. Seinerzeit hatte sich Filius nicht vorstellen können, in dieser Kälte lange zu überleben. Ohne Nora, die ihn all die Zeit über nie aufgegeben hatte, wäre er bestimmt an Verzweiflung oder am Wahnsinn zugrunde gegangen. Ja, Noras Anwesenheit hatte ihm Mut und Hoffnung gegeben.

Er schloss die Augen. Das gewaltige Gefühl der Trauer packte ihn mit all seiner Mächtigkeit, mit der er nicht umzugehen wusste. Er stand auf, zog sein Schwert und schlug den teilweise gefrorenen Schnee zu seinen Füßen in unzählige Stücke. Nach einer Weile ließ er die Klinge schwer atmend sinken. Seine Wut war verflogen, doch der innere Schmerz blieb.

Nora hasste dieses Land mindesten genauso wie er. Warum starb sie ausgerechnet hier? Filius sah keine Möglichkeit, ihren Leichnam mitzunehmen. Zooltak duldete nicht, Tote mit sich zu schleppen. Die Erde war tief gefroren, sie zu begraben, war in den kommenden Monaten aussichtslos. Der nächste Wald lag zwei Tagesreisen entfernt, dort hätte er zumindest ihren Leib verbrennen können. Nein, er musste sie hier zurücklassen, auch wenn im Frühjahr die Wölfe sich über ihr Fleisch hermachen würden. Wenigstens sollte er ihren Körper mit Eisstücken bedecken.

Während er sein Vorhaben ausführte, zogen viele Erlebnisse mit ihr durch seine Gedanken. Sie wusste auch ohne viele Worte, wenn es ihm schlecht ging. Tröstend hatte sie ihn in die Arme genommen, sofern es die Situation erlaubt hatte. Nora! Jetzt gab es niemanden mehr an seiner Seite. Er war allein unter den Hochländern. Er schluckte mehrmals und legte das letzte Stück Eis auf den kleinen Berg.

Sein Blick fiel auf seine bloßen Hände. In seinem Eifer hatte er seine Handschuhe nicht übergezogen. Die Fingerkuppen schimmerten blau. Das scharfkantige Eis hatte tiefe, rote Risse hinterlassen. Die Verletzungen bluteten aufgrund der Kälte nicht. Filius nahm kein Gefühl in seinen Fingern wahr. Ein schlechtes Zeichen. Eiligst versuchte er die Handschuhe überzuziehen, doch es gelang ihm nicht. Ungeschickt stopfte er sie in die Jackentasche und bemühte, sich sein Schwert in die Gürtelschlaufe zu stecken. Mehrere Anläufe benötigte er, um sein Vorhaben auszuführen. Dann begab er sich auf den Rückweg zum Lager.

Zooltak, der am Lagerfeuer Wache hielt, erhob sich, als er Filius kommen sah. »Wo warst du?« Der Anführer klang vorwurfsvoll.

Filius kämpfte gegen die Gefühle, die einen Kloß in seinem Hals verursachten. »Nora, sie ist tot.«

Zooltak nickte, als habe er es geahnt. Anschließend setzte er sich ans Feuer. »Vielleicht tröstet es dich, du bist nun nicht mehr der einzige Wüstenbewohner.« Er neigte seinen Kopf kurz zur Seite und wies damit auf die Wanderer, die unter ihren Fellen in einem notdürftigen Zelt aus Leinen schliefen.

Für Filius war dies im Moment nur ein kleiner Trost. Er war hier ein Fremder und war es für seine Landsleute vermutlich ebenso.

»Es sind zehn Frauen, sieben Kinder und fünf Männer. Viele werden ihnen folgen.«

Plötzlich schoss Zooltak mit weit aufgerissenen Augen in die Höhe. »Beim roten Mond! Was hast du getan? Nur ein Narr würde seine Handschuhe ausziehen.« Zooltak stopfte hastig Eis in einen Topf und hielt ihn in die Flammen. »Womit willst du ein Schwert führen, wenn deine Finger erfroren und abgefallen sind?«

Filius war sich nicht sicher, ob Zooltak Angst hatte, einen guten Kämpfer zu verlieren oder ob er sich wirklich um ihn sorgte. Er schimpfte weiter über Filius’ Unvernunft, bis sich einer der Wanderer langsam von seinem Nachtlager erhob. Zooltak tauchte die blau angelaufenen Hände in das inzwischen geschmolzene Wasser. Filius fühlte nicht die Temperatur des Wassers, er spürte gar nichts.

»Du solltest gelernt haben, diese Kälte nicht zu unterschätzen. Hier!« Er gab ihm aus einem kleinen Tonfläschchen, vermutlich eine Arznei, zu trinken. Der Wanderer trat unterdessen an seine Seite, worauf Filius zu ihm aufschaute. Der Anblick des alten Mannes verschlug ihm für den Augenblick den Atem. Die dunkle Gesichtshaut, diese kantigen Wangenknochen rissen ihn in seine Vergangenheit.

»Gewiss könnte ich mich nützlich machen.«

Filius starrte ihm in die braunen Augen. Sein Herz schlug heftig in seiner Brust und schien gegen seine Schläfen zu pochen. Ausgerechnet Bratarak, sein alter Lehrer, musste unter den Flüchtlingen sein. Ein schlechtes Omen. Als Bratarak sein Antlitz studierte, bemerkte Filius, wie die Hitze ihm ins Gesicht schoss. Würde er ihn erkennen?

Mit einem milden Lächeln wandte er sich Zooltak zu. »Sagtet Ihr nicht, wir wären die Ersten aus unserem Land?«

»Filius ist schon lange bei uns, Fremder.« Zooltak knetete die steifen Finger, schwenkte dabei seinen Blick auf ihn. »Er ist fast einer von uns.«

Diese Worte ehrten Filius und zeigten ihm, wie viel Vertrauen Zooltak in ihn hatte. Die Wunden auf den Handrücken begannen zu bluten, damit setzte ein Kribbeln ein. Diese Empfindung verstärkte sich mit jedem Atemzug. Zooltak nahm die Hände aus dem Wasser heraus und rubbelte sie trocken. Filius ließ sich nichts anmerken, doch seine Handflächen brannten zunehmend, wie tausend Nadelstiche. Heftiges Pochen breitete sich aus, nur seine Finger spürte er noch immer nicht.

Gründlich besah sich Zooltak Filius’ Hände. »Du wirst deine Unvorsichtigkeit mit einigen Fingern bezahlen.«

»Darf ich mal sehen.« Bratarak packte Filius’ Rechte und betrachtete die blauen Fingerglieder einen Moment. Eiligst ging er zu seinem Nachtlager, wühlte in einem Sack, um mit einem kleinen Tongefäß zu ihm zurückzukehren. »Erlaubt mir, Eure Hände mit dieser Essenz einzureiben.«

Offensichtlich hatte ihn Bratarak nicht erkannt. Alt war er geworden. Das lange, graumelierte Haar hing struppig in sein faltiges Gesicht. Brataraks Erscheinen machte Filius bewusst; auch an ihm war die Zeit nicht spurlos vorbeigegangen. Seine heutige Körpergröße, seine Statur ließ von seinem damaligen jugendlichen, ja fast kindlichen Aussehen nicht mehr viel erahnen.

»Was ist das?« Zooltak klang misstrauisch, wollte an der Öffnung riechen.

»Vorsicht! Das ist ein gefährliches Gift. Äußerlich angewendet eine sehr begehrte Arznei«, erklärte Bratarak.

»Ein Gift?« Zooltak rollte mit den Augen. »Beim roten Mond, wer seid Ihr?«

»Verzeiht. Mein Name ist Bratarak.« Er goss sich einige Tropfen auf die Handinnenfläche und reichte dem Anführer den Behälter. »Bitte verschließt ihn gewissenhaft.«

Zooltak drückte den Stöpsel auf das Tongefäß, dabei beobachtete er Bratarak, wie er Filius die Hände einrieb.

»Es wird zwicken. Doch ich schwöre Euch, kein Finger wird verlorengehen.«

Filius spürte ein höllisches Brennen in seinen Verletzungen. Er biss die Zähne fest aufeinander, um keinen Laut von sich zu geben. Die beißende Empfindung kroch die Arme hinauf, bis sein Inneres zu glühen schien. Ein heftiges Zittern erfasste seinen Körper. Zooltaks Stimme klang merkwürdig dumpf.

»Filius? Spürst du schon eine Wirkung?« Die unangenehmen Gefühle verschwanden. Ein seltsames Kribbeln stieg ihm ins Gesicht, als würden Termiten darüber ziehen, und er nahm einen eigenartigen, pelzigen Geschmack auf der Zunge wahr.

Plötzlich sah er Nora mitten im Feuer stehen. Sie zog ihren Schal über Mund und Nase, so wie sie es immer getan hatte, wenn der frostige Wind zu eisig wurde. Das war unmöglich. Er sah Geister. Bewegt schoss er in die Höhe. Eine neue Welle stechender Hitze breitete sich von seinen Händen zu den Armen bis zur Brust aus. Seine Knie fühlten sich weich an und sein rasender Herzschlag dröhnte in seinen Ohren.

Gift

Filius verdrehte die Augen, geriet ins Taumeln und fiel zu Boden. Zooltak wunderte sich sehr, so leicht warf Filius nichts um. Er war schließlich sein bester Krieger. Als er ihn so regungslos im Schnee liegen sah, spürte er eine heftige Gemütsbewegung in seinem Inneren. Ihm wurde augenblicklich bewusst, wie sehr er Filius schätzte, ihn sogar mehr als seinen eigenen Sohn Luztak liebte. Niemand durfte das bemerken. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Erschrocken sah er zu Bratarak. Hatte er Filius mit dieser Essenz vergiftet? Dieses Verbrechen musste er mit dem Leben bezahlen.

»Hinterhalt!«, schrie Zooltak und packte Bratarak am Kragen. Zooltaks Männer schossen aus dem Schlaf in die Höhe. Als sie Filius leblos am Boden liegen sahen, bedurfte es keiner weiteren Erklärung. Angesichts der Aufregung erwachten nun auch die restlichen Wanderer, allerdings wagte kein Einziger von ihnen, sich einzumischen.

»Fesselt ihn!« Zooltak bemühte sich mit fester Stimme, seinen störenden Kloß im Hals zu vertreiben. »Seid ihr gekommen, um uns zu vernichten? Er«, Zooltak wies, ohne hinzusehen, mit seiner Hand auf Filius, »hätte euch unterstützen können, in eurem Land das Gleichgewicht wieder herzustellen. Was seid ihr nur für Narren!«

Eine junge Frau drängte sich von den Wanderern ans Feuer. Eine schwarze Locke lugte unter dem dicken Leinen ihrer Kapuze hervor. Ihre flinken Blicke schienen die Situation schnell zu erfassen. Sofort hockte sie sich zu Filius.

Zooltak zerrte sie zur Seite. »Wage ja nicht, ihn anzurühren.« Solange er nicht auf diesen leblosen Körper sah, ließ sich diese Gemütsbewegung vielleicht noch im Zaum halten.

»Sie kennt sich aus. Sie wird ihm helfen.« Bratarak leistete bei seiner Festnahme keinen Widerstand.

»Auf Eure Art Hilfe kann ich verzichten. Euer Gift hat ihn umgebracht.« Zooltak spürte, wie die Hitze der Wut, der Hilflosigkeit über diese Lage ihm ins Gesicht stieg.

»Umgebracht? Beim roten Mond! Was ist geschehen, Vater?« Die junge Frau trat an Bratarak heran.

Zooltak packte ihre Schulter. »Eine giftige Essenz sollte seine erfrorenen Finger retten. Jetzt ist er tot und ihr werdet ihm folgen.« Zooltak nahm seine Hände zurück. Sobald er in Filius’ Richtung schaute, spürte er diese beklemmende Enge in seinem Hals.

»Ich flehe Euch an.« Sie schluckte. »Bitte, lasst mich sehen, was ich tun kann. Ich schwöre Euch bei meinem Leben, mein Vater …«

»Irina!«, unterbrach Bratarak sie mit einem Entsetzen im Gesicht.

Unbeirrbar vollendete sie ihren Satz. »Mein Vater wollte helfen. Niemals würde er jemanden grundlos töten.«

Zooltak stieß sie heftig zur Seite. »Verschwinde!«

Rückwärts fiel sie dicht ans Feuer. Zooltak warf ihr einen verächtlichen Blick zu und gab Befehl, die Wanderer als Gefangene zu betrachten. Niemand durfte sich ungesehen entfernen.

Luztak kniete sich neben Filius und drehte ihn auf den Rücken. »Was für eine Ironie. So kurz vor seinem Ziel findet er durch die eigenen Landsleute sein Ende.«

Zooltak nickte. Bisher war ihm nicht klar gewesen, welche tiefe Bedeutung Filius in seinem Leben eingenommen hatte. »Unsere Pläne finden mit Filius ein Ende.« Geräuschvoll blies er seinen Atem aus. »Der rote Mond weiß warum.«

Luztak und Murror, einer von Zooltaks Männer, legten Filius’ Leib auf ein großes Leinentuch und wickelten ihn darin ein.

»Auch wenn er keiner von uns war, so gebührt ihm ein anständiges Begräbnis.« Zooltak schluckte. »Wir nehmen ihn mit nach Hause.« Ja, er hatte es verdient, wie einer von ihnen behandelt zu werden. Doch wie sollte er das nur Cara, seiner Tochter, beibringen? Sie hing so an Filius. Als Anführer oblag ihm die Verantwortung für seine Männer. Er war ein Narr! Warum hatte er nur diesem Bratarak erlaubt, Filius zu helfen. Unmöglich konnte er seinen Krieger noch einmal ansehen, ohne dabei zu viele Gefühle zu zeigen.

Die Sonne erschien am Horizont, brachte Licht und Hoffnung zum Vorschein. Während die Truppe ihre einfachen Leinenzelte zusammenpackte, befreite Murror Bratarak von seinen Fesseln. Er sollte mit anpacken und nicht wagen zu flüchten. Murror versicherte ihm, dass seine Pfeile nur sehr selten ihr Ziel verfehlten.

Brataraks Tochter Irina gelang es unterdessen, sich ungesehen an den eingewickelten Leib zu schleichen. Ihre Hand tastete nach dem Hals. Sie spürte ein schwaches Pulsieren in den Adern. Dieser junge Krieger war nicht tot.

Hastig zog sie den Stoff von seinem Antlitz und legte seinen Kopf frei. Für einen Moment hielt sie den Atem an. Was für ein anziehendes Aussehen. Seine dichten Augenbrauen zogen sich wie ein gemalter Bogen von der Schläfe bis zum schmalen Nasenrücken hin. Er konnte nicht viel älter als sie selbst sein. Er war einer von ihnen, ein Kind der Wüste.

Seine Haut fühlte sich kalt an, auch sah sie auffallend blass aus. Andererseits, wenn er bisher nicht an dem Gift gestorben war, zeugte das von einer außergewöhnlichen Stärke. Dieser Krieger würde leben, aber sie musste jetzt handeln. Irina zog prüfend seine Augenlider nacheinander zurück. Seine Pupillen, die durch seine dunkelbraune Iris schwer zu unterscheiden waren, hatten sich unnatürlich geweitet. Unberührt von dem Lichteinfall, blieben sie starr, ein markantes Zeichen bei Vergiftungen.

»Was zum roten Mond soll das?« Zooltak schrie sie an.

»Er ist nicht tot. Ihr könnt es fühlen.« Irina ergriff die Hand des Anführers und wollte sie auf den Hals des Vergifteten legen.

Zooltak riss sich los, als fürchte er sich, ihn anzufassen. »Niemand darf eines Kriegers Frieden stören.«

Dieser Kerl war ein richtiger Dickschädel! »Beim weißen Mond, versteht Ihr nicht? Er ist am Leben. Jemand muss sich um ihn kümmern …«

»Nichts da!« Zooltaks Augen funkelten.

Irina sammelte Mut. »Wenn es Euch ohnehin egal ist, was mit ihm geschieht …«

»Genug jetzt!« Sein drohender Blick schien sie zu durchbohren. Irina hörte ihren schnellen Herzschlag. Zooltak könnte sie töten lassen.

»Ihr haltet uns für seine Mörder? Dann wäre es nur gerecht, uns die Last des Kriegers zu überlassen.«

Zooltak hielt für einen Moment inne und starrte ihr weiter in die Augen. Seine Nasenflügel bebten, dann nickte er kurz, um sich wortlos abzuwenden. Irina spürte die Erleichterung in sich. Dieser Krieger gehörte zu ihrem Volk, schon allein deswegen musste sie sich um ihn kümmern und natürlich auch, um ihren Vater zu entlasten. Sie fasste die Stiefel des Kriegers und zog ihn ein Stück zu den anderen Wanderern. Das forderte ihre ganze Kraft.

»Beim weißen Mond, Irina! Was tust du da?« Ihr Vater eilte herbei, packte mit an.

»Sie hätten seine Lebenszeichen bemerken müssen.« Sie schaute ihrem Vater ins Gesicht.

»Er lebt?« Bratarak riss die Augen auf.

Sie nickte kurz. »Wir brauchen für ihn eine Unterlage, die wir hinterherziehen können.«

Ihr Vater ergriff ihre Arme. »Irina! Ich wollte doch nur helfen!«

Sie bemühte sich um ein Lächeln. »Das weiß ich, Vater. Es wäre besser gewesen, Ihr hättet mich geweckt.« Sie nahm den rechten Arm des jungen Kriegers und untersuchte die zahlreichen Wunden. »Durch die vielen Schnitte gelangte mehr Gift in sein Blut, als sein Körper verkraften kann. Da er die erste Nacht lebend überstanden hat, bin ich sehr zuversichtlich. Ich werde seine Hände verbinden.«

Bratarak senkte den Kopf. »Was habe ich nur getan?«

»Jetzt helft mir, damit alles wieder in Ordnung kommt.« Ein Lehrer für Kriegsstrategien sollte eben nicht versuchen, Heiler zu spielen. Da es kein Holz gab, um ein Holzgestell oder einen Schlitten zu bauen, wurde der Krieger zuerst auf ein Fell gelegt, dann in ein Leinentuch gewickelt. Zum Hinterherziehen schnürte Bratarak das Tuchende mit einem Riemen zusammen. Irina sorgte mithilfe einer kleinen Stoffrolle für einen Luftspalt zwischen den Leinen, damit ihr Patient genügend Luft zum Atmen bekam. Bratarak nahm den Riemen über seine Schulter und stapfte der restlichen Gruppe hinterher, Irina folgte ihrem Vater.

»Wie soll es nur mit uns weitergehen?« Er seufzte tief. »Ich habe immer nur Unglück über unsere Familie gebracht.«

»Vater!« Diese alte Geschichte ließ ihn einfach nicht zur Ruhe kommen, ja schlimmer, dieser Vorfall riss die alte Wunde auf. »Ihr nehmt die Last auf Euch, die andere zu verantworten haben, das ist nicht recht.« Es war ihr schon fast zur Lebensaufgabe geworden, ihren Vater moralisch aufzubauen.

»Aber diese Last hier muss ich selbst tragen. Einen bedeutenden Krieger habe ich auf dem Gewissen, obendrein noch einen Landsmann.«

Unzählige Male hatte sie bereits versucht, ihren Vater von seinen alten Schuldgefühlen zu befreien, dauerhaft war es ihr bisher nicht gelungen und jenes Ereignis erschwerte die Situation um ein Vielfaches.

Im Laufe des Tages fielen die beiden mit ihrer zusätzlichen Last immer weiter zurück. Bratarak war schließlich nicht mehr der Jüngste, andererseits kannte Irina ihn gut genug, um zu wissen, dass er alles für den Krieger getan hätte.

Am Nachmittag zogen dunkle Wolken auf und dichtes Schneetreiben setzte ein. Zunehmend wurde es schwieriger, die Spuren ihrer Gruppe auszumachen. Irina folgte ihrem Instinkt, der sie nicht im Stich ließ. Nach Anbruch der Dunkelheit erreichten sie endlich das Lager.

»Ruht Euch aus, Vater. Jetzt kümmere ich mich um ihn.« Ihr lebloser Patient brauchte dringend ein warmes Getränk und wenn es nur Wasser war. An diesem Abend schien es kein Lagerfeuer zu geben. Vergeblich wandte sie sich wiederholt an die Wächter.

Als Zooltak vorbeikam, sah Irina ihre Chance. »Ich bitte Euch, im Namen Eures Kriegers, um ein Feuer.« Sie bemerkte den interessierten Blick, den er auf den Krieger richtete. »Setzt Euch einen Moment zu uns.«

Zooltak wehrte ab. Genau in diesem Augenblick glitt ein leises und doch hörbares Ächzen über die Lippen ihres Patienten. Zooltak fuhr herum, seine Augen weiteten sich. Dieses Lebenszeichen musste ihn doch überzeugen.

Irina sah Zooltak an. »Ein kleines Feuer, um einen warmen Tee zu bereiten. Bitte.«

»Wir haben kaum noch Holz und unser Weg wird bei diesem Wetter gewiss weitere zwei Tage in Anspruch nehmen.« Zooltak wirkte grimmig, wandte sich jedoch zu ihrer Überraschung an einen seiner Wächter. »Gebt ihr drei Holzscheite, das muss reichen.«

Irina fühlte sich erleichtert. »Euer Krieger wird es Euch danken.« Augenblicklich begann sie mit dem Feuermachen. Aus ihrem Kräuter- und Wurzelvorrat kochte sie einen stärkenden Tee, den sie dem Krieger Schluck für Schluck einflößte. Anschließend widmete sie sich seinen Händen. Erschreckend dunkelrot und massiv geschwollen sahen sie aus, was Irina den Auswirkungen des Giftes zuordnete. Vorsichtig massierte sie die Verletzungen mit ihrer Wundsalbe und wickelte zum Schluss mehrere Lagen Stoff darüber.

Trotz ihrer Müdigkeit schlief Irina sehr unruhig in dieser Nacht. Eigenartige Träume, die sich in ihrem Heimatland abspielten, bewegten sie. Blutige Kämpfe spielten sich vor ihren Augen ab. Die glühende Hitze, der weite Wüstensand ihrer Heimat, wirkten seltsam fremd, sogar abschreckend. Sie war dankbar, als der Morgen graute und Zooltak den Befehl zum Aufbrechen gab. Das Schneetreiben hatte eine dicke Schneeschicht auf den Leinenzelten hinterlassen, die das Zusammenpacken erschwerte.

Der eisige Wind mit den Schneeflocken blies den Reisenden unentwegt entgegen. Irina schmerzte das Gesicht vor Kälte, da half auch der dünne Schal nicht, den sie sich über Nase und Mund zog. Dann endlich gegen Mittag riss die Wolkendecke auf. Das Schneetreiben ließ nach, die Sonne kam zum Vorschein. Die Wanderer versanken gebietsweise bis zu den Knien im Neuschnee. Jeder Schritt kostete enorm viel Kraft. Durch die Kinder und Bratarak, der den jungen Krieger unermüdlich hinter sich herzog, ging es langsam vorwärts.

Es war bereits dunkel geworden, als Zooltak ein Lager errichten, und, zu Irinas Erleichterung, ein Feuer entzünden ließ. Wie gehabt kochte sie Tee. Als sie ihren Patienten versorgte, bemerkte sie seine erhöhe Körpertemperatur. Fieber gehörte für sie zur normalen Körperfunktion dazu, darum sorgte sie sich nicht. Nur zu hoch durfte es nicht werden. Sie rieb seine Hände mit Salbe ein und verband sie anschließend. An diesem Abend murmelte der Krieger unverständliche Worte und wirkte dabei sehr unruhig. Irina legte ihre Hand auf seine Schulter, was ihn ein wenig zu beruhigen schien.

Der nächste Tag blieb windstill und sonnig. Die Kälte ließ sich so gut ertragen. Irina war einerseits von dieser Schneelandschaft mit den glitzernden Reflexionen der Sonne fasziniert, andererseits konnte sie sich nicht vorstellen, hier länger zu leben. Eine gespenstische Stille herrschte. Es gab keine Bäume, in denen der Wind rauschte, keine Vögel, die zwitscherten, nur das Knarren der Ledersohlen der Wanderer auf dem Schnee unterbrach diese Lautlosigkeit.

Sie fragte sich, wie lange ihr Patient schon in dieser Gegend fern seiner Heimat lebte. Freiwillig hätte sie ihr Land niemals verlassen. Zu sehr liebte sie den roten Sand der Wüsten, die Hitze, die wasserspendenden Oasen, die nun Aurelius mit seinen Kriegern überwachen ließ, um Wasser nur an zahlungskräftige Untertanen zu verteilen.

Ihr Vater hatte diesen Prozess kommen sehen und war mit ein paar Leuten aus Auronja noch rechtzeitig aufgebrochen, Richtung eisiges Hochland, bevor das Betreten der Oasen Tribut kostete.

Nun hofften sie hier, in dieser Kälte, in dieser Fremde, in der sie so gar nichts Vertrautes entdecken konnte, ein Zuhause zu finden. Am Nachmittag erreichten sie den Rand eines lichten Waldes, der mit jedem Schritt dichter wurde. Hier lag der Schnee nicht ganz so hoch. Oben in den Kronen kündigten kreischend unzählige Raben die Waldbesucher an. Für Irina ein Furcht einflößendes Spektakel. Diese schwarzen Vögel waren ihr unheimlich.

Mit angespannter Miene kam Zooltak an Brataraks Seite. »Wird Filius leben?« Bratarak mühte sich schnaufend mit seiner Last vorwärts, er antwortete nicht.

Irina schaute dem Anführer ins Gesicht. »Filius? Ist das sein Name?« Sie warf kurz einen Blick auf den eingewickelten Krieger. Zooltak nickte. »Wenn er es bis hierher geschafft hat, dann sollte seiner Genesung nichts mehr im Wege stehen.«

Erneut nickte Zooltak und stapfte nach vorn zu seinen Leuten. Erst spät in der Nacht erreichten sie im Wald eine große Lichtung.

Ein mannshoher Palisadenzaun umgab eine Siedlung, die man lediglich durch ein hölzernes Tor betreten konnte. Die Fundamente der Häuser bestanden aus mehreren Reihen Feldsteinen, auf denen man versetzte Querbalken zu einer Behausung errichtet hatte. In einem Bogen angeordnet, gleich einer Sichel, reihten sich Häuser um den zentralen Platz. Wie ein behütendes Licht fiel der weiße Mondschein auf diese Siedlung.

Aus der hinteren Häuserreihe eilte eine junge Frau mit blonden, wehenden Haaren auf die Ankömmlinge zu.

Zooltak breitete seine Arme aus. »Cara! Liebste Tochter.« Fest drückte er sie an sich. Nach einem kurzen, für Irina unverständlichen, Wortwechsel, wandte sie sich ihrem Bruder Luztak zu. Ihr suchender Blick wanderte nervös durch die Truppe ihres Vaters.

»Wo sind Filius und Nora?«

Zooltak legte seiner Tochter den Arm um die Schulter. »Später. Wir waren lange unterwegs. Ich könnte ein ordentliches Mahl vertragen.« Er wies seine Männer an, die Wanderer im Beratungshaus unterzubringen. Irina, Bratarak und ihre Landsleute wurden daraufhin in einen besseren Stall gebracht. Weder gab es hier einen Kamin noch sonst eine Feuerstelle zum Wärmen. Aus kaltem Sand bestand der Fußboden und die dünnen Bretter der Wände hielten nur den Wind ab. Es gab keine Tür, lediglich eine Öffnung, so groß, dass fünf Pferde gleichzeitig hindurchpassten.

Irina standen die Tränen in den Augen. Was hatte sie denn auch nur erwartet? Sie waren Flüchtlinge aus einem fremden Land.

»Zumindest haben wir ein Dach über den Kopf.« Bratarak ließ Filius’ Tuch zu Boden gleiten.

»Wenigstens ihm könnten sie ein warmes Lager bereiten.« Irina strich Filius über die Stirn. Noch immer fühlte sie sich heiß an. Sie befühlte sein Hemd unter seine Kleidung. »Wir müssen ihn ausziehen, er ist völlig nass geschwitzt.«

»Irina.« Bratarak ergriff ihr Handgelenk. »Wir haben nichts für ihn zum Anziehen.« Ihr Vater hatte recht. Nachdenklich setzte sie sich auf eine Holzkiste. »Bei der Kälte ist das sein sicherer Tod.« Dieser Situation sah sie sich nicht gewachsen. »Wären wir nur zu Hause geblieben.« Bratarak legte seine Hand auf ihre Schulter. »Hast du den Herrscher Aurelius vergessen? Seine Intrigen und Machenschaften, die uns um unseren Besitz betrogen haben?«

»Wenn jeder von uns ein Kleidungsstück opfert, würde das bestimmt nützlich sein«, schlug einer der Wanderer vor. Irina kam in diesem Moment die junge Frau in den Sinn, die Tochter des Anführers. Sie hatte nach Filius gefragt. Vielleicht wäre sie bereit zu helfen. Ohne eine Erklärung ging sie hinaus.

Am Tor zum Dorf standen zwei Wachen, aber niemand kümmerte sich um die Wanderer. Zwischen den Häusern verlor Bratarak seine Tochter aus den Augen. Was hatte sie nur vor?

Chanteran, der einst wie Bratarak im Dienste des Herrschers Aurelius stand, trat dicht an ihn heran. »Wenn er schon seit langer Zeit bei diesen Geschöpfen lebt, frage ich mich natürlich, warum hat er das Land überhaupt verlassen?« Er räusperte sich. »Ich werde nicht mein letztes Hemd für jemand hergeben, der seine Heimat im Stich gelassen hat.«

Bratarak sah in Filius eher einen Gleichgesinnten. »Seine Heimat im Stich gelassen hat? Ja, beim weißen Mond, Chanteran, was haben wir denn getan?«

Chanteran streckte seine Schultern. »Das kannst du nicht vergleichen. Wir flüchten vor Aurelius, nicht aus unserem Land.«

»Nur vor Aurelius?« Bratarak atmete tief. »Als wären Axamon und seine Krieger weniger tyrannisch.« »Axamon«, Chanteran klang erregt, »ist genauso grausam und gewissenlos wie sein Vater. Außerdem sollte er nicht sein Nachfolger sein.«

Da war sie wieder, seine empfindsame Wunde. »Es gibt aber niemand anderen. Hast du es vergessen, ich durfte seinerzeit der Hinrichtung des jungen Thronfolgers beiwohnen.« Bratarak änderte seinen zynischen Ton. Zornig starrte er seinen Landsmann an. »Ein toter Erbe wird uns kaum weiterhelfen.«

Chanteran hielt inne, dann riss er seine Augen auf. »Beim weißen Mond, Bratarak. Das ist es!« Er klang, als habe er einen genialen Einfall. Er heftete seinen Blick auf Filius, der in seinem Fieber leise stöhnte. »Wir gehen mit diesem jungen Krieger zurück und behaupten, es wäre Ajon.«

Bratarak überlegte einen Moment. Chanteran meinte seinen Vorschlag sichtlich ernst. Die Wanderer schienen aus dieser Andeutung Hoffnung zu schöpfen. Eine junge Frau gab Filius etwas zu trinken, eine andere trocknete sein Gesicht. »Ich sah Ajon sterben. Diese Lüge wird man uns nicht abkaufen«, flüsterte Bratarak mehr zu sich selbst.

In diesem Moment erschien Irina mit Zooltaks Tochter Cara im Eingang.

Erstarrt blieb diese einen Augenblick stehen. »Filius«, glitt ihr über die Lippen. Sie sank neben ihm auf die Knie und küsste hemmungslos sein Gesicht. »Filius! Liebster Filius!« Wiederholt streichelte sie sein Antlitz, als wolle sie ihn mit ihrer Zärtlichkeit heilen.

Irina legte ihre Hand auf Caras Schulter. »Was er dringend braucht, ist trockene Kleidung. Hier ist es zu kalt und sein Fieber …« Irina schluckte, was war eigentlich mit ihr los? Die Last der Verantwortung, ihrem Vater aus der Schlinge zu helfen, fühlte sich sehr bedrückend an.

Cara sah auf. »Wenn Ihr ihn ins Haus tragen würdet, kümmere ich mich darum.« Bratarak und Chanteran brachten Filius in Caras Schlafgemach. Gegenüber dem Bett brannte im Kamin ein Feuer und warf einen sanften Lichtschein in den Raum. Wie gemütlich das wirkte.

Cara schaute demonstrativ zur Tür. »Ich werde Filius waschen und anziehen.« Cara wollte vermutlich nicht, dass eine andere Frau ihren Liebsten unbekleidet sah. Das sollte Irina respektieren.

»Gebt sieben Tropfen von diesem Kräuteröl ins Wasser. Und vor allem müssen seine Hände neu verbunden werden.« Irina reichte Cara ein Fläschchen.

»Seid Ihr eine Heilerin?« Cara nahm das Öl entgegen. Irina nickte und folgte ihrem Vater aus dem Schlafgemach.

»Ich werde Euch zum Verbinden holen«, warf Cara ihr nach, bevor Irina die Tür schloss.

Es dauerte nicht lange, bis Cara Irina ans Krankenbett bat. »Das Fieber gefällt mir gar nicht.« Cara legte ihm ein feuchtes Tuch auf die Stirn. Neu eingekleidet lag Filius unter einem Bärenfell. Er wirkte zwar unruhig, seine Augenlider flatterten und manchmal ächzte er leise vor sich hin, doch für Irina war das nicht ungewöhnlich.

»Er kämpft gegen das Gift. Solange sein Fieber nicht schlimmer wird …«

Cara sah erschrocken auf, »und wenn doch?« Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln. Sie fuhr mit ihrer Hand durch sein schwarzes Haar.

Irina sah keinen Anlass, weiter darauf einzugehen. »Ich sorge für einen stärkenden Tee und Ihr für eine kräftige Brühe.«

Zur Jagd

Filius blinzelte. Er versuchte, seine Augen zu öffnen, doch das helle Licht erschien ihm beim Hinsehen wie beißende Nadelstiche. Gleich einer dichten Nebelwand erkannte er lediglich einen weißlichen Schleier mit geisterhaften Silhouetten. Er rieb sich die Lider, was aber nichts an seinem Blick änderte. Seine Glieder schmerzten, als er sich aufsetzte. Seine Hände vermittelten den Eindruck von Klauen, als seien sie auf die doppelte Größe angeschwollen. Eine abstoßende Vorstellung. Er musste sich das ansehen. Erneut öffnete er die Augen, es pikste, als habe ihm jemand Sand hineingestreut. Zudem fühlte er sich schwach wie ein altes Weib.

Was war nur geschehen? Das Letzte, woran er sich erinnern konnte, waren seine blauen Finger, die Zooltak im warmen Wasser aufzutauen versuchte. Der Anführer hatte ihn vermutlich nach Hause gebracht. Es war angenehm warm hier, auch die Gemütlichkeit des weichen Bettes spürte er. Allerdings war dies nicht sein Schlafraum, denn dort gab es keinen Kamin. Deutlich hörte er aber das Knistern eines Feuers und nahm auch den rauchigen Geruch wahr. Seine Kehle schmerzte. Zuerst wollte er seinen Durst stillen. Er schob seine Beine zur Seite, um aufzustehen. Seine Knie fühlten sich schwammig an, sie gaben plötzlich nach. Filius fiel zu Boden.

Beim roten Mond! Konnte er nicht mehr stehen? Nein! Das durfte er nicht hinnehmen. Mit der Kraft seines Willens rappelte er sich auf und zog sich an der Bettkante hoch. Dabei zuckte er zusammen.

»Dem weißen Mond sei gedankt«, hörte er eine unbekannte Stimme neben sich. Er war nicht allein. Seine zwickenden Augen erfassten nur einen milchigen Schatten. Jemand packte seinen Arm und half ihm auf das Bett.

»Habt Geduld. Das Fieber hat Euch viel Kraft gekostet. Ruht Euch aus.« Filius fuhr ein warmer Schauer über den Rücken. Diese weibliche Stimme klang melodisch, sogar vertraut. Wem gehörte sie? Eine Hand auf seiner Brust drängte ihn auf die Kissen zurück.

»Ich werde Euch jetzt ein Mahl besorgen.« Sorgsam deckte man ihn zu. Filius fühlte sich im Bett gut aufgehoben, deshalb lehnte er sich zurück.

Doch wie sollte er Holz sammeln oder einen Hirsch erlegen, wenn er nicht sehen konnte? Zooltak würde ihn aus dem Dorf jagen, ihn verstoßen. Das käme einem Todesurteil gleich. Er musste sich schnellstens etwas überlegen, bevor jemand seine Schwäche erkannte. Das Brennen in den Augen verschwand nicht, da half auch das viele Blinzeln nicht. Erneut schreckte er zusammen, atmete dabei geräuschvoll ein, als eine Hand die Seine ergriff.

»Verzeiht, ich wollte Euch nicht erschrecken.« Diese Stimme wirkte beruhigend, fast ein wenig betörend. »Ein harter Kampf liegt hinter Euch, doch seid unbesorgt, das Schlimmste habt Ihr überstanden.« Er spürte, wie sie ihre Hand zurücknahm. »Erlaubt mir, Eure Augen zu untersuchen?«

Filius erinnerte sich an kein Gefecht. Womöglich waren sie überfallen worden. Nur von wem? Seine fehlenden Erinnerungen, vor allem aber sein schleierhaftes Sehvermögen wühlten sein Inneres auf. Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass sich zumindest seine Hände retten ließen. Er fühlte in sie hinein. Spürte er alle Finger und gelang es ihm eine Faust zu machen? Nacheinander tippte er die Fingerspitzen auf den weichen Untergrund seines Bettes. Ja, alle zehn nahm er wahr, nur das Vorhaben mit der Faust funktionierte nicht, zu sehr spannte die Haut, als sei sie viel zu klein.

»Ich bin vorsichtig.« Zuerst zog sie das rechte, dann das linke Augenlid auseinander »Diese Schwellung sollte in den kommenden Tagen zurückgehen.«

Die untersuchenden Finger verschwanden aus seinem Gesicht.

»Fällt Euch das Atmen schwer?«

Filius nickte, hatte das Gefühl, Steine würden auf seiner Brust liegen.

»Ihr versucht am besten zu schlafen. Das ist jetzt das Heilsamste, was Ihr tun könnt. Ich sehe später nach Euch.«

Dankbar schloss Filius die Augen, denn er bemerkte, wie müde er sich fühlte.

Er musste eingeschlafen sein, denn er erwachte durch das Streicheln in seinem Gesicht.

»Filius? Ist es wahr?« Die Stimme klang nach Cara. Er schlug die Augenlider zurück. »Ja! Es ist wahr. Du hast es geschafft.« Sie küsste seine Wange. »Die Heilerin versteht ihr Handwerk. Dem weißen Mond sei gedankt für deine Genesung.« Filius sah seine Umwelt weiterhin verschleiert. Das Beißen seiner Augen beförderte ein lang vergangenes Ereignis zutage:

»Deinem Vater so hinterhältig aufzulauern. Das wirst du nie wieder wagen.«

»Aber Vater, ich wollte doch nur …«

»Schweig!«, blies ihm sein Vater entgegen, »als ich so alt war wie du, konnte ich schon besser mit dem Schwert umgehen als jeder andere in meinem Alter. Du hast immer nur Unsinn im Kopf. Ab heute werde ich mehr Strenge walten lassen. Setz dich!«

Filius’ Respekt vor seinem Vater forderte Gehorsam. Von zwei Dienern wurden Filius’ Hände hinter der Stuhllehne zusammengeschnürt und je ein Fuß am Stuhlbein. Sein Herz pochte laut. Sein Körper zitterte plötzlich. Sein Vater riss ihm das Hemd in Fetzen und stopfte sie ihm in den Mund.

»Ich werde drei Tage lang jeden Morgen, jeden Mittag und jeden Abend diese Prozedur wiederholen. Ich denke, danach sind deine neugierigen Augen von deinem übereifrigen Beobachten geheilt.«

Filius’ Kopf wurde am Haarschopf nach hinten in den Nacken gezerrt, sein rechtes Augenlid grob auseinandergezogen und etwas Pickendes landete auf dem Auge. Gleich darauf zerrte sein Vater auch das linke Auge auseinander. Filius hörte sich durch die Nase schnaufen. Tränen liefen aus seinen brennenden Augen und schienen kein Ende zu nehmen. Langsam schwoll seine Nase zu. Er glaubte kaum noch, Luft zu bekommen. Das Brennen fühlte sich nach jeder Prozedur schmerzhafter an.

So schlimm war es diesmal nicht.

»Cara«, flüsterte Filius.

»Oh, Filius!« Sie küsste seine Stirn. »Fünf Tage lang lagst du im Fieber.«

Was behauptete Cara? Fünf Tage? Das war doch Unsinn. Er überlegte, was zuletzt geschehen war. Hatte er von Bratarak geträumt oder war er ihm wirklich begegnet? Nora, sie war gestorben und er hatte sie unter dem Eis begraben. Seine Handschuhe! Er hatte sie ausgezogen. Langsam kamen seine Gedanken in Gang. Bratarak versuchte, sich an ihm zu rächen.

Natürlich! Deshalb hatte er seine Hände mit Gift eingerieben. Seine Blindheit war nun die gerechte Strafe. Schluchzende Laute beendeten seine Überlegungen.

Er hörte Cara sagen, »… nein. Er ist so verändert.«

»Habt Geduld mit ihm, Cara.« Da war sie wieder, diese melodische Stimme, die Filius so betörte.

Cara seufzte vernehmlich. »Es wird Zeit, meinem Vater von den guten Nachrichten zu erzählen.«

»Nein!« Filius setzte sich auf. »Ich bin überflüssig, eine Last für das ganze Dorf.« Er schnappte nach Luft, diese Worte kosteten ihn viel Kraft. »Zooltak wird mich davonjagen.«

»Das ist ja Unsinn.« Cara nahm seine beiden Hände. Eine merkwürdige Wahrnehmung. Einerseits nahm er ihre Berührung wahr und andererseits fühlten sich seine Finger taub an.

»Hast du vergessen, welche Vereinbarung du mit meinem Vater getroffen hast?«

Filius schüttelte kurz den Kopf. Er spürte, wie er blinzelte, versuchte vergeblich etwas zu erkennen.

»Je mehr Ruhe und Schlaf Ihr Euch gönnt, desto schneller werdet Ihr gesund. Legt Euch zurück.« Gegen diese melodische Stimme war Filius machtlos. Sich hinzulegen, war ihm in diesem Augenblick mehr als recht.

»Ich habe Euch einen Tee gekocht. Er schmeckt bitter, doch wird er die Schwellungen lindern. Hier trinkt.« Weiche Hände legten seine Finger um den Becher. Filius griff zu, die Haut spannte sich unangenehm an den Fingergelenken. Vielleicht träumte er das alles nur. Nora war gar nicht tot und die Begegnung mit Bratarak gehörte zu diesem merkwürdigen Traum.

»Ihr müsst ihn trinken, in Eurer Hand wird er nichts nützen«, forderte die Frau mit der angenehmen Stimme. Filius nahm einen Schluck und bemerkte, wie sich seine Miene dabei verzog.

»Ihr werdet Euch bald besser fühlen, das verspreche ich Euch.« Im Dorf gab es nur wenige Frauen. Seines Wissens war keine von Ihnen eine Heilerin, zumal ihm diese melodische Stimme gewiss schon früher aufgefallen wäre. Vielleicht lag es an seinem eingeschränkten Sehvermögen und seine restlichen Sinne begannen sich zu verstärken.

»Wer seid Ihr?«, hörte er sich flüstern.

»Ich bin Heilerin. Um ehrlich zu sein«, Filius glaubte sie schlucken zu hören, »mein Vater meinte es gut. Er wollte Euch an jenem Abend nur helfen. Er ahnte nicht, was er mit der Essenz anrichten würde.«

»Was – was bedeutet das?« Filius’ Herz klopfte heftig in seiner Brust.

»Durch die offenen Wunden an Euren Händen gelangte das Gift in Euer Blut.« Filius hörte ein Zittern in ihrer Stimme. »Eigentlich ist es nur zur äußeren Anwendung gedacht. Vergebt meinem Vater. Es ist nicht seine Absicht gewesen, Euch in solche Gefahr zu bringen.«

»Euer Vater?« Filius stockte der Atem. Die Heilerin war Brataraks Tochter!

Augenblicklich spürte er eine schmeichelnde Wärme in seinem Herzen. Vor seinem geistigen Auge sah er das kleine Mädchen von damals vor sich, mit ihren langen, schwarzen Haaren, mit ihren lebensfrohen, hellbraunen Augen. Wie mochte Irina jetzt aussehen? So sehr er sich in diesem Moment auch anstrengte, seine Sehfähigkeit blieb unverändert schleierhaft.

Irina! Er war versucht, ihr Gesicht zu berühren. Doch wusste sie, wer er war? Vermutlich konnte sie sich nicht einmal mehr an ihn erinnern, hatte ihn längst vergessen.

»Ich bitte Euch, verurteilt meinen Vater nicht. Das Leben strafte ihn schon hart genug.«

Filius konnte plötzlich keinen klaren Gedanken fassen, benommen sank er auf sein Kissen. Seine Brust schien wie versteinert. Solange er bei Zooltak lebte, hatte er diese Zeit seiner Kindheit aus seinem Gedächtnis verdrängt. Mit einem Mal kehrte alles zurück und bewegte seine Empfindungen.

»Mein Name ist Irina.«

In seinen lebhaften Erinnerungen sah er sich mit der kleinen Irina und den anderen Kindern durch die Oase tobten, wie sie sich hinter dicken Palmen versteckten. Das letzte Fest kam ihm in den Sinn, wo er Irina zwischen den Erwachsenen zum Tanzen aufgefordert hatte. Eine bizarre Mischung mächtiger Gefühle braute sich in seinem Inneren zusammen. Obgleich die negativen Erlebnisse aus seiner Kindheit unendlich weit weg lagen, schienen ihm die guten Erinnerungen so nah, als wären sie gestern erst passiert.

Nur mit großer Mühe gelang es Filius, diese bewegenden Gedanken an früher von sich zu schieben. Nach einer deftigen Suppe von Cara schlief er wieder ein. In seinem Traum rannte er mit Irina über den roten Wüstensand, sie noch als Mädchen, während er zu einem Mann herangewachsen war.

Er blinzelte mehrmals mit den Augenlidern. Dunkel war es geworden, aber einen zarten Lichtschein, vielleicht einer Kerze, konnte er ausmachen. Das Brennen in seinen Augen schien ihm erträglicher. Eine friedliche Stille herrschte im Raum und doch fühlte er die Anwesenheit einer Gestalt. War es Cara oder Irina?

»Weißt du, Filius«, das klang nach Zooltak. Er musste genau links am Bett, neben ihm stehen. »Nachdem du an jenem Abend zusammengebrochen bist, hielt ich dich für tot.« Zooltak atmete hörbar. Für einen Moment schwieg er. »Diese Heilerin bemühte sich sehr um dich. Ich bin versucht, ihrem Vater zu vergeben!« Zooltak wanderte jetzt im Zimmer auf und ab, denn seine Stimme kam jedes Mal aus einer anderen Ecke. »Du wirst seine Strafe bestimmen. Ich habe eben in der Versammlung beschlossen, gemeinsam mit den Wanderern die alte Siedlung herzurichten. Dort können sie sich selbst mit Fleisch sowie mit Holz versorgen und rauben uns dadurch nicht unsere Vorräte.«

Filius ahnte Schlimmes. Zooltak wollte ihm mit diesen Worten etwas sagen. »Ihr erwartet, dass ich gehe?«

Zooltak blieb rechts neben ihm stehen. »Was?« Für einen Atemzug herrschte eine unheimliche Stille. »Beim weißen Mond, Filius. Was soll diese Frage?«

»So unnütz wie jetzt …« Zooltak packte Filius fest bei den Schultern, drückte ihn in das weiche Bett und klang verärgert. »Weißt du eigentlich, dass du fünf Tage lang im Fieber lagst?« Seine Stimme wurde wieder ruhiger. »Zunächst musst du zu Kräften kommen, alles Weitere wird sich dann von selbst finden.« Diese unerwartete Wendung des Gespräches erleichterte Filius’ Gemüt erheblich. Entspannt schloss er seine brennenden Augen.

Die kommenden zwei Tage kümmerte sich Cara um ihn. Sie brachte ihm Essen und den bitter schmeckenden Tee. Sie erzählte von dem Umzug der Fremden in die alte Siedlung sowie von banalen Neuigkeiten aus dem Dorf.

Filius vermisste Irinas melodische Stimme, ihre heilenden Hände, vor allem aber ihre Anwesenheit, die ihm die Sehnsucht nach seiner geliebten Heimat etwas erleichterte. Seine Knie fühlten sich noch sehr zittrig an, allerdings wollte er nicht länger untätig herumliegen. Im Dorf verbreiteten sich nur zu schnell Gerüchte, denen er keine Grundlage geben durfte. Die Hochländer erwarteten von ihm ständigen Arbeitseinsatz, Fleiß und höchste Wachsamkeit.

Das Brennen seiner Augen hatte deutlich nachgelassen, damit kehrte sein Sehvermögen zurück. Es gab auch im Dorf genug zu tun. Eine leichte Arbeit wäre für den Anfang, um wieder richtig auf die Beine zu kommen, gewiss nicht verkehrt. Er nahm sich vor, am nächsten Tag Holz zu sammeln.

Als am Morgen Cara den Raum betrat, streifte Filius gerade sein Leinenhemd über und zog die Felljacke darüber.

»Beim weißen Mond, Filius. Sei vernünftig. Hab noch etwas Geduld.« Er sah Cara in die Augen, dabei spürte er, wie ihm ein Lächeln übers Gesicht huschte. Mit viel Hingabe hatte sie ihn umsorgt, vermutlich die Zeit mit ihm sogar genossen. Cara zählte zu den wenigen Hochländern, die ihn achteten. So sehr er Cara auch mochte, sie war und blieb die Tochter des Anführers und er, als Kind der Wüste, gehörte hier einfach nicht her. Aber ihre Zuneigung fühlte sich dennoch gut an.

Er strich ihr die Wange entlang, »Danke.« Während er seine Mütze aufsetzte, ging er hinaus. Zooltak, Luztak sowie fünf der Männer ritten gerade vorbei, als Filius aus dem Haus trat. Sie hielten kurz an.

»Es tut gut, dich wohlauf zu sehen. Bist du wirklich schon kräftig genug, um aufzustehen?« Zooltak klang beinah väterlich. Diese Seite kannte Filius bisher an ihm nicht.

Luztak lenkte sein Pferd auf Filius zu. »Filius’ Pfeil geht nur selten daneben, Vater. Es ist gut, dass er wieder dabei ist.« Dieser Aufforderung konnte er unmöglich widerstehen, obgleich er eigentlich nicht mit der Jagd beginnen wollte. Krächzend flog ein Dutzend Raben über das Dorf. Filius blickte zum blauen Himmel, an dem ein paar Wolken aufzogen. Nach den Tagen im verrauchten Kaminzimmer erschien ihm diese eiskalte, klare Luft heute wie ein Segen. Er sehnte sich danach, die Sonne in sein Gesicht scheinen zu lassen.

Kurz darauf verließen die Männer gemeinsam das Dorf. Nach einem kurzen Ritt teilte Zooltak die Gruppe auf, um die Erfolgschancen auf Beute zu erhöhen. Filius blieb an seiner Seite.

»Lass uns in diese Richtung reiten.« Der Anführer lenkte sein Pferd voran, Filius folgte ihm. Er genoss den Ritt, den herrlichen Tag, den strahlend weißen Schnee, der in der Sonne glitzerte. Die schneebedeckten Bäume wuchsen dichter. Verschiedene Nadelhölzer bestimmten von nun an die Landschaft, nur vereinzelt stand ein kahler Laubbaum dazwischen. Schon bald bemerkte Filius eine schleichende Müdigkeit, die ihn zu packen drohte. Jetzt bereute er seine voreilige Entscheidung, mit auf die Jagd zu gehen, doch dafür war es nun zu spät. Zooltak hatte nämlich eine frische Wildspur im Schnee entdeckt.

»Das sieht nach einem reichhaltigen Mahl aus.« Augenblicklich galoppierte er der Fährte nach. Auch Filius trieb sein Pferd an, dem Anführer hinterher. Für den Moment schien seine Schwäche wie weggeblasen. Nur der kalte Wind auf seinen Augen trübte seinen Blick. Anfangs wirkte seine Umwelt leicht neblig, doch schon bald schob sich ein hinderlicher Schleier vor sein Blickfeld. Große Baumstämme sowie die Silhouette seines Vordermanns waren das Einzige, was Filius noch erkennen konnte. Er fühlte die wachsende Müdigkeit und spürte, wie er an der Mähne seines Pferdes hing. Selbst das Atmen fiel ihm wieder schwer. Aber er durfte Zooltak die Jagd nicht verderben, er musste durchhalten. Das Fleisch wurde im Dorf dringend gebraucht. Mit seinen letzten Kraftreserven richtete er sich auf._Wendung

Wölfe

An der linken Stirnhälfte pochte ein mächtiger Schmerz. Sein gesamter Schädel dröhnte, als würde ein Hornissenschwarm darin kreisen. Der Rest seines Körpers schien aber unversehrt zu sein. Kalte, dicke Flocken landeten auf seinem Gesicht. Filius drehte den Kopf zur Seite und fragte sich, was passiert war. Eben hatte er doch noch auf dem Pferd gesessen. Er öffnete die Augen. Doch noch immer lag der weiße Schleier vor seinem Blick. Langsam setzte er sich auf, dabei spürte er, wie etwas Nasses von der Stirn über sein Auge lief. Sein Pferd musste ihn abgeworfen haben. Ob es noch in der Nähe war? Filius lauschte. Nichts war zu hören, kein Stapfen durch den Schnee, kein Schnaufen, ja nicht mal einen Raben konnte er wahrnehmen.

Diese Stille verursachte ein ungutes Gefühl in seiner Magengegend. Zooltak würde ihn vorläufig nicht vermissen, zu eifrig verfolgte er die Fährte. Die anderen Männer hielten ihn nach diesem Missgeschick bestimmt für einen Schwachkopf.

Filius fühlte sich erschöpft, als habe er den ganzen Tag schwer gearbeitet, obwohl er nur ein Stück geritten war. Es durfte niemand bemerken, wie kraftlos er war, vor allem aber, dass er fast blind war. Es musste ihm gelingen, allein aus dieser Situation herauszukommen und den Weg ins Dorf zurückzufinden. Allerdings wusste er weder, wie lange er hier im Schnee gelegen hatte, noch welche Richtung er einschlagen sollte. Filius konnte den Stand der Sonne nicht ausmachen. Es schneite, demzufolge war der Himmel wolkenverhangen. Das waren widrige Umstände, die seine Lage erschwerten.

Seine Kopfschmerzen verstärkten sich mit jeder Anstrengung und zu allem Überfluss schien sein linkes Augenlid zuzuschwellen, ein wachsender Druck verdunkelte den weißen Schleier. Vorsichtig tapste er mit ausgestreckten Armen voraus auf einen dunklen Schatten zu. Er befühlte die Rinde des Baumstammes einmal rundherum, bis er das Moos unter seiner Hand spürte. Endlich ein Lichtblick, nun hatte er eine Orientierung. Irgendwo vor ihm musste also sein Dorf liegen. Mit tastenden Händen mühte sich Filius vorwärts. Dünnes Astwerk streifte sein Gesicht. Erst jetzt bemerkte er seine fehlende Kopfbedeckung. Wahrscheinlich war sie bereits beim Sturz abgefallen und lag im Schnee. Er könnte zurückgehen, doch er würde sie vermutlich nicht mehr finden. Die Kälte, seine Verletzungen, vor allem aber seine müden Knochen machten ihm zu schaffen.

Nur sehr langsam kam er voran. Bald nahm er ein leises Plätschern wahr, welches mit jedem Schritt deutlicher erklang. Der Bach. Noch vor wenigen Monden hatte er sich hier gewaschen. Das war ein herrlicher Anblick gewesen, wie das klare Wasser im Sonnenschein über die Steine sprudelte. Im Moment war der Bach noch nicht vollständig zugefroren. In ein paar Tagen würde auch dieser Klang verstummen.

Nun brauchte er nur dem Lauf des Wassers zu folgen. Zuerst käme er an der alten Siedlung vorbei. Irina kam ihm in den Sinn, sie könnte ihm helfen. Nein. Er wollte sie sehen, ihr Gesicht erkennen können, bevor er ihr das nächste Mal begegnete. Das Dorf war sein Ziel, denn Cara kümmerte sich bestimmt um ihn. Der eisige Schnee knarrte unter seinen Fellstiefeln.

Bewegte sich da hinten nicht etwas? Filius blieb stehen. Jetzt sah es eher wie ein niedriger Busch aus. Dieser Schleier vor seinen Augen war wirklich zu hinderlich. Vermutlich bildete er sich die Bewegung nur ein. Als er weiterging, meinte er, der Schatten käme aber doch auf ihn zu.

Filius stockte der Atem. Eine schlimme Ahnung überfiel ihn. Schlagartig hielt er inne. Im Augenwinkel sah er aus drei Richtungen dunkle Flecken auf sich zukommen.

Sein Herzschlag verdoppelte sich. Es konnten nur Wölfe sein! Sie kreisten ihn ein, so entkamen ihre Opfer nicht. Gemeinsam würden sie über ihn herfallen, um sich sein Fleisch zu teilen. Er vergaß Schmerz und Müdigkeit. Mit der Todesangst zog er sein Schwert und drehte sich mit ausgestreckter Waffe um sich selbst. Einen leichten Widerstand beim Drehen, das Aufjaulen, weckte die Hoffnung, ein Tier erwischt zu haben. Von allen Seiten vernahm er lautes Knurren. Das Rudel gab sich hörbar nicht geschlagen.

Das ausgetretenes Blut seiner Stirnverletzung hatte die Biester angelockt. Eine solch lohnende Mahlzeit ließen die Wölfe natürlich nicht kampflos zurück. Die Vorstellung, von den Tieren zerfleischt zu werden, brachte seine letzten Reserven hervor. Mit der Kraft seiner Furcht vor dem Tod schlug er auf die dunklen Schatten ein, dabei drehte er sich so schnell er konnte. Ein wahnsinniger Schmerz am rechten Unterarm ließ ihn aufschreien. Er war versucht, seine Waffe fallenzulassen.

Nein! Das wäre dann sein Ende. Er durfte seine einzige Verteidigung nicht loslassen. Mit der Linken übernahm er das Schwert. So gut es ihm möglich war, wandte er sich mit gestreckter Waffe weiter um seine eigene Achse. Das Reißen in seinem Arm verstärkte sich, raubte ihn fast das Bewusstsein. Auch nur ein winziger Augenblick der Schwäche wäre in dieser Situation sein Tod. Es musste ihm gelingen, diese Biester zu vertreiben. Unerwartet jaulte ein Wolf auf, biss erneut zu, um seine Beute fester zu packen. Plötzlich jedoch, ließ er von ihr ab.

Die Mächtigkeit des Schmerzes ließ sofort nach. Zweimal hörte Filius ein Tier aufheulen. Dann verteilten sich die Schatten in verschiedene Richtungen. Ein großer kam auf ihn zu, vielleicht ein Pferd mit seinem Reiter? Für einen Moment wirkte das Tier ganz unförmig und es löste sich ein zweiter Schatten, der einer Gestalt ähnelte. Schritte knarrten durch den Schnee, näherten sich. Eine Hand packte seinen linken Arm.

»Beim roten Mond, Filius.« Zooltak klang besorgt. »Was ist geschehen? Ich fand Blut auf dem Schnee und deine Kopfbedeckung.«

Filius rang nach Atem, schluckte. Das war Rettung im letzten Augenblick. Seine Stunde war noch nicht gekommen. Er lebte.

»Hier ist dein Pferd.« Zooltak drängte ihn an der Schulter auf den größeren Schatten zu. »Du siehst arg zugerichtet aus.« Er half Filius in den Sattel. »Die Heilerin hat einiges zu tun.« Ein Grinsen lag in Zooltaks Stimme. Filius kämpfte mit seinen Beschwerden, gegen seine Benommenheit, die ihn zu packen drohte. Sein Pferd trabte selbstständig los. Vermutlich zog es Zooltak hinterher. Er selbst sah sich nicht in der Lage, nach Hause zu reiten, zumal er nach dem Angriff der Wölfe die Orientierung völlig verloren hatte.

Als er über die letzten Ereignisse nachdachte, wurde ihm eines klar. Mit Noras Tod nahm das Unglück seinen Lauf. Bratarak hatte ihn gewiss erkannt, vielleicht sogar nach ihm gesucht, um sich an ihm zu rächen. Schließlich war er an allem schuld. Der alte Mann forderte nun Genugtuung. Für all seine Sünden und Streiche musste Filius jetzt bluten. Seine erfrorenen Hände, das Gift, die Wölfe gehörten zu seiner gerechten Strafe.

»Du hättest dich besser heute noch ausruhen sollen«, unterbrach Zooltak seine Gedanken. »Cara umsorgt dich gern, hast du das nicht bemerkt?«

»Sie ist Eure Tochter.« Er hörte seine müde Stimme.

Zooltak lachte herzhaft. »Ja Filius. Das ist sie. Und wie sie das ist.«

Nur selten gab es für Filius Gelegenheit zum Lachen, über diese Situation schon gar nicht. Allerdings stimmte er innerlich zu. Im Bett hätte er Kraft tanken können. Nach diesem Vorfall brauchte es weitere Tage, bis er auf die Jagd gehen konnte, vorausgesetzt sein Arm blieb überhaupt erhalten. Er erinnerte sich an den Mann aus dem Dorf, dem sie im letzten Winter nach einer böse entzündeten Bisswunde den Unterschenkel abschlagen mussten. Die blutende Wunde hatte der Schamane mit einem glühenden Eisen zum Stillstand gebracht. Bei diesem Gedanken spürte er, wie sich sein Magen zusammenzog. Sein hämmernder Kopfschmerz überdeckte jede Überlegung.

Im Dorf angekommen half Zooltak Filius vom Pferd. Seine Knie fühlten sich derart weich an, dass er mehr torkelte als lief. Gut, dass Zooltak ihn stützte, denn seine Sehfähigkeit ließ weiter nach. Erleichtert sank er auf eine Bettkante.

»Du wirst dich ein paar Tage zurückhalten müssen.« Zooltak ging hinaus und rief nach seiner Tochter. Filius hörte ihre Schritte. Sie atmete erschrocken ein.

»Kümmere dich um ihn, ich werde nach der Heilerin rufen lassen.«

»Filius?« Sie strich mit ihrer Hand über sein Antlitz. »Beim roten Mond, wer hat dich so zugerichtet?«

Er legte sich zurück, schloss dabei die Augen. In seinem Kopf hämmerte es mächtig. Sein Arm schien taub vor Schmerz zu sein. Cara zog ihm Jacken sowie Schuhe aus und begann ihn zu waschen, befreite das Gesicht vom Blut. Zwischendurch spürte er ihre Küsse auf seinen Wangen.

Zooltak stand auf dem Versammlungsplatz, um ihn herum die Männer aus dem Dorf, als Irina in Murrors Begleitung nach Sonnenuntergang ihr Ziel erreichte.

»… und mitten in diesem Rudel wilder Wölfe steht Filius. Sie hatten ihn schon eingekreist. Eines der Biester hing ihm am Arm, trotzdem ließ er sein Schwert nicht los …« Zooltak stockte, als er Irina bemerkte. »Wie gut, dass Ihr kommen konntet, Heilerin. Es gibt Arbeit für Euch.«

Nach seinen lebhaften Erzählungen bekam sie eine gute Vorstellung, was auf sie wartete. Sie seufzte aus tiefstem Herzen.

»Filius’ Kammer besitzt keinen Kamin. Ich habe ihm mein Bett zur Verfügung gestellt.« Mit diesen Worten begleitete er Irina ins Haus. In Zooltaks Schlafraum roch es nach Rauch. Das Feuer brannte noch nicht lange. Auf dem Tisch stand ein Leuchter mit zehn Kerzen. Cara erhob sich von der Bettkante. Beim Anblick der geschwollenen, aufgeplatzten Wunde auf der Stirnseite schluckte Irina.

»Ihr seht, was Ihr zu tun habt, Heilerin.« Zooltak klopfte Filius auf die Schulter.

Er blinzelte kurz, hielt seine Augen geschlossen. Gezielt packte er Zooltaks Rechte. »Danke.«

»Wofür sollte ich Dank ernten, Filius?«

»Ohne Euch hätte ich als Beute bei den Wölfen mein Ende gefunden.«

Nach diesen Worten atmete Cara erschrocken ein. Sie warf die Hand vor den Mund und eilte mit bleichem Antlitz hinaus.

»Ich verdanke Euch mein Leben«, flüsterte Filius.

»So? Dann geh nicht gleich wieder auf die Jagd, sobald dich deine Beine tragen können.« Zooltak ging zur Tür. Bevor er hinausging, sah er Irina ins Gesicht. »Er ist mein bester Krieger. Er braucht seinen rechten Arm. Seht zu, dass Ihr ihn wiederherstellt.« Geräuschvoll fiel die Tür ins Schloss.